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Nalan Gürbüz-Bicakci

Gibt es eine Erziehung
zur Integration?

Nalan Gürbüz-Bicakci

Gibt es eine Erziehung zur Integration?

Eine multimethodische Studie zu türkischen
Migranteneltern der Folgegenerationen

Tectum Verlag

Nalan Gürbüz-Bicakci

Gibt es eine Erziehung zur Integration?Eine multimethodische Studie zu
türkischen Migranteneltern der Folgegenerationen

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017

Zugl. Diss. Univ. Universität Bielefeld 2016

ISBN: 978-3-8288-6710-9

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3980-9 im Tectum Verlag erschienen.)

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

„So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muss sie für fertig
erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Mögliche getan hat“.

Johann Wolfgang von Goethe

Für meine Familie

INHALTSVERZEICHNIS

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Einleitung

1Erziehungsverhalten und Integrationsprozesse

1.1Erziehungsverhalten

1.2Integration

2Empirische Studien zur Erziehung und Integration von türkischen Migranteneltern

2.1Erziehungsverhalten türkischer Migranteneltern

2.2Integration von türkischen Migranteneltern

3Fragestellung und Zielsetzung

4Multimethodisches Forschungsdesign

4.1Prozedere

4.2Studie 1: Qualitative Erhebung

4.2.1Familie 1: ABC

4.2.2Familie 2: DEF

4.2.3Familie 3: GHI

4.2.4Familie 4: JKLM

4.2.5Familie 5: NOPQ

4.2.6Zusammenfassung

4.3Themen und Kategorien

4.3.1Familienklima

4.3.2Außerfamiliäre Einrichtungen

4.3.3Integration

4.4Erkenntnisse der Studie 1

4.5Studie 2: Quantitative Erhebung

4.5.1Befragungsdurchführung

4.5.2Datenerhebung

4.5.3Rekrutierung der Stichprobe

4.5.4Messinstrument

4.5.5Statistische Methoden

5Ergebnisse der qualitativen und quantitativen Studien

5.1Deskriptive Ergebnisse

5.1.1Beschreibung der Stichprobe

5.1.2Stichprobe nach Geschlecht

5.1.3Ein exemplarischer Ausschnitt der Grundgesamtheit

5.2Überprüfung der Messinstrumente

5.2.1Faktorenstruktur Erziehungsverhalten

5.2.2Faktorenstruktur Integrationserleben

5.3Ergebnisse zum Erziehungsverhalten

5.4Ergebnisse zum Integrationserleben

5.5Exkurs: Weiterführende Analysen

5.5.1Geschlechtsspezifische Analysen zum Erziehungsverhalten

5.5.2Geschlechtsspezifische Analysen zum Integrationserleben

5.5.3Analysen nach Geburtsländern

5.6Zusammenhang des Erziehungsverhaltens
mit dem Integrationserleben

6Zusammenfassung und Diskussion der qualitativen
und quantitativen Studien

6.1Stichprobe

6.2Das Erziehungsverhalten türkischer Migranteneltern

6.3Das subjektive und familiäre Integrationserleben

6.4Gibt es eine Erziehung zur Integration?

7Erkenntnisse einer Zielgruppenanalyse

8Fazit und Ausblick

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1:Prozessmodell der Determinanten des elterlichen Erziehungsverhaltens
nach Belsky

Abb. 2:Systemisch-kontextualistisches Modell des elterlichen Erziehungsverhaltens
nach Darling&Steinberg

Abb. 3:Häufigkeitsverteilung des Alters der Eltern

Abb. 4:Schulabschlüsse und berufliche Bildungsabschlüsse der Eltern in Prozent

Abb. 5:Prozentuale Verteilungen der Erwerbs- und Beschäftigungssituationen

Abb. 6:Prozentuale Verteilungen der Sprachkenntnisse

Abb. 7:Verteilungen zum häuslichen Sprachgebrauch mit dem Kind
und mit dem Partner

Abb. 8:Prozentuale Verteilungen der Vereinsaktivitäten

Abb. 9:Anteil der Kinder in den befragten Familien

Abb. 10:Verteilungen der Kinder im Vorschulalter auf die einzelnen Einrichtungs-
und Betreuungsformen in absoluten Zahlen

Abb. 11:Verteilungen der Kinder im Schulalter auf die einzelnen Schulformen
und Universität in absoluten Zahlen

Abb. 12:Verteilungen der Eltern nach ihren Funktionen in Kita und Schule.

Abb. 13:Scree-Plot Erziehungsverhalten

Abb. 14:Screeplot zum Integrationserleben

Abb. 15:Verteilungen der Mittelwerte zum Erziehungsverhalten.

Abb. 16:Verteilungen der Mittelwerte zum subjektiven Integrationserleben

Abb. 17:Verteilung der subjektiven Einschätzung zur eigenen Integration

Abb. 18:Zuschreibung der Verantwortlichkeit für den Integrationserfolg

Abb. 19:Prozentuale Verteilung der Verantwortlichkeit für Integrationserfolg

Abb. 20:Prozentuale Verteilungen zur Zusammensetzung des Freundeskreises

Abb. 21:Prozentuale Verteilung der identifikativen Integration

Abb. 22:Prozentuale Verteilung der identifikativen Integration

Abb. 23:Prozentuale Verteilung der emotionalen Integration

Abb. 24:Prozentuale Verteilung zur identifikativen Integration

Abb. 25:Prozentuale Verteilung der identifikativen Integration.

Abb. 26:Verteilung zur identifikativen Integration: Bikulturelle Identität

Abb. 27:Verteilungen der Angaben zum Wohlfühlen in Deutschland

Abb. 28:Prozentuale Verteilungen der Zufriedenheit mit der Lebenssituation

Abb. 29:Prozentuale Verteilungen zur identifikativen Integration

Abb. 30:Verteilungen der Fremdwahrnehmung als Ausländer

Abb. 31:Prozentuale Verteilungen zur gesellschaftlichen Verortung der Kinder
als ausländische Kinder

Abb. 32:Prozentuale Verteilungen zum Wunsch der Eltern, dass es die Kinder leichter
haben sollen in der Gesellschaft als sie selbst

Abb. 33:Prozentuale Verteilungen der elterlichen Wahrnehmung, Eltern bzw. Kinder
müssten sich mehr bemühen, um erfolgreich zu sein

Abb. 34:Prozentuale Verteilung der Wahrnehmung kultureller Differenzen zwischen
Türken und Deutschen

Abb. 35:Prozentuale Verteilungen zum elterlichen Wunsch, dass sich die Kinder
in Deutschland wohl fühlen, aber überwiegend nach türkischen kulturellen Verhaltensmustern leben sollen

Abb. 36:Prozentuale Verteilungen zur subjektiven Einschätzung der Eltern zur Integrationsförderung über Erziehung

Abb. 37:Verteilungen der integrationsfördernden Erziehungsinhalte in Prozent

Abb. 38:Prozentuale Verteilungen der Ansicht, dass Integration von der Politik
einseitig diskutiert wird.

