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Über dieses Buch:

Helmut Bosch, von Mitarbeitern und Patienten der Mannheimer Psychiatrie nur „Der Boss“ genannt, schwebt eines Morgens im Garten seiner Anstalt – aufgespießt, gepfählt von mehreren Eisenstangen. Kripo-Chef Kautz steht vor einem Rätsel, denn je mehr Leute er zu der grausamen Tat befragt, desto offensichtlicher wird es, dass Bosch mehr als nur einen Feind hatte: Der Leiter der Psychiatrie, ein schizophrener Patient, einer der Therapeuten, selbst Boschs eigene Ehefrau – sie alle haben ein Motiv. Um den Täter zu finden, ist Kautz gezwungen, in moralische Abgründe zu blicken, und droht sich hier am Rande des Wahnsinns bald selbst zu verlieren …

Über den Autor:

Peter Lechler, geboren 1950 in Stuttgart, war nach seinem Studium 30 Jahre in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen tätig. Die Erfahrungen aus seinem Berufsalltag inspirierten ihn schließlich zu seinem ersten Psychiatrie-Krimi. Heute lebt der Autor in der Südpfalz in einem selbst renovierten Winzerhaus.

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eBook-Lizenzausgabe September 2017

Copyright © der Originalausgabe 2016 Verlag Markus Knecht, Landau

Copyright © der eBook-Lizenzausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Gerardo C. Lerner

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96148-038-8

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Peter Lechler

Wo der Wahnsinn wohnt

Kriminalroman

dotbooks.

Vorschuss

Eine Geschichte zu erzählen, die in der Anonymität einer fernen Großstadt spielt, ist harmlos. So ungefähr begann im Jahr 1936 Friedrich Glauser am Anfang des modernen Kriminalromans sein Werk Matto regiert. Seine Story in Bern, gar in einer Heil- und Pflegeanstalt – psychiatrische Kliniken hießen damals so –, spielen zu lassen, obwohl es im Kanton Bern nur drei davon gab, erschien ihm brandgefährlich.

So ähnlich geht es dem Autor des Krimis Wo der Wahnsinn wohnt, der in Mannheim spielt, genauer im Milieu von sozialpsychiatrischen Häusern, traditionell Heime genannt. Acht an der Zahl, in der Szene wohlbekannt, sind dort zur Zeit in Betrieb. Sein Tolles Haus ist keines davon und die Akteure sind fiktiv, wenngleich sich dem Kenner unschwer erschließt, dass Eindrücke aus dem Berufsleben des Autors dabei Pate standen.

Vor 80 Jahren schloss Glauser sein Vorwort mit vorauseilender Verteidigung gegenüber Zeitgenossen, die sein Werk mit einem Spiegel verwechseln könnten. Der Autor des Krimis von heute hält sich das Argument Glausers gleichfalls zugute: »Eine Geschichte muss irgendwo spielen. Die meine spielt im Kanton Bern, in einer Irrenanstalt. Was weiter? … Man wird wohl noch Geschichten erzählen dürfen?«

Ein ganz normaler Tag für die psychisch kranken Menschen im Tollen Haus nahm seinen Lauf. Wie üblich mussten einige von ihnen, oft die jüngeren Männer, vom Personal zum Frühstück geweckt werden, dass sie für den Vormittag heißen Kaffee und etwas Festes im Bauch hatten, bevor sie sich eine Zigarette drehten und auf der Terrasse vor dem Speiseraum den Rauch in sich reinzogen. Danach würde das Tagesprogramm für die chronisch Kranken starten, denen das Haus Heimat geworden war, in der Regel Beschäftigungstherapie, für die fitteren Leute, die sogenannten Rehabilitanden, Arbeitstherapie und Belastungserprobung, die mehr Anforderungen stellten und auf Berufspraktika in Mannheimer Firmen vorbereiten halfen, waren sie doch auf der Suche nach ihrem Platz im Erwerbsleben der Gesellschaft.

