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Thomas West

Jagd auf den Kronzeugen

Kriminalroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Jagd auf den Kronzeugen

Krimi von Thomas West

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 114 Taschenbuchseiten.

 

Das FBI jagt die Mitglieder des Belucci-Clans, die versuchen, die organisierte Kriminalität in die eigenen Hände zu bekommen. Doch da gibt es Max Snyder, der aus Liebe zu einer Frau mit dem Ganzen Schluss machen will. So einfach ist das Aussteigen aber nicht, und Verrat wird in diesen Kreisen mit dem Tod beantwortet. Aber da ist auch Luke van Haye, dessen Sohn durch Snyder mit Drogen versorgt wurde und daran starb. Er ist auf Rache aus – obwohl er ein Beamter des FBI ist. Trevellian und das Team vom FBI stehen vor mehr als nur einer schwierigen Aufgabe.

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.

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© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

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1

Maxwell Snyder hieß er, und als sie ihn zum ersten Mal töten wollten, war sein Entschluss ein neues Leben anzufangen, gerade mal sechsunddreißig Stunden alt.

Jacqueline Ashland – Jacky – neben ihm auf dem Beifahrersitz schmiegte sich an ihn und sagte: „Wann heiratest du mich?”, und Max fuhr an den Straßenrand, nahm den Arm von ihrer Schulter und zog seinen Terminkalender aus dem Jackett.

„Schauen wir mal.” Er knipste das Innenlicht seines Aston Martins an und blätterte im Kalender herum. Der 330-PS-Motor brummte wie die Maschinen einer Fregatte.

Regen prasselte auf Dach und Windschutzscheibe, die Scheibenwischer schrammten über das Glas, Neonlichter und entgegenkommende Scheinwerfer verschwammen hinter dem Wasserschleier. Ein Wagen hielt vor ihnen in der zweiten Reihe. Vier Männer stiegen aus. Sie schienen es eilig zu haben. „Wegen des Regens, vermutete Jacky.

„Wie wär’s am zwanzigsten?”, sagte Maxwell.

„Mach keine Witze, Max – der zwanzigste war gestern!”

Die Männer tauchten rechts und links des Aston Martins auf. Jacky sah Pistolen in ihren Händen. „Max!” Sie schrie. „Mach was, Max!”

Der Motor heulte auf, der Aston Martin schoss rückwärts auf den Bürgersteig, zwei Männer an der schon halb geöffneten Fahrertür stürzten auf die Kühlerhaube eines parkenden Wagens.

„Runter mit dem Kopf!”, brüllte Max. Geistesgegenwärtig hatte Jacky ihre Tür verriegelt. Sie rutschte in ihren Sitz hinein, bis sie fast im Fußraum verschwand.

Max blickte nach hinten und steuerte seinen Flitzer im Rückwärtsgang zwischen Parkkolonne und Hausfassaden hindurch. Am Eingang einer Bar schrien Menschen. Einige flohen in die Bar, andere warfen sich zwischen die Stoßstangen parkender Fahrzeuge oder auf deren Kühlerhauben oder Heckklappen. Ein Schuss fiel, und noch einer, und noch einer.

Eine Kugel durchschlug die Windschutzscheibe, pfiff über Jackys Kopf hinweg in den Fond, und zerfetzte die Heckscheibe. Auch in den Kühlergrill schlugen Geschosse ein. Ein unsichtbarer Hammer schien im Motorraum zu wüten.

„Shit!” Max blendete auf; die Schützen hoben die Arme und wandten die Gesichter zur Seite. „Verfluchter Shit!” Er riss das Steuer nach rechts, der Aston Martin stieß rückwärts in die Lieferanteneinfahrt eines Supermarktes. Dann ein Tritt auf die Bremse, rein mit dem ersten Gang und Gas!

Jacky klebte mit Schultern und Kopf an der Rücklehne. Ihr Hintern schwebte im Fußraum, ihre Knie scheuerten an der Unterseite des Handschuhfachs hin und her. Die Angst presste ihr die Luft aus den Lungen und das Blut in den Bauch. Sie machte sich fast in die Hosen.