Abb. 39:Verteilungen der erlebten Diskriminierungen in verschiedenen Bereichen

Abb. 40:Erlebte Diskriminierungen in verschiedenen Bereichen

Abb. 41:Zusammenhangsmodell zur generierten Hypothese

Abb. 42Zusammenhang zwischen positiv erlebter Integration
und Erziehungsverhalten

Abb. 43:Zusammenhang zwischen Exklusionsmechanismen
und autoritärer Erziehung

Tabellenverzeichnis

Tab. 1:Typen der Sozialintegration von Migranten

Tab. 2:Skalenzusammensetzung Erziehungsverhalten

Tab. 3:Skalenzusammensetzung zum Integrationserleben

Tab. 4:Verteilungen der Einwanderergenerationen der Eltern

Tab. 5:Prozentuale Verteilungen der Schul- und beruflichen Bildungsabschlüsse
nach Geschlecht

Tab. 6:Verteilungen der Sprachkenntnisse (Türkisch/Deutsch) nach Geschlecht

Tab. 7:KMO und Bartlett-Test: Erziehungsverhalten

Tab. 8:KMO und Bartlett-Test: Integration

Tab. 9:Erklärte Gesamtvarianz

Tab. 10:Interskalen-Korrelationen zum Erziehungsverhalten

Tab. 11:Erklärte Gesamtvarianz zum Integrationserleben

Tab. 12:Interskalen-Korrelationen zum Integrationserleben

Tab. 13:Statistische Kennwerte zum Erziehungsverhalten

Tab. 14:Deskriptive Ergebnisse zur innerfamiliären Kommunikation

Tab. 15:Deskriptive Ergebnisse zur Involviertheit

Tab. 16:Deskriptive Ergebnisse zur Kindzentriertheit

Tab. 17:Deskriptive Ergebnisse zum geduldigen Umgang

Tab. 18:Deskriptive Ergebnisse zur Behütung

Tab. 19:Deskriptive Ergebnisse zur innerfamiliären Aufgabenteilung

Tab. 20:Statistische Kennwerte zum Integrationserleben

Tab. 21:Geschlechtsspezifische Analysen des Erziehungsverhaltens

Tab. 22:T-Test bei unabhängigen Stichproben

Tab. 23:Geschlechtsspezifische Analysen zum Integrationserleben

Tab. 24:T-Test bei unabhängigen Stichproben

Tab. 25:Analysen zum Integrationserleben nach Geburtsland

Tab. 26:T-Test bei unabhängigen Stichproben

Tab. 27:Analysen zum Erziehungsverhalten nach Geburtsland

Tab. 28:T-Test bei unabhängigen Stichproben

Tab. 29:Korrelationen des Erziehungsverhaltens und des Integrationserlebens

Tab. 30:Korrelation nach Pearson: Erziehungsverhalten mit der subjektiven Einschätzung
der eigenen Integration

Einleitung

„Türken1 sind die Sorgenkinder der Integration“ (Lauer/Siems/Ehrentraut 2010), sie seien integrationsunwillig, gar integrationsunfähig und lebten in abgeschotteten Parallelgesellschaften. Ihre patriarchalischen, traditionellen Familienstrukturen stünden im Kontrast zur deutschen Mehrheitsgesellschaft. Da die Selbstständigkeit der Kinder und Jugendlichen innerfamilial nicht gefördert werde, Kinder sich somit mit widersprüchlichen Anforderungen auseinandersetzen müssten, werde die Integration in die gesellschaftlichen Strukturen gehemmt. Ihre familialen Lebenswelten, bestehend aus einer weiterhin als fremd wahrgenommenen Kultur und einer angsteinflößenden Religion seien große Integrationshindernisse. Die Existenz kultureller und sozialer Distanzen mache eine Angleichung unmöglich (vgl. Nauck 1999:24).

Die vorherrschende öffentliche und teilweise den Diskurs dominierende Sicht auf „den Türken“ ist nicht zuletzt seit der Sarazzin-Debatte entfacht, da seither vermehrt von Integrationsunwilligkeit die Rede ist (vgl. Thränhardt 2010:16). Seither „(veränderte sich) im öffentlichen Diskurs (…) das Bild der Zugewanderten, das an „den Türken“ oder „den Muslimen“ festgemacht wird“ (ebd.:20). Obgleich die These einer Parallelgesellschaft in empirischen Untersuchungen falsifiziert wurde, setzte „in den Medien (…) eine intensive Berichterstattung über mangelnde Integration ein, die immer wieder mit sprechenden Beispielen untermauert wurde“ (ebd.:21). Eine defizitorientierte Perspektive dominiert die öffentliche Meinung und Schreckensbilder einer gescheiterten Integration werden immer wieder inszeniert.

Die Debatte suggeriert eine einseitige Verantwortlichkeit. Die Verantwortung für das Gelingen der Integration wird vor allem der zugewanderten Bevölkerung angelastet, und eine einseitige Schuldzuweisung wird betrieben. „Die Integrationsdebatte in den Medien und häufig auch in der Politik orientiert sich an Defiziten, reproduziert Stereotype und konzentriert sich oft auf ausgesuchte Einzelfälle, die polemisch verallgemeinert werden“ (Sachverständigenrat 2014:23). Obwohl theoretischer Konsens darüber besteht, dass Integration keine Einbahnstraße ist, sondern ein Prozess, an dem sowohl die aufnehmende wie auch die zugewanderte Bevölkerung gleichermaßen beteiligt sind, suggerieren öffentliche und politische Debatten, es sei vor allem eine Frage der individuellen Entscheidung bzw. der subjektiven Voraussetzungen der Zugewanderten, ob sie sich integrieren wollen bzw. können. Die Verantwortung für das Scheitern der Integration, gemessen anhand von „vorausgesetzten Vergleichs- und Bewertungsmaßstäben“ (Polat 2000:12), wird ihnen zugeschrieben: sie seien „integrationsunwillig“. Gemessen anhand festgeschriebener, christlich-westlicher Standards werden unreflektiert familiale Lebenswelten als Integrationshemmnisse, kriminalitätsfördernde und Bildungsverlierer produzierende Faktoren betrachtet.