Etwas war heute anders als sonst. Der Geschäftsführer des Hauses, Helmut Bosch, der eigentlich in der Vereinszentrale residierte, hatte sich unter die psychisch Erkranken gemischt, frühstückte fast unauffällig mit, wobei er wie eine Insel im Meer, kritisch betrachtet wie ein Fremdkörper wirkte. Er selbst verstand seine Präsenz als teilnehmende Beobachtung – eine sozialwissenschaftliche Methode, wie er sich zugutehielt –, schließlich musste er wissen, was an der Basis so vor sich ging, seitdem er die Geschäfte übernommen hatte. Da kämen eigene Eindrücke gerade recht. Auch glaubte der Boss, wie ihn das Haus-Team aus einem Mix von Respekt, Angst und Antipathie nannte, ihnen auf die Finger schauen zu müssen, seinem Chef, Leiter Kurt Leidner, nicht minder.

Das alteingesessene Personal gab sich zwar kompetent und wusste meist, eigentlich immer, was das Beste für die Betreuten war. Für ihn jedoch hatte es sich das Personal im Job bequem gemacht und war dem Fortschritt gegenüber, den er zu verkörpern glaubte, zugeknöpft, versteckte sich gar hinter Teamgeist und dem Glanz der Erfahrung. Brennende Fragen diskutierten die Mitarbeiter umständlich hin und her, besonders seine Ideen, ohne zügig zum Schluss zu kommen. Die würde er denen schon um die Ohren schlagen, da würde kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Der biblische Satz ließ ihm seine Mission noch gewichtiger erscheinen, zudem passte er wie die Faust aufs Auge, war der Boss doch von Hause aus Theologe. Dass das Bild mit der Faust genau das Gegenteil meinte, scherte ihn einen Dreck, so bissig war er gestimmt. Sein Personal würde bald das Sprichwort »Neue Besen kehren gut« zu spüren bekommen, darauf könnte es Gift nehmen.

Nicht nur, dass der Geschäftsführer dem Frühstück beiwohnte, er ging an diesem Tag auch noch in die Beschäftigungstherapie mit, kurz BT genannt, und tat interessiert. Insgeheim aber resümierte er die Gründe für seinen jüngst getroffenen Entschluss, die BT mit ihrer unnützen Bastelei aufzulösen. Die kostete das Haus nur Geld. Bald sollten die chronisch Kranken, meist auch seelisch behindert, täglich das Haus verlassen und in drei ausgesuchten Firmen einfache Arbeiten ausführen – die Kooperationsverträge waren schon unter Dach und Fach –, also produktiver Tätigkeit nachgehen, die zudem etwas abwarf, wenn auch nicht viel. Zudem würde ihr Alltag so normaler, das arbeitende Volk ging eben zum Gelderwerb außer Haus. Den Trend computergestützter Heimarbeit wertete er als letzten Schrei, der schon bald wieder verklungen wäre. Der Trägheit des Teams, ein paar davon echte Jammerlappen, würde er schon Beine machen. Die von ihm geplante Umstrukturierung würde gar noch Betreuungs-Kapazität einsparen und damit zum finanziellen Ziel des Hauses beitragen: Pro Jahr sollte es den erheblichen Überschuss von 100000 Euro erwirtschaften, wie der Vereins-Vorstand festgesetzt hatte. An der Summe bereicherte sich natürlich niemand, der Gewinn würde vielmehr an anderer Stelle des vielseitigen Vereins investiert werden, um damit seine Stärke zu zeigen.

Eigentlich war das schon überzeugend genug, so dass er keine weiteren Argumente brauchte, um seine Untergebenen vom Sinn der ins Haus stehenden Neuerung zu überzeugen. Am Nachmittag in der Montags-Teamsitzung würde er die Marschrichtung mit Terminplan vorgeben. Dass die Mitarbeiter moserten, war ihm klar, die wollten sich nichts diktieren lassen, wollten bei allem mitmischen und verfielen doch ohne seine Führung nur dem gewohnten Trott. Gewiss würde sich der Hausleiter auf ihre Seite schlagen, aber der war für ihn ein Weichei und würde nicht wirklich Widerstand leisten wie der alte, seit einem Jahr in Rente, der immer und immer wieder quer geschossen hatte.

Über der verdeckten Vorbereitung seiner Rede war nun schon eine halbe Stunde vergangen, als ein BT-Teilnehmer im Begriff war, den Raum zu verlassen. Herr Bosch sprang auf und pfiff ihn zurück: »Wo wollen Sie hin?«

»Mir ist nicht gut, ich geh’ auf mein Zimmer.«

BT-Gruppenleiter Sattler, der alle Teilnehmer im Blick hatte, unterbrach die Einweisung von Herrn Fröhlich, der gerade das Korbflechten erlernte, und ging auf Klaus Brenner ein. Er wusste, dass den immer wieder Ängste plagten.