Der Wagen schoss auf die Straße hinaus, Bremsen schrien, Hupen heulten – in Schlangenlinien steuerte Max seinen Sportwagen an Kühlergrills und aufgeblendeten Scheinwerfern vorbei. Sekundenlang sahen Schützen und zufällige Augenzeugen den schwarzen Aston Martin durch grelles Licht jagen, als wäre er ein wildes Tier auf der Flucht.

Maxwell dachte nicht mehr nach, sein Fahrzeug und er verschmolzen miteinander: Herum mit dem Steuer, nach links! Rein mit dem Zweiten und noch mehr Gas! Dann der dritte Gang, der vierte, und Gas, Gas, Gas – der Aston Martin raste auf der Union Avenue nach Osten davon; in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

„Die Polizei, Max! Du musst die Polizei rufen!” Jacky tauchte neben ihm auf. Sie strich sich das blonde Haar aus der Stirn, sah zwischen den Sitzlehnen hindurch zurück und streckte gleichzeitig die Hand nach dem Handy aus. Das steckte in einer Halterung an der Mittelkonsole.

Max, ein Auge immer im Rückspiegel, hielt ihre Hand fest.

„Was tust du, Max?” Sie runzelte die Stirn, trotz des Halbdunkels sah er die Panik in ihrem Blick. „Wir müssen doch die Polizei rufen!”

„Ist schon gut, Honey.” Seine brüchige Stimme überraschte ihn selbst. Er war seit langem gewarnt, aber dass sie ausgerechnet an diesem Abend zuschlagen würden …

Das Scheinwerferpaar im Rückspiegel machte ihn nervös. Wie viele Fahrzeuge auch immer er überholte, das Scheinwerferpaar glitt ebenfalls an ihnen vorbei. Sie hängten sich an seine Stoßstange, keine Frage.

Auch Jacky blickte zurück. „Jetzt ruf schon an, Maxwell! Siehst du nicht, dass sie hinter uns her sind?!”

Der Aston Martin raste die nasse Union Avenue hinunter, und schlitterte nach rechts durch eine Pfütze in die 93rd Street hinein. Eine Wasserfontäne spritzte auf und klatschte auf die Parkkolonne und Bürgersteig.

Max tippte eine Nummer in die Tastatur seines Handys. Jacky konnte nicht erkennen welche, jedenfalls war sie zu lang für die Notrufnummer. Und die Stimme, die sich bald darauf meldete, war ganz bestimmt keine Polizistenstimme aus einem Revier der Cleveland City Police. „Was gibt’s denn?”, schnarrte sie.

„Crawfords Leute sind hinter mir her, sie meinen es ernst.”

„Wo steckst du, Max?”

„Auf der Dreiundneunzigsten. Ich versuch’s über den Broadway. Vielleicht schaff ich’s bis zur Vierhundertachtzig. Auf der Interstate haben sie keine Chance gegen meinen Schlitten ...”

Jacky hielt sich an ihrem Sitz und an der Frontablage fest. Mit offenem Mund starrte sie den glattrasierten Mann mit dem akkurat frisiertem Schwarzhaar an. Sie kannte ihn erst seit zwei Monaten. Bis jetzt hatte sie nie einen Grund gesehen, ihn nicht als den zu betrachten, als der er sich ausgab: Als erfolgreichen Geschäftsmann. Allerdings pflegte Maxwell nicht einmal Andeutungen über die Art seiner Geschäfte zu machen.

„... vielleicht hast du aber auch ein paar Leute in dieser Gegend Clevelands, Ray.”

„Ja, Max, ja ...” Die Männerstimme aus der Freisprechanlage klang jetzt hektisch und hellwach.

„Dann schick sie mir entgegen, damit sie mich 'raushauen. Die Typen fahren einen dunkelblauen Mercury. Und sag auf alle Fälle Belucci Bescheid.”

„Maxwell”, flüsterte Jacky. Auf einmal kam es ihr vor, als würde sie neben einem Wildfremden sitzen.


2

Stahlgerippe, Geröll, Schutthalden, zerbrochene Betondecken, die wie Brucheis in den Himmel ragten, und dazwischen – wie Wüstenflächen und Krater – ein paar freie Flächen und Mulden; das, was eben übrig blieb, wenn Tausende von Trucks monatelang Schrott, Geröll und Stahlsplitter nach Staten Island und, weiß Gott wohin noch, abtransportiert hatten.