Für eine gelingende Integration in die Mehrheitsgesellschaft werden zunehmend Familien als relevant erachtet. Der „fachliche Diskurs (hat) Familien mit Migrationshintergrund2 bisher eher am Rande behandelt (…)“ (Fischer & Springer 2011:9), wenngleich der Familie im Integrationsprozess eine erhebliche Rolle zugeschrieben wird (vgl. Nauck 2005:119ff.; Fuhrer/Uslucan 2005:12). Obwohl erkannt wurde, dass Eltern aufgrund ihrer Einstellungen und ihres Verhaltens den Integrationsprozess beschleunigen oder erschweren können (vgl. Trommsdorff 2005:41), werden „Migrantenfamilien (…) in der Migrationsforschung selten explizit thematisiert“ (Nauck 2007:19). Zumal frühere Studien „Migrantenfamilien im Blick auf die Kinder als Belastung und Risiko analysiert (haben)“ (Filsinger 2011:52).

Viele Forschungsarbeiten betrachten türkische Migrantenfamilien fast ausschließlich unter dem Aspekt der traditionellen Orientierung. Daher verzeichnen viele Veröffentlichungen ähnliche Befunde und sind durchzogen von „ethnozentrischen Vorannahmen“ (Herwartz-Emden/Westphal 2003:100; Stöbe 1998:91). Doch „die Migrationsforschung in Deutschland droht durch die Vielzahl neu hinzukommender und zu berücksichtigender Variablen in der Untersuchung von Migrantenfamilien schnell überholt oder reduktionistisch zu werden“ (Schepker et.al. 2005:16). Da zu den Lebensrealitäten, familialen Erfahrungsumwelten und Sozialisationserfahrungen türkischer Migrantenfamilien nahezu kaum empirische Daten vorliegen, wird ein weißer Fleck in der Forschungslandschaft konstatiert (vgl. Leyendecker 2008:93). Insbesondere für die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Folgegenerationen, die sog. Postmigranten3, zeigt sich ein großer Bedarf an aktuellen empirischen Daten zu ihrem familialen Erziehungs- und Integrationserleben.

Die Frage nach der Erziehung und Integration von türkischen Migranteneltern ist von besonderem Interesse.

In Deutschland lebten zum Ende 2014 ca. 2,9 Millionen Personen türkischer Herkunft (vgl. Statistisches Bundesamt 2015), von denen 78% in Familien lebten und eine deutliche Mehrheit (52%) über keine eigene Migrationserfahrung verfügte (vgl. ebd.). Von den 1,37 Millionen Personen, die selbst migrierten, sind ca. 42% zum Zwecke einer Familienzusammenführung eingereist (vgl. ebd.:542). Es reisen jährlich immer neue Migranten aus der Türkei nach Deutschland ein, daher wird angenommen, dass die „Heiratsmigration in seiner quantitativen Bedeutung in Zukunft zunehmen“ (Nauck / Steinbach 2001:98) und somit der bereits andauernde Eingliederungsprozess von Neuzugewanderten überlagert wird.

Dieses Phänomen der diversen Sozialisationserfahrungen für die Familiendynamiken sind aber bislang weitgehend unerforscht (vgl. Leyendecker 2008).

Leyendecker konstatiert, dass wenn die familiären Erfahrungsumwelten von Kindern aus zugewanderten Familien „weiterhin ignoriert (werden), wird auch das Potenzial ignoriert, das in Familien steckt, und damit ein wichtiger Hebel zur Förderung und Integration der Kinder und ihrer Familien“ (ebd.:93). Auch im Hinblick auf die „Debatten über Integrationsverweigerung vor allem der türkischen Migration ist (das Thema) unverändert relevant“ (Keupp 2011:11). Daher wird mit der vorliegenden Dissertation intendiert, diese Forschungslücke zu schließen.

Ziel der Dissertation ist die Erfassung elterlicher Erziehungspraktiken und subjektiver Integrationserleben türkischer Migranteneltern. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht eine explorativ-deskriptive Analyse der Forschungsfrage „Gibt es eine Erziehung zur Integration?“

Hierfür wird ein multimethodisches Forschungsdesign gewählt, bei dem quantitative und qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden kombiniert werden. Die Kombination qualitativer und quantitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden folgt dem Prozedere eines Verallgemeinerungsmodells. Die qualitative Studie wird zunächst vollständig durchgeführt und ausgewertet. In einem zweiten Schritt werden diese erfassten Daten mittels quantitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden überprüft und verallgemeinert (vgl. Mayring 2001:7). Die Ergebnisse führen schließlich zur Generierung einer gegenstandsbegründeten Hypothese.

Die Zielgruppe der vorliegenden Untersuchung sind türkische Migranteneltern der Folgegenerationen4, die mindestens ein Kind im Vorschulalter5 (0 bis 6) haben und in der klassischen Familienform (Vater-Mutter-Kind) in Deutschland zusammenleben.

Es interessiert weniger, welche Erziehungsvorstellungen bzw. -einstellungen vorliegen, als vielmehr wie türkische Migranteneltern der Folgegenerationen tatsächlich erziehen und welche elterlichen Erziehungspraktiken sich empirisch erfassen lassen. Daher bietet sich die Methode der teilnehmenden Beobachtungen an. Es ermöglicht eine explorative Erkundung subjektiver familiärer Lebenswelten und komplexer Interaktionsgeschehen (vgl. Kuckartz 1994:556). Des Weiteren soll erfasst werden, wie türkische Migranteneltern ihre subjektive wie familiale Integration erleben und bewerten und ob ein Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung und Integration besteht.

Zunächst werden einleitend allgemeine erziehungswissenschaftliche und interdisziplinäre Grundlagen zu den Themen Erziehung und Integration als theoretischer Bezugsrahmen herangezogen und eine begriffliche Basis gebildet (Kapitel 1). Dann folgt ein Überblick über den bisherigen Forschungsstand zum Erziehungsverhalten und zur Integration türkischer Migrantenfamilien (Kapitel 2). Nachdem dann die Fragestellung und die Zielsetzung der vorliegenden Dissertation vorgestellt werden (Kapitel 3), folgt eine ausführliche Darstellung des multimethodischen Forschungsdesign (Kapitel 4). Die Darstellung erfolgt analog zum methodischen Vorgehen und umfasst zunächst die qualitative und im Anschluss die quantitative Studie. Da die qualitative Studie zur Exploration des Forschungsgegenstandes dient und zur Operationalisierung der quantitativen Studie eingesetzt wird, wird sie zunächst in ihrer Gesamtheit dargestellt.