»Gehen Sie nur, Herr Brenner, aber zuerst bitte ins Schwesternzimmer und sagen Sie dort Bescheid. Frau Pillinger kann Ihnen bestimmt ein Bedarfsmedikament geben.«

»Jetzt reißen Sie sich zusammen«, nahm der Geschäftsführer dem Gruppenleiter die Zügel aus der Hand. Herr Brenner begann sofort, auf der Stelle zu dribbeln, er wusste nicht mehr hü oder hott.

Frank Sattler rollte mit den Augen. Der Boss schien keine Ahnung zu haben, dass er den Kranken in ein böses Dilemma gebracht hatte. Was der auch täte, es wäre immer falsch: Würde er auf sein Zimmer gehen, wäre der oberste Chef brüskiert, würde er bleiben, würde er die Autorität des Gruppenleiters untergraben, eine echte Zwickmühle, die eine darin gebannte Person in größte Aufregung versetzt, vielleicht sogar Symptome einer Schizophrenie bewirkt. Eine Häufung solcher paradoxen Situationen trug nach der Psycho-Theorie Double-Bind gar zur Entstehung von Schizophrenie bei, wenngleich das nicht bewiesen war. Wie auch immer, dachte Frank Sattler, ein Psychiatrie-Profi sollte Verhalten dieser Art tunlichst unterlassen.

Das Dribbeln des Kranken musste auch Herrn Bosch aufgefallen sein. Fast versöhnlich fragte er nach: »Was haben Sie denn konkret?«

»Mir geht’s nicht so gut!«

»Geht’s etwas genauer?«

Nach kurzer Pause: »Ich werd’ so komisch angeschaut, kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich brauch’ meine Ruhe.«

»Niemand hier schaut Sie komisch an, das müssen Sie nicht denken, machen Sie einfach weiter!«

Mit missbilligendem Blick auf Herrn Bosch blieb der Gruppenleiter bei seiner Strategie: »Ich ruf’ im Pflegezimmer an und informiere Susanne Pillinger, die wird ihm unter die Arme greifen.«

»Herr Brenner bleibt jetzt hier«, verfügte der Boss, »das gibt sich.«

Der Bewohner jedoch wurde immer unruhiger und fing sogar zu zittern an. Nun wurde es dem Gruppenleiter zu bunt. Er griff zum Hörer und rief Susanne an: »Kannst du bitte mal kurz in die BT kommen und dich um Klaus Brenner kümmern, der zeigt Symptome.«

»O.k., bin gleich da.«

Herr Bosch lief rot an, riskierte aber keinen Eklat. Auf seiner Stirn stand geschrieben: DAS WIRD EIN NACHSPIEL GEBEN! Doch bevor die Mitarbeiter das Problem auf ihre Weise lösten, machte er sich wegen dringender Termine aus dem Staub. Er hatte sich eindeutig zu weit aus dem Fenster gelehnt und schien nicht auch noch unter Zeugen runter fallen zu wollen.

Wenig später betrat Krankenschwester Susanne den BT-Raum mit einem Medikament, das Herr Brenners Psychiater ihm als Bedarf im Notfall verschrieben hatte. Das würde helfen, seine Anspannung zu lösen. Nun durfte er sich in sein Zimmer zurückziehen, zum Mittagessen sollte er wieder erscheinen. Wenn nicht, würde sie nach ihm sehen, ob sich die Symptome verschlimmert hätten. Beim Beratungsarzt des Hauses, der jede Woche vor der Montags-Teamsitzung zur Fallbesprechung kam, würde sie die Sache ansprechen. Ginge es Klaus Brenner nicht besser, wäre ein Besuch in der Praxis seines Psychiaters angesagt, notfalls müsste er in die psychiatrische Klinik – in Mannheim das Zentralinstitut für seelische Gesundheit, kurz ZI – zur Akutbehandlung. Am besten wäre es natürlich, wenn man die Klapse, wie es im Volksmund salopp bis abfällig hieß, vermeiden könnte. Für die Betroffenen markierte sie eine neue Krankheits-Episode und hinterließ bei aller Hilfe oft auch seelische Narben.