Ground Zero – hässliche Wunde in der schönsten Stadt dieses Planeten. Hässliche Wunde im stolzen Gesicht, das sich „westliche Welt” nennt.

Im Dunkeln und von meinem Standort aus sah sie noch gespenstischer aus als tagsüber, wenn man aus der Menge der Touristen und Passanten den Aufräumungsarbeiten zusah. Ja, es war dunkel, ein unfreundlicher Abend Anfang Mai. Und ich war allein: Seit ein paar Stunden hielt ich die Stellung im Führerhaus eines schweren Krans auf dem Trümmerfeld des ehemaligen World Trade Centers.

Oder nein, eigentlich war ich nur relativ allein: Mein Headset verband mich mit vierzehn oder fünfzehn Kollegen. Zwei saßen in den Führerkabinen anderer Kräne, einige hinter Fenstern der an Ground Zero grenzenden Hochhäuser, einige hielten sich unter der Menschenmenge vor den Absperrungen rund um das gigantische Trümmerfeld auf.

„Evendale an alle”, sagte eine Männerstimme in meinem Kopfhörer. „Hab unseren Mann gesichtet, Koordinaten: Beta Strich neuneinhalb. Mittelgroß, dunkles, kurzes Haar, grauer Regenschirm, grauer Regenmantel über grauem Anzug. Over.”

„Tucker an alle. Was ist mit dem anderen?” Milos Stimme jetzt. „Hat irgendjemand den Afghanen gesehen? Over.” Kurz nacheinander gingen die Negativmeldungen ein.

Hershel Evendale war Detective einer autarken Einheit der New York City Police: Der Drogenfahndung. Nicht, weil uns die Arbeit ausgegangen war, arbeiteten wir in diesen ersten Frühlingswochen des Jahres mit der Drug Enforcement Administration – der DEA – zusammen. Leider nicht aus diesem Grund.

Genau wie unsere Firma, untersteht auch die DEA dem US-Justizministerium. Und aus dieser Bundesbehörde war der Hinweis auf eine mögliche Vernetzung von Terrorismus und Drogenhandel gekommen. Ein Job also für uns und die DEA.

Kein Job, über den wir begeistert waren. Ein anderer Fall brannte uns unter den Nägeln. Aber eines nach dem anderen.

Ich schaltete meine kleine Stablampe ein und suchte das angegebene Planquadrat auf meiner Skizze von Ground Zero: Es lag am Westside Highway, Ecke Courtland Street.

Das Nachtglas an die Augen gedrückt spähte ich von meinem Ausguck hinunter zur westlichen Absperrung der Ruinenlandschaft. Wenn Ground Zero tagsüber wie ein Häuserblock nach einem Atombombenangriff aussah, so erinnerte es bei Dunkelheit an die in Kohle festgehaltene Horrorvision eines Wahnsinnigen.

Es war schon gegen zehn Uhr abends, und immer noch wanderten kleine und größere Gruppen von Menschen rund um das Trümmerfeld, um sich auf der Aussichtsplattform zu sammeln. Es war ein Kommen und Gehen.

Touristen zumeist, aber auch Nachtschwärmer. Makaber, aber wahr: Der Ort des Schreckens zog seit Monaten mehr Menschen aus aller Welt an, als das Metropolitan Museum, die Freiheitsstatue oder das Empire State Building.

Nun, man gewöhnt sich an alles. Neulich hörte ich, dass sie den Stahlschrott nach China verkaufen, und dass dort Kochtöpfe daraus gemacht werden. Aber lassen wir das.

Ich schätze mal, es waren auch Menschen unter den Schaulustigen dort unter mir, die am 11. September einen Angehörigen hier verloren hatten. Und die es noch immer nicht fassen konnten.

Selbst, wenn man niemanden in dieser Trümmerlandschaft verloren hatte – wie sollte man es jemals fassen können?

Unser Mann war allein unterwegs. Regenschirme sah ich viele dort unten an diesem Abend, und viele graue waren darunter. Aber dieser schwarze Regenmantel aus Ölzeug, dieser feuchte Mantel, in dem sich die Straßenbeleuchtung reflektierte – der fiel mir sofort auf.