In Kapitel 4.2 werden die beobachteten Familien einzeln skizziert. Hierfür werden sowohl die Familien als auch die beobachteten Eltern-Kind-Interaktionen wiedergegeben. Eine zusammenfassende Darstellung zu den erfassten Stichprobendaten erfolgt in Kapitel 4.2.6. Die Beobachtungen werden gemäß der Grounded Theory ausgewertet. Die identifizierten Themen und Kategorien zum Erziehungsverhalten sowie zum Integrationserleben werden in Kapitel 4.3 zusammenfassend dargestellt. Aufbauend auf diesen werden beobachtete Erkenntnisse im Kapitel 4.4 konkretisiert, auf die in den Kapiteln 5.3 sowie 5.4 erneut eingegangen wird. Zunächst wird die quantitative Studie (Kapitel 4.5) in ihrer methodischen Prozedere schrittweise dargestellt. Die Befragungsdurchführung (Kapitel 4.5.1), die die Datenerhebung (Kapitel 4.5.2), die Rekrutierung der Stichprobe (Kapitel 4.5.3) sowie die Konstruktion und Itemsammlung des Messinstrumentes (Kapitel 4.5.4) werden nacheinander veranschaulicht. Kapitel 4 schließt mit einer kurzen Darstellung zu den eingesetzten statistischen Methoden (Kapitel 4.5.5). Da es sich um eine explorativ-deskriptive Studie handelt, werden die empirischen Ergebnisse ab Kapitel 5 sehr ausführlich beschrieben.

Hierfür wird zunächst die Stichprobe deskriptiv abgebildet (5.1.1), die Stichprobe nach Geschlechtern differenziert (5.1.2) und schließlich folgt ein Ausschnitt des Mikrozensus 2015, um eine Basis für Vergleiche der Stichprobendaten mit den Daten der Grundgesamtheit zu haben. Da für die vorliegende Forschungsfrage ein neues Messinstrument konstruiert wurde, werden dann die Überprüfung der Faktorenstruktur des Erziehungsverhaltens (Kapitel 5.2.1) sowie die Faktorenstruktur des Integrationserleben (Kapitel 5.2.2) ausführlich abgebildet. Die deskriptiven Ergebnisse zum Erziehungsverhalten und zum Integrationserleben der Stichprobe werden in Kapitel 5.3 und 5.4 zunächst auf Konstrukt- und anschließend auf Itemebene präsentiert. Die in den teilnehmenden Beobachtungen erfassten Erkenntnisse werden erneut aufgegriffen und anhand der Daten der zweiten Studie überprüft.

Kapitel 5.5 dient als Exkurs und prüft weitergehende Fragestellungen hinsichtlich vorhandener Gruppenunterschiede. Es werden das Erziehungsverhalten und Integrationserleben sowohl nach Geschlecht als auch nach eigener Migrationserfahrung differenziert. Im Fokus des Kapitels 5.6 stehen Zusammenhangsanalysen zur Forschungsfrage, ob die erfassten Erziehungspraktiken einen Zusammenhang mit dem erfassten Integrationserleben haben. In diesem Kapitel wird die zentrale Forschungsfrage beantwortet. Die deskriptiven Ergebnisse werden in Kapitel 6 themenspezifisch zusammengefasst und auf der Grundlage vorliegender Forschungsergebnisse anderer Studien interpretiert. Die gemäß der Grounded Theory generierte Hypothese der vorliegenden Arbeit wird in Kapitel 6.4 modellhaft konkretisiert.

Da „zur Gestaltung einer pädagogischer Praxis (…) vor allem eine klare Vorstellung (...) von der Zielgruppe (…) (gehört)“ (Badawia 2003:133) und die zielgruppenspezifisch erhobenen Daten einen relevanten Beitrag dazu leisten könnten, soll in Kapitel 7 eine deskriptive Zielgruppenanalyse6 durchgeführt werden. Die untersuchte Zielgruppe wird nicht als homogene Gruppe begriffen.

Insgesamt erscheint es wichtig an dieser Stelle zu betonen, dass eine repräsentative Studie weder intendiert noch im Rahmen der vorliegenden Dissertation möglich ist.

Die Arbeit wird schließlich mit einem Ausblick in eine postmigrantische Gesellschaft (Kapitel 8) beendet.

1Aus stilistischen Gründen wird darauf verzichtet, an allgemeine Personengruppenbezeichnungen ein “-Innen” anzuhängen. Der Gebrauch ohne diese Endung bedeutet jedoch keinen Ausschluss weiblicher Personen, sondern schließt diese immer mit ein.

2Die Bezeichnung „Person mit Migrationshintergrund“ beinhaltet neben den Personen, die selbst nach 1950 in die Bundesrepublik eingewandert sind und solchen, die eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen, auch diejenigen Personen, die deutsche Staatsangehörige sind aber bei denen mindestens ein Elternteil oder Großelternteil selbst zugewandert ist (Bundesregierung 2007:14f.). Einen Migrationshintergrund haben demnach Ausländer, eingebürgerte Migranten sowie die erste, zweite und dritte Generation der zugewanderten Menschen. Menschen mit Migrationshintergrund stellen also keine homogene Gruppe dar. Die Bezeichnung „mit Migrationshintergrund“ wird in der Migrationsforschung kritisiert, da sie Menschen als „fremde Elemente“ (Mecheril 2014:108f.) konstruieren würde. Da aber alle etablierten Bezeichnungen (mit Migrationshintergrund, Migrant, Zuwanderer, Einwanderer, Türke etc.) unter diesem Verdacht einer Reproduktion von Fremdheit stehen, sollen in der vorliegenden Arbeit zunächst diese Bezeichnungen beibehalten werden, ohne essayistisch klingen zu wollen (vgl. Foroutan 2010:10).

3Shermin Langhoff (2011) hat mit ihrem „Postmigrantischen Theater“ im Berliner Ballhaus Naunynstraße die Bezeichnung „postmigrantisch“ eingeführt, um „Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen“ (Langhoff 2011) zu erzählen. Postmigrantisch stehe für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft (vgl. ebd.).Mehr zum Begriff in Kapitel 1.2.

4Als Folgegeneration (zweite, dritte, vierte) werden die Personen aufgefasst, deren Eltern oder Großeltern (erste Generation) zuerst eingewandert sind, während sie selbst in Deutschland geboren und sozialisiert sind. Sie verfügen also über keine eigene Migrationserfahrung. Zu den Folgegenerationen zählen aber auch die Kinder bzw. Enkelkinder der ersten Generation, die zwar nicht in Deutschland geboren wurden aber im frühen Kindesalter (bis 7 Jahren) nach Deutschland migrierten und seitdem hier leben.

5Die Begrenzung auf Kinder im Vorschulalter basiert auf zwei Überlegungen. Einerseits wird davon ausgegangen, dass frühe Eltern-Kind-Beziehungen eine entscheidende Rolle für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Menschen tragen (vgl. Neumann 1981). Andererseits wurde gerade für diese Altersgruppe ein relevanter Bedarf an neueren Erkenntnissen zu ihren Sozialisationserfahrungen identifiziert (vgl. Leyendecker 2008, Otyakmaz 2014).