Klaus Brenner kam nicht zum Mittagessen. Frau Pillinger fand ihn auf seinem Zimmer in erregtem Zustand vor. Er klagte, dass Herr Bosch ihn schon beim Frühstück beobachtet und dann auch noch in die BT verfolgt hätte. Der Psychiatrie-Schwester war klar, dass sich Klaus’ Welt verrückt hatte. Er jedoch fand sie völlig real und geriet dadurch in panische Angst, in einen Kopf-Krimi sozusagen. Die Blicke des Geschäftsführers, die ein gesunder Mensch als zufällig oder als Ausdruck von Beachtung verstanden hätte, waren für ihn ein untrügliches Zeichen, dass der etwas gegen ihn im Schilde führte. Menschen mit paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie erleben so etwas häufig. Auf Herrn Brenner musste sie unbedingt Acht geben.

In der Fallbesprechung hörte sich Dr. Lichter ihren Bericht sowie auch Frank Sattlers Eindrücke an. Sein Nachhaken ergab, dass Hauswirtschafterin Klein Herrn Brenner schon seit ein paar Tagen zunehmend unruhiger fand. Beim Essen-Schöpfen schien er misstrauisch und irgendwie neben der Spur, Anzeichen für eine Krise. Also wurde er von Siggi Gschwindt, seiner Betreuerin, zur Praxis des behandelnden Psychiaters begleitet. Unterwegs schaute er sich mehrfach ängstlich um, fühlte sich sichtbar verfolgt, es war höchste Zeit! Zum Glück mussten sie in der vollen Praxis nicht zu lange warten, er zappelte auf seinem Stuhl herum und erschrak bei jedem neuen Patienten, der ins Wartezimmer kam. Dr. Winter kannte das Haus und wusste, wann wirklich Not am Mann war. Die Idee von Dr. Lichter aufnehmend, erhöhte er das Medikament Leponex um 100 Milligramm und bat um Rückmeldung, wie es »anschlagen« würde.

Als Siggi mit Herrn Brenner zurück war, den Eintrag in die Dokumentation gemacht hatte und dann zur Besprechung kam, war die Team-Sitzung mit dem Boss schon in vollem Gang. Krankenpfleger Fred argumentierte gerade gegen dessen Plan, die BT aufzulösen und ihre Teilnehmer tagsüber in drei ausgesuchten Firmen unterzubringen.

»Für die Belastbaren finde ich das gar nicht schlecht, aber die Schwächeren schaffen das nicht. Was ist, wenn’s mal jemand schlecht geht und der sich zurückziehen möchte? Da fehlt doch das eigene Zimmer, psychiatrische Pflege und notfalls der behandelnde Arzt. Da müssten in den Firmen ein Ruheraum für Krisenleute sein wie auch Betreuer, die eine Vorstellung beim Psychiater, notfalls in der Klinik arrangieren könnten, bei der weiter abgelegenen Firma ein Dienstwagen inklusive.«

»Sie müssen nicht immer den Teufel an die Wand malen!«

»Doch, genau das muss ich als Krankenpfleger«, widersprach Fred. »Ein Notfall-Plan muss vorhanden sein. Auch unser Qualitätsmanagement schreibt den vor. Das ist doch alles nicht zu Ende gedacht!«

Der Boss schoss zurück: »Dass Sie an alten Zöpfen hängen, hätte ich mir denken können. Was Ihnen fehlt, ist Sinn für Innovation. Ich schneide die Zöpfe ab, und Sie werden sehen, dass es geht. Sonst noch Fragen?«

Nun begriff auch der Letzte, dass die Auflösung der BT kein Konzept war, auf das man Einfluss nehmen konnte, vielmehr beschlossene Sache, der sich das Team zu fügen hatte. Herrn Boschs Frage war im Grunde rhetorischer Art.

Die Diskussion abgewürgt, wurde die Stimmung eisig. Einige schüttelten nur den Kopf, andere schäumten vor Wut. Dass ihre Kompetenz so gering geschätzt wurde, hatte es beim alten Chef nicht gegeben. Da wurde eine Sache ausdiskutiert und meist auch ein Konsens gefunden, den alle mittrugen im Gefühl, wichtig zu sein. Seit einiger Zeit aber wehte ein anderer Wind. Die Gesichter in der Runde zeigten, dass sie den zum Kotzen fanden. Kurt Leidner, eigentlich Chef des Hauses, hatte sich erst gar nicht zu Wort gemeldet, was hätte es auch genützt!