„Trevellian an alle – hab ihn. Scheint ohne Begleitung unterwegs zu sein. Bewegt sich Richtung Gamma acht. Sieht so aus, als wollte er sich der Gruppe vor ihm anschließen. Over.”

Die DEA hatte den Tipp von einem V-Mann aus der Manhattaner Drogenszene erhalten: Heroingeschäfte in größerem Stil waren angesagt.

Ungewöhnlich für Manhattan: In den letzten Jahren schien die Drogenmafia im Big Apple eher auf dem Rückzug zu sein. Und tatsächlich: Der Mann, der dort unten der Absperrung entlang durch den Regen eilte, lebte nicht in der Stadt. Er war nur in New York City zwischengelandet. Eine Geschäftsreise gewissermaßen.

Er hieß Roger Ward. Und er wollte günstig einkaufen, um den Stoff in Cleveland mit einer Gewinnspanne von über zweihundert Prozent unter die Leute zu bringen. Und in Cleveland – vielleicht erinnern Sie sich dunkel – ging der Belucci-Clan seinen schmutzigen Geschäften nach. Wir wussten allerdings nicht genau, ob Roger Ward mit unserem aktuellen „Lieblings”-Gangster zusammenarbeitete: Mit Bronco Belucci.

„Ich glaub, ich seh′ den anderen!” Medinas Stimme diesmal im Kopfhörer. „Er steht an der Church Street vor dem Juwelier gegenüber der Subwaystation und beobachtet die Besucherplattform. Ein Mann Ende Vierzig in langem, schwarzem Trenchcoat. Orientalische Züge, eindeutig. Er rührt sich nicht von der Stelle.”

Der Afghane, das musste er sein!

Drogengeschäfte fielen naturgemäß in den Zuständigkeitsbereich der DEA; uns vom FBI interessierte etwas anderes, wie gesagt: Männer aus dem mittleren Osten – aus Afghanistan vor allem – die in letzter Zeit den amerikanischen Drogenmarkt aufmischten.

Man muss sich die Situation des Landes vorstellen: Afghanistan lag wirtschaftlich am Boden. Viele Bauern dort bauten Opium an. Und die Leute, die das daraus gewonnene Heroin im Westen verkauften, waren nach Informationen der CIA als potentielle Terroristen einzustufen. Und wer ist für solche Männer zuständig? Wir vom FBI natürlich.

Im Dreißig-Sekunden-Takt gingen die Meldungen nun ein. Fast jeder von uns hatte mindestens einen der beiden Verdächtigen inzwischen gesichtet. Durch mein Nachtglas beobachtete ich, wie der Mann im schwarzen Ölmantel sich der Touristengruppe vor ihm anschloss und mit ihnen die Stufen zur Besucherplattform hinaufstieg.

Er hielt sich nicht lange auf dort. Schon nach wenigen Minuten verließ er die Plattform auf der anderen Seite wieder und ging Richtung Church Street. Dort verschwand er aus meinem Blickfeld.

„Medina an alle. Er geht an dem Orientalen vorbei; er zieht ein Taschentuch aus dem Mantel; etwas fällt auf den Bürgersteig, Papier; er würdigt den Orientalen keines Blickes, geht einfach weiter ...”

Ich hängte mein Glas um, schloss die Lederjacke und faltete den Plan zusammen. Mein Job auf dem Kran war erledigt, wie es aussah. Dort unten würde ich bald dringend gebraucht werden.

„... der Orientale geht ein Stück über den Bürgersteig; er tritt auf das Papier; er bückt sich, hebt es auf, entfaltet, liest es; er schlendert in die gleiche Richtung, wie Ward. Over.”

Feuchter Wind blies mir entgegen, als ich die Kabinentür des Krans öffnete. Ich streifte Lederhandschuhe über und schlug den Kragen hoch. Sprosse um Sprosse ging es dann hinunter zu Ground Zero.

„Einsatzleiter an alle!” Clive Caravaggios Stimme in meinem Kopfhörer. „Wer immer sich in der Nähe der Church Street aufhält – Verfolgung aufnehmen. Einsatzleiter an Kronburg: Zugriffskommando zur Liberty Plaza.”