6An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die vorliegende Dissertation keine Pauschalisierungen oder kulturalisierende Zuschreibungen intendiert. Es wurde explizit ein exploratives Vorgehen wählt, um unvoreingenommen und offen die familiären Lebenswelten erforschen zu können. Die Verwendung einheitlicher Termini „Türken“, „türkische Eltern“, „Personen mit türkischem Migrationshintergrund“, „Türkische Migranten“ etc. dient einer Einordnung in etablierte Begrifflichkeiten und soll keineswegs den Eindruck einer Homogenität erwecken.

1Erziehungsverhalten und Integrationsprozesse

Zwei zentrale Begriffe der vorliegenden Dissertation sind Erziehung und Integration. Ihre Definitionen sind nicht per se klar und eindeutig, daher sollen im Folgenden die begrifflichen Grundlagen der vorliegenden Forschungsfrage erläutert werden. Zunächst wird eine theoretische Grundlage zum Erziehungs- und Integrationsbegriff allgemein gegeben. Im darauffolgenden Kapitel 2 wird der Forschungsstand zum Erziehungsverhalten und zur Integration türkischer Migranteneltern dargestellt.

1.1Erziehungsverhalten

Die frühe Eltern-Kind-Beziehung trägt eine entscheidende Rolle für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Die Familie7 stellt einen wichtigen Entwicklungskontext für die kindliche Entwicklung dar. Es wird angenommen, dass in der Familie die Basispersönlichkeit des Kindes ausgebildet wird (vgl. Neumann 1981:10). Im Laufe der Kindheit und Jugend erhalten auch andere Sozialisationsinstanzen8 eine maßgebliche Rolle, doch die Familie bleibt als primäre Sozialisationsinstanz über Jahre hinweg nachweisbar prägend.

„Familie (stellt) die maßgeblichen Weichen für die spätere soziale Platzierung eines Individuums, da die in Familienbeziehungen verinnerlichten Normen, Werte und Verhaltensweisen wenn auch nicht als unveränderlich, so doch als besonders stabil gelten“ (Ecarius 2011:9). Zur Betrachtung der primären Sozialisationsinstanz Familie gehören aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive die Sozialisation und Erziehung. Während Sozialisation „als lebenslanger individueller Lernprozess (verstanden wird), in dem sich das Individuum zur selbstständig lebens- und arbeitsfähigen Persönlichkeit entwickelt“ (ebd.), ist Erziehung eine „geplante, zielgerichtete und absichtsvolle Sozialisation, also jener Teil der Sozialisationsprozesse, welche darauf abzielt, Veränderungen von Kindern und Jugendlichen zu bewirken“ (ebd.). Ecarius unterscheidet für die Pädagogik einen normativen und deskriptiven Erziehungsbegriff. Aus einer normativen Perspektive ist Erziehung „als Ermöglichungsbedingung für die Entfaltung von Subjektivität und Entwicklung von Mündigkeit und Selbstständigkeit“ (ebd.) definiert. Die deskriptive Pädagogik definiert „Erziehung als die jeweilige gesellschaftliche Reaktion auf die Erkenntnis, dass Menschen heranwachsen und sich entwickeln“ (ebd.:10).

Nach Klaus Hurrelmann (1994) ist Erziehung „die soziale Interaktion zwischen Menschen, bei der ein Erwachsener planvoll und zielgerichtet versucht, bei einem Kind unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und der persönlichen Eigenart des Kindes erwünschtes Verhalten zu entfalten oder zu stärken. Erziehung ist ein Bestandteil des umfassenden Sozialisationsprozesses; der Bestandteil nämlich, bei dem von Erwachsenen versucht wird, bewußt (sic!) in den Prozeß (sic!) der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern einzugreifen - mit dem Ziel, sie zu selbstständigen, leistungsfähigen und verantwortungsvollen Menschen zu bilden“ (Hurrelmann 1994:13). Erziehung ist also ein bewusstes meist elterliches Verhalten mit der zielgerichteten Intention, ein erwünschtes kindliches Verhalten zu fördern. Schneewind fasst den Begriff des elterlichen Erziehungsverhaltens als „alle kindbezogenen Erlebnis- und Handlungsweisen, die Eltern mit oder ohne Beeinflussungsabsicht äußern“ (Schneewind 1980:21) auf. An dieser Definition wird deutlich, dass auch elterliche Handlungen ohne zielgerichtete Absichten gegenüber dem Kind als Erziehungsverhalten aufgefasst werden.

„Elterliches Erziehungsverhalten unterliegt vielfältigen Einflüssen“ (Reichle/Franiek 2007:4). Belsky (1984) konzipierte ein allgemeines theoretisches Modell der Determinanten des elterlichen Verhaltens, in dem drei Hauptfaktoren für dysfunktionale bzw. gelungene Elternschaft identifiziert werden: „die individuellen psychologischen Ressourcen der Eltern (Elternpersönlichkeit), die Eigenschaften des Kindes und den sozialen Kontext, in den die Eltern-Kind-Beziehung eingebettet ist (Paarbeziehung, soziale Netzwerke sowie die berufsbezogenen Erfahrungen der Eltern)“ (ebd.). In dem Modell (Abb.1) wird davon ausgegangen, dass die elterliche Entwicklungsgeschichte, die eheliche Paarbeziehung, die sozialen Netzwerke sowie die Erwerbstätigkeit Auswirkungen auf das psychosoziale Befinden der Eltern sowie auf das elterliche Erziehungsverhalten haben, welches wiederum die Kindesentwicklung beeinflusst (vgl. Asisi 2015:25). Belsky schlussfolgert, dass das elterliche Erziehungsverhalten multideterminiert ist, dass elterliche und kindliche Eigenschaften sowie der soziale Kontext die Elternschaft beeinflussen und dass die elterliche Entwicklungsgeschichte und Persönlichkeit jedes Elternteiles indirekt auf elterliches Erziehungsverhalten wirken (vgl. ebd.:25f.).

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Abb. 1:Prozessmodell der Determinanten des elterlichen Erziehungsverhaltens nach Belsky (1984), Eigene Abbildung nach Asisi 2015:26.