»Im Übrigen«, setzte der Boss noch einen drauf, den Vorfall in der BT am Morgen im Visier, »verbitte ich mir öffentliche Widerrede. Sie sind gewarnt Herr Sattler, das nächste Mal setzt es eine Abmahnung!«

Der platzte fast vor Wut. Nicht nur, dass sich der Klugscheißer ohne Sinn und Verstand in seine Arbeit eingemischt hatte, jetzt wurde ihm gar noch ein Maulkorb verpasst und er disziplinarisch bedroht. ›So ein blöder Arsch, wenn ich den zu fassen kriege, dann passiert was‹, hämmerte es in seinem Kopf.

Gedemütigt und verbittert gingen sie aus einer Konferenz, die den Namen nicht verdiente. Wie lebendig waren doch die Sitzungen mit ihrem alten Helfinger gewesen. Auch der konnte schon mal aufbrausen oder auch unwirsch sein, behielt aber meist das Team-Gemüt im Blick. Wenn der zum Ende seiner Zeit als Chef mehr und mehr umsetzen musste, was ihm wie ihnen gegen den Strich ging, dann benannte er stets Ross und Reiter, war einer von ihnen, dem unter dem machtgeilen Boss die verbalen Waffen stumpf geworden waren.

Kurt Leidner erwachte Dienstag früh aus Träumen, gerädert, aber auch irgendwie befreit. Sein »Nachtprogramm« hatte einen Thriller gebracht. Wieder mal auf Urlaub an der Nordsee, die ihn schon oft angezogen hatte, stieg er in einem alten Leuchtturm die Wendeltreppe empor, sich fortwährend um die eigene Achse drehend, bis ihm ganz schwindlig war. Oben angekommen, trat er auf eine Plattform hinaus, der auch noch das Geländer fehlte: Weit der Blick auf Dünen und Meer, hie und da ein Bauernhof, ein paar Pferde, Schafe, Möwen im Wind. Sein Hirn aber flog im Kopf herum, prallte gegen die Schädelwand, mal hier, mal da, ihm wurde speiübel, die nackte Angst packte ihn. Da passierte es. Er strauchelte und stürzte von der Spitze des Turms in die Tiefe, die ihm den Atem nahm. ›Das war’s‹, dachte er noch im Fallen, aus, vorbei! Plötzlich spürte er, wie etwas seinen Fall bremste. Ein Urvogel mit riesigen Flügeln kreuzte unter ihm und ließ ihn auf Federn weich, geradezu sanft landen. Auf seinen Schwingen wurde er zu einer mit Gras bewachsenen Anhöhe getragen, wo er von dem Vogel hinabglitt und – Gott sei Dank – wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Gerettet! Der Vogel, ein selten großer Albatros, erhob sich mit der nächsten Böe in die Luft und verschwand so schnell, wie er erschienen war.

Kurt rieb sich die Augen. Das Traumgebilde war verflogen, ohne seine Spur zu verwischen. Wie gebannt lag er im Bett und sinnierte. Auf einmal konnte er die nächtliche Bilderschrift lesen: Weit hatte er es gebracht, war Chef eines großen und angesehenen Hauses für psychisch kranke Menschen geworden. Dort oben aber war er gefangen, sein Radius so klein wie die Plattform des Leuchtturms, dazu gefährlich, wenn er darüber hinaus strebte. Wie oft schon hatte er aus Anpassungsdruck seiner Überzeugung zuwider gehandelt. Auf die Dauer würde das nicht gut gehen. Der Traum zeigte ihm, was geschehen würde. Mit sich uneins, war sein Absturz unvermeidlich. Doch sein Fall führte nicht ins Verderben, im Gegenteil, ein tiefes Glücksgefühl durchströmte ihn. Jetzt würde er das tun, wozu es ihn schon länger drängte: seinen Pseudo-Chef-Posten kündigen und sich auf den Weg machen. Von ungeahnter Kraft durchdrungen, würde ihm ein Neuanfang gelingen. Solch Zuversicht tat gut!

Nach kleinem, schnellem Frühstück – das hätte ihm seine Frau nicht durchgehen lassen, die immer um sein leibliches Wohl besorgt war, aber seit gestern auf Mallorca mit ihrer Frauengruppe weilte – war Kurt wie üblich einer der ersten im Tollen Haus. Erstens gehörte sich das für einen Chef, fand er, und zweitens konnte er sich in seinem Büro ungestört auf den Tag vorbereiten. Im Haus selbst war zu solch früher Stunde noch nichts los und Anrufe kamen erst nach acht rein. Er ahnte nicht, dass in Kürze ein zweiter, aber realer Thriller seinen Lauf nehmen würde, gewissermaßen vor seiner Türe.