Nach Belsky werden „kognitive und motivationale Kompetenz sowie gesunde sozioemotionale Entwicklung des Kindes durch sensitive, aufmerksame, warme, stimulierende und nicht einschränkende Elternpflege (gefördert)“ (ebd.:26). Eltern können demnach durch ein entwicklungsförderndes, sensitives Verhalten eine positive Entwicklung ihrer Kinder bewirken. Zu entwicklungsfördernden Eigenschaften der Eltern zählen nach Belsky vor allem die Persönlichkeitsmerkmale der Eltern. Dazu gehören eine emphatische und adaptionsfähige Fähigkeit, das Alter, hohes Selbstwertgefühl, psychische Gesundheit und Wohlbefinden sowie positive Erfahrungen in der eigenen Kindheit (vgl. ebd.:27). Die Merkmale des Kindes, dazu gehört insbesondere sein Temperament, haben ebenfalls einen Einfluss auf das elterliche Erziehungsverhalten. Es wird zwischen schwierigem und unkompliziertem Temperament unterschieden (vgl. ebd.). Ist die Anpassungsfähigkeit des Kindes eingeschränkt, zeigt es impulsives und reaktives Verhalten, so hat es ein schwieriges Temperament und kann die Elternschaft erschweren. Positive Stimmung, geringere Reaktivität sowie hohe Anpassungsfähigkeit gehören zu den unkomplizierten Temperamenteigenschaften eines Kindes (vgl. ebd.). Zu den Einflüssen auf das elterliche Erziehungsverhalten des sozialen Kontextes zählen die eheliche Beziehung, die unterstützenden sozialen Netzwerke sowie die arbeitsbezogenen Erfahrungen der Eltern (vgl. ebd.:27f.). Eine positive Partnerschaft, die gegenseitigen Unterstützungen der Eltern sowie die väterliche Beteiligung an familiären Interaktionen beeinflussen zunächst allgemein das psychische Wohlbefinden der Eltern, welches das elterliche Erziehungsverhalten und somit die kindliche Entwicklung tangieren (vgl. ebd.). Für den Bereich der sozialen Netzwerke konstatiert Belsky, dass „ein dichteres soziales Netz (…) mit höherem Selbstvertrauen der Mutter sowie mit einer besseren Anpassung an kindliche Bedürfnisse und dessen Fähigkeiten zusammen(hängt)“ (ebd.). Durch die Erfahrung sozialer Unterstützung eines dichten sozialen Netzwerkes kann sich demnach das psychische Wohlbefinden sowie der Selbstwert der Eltern erhöhen und konsequenterweise die Eltern-Kind-Beziehung verbessern (vgl. ebd.:28). Die Zufriedenheit mit dem Berufsstatus zeigt in dem Modell von Belsky einen ähnlichen Effekt. Eine hohe Zufriedenheit mit der Erwerbstätigkeit sowie dem Einkommen korreliert positiv mit einem entwicklungsfördernden Erziehungsverhalten, denn „die Zufriedenheit mit dem eigenen Berufsstatus zeigt sich in mehr positiver Emotionalität und einem geringeren Einfordern von Disziplin den Kindern gegenüber“ (ebd.). Die Determinanten elterlichen Verhaltens hängen als „gepuffertes System“ zusammen und bedingen sich gegenseitig, so dass „wenn einige der Determinanten gefährdet sind, „puffern“ die anderen die Einflüsse auf das elterliche Erziehungsverhalten“ (ebd.). Eine entwicklungsfördernde Erziehung gelingt demnach am ehesten, wenn das persönliche „Ressourcen-Subsystem der Eltern funktioniert und eine einfühlsame und verantwortliche Betreuung unterstützt“ (ebd.:28f.). Entscheidend sind dem Modell zufolge vor allem die Persönlichkeitsdeterminanten beider Eltern, da sie die „negativen Einflüsse der kindlichen Eigenschaften und des sozialen Kontextes mildern (können)“ (ebd.:29). Kinder sind in dem „Erziehungsgeschehen nicht als Objekte anzusehen. Denn Kinder sind von Geburt an ihrerseits handelnde Subjekte, die sich schon frühzeitig gleichermaßen als Akteure erleben“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005:9) und dem Modell von Belsky folgend auch mit ihrem Temperament und ihren Eigenschaften Einfluss ausüben können.

Zum elterlichen Erziehungsverhalten gehören deskriptive Aspekte wie Erziehungseinstellungen, -praktiken, -ziele sowie -stile (vgl. Schneewind 1980: 24f.). Darling und Steinberg (1993) haben ein systemisch-kontextualistisches Modell des elterlichen Erziehungsverhaltens (Abb. 2) entwickelt, um das Zusammenwirken von Erziehungszielen, -praktiken und -stilen zu erklären (vgl. Fuhrer 2005:235). Die nachfolgende Abbildung 2 veranschaulicht dieses Modell.

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Abb. 2:Systemisch-kontextualistisches Modell des elterlichen Erziehungsverhaltens nach Darling & Steinberg 1993:493. (Quelle: Fuhrer 2005:236).

In dem Modell wird ersichtlich, dass die Erziehungsstile und das Erziehungsverhalten durch Erziehungsziele und –werte beeinflusst werden. Der elterliche Erziehungsstil hat eine indirekte Wirkung auf die kindliche Entwicklung aber eine direkte Wirkung auf die kindliche Bereitschaft, sich erziehen zu lassen. Diese kindlichen Persönlichkeitsmerkmale „moderieren (wiederum) den Zusammenhang zwischen Erziehungsverhalten und kindlicher Entwicklung“ (ebd.:236). Die Erziehungspraktiken haben einen direkten Effekt auf die Entwicklung des Kindes. Auch in diesem Modell wird deutlich, dass Kinder nicht passive Opfer der Erziehung sind, sondern ihre Bereitschaft, sich erziehen zu lassen, also ihr Temperament und ihre Persönlichkeitseigenschaften eine Moderatorfunktion haben.

Erziehungsziele und -einstellungen werden durch Sozialisationserfahrungen der Eltern geprägt (vgl. Uhanyan 2012:76) und erweisen sich als relativ stabil (vgl. Nauck/Özel 1986:307). Sie stellen kindbezogene Meinungen der Eltern und ihre erwünschten, zukünftigen Rollen für ihre Kinder dar. Die Auffassung, dass Erziehung ein zielgerichtetes elterliches Handeln ist, manifestiert sich vor allem in den Erziehungszielen. Diese werden als kulturell vermittelt und zeitgemäßen Entwicklungen anpassend betrachtet.

Die Erziehungspraktiken sind „konkrete Verhaltensweisen der Eltern, mit denen diese auf die Reaktionen oder Verhaltensmuster ihrer Kinder in Form von positiven oder negativen Sanktionen reagieren“ (Ecarius 2007:143) und dienen der Erreichung von Erziehungszielen. Diese Praktiken werden durch die Erziehungsstile moderiert, welche als situationsübergreifendes, emotionales Familienklima verstanden werden. Der Erziehungsstil ist der Kontext, in dem die Erziehung stattfindet.

Die Erziehungsstilforschung untersucht „typologische Konzepte elterlichen Erziehungsverhaltens sowie deren Effekte auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“ (Fuhrer 2005:232). Es wird davon ausgegangen, die kindliche Persönlichkeit sowie seine soziale, kognitive und emotionale Entwicklung durch den Erziehungsstil der Eltern erklären zu können (vgl. Asendorpf/Banse 2000:81).

Dabei stammt die bekannteste Typologie der Erziehungsstile von Diana Baumrind (1971), die zwischen einem permissiven, autoritativen und autoritären Erziehungsstil unterscheidet. Diese werden von Maccoby und Martin (1983) um einen vernachlässigenden Erziehungsstil ergänzt. Die Typologie ergibt sich aus der Verknüpfung zweier Erziehungsdimensionen, welche als grundlegend für die kindliche Entwicklung herausgestellt wurden: Kontrolle und emotionale Unterstützung.

Der autoritäre Erziehungsstil ist gekennzeichnet durch starke Kontrolle und emotionale Kälte. Autoritäre Eltern fordern Gehorsam und sind anweisend. Für die Einhaltung der Regeln werden auch körperliche Strafen, Verbote und psychische Bedrohungen eingesetzt. Der permissive Erziehungsstil beschreibt eine elterliche emotionale Nähe zum Kind ohne Regelvorgaben. Permissive Eltern sind liebevoll, kindzentriert und sensibel, doch haben keine Verhaltenserwartungen an das Kind. Der vernachlässigende Stil zeigt sich durch das Fehlen beider Dimensionen. Der autoritative Erziehungsstil kennzeichnet sich durch das gleichzeitige Vorhandensein beider Dimensionen, also klarer und strikter Regelvorgaben bei großer emotionaler Wärme. Autoritative Eltern sind zwar fordernd, doch sie zeigen auch großes Interesse am Kind und an seiner Entwicklung. Ihre Forderungen sind altersgemäß, orientieren sich am Entwicklungsstand ihrer Kinder und werden ihnen altersgemäß erklärt und begründet. Sie sind bemüht mit ihrem disziplinierenden Verhalten Unterstützung zu leisten und berücksichtigen auch kindliche Bedürfnisse und Interessen. „Eltern (befriedigen) unter Berücksichtigung der Individualität und des Entwicklungsstandes ihrer Kinder deren Bedürfnisse nach einem liebevollen, akzeptierenden und unterstützenden Verhalten (…) und (respektieren und wertschätzen) sie in ihrer individuellen Besonderheit (…)“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005:12). Zur autoritativen Erziehung gehört eine offene, innerfamiliale Kommunikationsstruktur, in der Eltern viel mit ihren Kindern sprechen, sie nach ihrer Meinung fragen und sie in die familialen Entscheidungen einbeziehen.

Der autoritative Erziehungsstil sei nach Erkenntnissen der Erziehungsstilforschung anzustreben, „da er stärker mit einem positiven Selbstwertgefühl und sozialer Kompetenz des Kindes korreliere“ (Asendorpf/Banse 2000:81) und mit besseren Schulleistungen, weniger Verhaltensproblemen und einem positiveren Selbstkonzept in Verbindung stehe (vgl. Uhanyan 2012:85). Der autoritäre Erziehungsstil bewirke hingegen eher negative Folgen für die kindliche Entwicklung und fördere die jugendliche Gewaltdelinquenz.

Für alle vier Erziehungsstile konnten in diversen Studien9 empirisch gesicherte Daten und Zusammenhänge mit Entwicklungseffekten bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen werden (vgl. Fuhrer 2005:232). Für die positiven Effekte der autoritativen Erziehung konnte jedoch keine kulturübergreifende und alle Kinder einbeziehende Gültigkeit konstatiert werden (vgl. ebd.:237).

In kulturvergleichenden Untersuchungen zu den Erziehungsstilen konnte gezeigt werden, dass unter bestimmten Bedingungen die einzelnen Erziehungsstile unterschiedliche Auswirkungen haben. Wenn die Kinder in entwicklungsgefährdenden bzw. delinquenzförderlichen Umwelten aufwachsen, was für einige türkische Kinder und Jugendliche vermutet wird (vgl. Uslucan 2010c:220), so habe die autoritäre Erziehung durchaus eine sinnvolle Funktion, weil diese Kinder und Jugendlichen eine stärkere Kontrolle und Lenkung bedürften. Otyakmaz konstatiert, dass dieser Erziehungsstil-Typologie „ein westlich-christliches Weltverständnis zugrunde liegt und daher durch diese Erziehungsstilkonzeption das Verhalten von nicht-westlichen Eltern nicht adäquat erfasst wird“ (Otyakmaz 2008:3).

Für eine entwicklungsförderliche Umsetzung elterlichen Erziehungsverhaltens werden insgesamt äußerliche Bedingungen, unter denen Familien ihr Leben gestalten, als relevant erachtet (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005:15). Dazu zählen insbesondere ökonomische und zeitliche Ressourcen und damit Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe, die Erwerbsbeteiligung der Eltern und die berufsbezogenen Erfahrungen sowie die Betreuungsarrangements für die Kinder (vgl. ebd.).

Vorliegende Erkenntnisse zum elterlichen Erziehungsverhalten und zu Eltern-Kind-Beziehungen sind zudem durch regelmäßige Forschung zu „Fragen des Wandels von Erziehung sowie hieraus resultierende Risiken und Chancen für die Entwicklung von Kindern, die Bedeutung relevanter Merkmale von Erziehung für die Kompetenz- und Sozialentwicklung von Kindern und die Effekte kontextueller, familiärer und personaler Einflussfaktoren auf elterliches Erziehungsverhalten und die Gestaltung von Eltern-Kind-Beziehungen“ (pairfam o.J.) zu aktualisieren.

Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam erforscht mittels multidisziplinärer repräsentativer Längsschnittstudien die partnerschaftlichen und familialen Lebensformen in Deutschland. Durch die jährlich erhobenen Befragungsdaten kann die Entwicklung von Partnerschafts- und Generationenbeziehungen in unterschiedlichen Lebensphasen dokumentiert werden. In ihren Veröffentlichungen stellen die Autoren fest, dass sich durch grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen auch in der Erziehung und in den Eltern-Kind-Interaktionen erhebliche Veränderungen ergeben haben. Grundlegend wird eine vermehrt kindzentrierte Orientierung in der Erziehung und eine „verstärkt auf die Selbstverwirklichung des Kindes“ (pairfam o.J.) wertlegende Erziehungshaltung festgestellt.

Ausgehend von den oben skizzierten theoretischen Grundlagen zur Erziehung wird in der vorliegenden Dissertation das elterliche Erziehungsverhalten untersucht, da es nach dem integrativen Modell von Steinberg und Darling einen direkten Einfluss auf kindliche Entwicklung annehmen lässt. Da auch Nauck und Özel (1986) in ihren Untersuchungen zum migrationsbedingten familialen Wandel zeigen konnten, dass sich durch den Eingliederungsprozess und die daraus resultierenden Handlungsalternativen die Erziehungspraktiken ändern (vgl. Nauck/Özel 1986:307), stehen diese im Vordergrund der eigenen Studie.