Mit Kurt gehörte auch Günther Keller, der Hausmeister, zu den ersten Mitarbeitern im Dienst. »Der frühe Vogel fängt den Wurm.«, pflegte er zu sagen. Beim morgendlichen Gang durch Haus und Hof blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Er traute seinen Augen nicht, träumte er? Hinter dem Seitentrakt schwebte ein Mensch scheinbar schwerelos im Garten. Auf den zweiten Blick bemerkte er, dass der Körper von Eisenstäben aufgespießt war. Zaghaft näherte er sich dem Horror-Ort. Das Gras um den Leichnam war blutgetränkt, die rostigen Stäbe verschmiert. Eine Spitze hatte den Hals durchbohrt und ragte dunkelrot heraus, drei weitere waren in den Leib gedrungen, eine fünfte ins linke Bein, das rechte hing leblos herunter, wie auch die Arme. Dem Hausmeister lief es eiskalt über den Rücken, obwohl er als Rettungssanitäter, ein ihm wichtiges Ehrenamt, einiges gewohnt war. Spontan kam ihm der Suizid eines Bewohners in den Sinn, was leider hin und wieder passierte, wenn ein des Lebens müder chronisch Kranker oder von Hirngespinsten Gequälter seinem Dasein ein Ende setzte. Nein, wer würde, wer könnte sich selbst so zu Tode bringen? Es erinnerte ihn vielmehr an eine Pfählung, wie sie im Mittelalter vorkam, Ausdruck sadistischen Terrors. Als er sich aufraffte, das Opfer zu identifizieren, folgte ein zweiter, nicht minder starker Schock: Er blickte in ein verzerrtes Gesicht, das ihn mit leeren Augen anstarrte – es war der Geschäftsführer des Hauses, Herr Bosch, höchst persönlich!

Reflexhaft zückte er sein Handy und stotterte seinem Chef den Schrecken ins Ohr. Dann holte er tief Luft, um auf dessen Geheiß die Polizei zu rufen, die schon fünfzehn Minuten später vor dem Eingang erschien und von Herrn Leidner selbst empfangen, besser abgefangen wurde. Der war zuallererst um seine kranken Bewohner und Bewohnerinnen besorgt, die seiner Erfahrung nach von einem Todesfall im Haus zutiefst erschüttert wurden. Umgehend hatte er das Tor zum Garten verschlossen, wie auch die Türe zum hinteren Gebäudetrakt, niemand sollte zufällig Zeuge dieses Grauens werden. Vielleicht wollte er auch die Zerstörung von Spuren verhindern, als Krimi-Leser war er jedenfalls mit solchen Vorsichtsmaßnahmen vertraut. Wenn man es sich recht überlegte, reagierte Kurt Leidner umsichtig und nach Lage der Dinge erstaunlich cool, als ob er so ein Szenario schon einmal gedanklich durchgespielt hätte, nur seine Hände zitterten, als er den beiden Polizisten das Gartentor aufschloss. Der grässliche Tod des Geschäftsführers ließ ihn doch nicht so kalt. »Ach, du Scheiße!«, entfuhr es einem Beamten beim Anblick des Gepfählten, während der andere sofort zum Handy griff und Kommissar Kautz von der Kripo informierte.

Wie gebannt starrten alle drei nun auf die Szene im Morgenlicht. Die Spitzen der Eisenstäbe, wie sie neuerdings zur Gartendekoration verwendet werden, ragten aus dem blutverschmierten Körper. Bunte Tonkugeln in ihrer Mitte hatten wohl den fallenden Leib abgebremst, eine Kugel war vom Aufprall geborsten, die Einzelteile im Gras verstreut. Nach langer Schrecksekunde blickten Kurt Leidner und die Polizisten wie auf ein inneres Kommando am Haus hoch und sahen, dass das hölzerne Balkongeländer des Obergeschosses zerborsten war. Herr Bosch musste es – warum auch immer – mit Wucht durchbrochen haben und war dann herabgestürzt.