In Anlehnung an Schneewind wird in diesem Dissertationsprojekt elterliches Erziehungsverhalten als „alle kindbezogenen Erlebnis- und Handlungsweisen, die Eltern mit oder ohne Beeinflussungsabsicht äußern“ (Schneewind 1980:21) definiert. Bevor der Forschungsstand zur Zielgruppe dargestellt wird, folgen zunächst im nächsten Kapitel die begrifflichen Grundlagen zum Integrationsbegriff.

1.2Integration

Obwohl Integration ein interdisziplinär erforschtes Thema ist und viele theoretische Konzepte vorliegen, zeigen aktuelle Debatten, dass „die Konzepte sehr undeutlich und uneinheitlich definiert sind, die Theorien äußerst vielfältig und divergent sind und die Forschungsergebnisse so unüberschaubar sind, dass kaum vergleichbare und wissenschaftlich verallgemeinerbare Antworten (…) gegeben werden können“ (Zick 2010:25). Der Integrationsbegriff sowie seine politischen wie wissenschaftlichen Konzepte sind kontrovers geführte und debattierte Themen. Die Debatte erstreckt sich von einem eher positiv besetzten, liberal gedachten Multikulturalismus bis zu einem negativ besetzten, einseitigen Assimilationsdruck an die Mehrheitsgesellschaft (vgl. Pries 2015:10). Zudem basiert der Integrationsdiskurs vornehmlich „auf Negativnarrativen über die ‚verweigerte‘, ‚misslungene‘, die ‚verpasste‘ oder gar die ‚unmögliche‘ Integration“ (Mecheril 2014:108).

Die konzeptuelle Vielfalt der Integrations- und Migrationsforschung10 führt zur Verwendung ambivalenter Begrifflichkeiten, dessen Inhalte nur teilweise definiert sind und damit zu missverständlichen Erwartungen. Weder in der Politik noch in der Wissenschaft oder in den gesellschaftlichen, medialen Debatten sind die Inhalte der oftmals parallel genutzten Termini bekannt. Integration, Assimilation, Eingliederung, Partizipation, Teilhabe, Akkulturation und Inklusion sind dabei nur einige dieser synonym verwendeten Begrifflichkeiten.

Diese Unklarheiten und Verwirrungen werden als ein Resultat der Politik verstanden, denn jahrzehntelang bediente sich die Bundesrepublik ihrer „Lebenslüge“ (Bade 1994b:40), sie sei kein Einwanderungsland und brauche daher keine Einwanderungspolitik. Diese politische Selbstbeschreibung als Nicht-Einwanderungsland verursachte „nicht intendierte Folgen auf verschiedenen Ebenen“ (Bade/Oltmer 2004a:463), die es nun in der Gegenwart mit einer sehr kostenintensiven nachholenden11 Integrationspolitik zu beseitigen bzw. zu korrigieren gilt. Erst mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts (2000) und mit dem Zuwanderungsgesetz (2005) versteht sich die Bundesrepublik offiziell als ein Einwanderungsland und Integration als eine fachübergreifende Querschnittsaufgabe. Bundeskanzlerin Angela Merkel bildete 2006 den Integrationsgipfel und erklärte Integration zur Chefsache. Die Relevanz eines nachholenden Integrationsbedarfes wird durch diese „Symbolpolitik“ (Bade 2007:53) öffentlich postuliert, ohne eine begriffliche oder politische Einigung über die Inhalte zu verankern.

Integration, zunächst allgemein verstanden als die Eingliederung der zugewanderten Menschen in die Mehrheitsgesellschaft, wird als Assimilation aufgefasst und gedeutet. Klaus Bade, der den Begriff der nachholenden Integrationspolitik verankerte, stellte fest, dass „bei der Rede von der allgemeinhin 'gescheiterten Integration‘ (…) oft irrtümlich kategoriale Messlatten für Assimilationsprozesse angelegt (werden)“ (ebd.:21). Assimilation sei ein „eigendynamischer Prozess“ (ebd.), der einer Integration folgen könne, „aber nicht muss, und der vor allem nicht eingefordert oder gar amtlich verordnet werden kann“ (ebd.). Assimilation ist ein „einseitiger, nur in eine Richtung laufender Prozess (…), in welchem die Einwanderer und ihre Nachkommen ihre Kultur aufgeben und die des Einwanderungslandes vollständig übernehmen“ (Heckmann 2015:75, Hervorheb. in Original). Integration wird im Gegensatz dazu als ein Prozess der „Mitgliedschaftswerdung in der neuen Gesellschaft“ (ebd.:21) aufgefasst.

Für eine Konkretisierung des Integrationsbegriffes wird in Anlehnung an David Lockwood (1971) zwischen System- und Sozialintegration differenziert (vgl. Esser 2001; Heckmann 2015). Unter Integration wird zunächst allgemein der „Zusammenhalt von Teilen in einem ‚systemischen‘ Ganzen“ (Esser 2001:1) verstanden, wobei die einzelnen Teile ein nicht wegzudenkender, ein „integraler“ Bestandteil des Ganzen sein müssen. „Durch diesen Zusammenhalt der Teile grenzt sich das System dann auch von einer bestimmten ‚Umgebung‘ ab und wird von dieser Umgebung als ‚System‘ identifizierbar“ (ebd.). Die Systemintegration bezieht sich auf die „Integration des Systems einer Gesellschaft als Ganzheit“ (ebd.:3) und ergibt sich „unabhängig von den speziellen Motiven und Beziehungen der individuellen Akteure“ (ebd.). Die Sozialintegration bezieht sich hingegen auf die „Integration der Akteure bzw. der von ihnen gebildeten Gruppen „in“ das System hinein“ (ebd.) und hat folglich mit den individuellen Motiven, Absichten und den Beziehungen der Akteure zu tun (vgl. ebd.:4). Nach Heckmann bedeutet „Sozialintegration (…), dass gesellschaftliche Mitgliedschaft erworben wird“ (Heckmann 2015:70) und „Systemintegration bezieht sich auf die Art der Beziehungen zwischen den Akteuren und Teilsystemen in sozialen Systemen“ (ebd.).

In der Migrations- und Integrationsforschung wird Integration als die Sozialintegration der individuellen Migranten in die Mehrheitsgesellschaft verstanden. Es wird davon ausgegangen, dass Sozialintegration über mindestens vier Dimensionen erfolgen kann: Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation (vgl. Esser 2001:8). Die Sozialintegration über die Kulturation ist ein Prozess des Erwerbs des jeweiligen Wissens, bestimmter Kompetenzen und kultureller Standards, welche „notwendig (sind) für die Fähigkeit, erfolgreich in der Gesellschaft handeln zu können“ (Heckmann 2015:71). Die Kulturation ist eine Form des Lernens und von Gelegenheitsstrukturen abhängig, die dieses Lernen ermöglichen, unterstützen und/oder nicht unterbinden.