Der Chef wollte nur noch weg: »Ich muss mich jetzt um die Bewohner kümmern und sie über den Tod des Geschäftsführers informieren. Der eine oder andere wird Beistand brauchen. Sobald ich kann, werde ich wieder zur Stelle sein. Wenn der Kommissar eintrifft, lass ich ihn sofort zu Ihnen nach hinten schicken.«

Als Erstes trommelte er das anwesende Personal zusammen, Frühdienst Jan Hiller, zwei Mitarbeiter vom Tagdienst, Susanne Pillinger und Frank Sattler.

»Herr Bosch ist tot!«

Außer Jan, dem neuen Mitarbeiter, zeigte niemand Anzeichen besonderer Betroffenheit.

»Er muss vom Balkon des Anbaus auf die Deko-Eisenstäbe herab gestürzt sein, dabei wurde er mehrfach durchbohrt ... der schiere Wahnsinn!« Jähes Entsetzen bei den Versammelten! Bevor Kurt weiter reden konnte, schluckte er mehrmals.

»Ein grässliches Ende, obwohl ich dem Boss, wie ihr wisst, schon oft die Pest an den Hals gewünscht hab …«,

Kurt biss sich auf die Lippen, dann fuhr er fort. »In Kürze wird der Kommissar mit der Spurensicherung eintreffen, um den werd’ ich mich kümmern. Erst aber müssen wir unseren Kranken den Tod von Herrn Bosch beibringen. Ich sage ihnen, dass er vom Balkon gestürzt ist, Genaueres wissen wir ja noch nicht. Die Art, wie er zu Tode kam, erwähn’ ich besser nicht. Passt bitte auf, wer heftig reagiert, um den müssen wir uns besonders kümmern. Sprecht mit ihnen, versucht, sie zu beruhigen, wenn nötig müssen wir mit Bedarfsmedikamenten nachhelfen.«

Frank schien aus einem Albtraum erwacht: »Verdammt, erst gestern krachte es zwischen dem Boss und mir!« Sein Aufschrei machte deutlich, dass die Kollegen die eigene Betroffenheit zulassen und ihre Gefühle sortieren mussten. Kurt gab dem Raum.

Susanne atmete schwer: »Im Montags-Team war der Boss mal wieder arrogant und gemein, es war zum Davonlaufen … aber ein solcher Tod!«

Jan, als Neuer nicht von Flashbacks an bessere Zeiten verwöhnt, vielmehr von Herrn Boschs Power-Stil angetan, war aschfahl im Gesicht: »Das ist ja krass, der Top-Gun des Hauses, vernichtet!«

Da es Kurt Leidner nun doch zu drängen schien, kürzte er die Selbstklärung des Teams ab: »Wir müssen das alles noch verarbeiten. Meine Gefühle sind wie gelähmt ... Jetzt sollten wir aber die Bewohner zusammenrufen, dass sie aus erster Hand informiert werden, bevor die Gerüchteküche kocht und sich Angst verbreitet. Einige sind bestimmt noch beim Frühstück, andere auf ihren Zimmern. Holt bitte alle in den Speiseraum.«

Als wenig später der Kommissar im Tollen Haus eintraf, wurde er vom Hausmeister, der an der Pforte auf ihn gewartet hatte, sofort zum Chef geführt. Der sah die beiden kommen, entschuldigte sich bei versammelter Mannschaft und ging dem Kommissar entgegen.

»Kautz, Kripo Mannheim, wir kennen uns ja schon.«

»Ja, ja«, – Kurt Leidner fiel der tragische Suizid eines Bewohners ein, bei dem er Herrn Kautz zum ersten Mal begegnet war – »schlimme Geschichte.« Im Schatten von gestern ging es zum Ort des aktuellen Falls. Der Kommissar nickte den beiden Polizisten zu, die Haltung annahmen, und sah sich die Leiche ohne ersichtliche Gemütsbewegung nachdenklich an. Seine grauen Augen tasteten alles, Leichnam wie Umfeld, minutiös ab – die Lage des Tatorts, den Anbau, die Blumenrabatte und Wiese, die Häuser der Nachbarschaft – wie eine Filmkamera, die jedes Detail aufzeichnete, bis sein Blick auf den Balkon oberhalb der schmalen Terrasse fiel.

»Führen Sie mich bitte dort hinauf!« Er schien nicht zum Gespräch aufgelegt, so dass sich auch Kurt Leidner zurückhielt. Nur etwas musste er loswerden: