MICHAEL K. IWOLEIT

 

 

Rubikon

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

RUBIKON 

I. 

II. 

III. 

IV. 

V. 

VI. 

VII. 

VIII. 

IX. 

X. 

XI. 

XII. 

Epilog 

 

Das Buch

 

Was ist Leben? Was ist Vernunft? Wo liegen die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit? Mit diesen Fragen sieht sich Bert Traven konfrontiert, als er die Raumstation Rubikon verlässt und sich auf einen Planeten hinabbegibt, wo sich ein fünfköpfiges Forschungsteam auf ein folgenschweres Experiment eingelassen hat: Jene Lebewesen, die das den Planeten Eridanus umspannende Meer bevölkern, scheinen alle bisherigen Vorstellungen von der Natur des Lebens und der Beschaffenheit des Geistes über den Haufen zu werfen. Beiderseitige Verständigungsversuche haben sich als erfolglos erwiesen. Eine unüberbrückbare Kluft liegt zwischen den Menschen und den Aliens. Und der Versuch, diese Kluft zu überwinden, gleicht einem hochgefährlichen Wagnis: Was als erster Schritt einer Kontaktaufnahme beginnt, wird bald zu einem psychedelischen Trip in die Untiefen des menschlichen Bewusstseins...

 

Michael K. Iwoleits Roman-Debüt RUBIKON (erstmals im Jahre 1984 veröffentlicht) gilt nicht nur als überragendes Erstlingswerk sondern auch als moderner Klassiker deutschsprachiger Science Fiction. Stil und Themenwahl erinnern hierbei nicht von ungefähr an zwei große Vorbilder des Autors: Philip K. Dick und Stanislaw Lem.

Der Autor

 

 

Michael K. Iwoleit, Jahrgang 1962.

Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker und Herausgeber im Bereich Science Fiction. 

Nach dem Abitur und einem Abschluss als staatlich geprüfter biologisch-technologischer Assistent studierte Michael Iwoleit Philosophie, Germanistik und Sozialwissenschaften in Düsseldorf. Zeitgleich begann er Science-Fiction-Erzählungen zu schreiben, die teilweise auch in anderen Ländern veröffentlicht wurden. Zu seinen Vorbildern zählen Autoren wie J. G. Ballard, Philip K. Dick und Stanislaw Lem. 

Im Jahr 1984 erschien sein Debüt-Roman Rubikon, dem 1989 Hinter den Mauern der Zeit (mit Horst Pukallus) und 2003 Am Rande des Abgrunds folgten. Seine preisgekrönte Erzählung Psyhack erweiterte er 2007 zu einem Roman. 

Iwoleit ist insbesondere für seine Novellen bekannt, für die er viermal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis (u.a. für Wege ins Licht, 2002, und Ich fürchte kein Unglück, 2004) sowie zweimal mit dem Kurd-Laßwitz-Preis (Der Moloch, 2008, und Die Schwelle, 2011) ausgezeichnet wurde. Auch als Herausgeber, Übersetzer und Kritiker hat er sich einen Namen gemacht: So gibt er u.a. (gemeinsam mit Ronald M. Hahn) das Science Fiction-Magazin Nova heraus und übersetze beispielsweise Werke von C.J. Cherryh (Geklont: Die Cyteen-Trilogie), Iain Banks (Förchtbar Maschien), Cory Doctorow (Backup), Sean Williams (Auferstehung), Chris Moriarty (Lichtjagd) und David Wingrove (Die Chronik des Chung Kuo) ins Deutsche. 

 

Michael K. Iwoleit lebt und arbeitet in Wuppertal.  

RUBIKON

 

 

  I.

 

  

  »Die Wirklichkeit ist unser eigenes, in allen Spiegeln auftauchendes Abbild, ein Phantom, das nur für uns selbst existiert, das mit uns kommt, gestikuliert und verschwindet.« 

 

  - J. L. Borges

 

 

 

  »Wir dürfen also trotz allem mit einer Vernunft im Kosmos rechnen, auch wenn die Formen, in denen sie sich manifestiert, all unseren heutigen Vorstellungen spotten dürften.« 

 

- Stanislaw Lem: Summa technologiae 

 

 

 

  Exposition 

 

  ad acta: bert traven, code nr. 24 56 978 X,

fragmentarische aufzeichnung, aufgefim-

den in travens kabine

planetare forschungsstation eridanus

RUBIKON-3

 

 

 

  Es gäbe sicher genügenden Anlass zu glauben, meine Träume hätten metaphysische Ursachen, ich selbst aber mache nach wie vor meine Umgebung für ihr Aufkommen verantwortlich. Die Station bietet mannigfache Ursachen für unbewusste Abwehrreaktionen; ich spüre dies, seit ich hier bin. Selbst Ben Chip, der sich wachen Verstand bis zuletzt bewahrte, ist sich darüber im Klaren gewesen. Jetzt, wo ich allein bin - man hat Chip und Norma Mitchinson vor einigen Tagen abgeholt - stört mich niemand mehr bei meinen Untersuchungen. Alles, was mich vom Eigentlichen hätte ablenken können, ist nun fort. Dennoch fällt es mir nicht leicht, die Quellen meiner Alpträume aufzuspüren. Es kostet Überwindung, sich selbst abschätzend gegenüberzustehen. Und möglicherweise ist es sogar gefährlich. Vielleicht ist dieses Risiko einer der Gründe, warum Jones, Pent und Pesh nicht mehr leben, wenngleich mir konkrete Anhaltspunkte für diese Vermutung fehlen. Überhaupt: Die Atmosphäre der Station ist geschwängert von Wahnsinn, ich gebe es zu, doch auch das scheint mir ein leicht erklärbares Phänomen zu sein. Die Enge und Einheitlichkeit der Wege, die man tagtäglich beschreitet, der stark begrenzte Aktionsradius des Einzelnen und die damit verbundenen häufigen Konflikte sind Aspekte einer Extremsituation, die unweigerlich Auswirkungen auf die Psyche haben muss. Und irgendwie liegen darin auch meine Träume begründet. Ich glaube nicht an Chips Spekulationen, mit denen er mir klarzumachen versuchte, dass sich in meinen Visionen etwas äußert, was jenseits des menschlichen Erfahrungs-horizonts liegt, dass sich in ihnen ein Stück Ewigkeit entfaltet. Er setzt keinen Trennstrich mehr zwischen Illusion und Wirklichkeit, ich aber halte daran fest, ungeachtet dessen, was sich vor einigen Wochen hier abspielte. Sydney Pesh hat die Leute in Abgründe ihrer eigenen Psyche hinabgezogen, davon bin ich überzeugt. Ihre Überlegungen scheinen mir nicht dadurch bewiesen, dass ihre Kollegen und womöglich auch sie selbst den Verstand verloren haben, nachdem sie in die gewagten psychischen Experimente eintraten. Die Ereignisse sind keine Bestätigung von Sydneys Annahme, dass der Mensch keinen ungetrübten Bezug zur Wirklichkeit hat. Ich erkläre den tragischen Verfall der Besatzung damit, dass ihre Theorien an den Grundfesten des menschlichen Weltbilds zerrten, was zwar Wahnsinn zur Folge haben kann, aber nicht den Eintritt in eine neue Dimension der Wahrnehmung bedeuten muss. Und ich selbst spüre schon Anflüge dieses Wahnsinns. Sich zu sehr mit den vergangenen Ereignissen zu befassen, heißt, ihm gefährlich nahezukommen. Deshalb durchforsche ich die Station, verbringe oft Stunden damit, in einzelnen Abschnitten des Korridorgefüges auf und ab zu gehen, in der Hoffnung, ich könnte irgendetwas entdecken, das sich mit dem, was ich bisher weiß, zu einem Komplex zusammenfügen ließe. Ich glaube, wenn ich mit Sicherheit weiß, was mit mir geschieht, bin ich gleichzeitig auf dem Wege, den Einflüssen, die mich bedrohen, entgegenzuwirken. Der Gedanke, dass ich nur wenige Wochen zu überstehen habe, gibt mir zusätzliche Hoffnung.

  Die fünf weitverzweigten Flügel im Oberdeck der Station, ihre Einrichtung und Atmosphäre, bilden miteinander ein Raster, ein Chiffre, das sich sowohl auf meinen wie auch auf den Zustand von Norma Mitchinson anwenden ließe, wenn es mir nur gelänge, den Sinn zu entschlüsseln. Alles ist erklärbar, daran halte ich fest. Die Spannungen zwischen Traum und Tag müssen sich auf klare Fakten zurückführen lassen. Dass ich das erkannt habe, ist eine Chance, die ich den anderen voraushabe. Und ich will und muss sie nutzen...

  …schon vor einigen Tagen verspürte ich beim Betrachten des Meeres eine unbegreifliche Unruhe. Heute steigerte sie sich zu einer kaum noch erträglichen Intensität. Die Scheibe des Aussichtsfensters verschaffte mir nicht mehr die nötige Distanz; es schien, als wolle die Welt dort draußen mich zu sich hinabziehen. Die Dampfschwaden lockten bizarr, mehrmals glaubte ich, mich in den heißen Fluten treiben zu sehen. Etwas Unbegreifliches ging von dort aus, durchdrang meinen Verstand, ja selbst meine Sprache. Und nachts sah ich mich im Traum am Rande eines Abgrunds stehen und in die unabschätzbare Tiefe hinabsehen, die sich zu meinen Füßen auftat, doch mein Blick stieß auf keine Grenzen. Jede Nacht näherte ich mich dem Abgrund ein wenig mehr, spürte schon den Schwindel, der dem Sturz vorausgeht, ohne aber die Entwicklung aufhalten zu können. Schon den Abgrund gesehen zu haben war mehr, als ich heil ertragen konnte. Ich bin ein Tropfen in einem Ozean, ahnte ich, ein Staubkorn in einem Jahrtausend währenden Sturm, und ein Stein eines Galaxien umfassenden Mosaiks. Was war noch Traum, was Wahrheit? Bei der Berührung mit dem Fremden war mir allmählich meine Sicherheit verlorengegangen. Und bald begann ich zu treiben...

 

...fühlt' er mittendrin, in kochenden Schwaden fauligen Gestanks, schwitzend im Umgriff im Urofen einer heißen, weltentbundenen, wollend vibrierenden Ausdünstung fluiden Geistes. Schrie er, ohne zu atmen, zu verdrängen, was ihn bedrängte, einzuwürgen den Puls, der ihn umflutete. Unendlichkeit ging ihm verloren, Bedeutung, sirenenhaft singend, im Schoß eines Meeres aus metaphorisch-metamorphem Sinngedunst verloren. Seine haltsuchenden Hände fühlten weinend ins Leere einer heiß-kalt oszillierenden Strudelkaskade von bleichen, mitspülend ihn zerreißenden Fingern von Flut...

 

 

  anmerkung: bedeutung der merkwürdigen 

syntaktischen und semantischen figuren im

dritten teil bislang ungeklärt - parallelen

zum schicksal der besatzung denkbar

 

 

   

  II.

 

 

  Bei Anbruch der Dämmerung, als die Sonne rotglühend über dem nebligen Horizont aufstieg, tauchte Travens Fähre in die Atmosphäre ein und tastete sich auf spiraligem Kurs langsam zur heißen Wasseroberfläche hinab, über der auf tief unten im Meer verankerten Stützpfeilern die Station errichtet war. Der milchige Ozean war von kraftvollem Wellengang aufgewühlt und von schweren Wolken überschichtet, durch die ein ewiger Sturm Gassen aus rotem Licht trieb. Urgewaltige Regengüsse prasselten gegen die schmalen Fenster der Fähre. Die atmosphärischen Turbulenzen ließen sie erzittern, aber schließlich näherte sie sich unbeschadet in einem weiten Bogen der Station, deren metallene Hülle durch den Dunst schwach schimmerte. Traven warf regelmäßige Blicke auf die Computermonitore, um sich zu vergewissern, dass er sich der Station von der richtigen Seite näherte, doch der Faszination, die diese Umgebung auf ihn ausübte, konnte er dabei kaum Einhalt gebieten. Ständig glaubte er in dem unüberblickbaren Bewegungstunnel der entfesselten Naturkräfte Regelmäßigkeiten zu entdecken, die sich auf eine intelligente Einflussnahme zurückführen ließen, was sich aber später, als er die Wasseroberfläche erreichte, durch keine konkrete Beobachtung bestätigte. Selbst die Gewissheit, hier mit keiner Lebensform rechnen zu können, die menschlichen Maßstäben entsprach, hinderte ihn nicht, nach den Spuren einer solchen Ausschau zu halten. Die Fremdartigkeit dieser Welt ließ sich jedoch auf kein handhabbares Maß reduzieren. Schon die physikalischen Bedingungen waren in ihrer Lebensfeindlichkeit so ungewohnt, dass Traven sich fragen musste, ob sich dieser Planet nicht von vorn herein allem menschlichen Zugriff entzog.

  Während er die Fähre auf die Station zu lenkte, von der nur einige vage Umrisse zu erkennen waren, blickte er suchend über die Wasseroberfläche, die hier beinahe undurchsichtig war und in quirligen Bewegungen pulsierte. Die Nebel verwehrten selbst aus der geringen Höhe gelegentlich die Sicht, was Traven einige Male derart zu Einbildungen reizte, dass er sich ohne Anlass aus dem Meer beobachtet glaubte und auf Anzeichen wartete, die seine Ahnung bestätigen würden. Bald aber beanspruchte das Landemanöver seine Konzentration; das Meer und die Nebel verschwanden, und die Fähre glitt heulend in die Landeschleuse. Sekunden nach dem Eintritt schlossen sich Luken hinter ihr und tauchten die Umgebung in völlige Dunkelheit. Dann verebbte das Heulen. Eine weitere Luke tat sich vor der Fähre auf, die nun summend in der Empfangshalle zum Stehen kam. Traven lockerte die Gurte, wartete den Druckausgleich ab und entledigte sich seines Anzuges. Durch die Seitenfenster warf er inzwischen erste Blicke in die Halle.

  Sie war menschenleer und in verwahrlostem Zustand, Papiere, Magnetbänder und Trümmer lagen in einem unübersehbarem Chaos auf dem Parkett ausgebreitet. An einigen Stellen hatte man elektronische Installationen von den Wänden gerissen und die holographischen Bildschirme über den Türen zertrümmert. Von irgendwoher stiegen Dunstfäden zur gewölbten Decke auf. Einige der Gaszuleitungen waren leck, verflüssigter Sauerstoff entströmte zischend und wirbelte Kunststofffetzen durch die Luft.

  Traven öffnete die Luke der Fähre, trat schweigend hinaus und war schon Sekunden später schweißgebadet. Aus irgendeinem Grund waren zumindest in diesem Trakt der Station die Klimasysteme defekt. Die äußere Hülle konnte nur wenig von der Hitze der Atmosphäre abhalten.

  Zögernd schritt Traven voran, horchte aufmerksam und bemühte sich, jedem Detail Beachtung zu schenken, was ihm aber nur zusätzliche Verwirrung einbrachte. Er sah die Wände hoch, blickte auf die transparente Kuppel der Halle und entdeckte überall Spuren versuchter Zerstörung. Die Metallwände hatten tiefe

Dellen, sie waren an manchen Stellen eingerissen und erlaubten Einblicke in die dahinterliegenden, von Kabelbündeln durchzogenen Hohlräume. Auf dem Boden lagen zerbeulte Nahrungs- und Treibstoffbehälter, die offensichtlich jemand gegen die Kuppel geschleudert hatte. Traven hob hier und dort einige der Trümmer auf und besah sie sich genauer, aber oft wusste er nicht mal mehr zu sagen, woher die Überreste stammten, die er in den Händen hielt. Das Ganze war ein Rätsel. Nicht nur, dass wichtige Einrichtungen zerstört worden waren, schien ihm unbegreiflich, sondern auch, mit welcher Kraft man diese Zerstörungen angerichtet hatte.

  Es dauerte einige Minuten, bis er sich entschloss, zunächst die Außenstation zu verständigen und Ratschläge einzuholen, bevor er seine Erkundung fortsetzen würde. Er brauchte das Gefühl, nicht allein zu sein, musste seiner unterdrückten Angst etwas entgegensetzen. Als er wieder in der Fähre war und die vier Minuten bis zum Zustandekommen einer Funkverbindung zu überbrücken hatte, versuchte er erregt die Fakten zu ordnen.

  Er hatte die letzten Tage bis zum Abriss der Funkkontakte an den Monitoren der transplanetaren Raumstation verfolgt und mit seinen Kollegen verzweifelt versucht, aus den wirren Daten, die man erhielt, Schlüsse zu ziehen. Die letzten persönlichen Meldungen der Besatzung lagen zu diesem Zeitpunkt schon weit zurück, und allmählich hatte man die Hoffnung aufgegeben, dass von den fünf Menschen, die sich auf der Station befanden, überhaupt noch jemand lebte. Traven war schließlich als erster auf den Gedanken gekommen, einen einzelnen Mann auf die Station zu entsenden. Dass er persönlich diese Aufgabe übernommen hatte, ergab sich aus seiner sehr intensiven Beziehung zu dem Projekt beinahe von selbst.

  Spätestens jetzt, da er selbst das erste Mal auf dem Planeten war, spürte er all die unguten Gefühle, die er anfangs der Erforschung dieser fremdartigen Welt entgegengebracht hatte, auf entsetzliche Weise bestätigt. Trotz des Enthusiasmus, mit dem er die Planung und Errichtung der Station mitverfolgt hatte, waren all seine Empfindungen stets von einem gewissen Unbehagen begleitet gewesen - einer Angst vor dem Fremden, einem Respekt vor Dingen, die auf irgendeine Weise für das menschliche Begreifen nicht geschaffen schienen. Heute wertete er diese Gefühle als eine düstere Vorahnung, deren Ursache ihm freilich unerklärlich blieb. Vielleicht lag sie in den vielen Ungereimtheiten begründet, die sich den Forschern schon in der Phase der radioastronomischen Untersuchungen eröffnet hatten, all jene Paradoxa und scheinbaren Unmöglichkeiten, die auf fremdes Leben hindeuteten und es doch immer wieder negierten.

  Traven sandte der Außenstation eine Meldung über seine Beobachtungen zu und wartete die Rückmeldung ab, bevor er die Fähre wieder verließ. Man wies ihn an, die Station so gründlich wie möglich zu durchsuchen und sofort Meldung zu machen, wenn er Besatzungsmitglieder fand, doch bei all dem sollte er die nötige Vorsicht nicht vergessen. Traven sparte sich eine Bestätigung.

  Bei der Wahl, welchen der vier Flügel der Station, die alle gegenüber der Landeschleuse in die halbrunde Halle mündeten, er zuerst erkunden sollte, entschied er sich für den Bereich jenseits der südlichen Flügeltür, der die Wohnkabinen, Konferenzräume und Archive barg. Wider Erwarten war der Öffnungsmechanismus der Tür beschädigt. Sie ging nur einen Spalt breit auf, und

Traven musste sie mit einem Trümmerstück soweit aufstemmen, dass er hindurchschlüpfen konnte.

  Es umfing ihn weißes, kühles Licht, das die langen Korridore bis in die letzten Winkel erhellte. Das heillose Durcheinander setzte sich vor seinen Füßen fort. Berge von Papier und entrollten Magnetbändern bedeckten den Boden. Irgendwer hatte eine Kolonne der Printouts des Hauptcomputers über den Gang und die Halle verteilt. Gelegentlich hob Traven ein Bündel der Papiere auf, doch er wusste nichts damit anzufangen, Sie waren mit langen Tabellen wirrer Zahlen- und Zeichenkombinationen bedeckt, die sich anscheinend über etliche Kilometer erstreckt hatten und erst von dem Amokläufer, der für dieses Chaos verantwortlich war, in kleine Stücke gerissen worden waren. Kopfschüttelnd stapfte Traven weiter.

  Im Verlauf der nächsten Stunden, während der er Abstecher in die Räumlichkeiten machte, deren Türen noch offenstanden, überdachte er zum wiederholten Male die Ereignisse, welche zur Entdeckung dieses Planeten und seiner intensiven Erforschung geführt hatten. Sicher wäre man nie auf ihn aufmerksam geworden, hätte man nicht beschlossen, die Raumstation RUBIKON-3 nahe der Sonne Eridani, um die er kreiste, zu errichten. Auf RUBIKON führte man optische und radioastronomische Untersuchungen des Vier-Planeten-Systems durch. Zwei dieser Welten wiesen einen etwa anderthalbfachen Erddurchmesser auf, während ein größerer auf einer weiten elliptischen Bahn, und in unmittelbarer Nähe ein kleinerer von der Größe Merkurs die Sonne umkreisten. Das System führte darüber hinaus einige Planetoiden und Kometen mit sich, erwies sich aber als weit weniger komplex als das irdische Sonnensystem. Aufgrund der geringen Leuchtkraft Eridanis, die nur ein Viertel der Energie der irdischen Sonne abgab, herrschten selbst auf dem sonnennächsten Planeten relativ mäßige Temperaturen: schätzungsweise dreihundert Grad Celsius. Der innere der beiden mittelgroßen Planeten kam den physikalischen Bedingungen der Erde am nächsten, weshalb sich das Forschungsinteresse in erster Linie auf ihn konzentrierte. Man schätzte Durchschnittstemperaturen um sechzig Grad, etwas intensivere Druckverhältnisse und eine dichte Atmosphäre, die - wie radioastronomische Untersuchungen schließlich ergaben - aus einem Gemisch von Wasserdampf, Ammoniak, Methan und Wasserstoff bestand. Der Planet war fast vollständig mit Wasser bedeckt: einzelne Festlandflächen konnten erst später nachgewiesen werden.

  Was den Forschungen eine entscheidende, ja beinahe sensationelle Wende gab, die letztlich auch Traven dazu brachte, von der nächstgelegenen Station auf RUBIKON-3 überzusiedeln, war der Nachweis organischer Verbindungen auf der Oberfläche des Planeten, den man inzwischen Eridanus getauft hatte. Zunächst entdeckten die Radioteleskope Spuren von Essigsäure, kurz danach - zum ersten Mal überhaupt - einfache Aminosäurenmoleküle. Von nun an überschlugen sich die Spekulationen über mögliches Leben auf Eridanus, wobei man jedoch über viele Probleme, die von den bisherigen Erkenntnissen aufgeworfen wurden, enthusiastisch hinwegsah. Der bald darauffolgende Ausbau und die Leistungserweiterung der radioastronomischen Anlagen führten zu neuen Ergebnissen, welche die haltlosen Spekulationen ein wenig dämpften. Traven erinnerte sich gut daran, wie ihm selbst zu dieser Zeit die Leichtfertigkeit klargeworden war, mit der er die neuen Erkenntnisse bislang gehandhabt hatte, doch er ahnte, dass dieses Verhalten in seinem Menschsein begründet lag. Die Möglichkeit, das eigene Sonnensystem verlassen zu können, war von Anfang an mit dem Gedanken an ein mögliches Zusammentreffen mit fremden Intelligenzen verbunden gewesen, ein uralter Traum, der nun, da erste vage Anzeichen für fremdes Leben vorlagen, leidenschaftlich frei wurde. Doch noch immer standen eine Reihe von Fakten der Möglichkeit von Leben entgegen - so vor allem die für organische Materie unverträglich hohe Temperatur, die das Vorhandensein von Proteinen, den chemischen Grundeinheiten des Lebens, eigentlich ausschloss, denn oberhalb von dreißig Grad beginnen Proteine bereits biologisch inaktiv zu werden.

Zwar sind von der Erde Organismen bekannt - etwa Flechten in heißen Geysir Gebieten -, die bei höheren Temperaturen überleben können, jedoch haben sich solche erst im Verlaufe ihrer Evolution an diese Umweltbedingungen angepasst und sind nicht unmittelbar daraus hervorgegangen. Die folgenden radioastronomischen Untersuchungen bestätigen dies nur: Es konnten zwar weitere Aminosäuren, aber keine Proteinkomplexe nachgewiesen werden.

  Dennoch flackerten die Hoffnungen wieder auf, als man, wie als Antwort auf die Radiowellen, die über ein halbes Jahr den Planeten betastet hatten, schwache elektromagnetische Signale von der Oberfläche empfing, die sich keinem natürlichen Ursprung zuordnen ließen. Das war der endgültige Anlass zu dem seit langem erwogenen Entschluss, auf Eridanus eine Forschungsstation zu errichten, die schon ein Jahr später, für eine fünfköpfige Besatzung ausgelegt, installiert werden konnte. Als die ersten Expeditionen auf Eridanus eintrafen und mit dem Bau begannen, konnte man einige ungeklärte Veränderungen der Signale und merkwürdige chemische Reaktionen in den Meereszonen um die geplante Station feststellen; letztere vor allem hinsichtlich der Ladungsverteilung der im Meer vorkommenden Ionen - weitere Phänomene, für die man keine Erklärung fand. Derartige Dinge häuften sich, als die Besatzung der Eridanus-Station mit ihren Arbeiten begann.

  Obwohl die Existenz von Aliens nach wie vor hypothetisch war, bestand die Aufgabe der Besatzung darin, wenn möglich auf irgendeine Weise mit den Fremdwesen, deren Existenz man das Auftreten der unnatürlichen Phänomene zuschrieb, Kontakt zu knüpfen, auch wenn es bislang noch keine hinreichenden Beweise für die Annahme gab, dass sie vernunftbegabt waren. Spekulationen gab es zu jeder Phase der Forschung genug, vielleicht zu viel, konkrete Anhaltspunkte nur wenige.

  Jetzt, da er selbst zum ersten Mal auf Eridanus war und dessen fremdartige Ausstrahlung am eigenen Leib erfuhr, ahnte Traven, dass die Besatzung den Mitarbeitern auf RUBIKON-3 schon vorher Dinge verschwiegen hatte. Wegen der immensen Entfernungen zwischen den beiden Stationen waren Funkkontakte langwierige und umständliche Prozeduren, die sich oft, um dem Informationsbedarf beider Seiten gerecht zu werden, über mehrere Tage hinzogen und dementsprechend selten waren. Aus dem gleichen Grund hatte die Besatzung wahrscheinlich nie die Möglichkeit gehabt, alles zu berichten, was sich ereignete. Schließlich waren die Kontakte immer seltener und karger geworden, bis sich die Besatzungsmitglieder nicht mehr selbst meldeten, sondern Computer dazu programmierten, in regelmäßigen Abständen Daten zu entsenden, die zuletzt in einem wüsten Wirrwarr sinnloser Informationen entartet und dann abgerissen waren.

  Traven verwendete äußerste Sorgfalt auf die Durchsuchung der verschiedenen Räumlichkeiten, doch nirgends ergaben sich Anhaltspunkte, die seine Verwirrung ein wenig hätten aufhellen können. Überall bot sich ihm zunächst dasselbe Bild: die Einrichtungsgegenstände waren über den Boden der engen Wohnkabinen verstreut, die elektronischen Anlagen zum Großteil zerstört oder beschädigt, und Informationsträger, wie Magnetbänder oder andere Aufzeichnungen, vernichtet, sofern sie offen zugänglich waren. Einige Kabinen blieben Traven verschlossen, da ihr Türmechanismus außer Betrieb war, und er nicht die Kraft hatte, sie mit Gewalt zu öffnen. Erst als er ans Ende des zentralen Korridors gelangt war und sich der linken Abzweigung zuwandte, stellte er überrascht fest, dass sich das Chaos hier ein wenig lichtete. Die elektronischen Installationen waren unversehrt, nur wenige Papier- und Kunststofffetzen lagen auf dem Boden, und auch die Türmechanismen funktionierten reibungslos. Der erste Raum, den Traven betrat, war der größte der drei Konferenzräume, ein nahezu quadratischer Saal mit hoher Decke und einem langen Pult, das über ein Terminal verfügte, über das man Zugriff zu allen jüngeren Daten der benachbarten Archive hatte. Wie Traven bei einer Befragung des Computers erfuhr, war der Saal vor mehr als zwei Monaten das letzte Mal benutzt worden. Seitdem hatte man ihn nur einmal wieder betreten. Es war ein Glücksfall, dem Traven diese Information verdankte, denn nur bei wenigen Räumlichkeiten wurde die Benutzung elektronisch protokolliert.

  Traven hielt seine Neugier auf die gespeicherten Daten und Arbeitsprotokolle zurück. Er beschloss, die angrenzenden Archive und Arbeitsräume näher zu durchsuchen.

  Als er wieder auf dem Gang war, hörte er jedoch von irgendwoher ein dumpfes Klopfen, das offenbar aus einem anderen Trakt der Station zu ihm durchdrang. Eine Weile lauschte er konzentriert, bevor er das Untergeschoss, in dem sich die Lebenserhaltungssysteme befanden, als Ursprung der Laute identifizierte. Nervös begab er sich zum nächsten Aufzug und war eine Minute später auf Höhe der gewaltigen Anlagen.

  Aus der Tür des Aufzugs trat man zunächst auf eine enge Plattform hinaus, von der sich ein Netz schmaler Stege über das in diffusem Licht getauchte Labyrinth aus Gasbehältern, Wasserfilteranlagen und meterdicken Rohrleitungen erstreckte. Das Klopfen war hier wesentlich lauter, kam von irgendwo unten und rührte offensichtlich von dem Aufeinanderschlagen von Metall her. Der ausgedehnte Nachhall der Maschinenhalle erschwerte die Suche nach der Lärmquelle beträchtlich, doch nach einer Weile glaubte Traven das Klopfen von einer der Kesselkolonnen im nördlichen Teil der Anlage kommen zu hören. Da die Beleuchtung dort mäßig war, konnte er - selbst als er die Geräusche direkt unter sich spürte und sich weit über das Geländer reckte - nichts in den Abgründen zwischen den Behältern erkennen. Dann brach jedoch das Klopfen unvermittelt ab, und jemand rief aus dem Dunkel etwas zu ihm hinauf.

  »Ist da jemand? Gottverflucht, holt mich hier raus!«

  Traven kannte die Stimme.

  »Chip!«, rief er. »Benjamin Chip? Mein Gott, was machst du da unten? Was ist passiert?«

  »Ich weiß es nicht«, kam die Antwort. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe noch gehört, dass ihr gekommen seid, um mich zu holen. Ich weiß nichts mehr. Es ist doch auch gleichgültig. Ich will nur raus hier.«

  Traven überlegte fieberhaft. Dann besorgte er sich aus dem oberen Geschoss einen Handscheinwerfer, mit dem er den Abgrund ausleuchtete. Chip lag in verkrümmter Haltung in einer Spalte zwischen zwei Gasbehältern und hielt eine Metallstrebe in den Händen, die er offensichtlich von der Verkleidung eines Behälters entfernt hatte. Sein Gesicht war mit Platzwunden übersät, sein Anzug zerrissen, und soweit Traven es von oben aus beurteilen konnte, hatte er sich einen Arm gebrochen. Traven sah sich um, suchte den nächsten Abstieg und kletterte über eine schmale Leiter zu dem Verletzten hinab.

  Er hörte Chips gepresstes Schnaufen, während er sich über die Röhren und Leitungen langsam auf ihn zu arbeitete. Zwischendurch hielt er immer wieder an und orientierte sich, indem er mit dem Scheinwerfer um sich leuchtete. Von der Stelle, wo die Leiter endete, bis zu Chips Standort betrug die Entfernung gut dreißig Meter und wurde von zahlreichen beschwerlichen Umwegen nur noch gestreckt. Chip lag die ganze Zeit unruhig da und forderte Traven immer wieder auf, sich zu beeilen, musste aber fast zehn Minuten warten, bis dieser ihn erreicht hatte. Aus unmittelbarer Nähe sah Chip wesentlich mitgenommener aus. Er hatte eine üble Platzwunde auf dem Kopf, aus der langsam gerinnendes Blut quer über sein Gesicht lief. Traven hob ihn behutsam aus dem Spalt und ließ ihn sich an seine Schultern klammern, um ihn den Rückweg mit sich zu tragen. Chip war völlig entkräftet. Es kostete ihn ungeheure Anstrengungen, sich an Traven festzuhalten und sich gelegentlich mit den Füßen irgendwo abzustemmen. Eine halbe Stunde dauerte es, bis sie die Leiter erreicht hatten und auf den Steg geklettert waren. Traven musste Chip stützen, als sie zum Aufzug gingen und in einem der noch heilen Räume des Obergeschosses Quartier bezogen.

  Währenddessen rief er sich das wenige ins Gedächtnis zurück, was er über Benjamin Chip wusste. Der Name dieses unauffälligen Außenseiters gewann unter den gegebenen Umständen eine unerwartete Relevanz. Er war der einzige Nichtwissenschaftler der Besatzung; ein Techniker, dessen Aufgabe lediglich darin bestand, das Inventar der Station in einwandfreiem Zustand zu halten. Seine Person war stets im Hintergrund geblieben, offensichtlich hatte er nur wenig persönliche Kontakte zur übrigen Besatzung gehabt. Dass Traven ihn als ersten fand, mochte zwar Zufall sein, aber er sah darin mehr - vielleicht einen glücklichen Hinweis auf die Wichtigkeit, die Chip möglicherweise noch gewinnen würde.

  Zu seiner Enttäuschung konnte ihm Chip nicht viel von den vorangegangenen Ereignissen berichten. Er hatte eine mittlere Gehirnerschütterung davongetragen, und die damit verbundene Amnesie betraf den Großteil seiner Erinnerungen an die jüngste Zeit. Er wusste nur noch, dass er von jemandem bis ins Untergeschoss verfolgt und über das Geländer gestoßen worden war. Dabei war er hart mit dem Kopf aufgeschlagen und eine Zeit besinnungslos gewesen, deren Länge er nicht mehr abschätzen konnte. Erst vor einigen Stunden war er erwacht, hatte sich aber aus eigener Kraft nicht befreien können. Niemand hatte auf seine Hilferufe reagiert, und erst als Travens Schritte die leblose Stille der Station durchbrochen hatten, hatte er mühsam eine lose Metallstrebe, die über seinem Kopf hing, aus ihrer Verankerung gelöst und damit gegen die Kesselwand gehämmert, um auf sich aufmerksam zu machen.

  Traven versorgte den Verletzten so gut er konnte, reinigte und verband dessen Wunden, schiente ihm den gebrochenen Arm und verabreichte ihm Beruhigungsmittel. Während Chip schlief, verständigte er die Außenstation und bat darum, den Verletzten baldmöglichst abzuholen, bevor er mit der Erkundung der Station fortfuhr. Er wählte willkürlich den äußersten rechten Flügel, der die meteorologischen und radioastronomischen Anlagen barg. Auch dieser Trakt war von dem Amokläufer verschont geblieben.

  In dem senkrechten Korridor, der den Komplex durchzog, war es zunächst völlig still. Wie Traven feststellte, waren die Anlagen noch immer betriebsbereit, auch wenn sie seit einiger Zeit nicht mehr benutzt worden waren. Die Computerprogramme waren hingegen fast sämtlichst gelöscht, obwohl Magnetband- und Floppy-Disc-Anlagen tadellos funktionierten. Traven fand keine

Erklärung dafür.

  Als er sich mit übermäßig laut tönenden Schritten von Raum zu Raum dem Ende des Korridors näherte, wurde er irgendwann eines zaghaften Wimmerns gewahr, das aus einem Raum nahe der Stirn des Ganges kommen musste. Er verharrte eine Weile und bemühte sich festzustellen, ob der Laut einen künstlichen oder menschlichen Ursprung hatte, doch dies ließ sich nicht eindeutig feststellen. Durch die Metallwände wurde das Geräusch verzerrt und in Nachhall ertränkt, so dass kaum mehr sein eigentlicher Klang herauszuhören war. Aufgeregt brach Traven seine systematische Untersuchung ab.

  Je näher er dem Ende des Korridors kam, desto leiser wurde der Laut, bis er schließlich, als Traven ihm ganz nahe war, in einem unterdrückten Gurgeln erstarb. Vorsichtig öffnete er nach kurzem Zögern eine Tür und trat ein.

Der betreffende Raum beherbergte einen Teil des Inventars, welches als Verknüpfungspunkt zwischen den äußeren und inneren radioastronomischen Anlagen diente. Hier wurden die Signale der Radioteleskope digitalisiert und den diversen EDV-Anlagen zur weiteren Verarbeitung zugeleitet. Der Raum enthielt deshalb keinerlei Bedienungseinheiten, sondern lediglich zwei Wände aus hohen, grauen Metallschränken, in denen die Elektronik verstaut war. Zwischen ihnen blieb nur ein schmaler Durchgang frei. Traven lauschte angestrengt. Er glaubte, von irgendwoher ein gepresstes Schnaufen zu hören. Also hatte sich doch ein Mensch hier versteckt. Vorsichtig schritt er die Schrankwände entlang und riss eine der Türen auf.

  Vor ihm zusammengekauert, in einem Gewirr Tausender dünner Kabel, hockte ängstlich zitternd eine junge Frau, mit zerkratztem Gesicht und zerrissener Kleidung, die augenblicklich zu schluchzen begann, als sich Traven zu ihr hinabbeugte. Er versuchte ihr zuzureden, doch das verstärkte ihre Panik nur, denn sie kreischte, schlug nach ihm und drückte sich weiter in den Schrank hinein.

  Traven kannte die Frau. Sie hieß Norma Mitchinson, war Linguistin und in dieser Eigenschaft eine der fähigsten Wissenschaftlerinnen gewesen, die für das Projekt zur Verfügung standen. Traven hatte sie gut in Erinnerung, denn er war von ihrem ebenso besonnen-gefühlvollen wie ergiebigen Arbeitsstil stets beeindruckt gewesen. Doch von dieser geistigen Klarheit war nicht viel übriggeblieben. Sie hatte die Augenlider hochgerissen, den Mund in einem irren Ausdruck verzogen und so eingefallene Wangen, dass sie kaum den Eindruck erweckte, als würde sie Traven erkennen. Als er sie mit Gewalt aus ihrem Versteck zog, wehrte sie sich mit

aller Kraft und schrie, als bange sie um ihr Leben. Travens Verwirrung begann allmählich in Angst umzuschlagen, während er sie durch den Gang zerrte und in den mittleren Flügel brachte, wo Benjamin Chip, von dem Geschrei geweckt, ihnen auf dem Korridor entgegenhumpelte. Er war ebenso schockiert wie Traven, schien aber weniger überrascht. Wie er später zugab, erinnerte ihn Normas Zustand an irgendein zurückliegendes Ereignis. Was es war, dämmerte ihm jedoch erst später.

  Sie brachten die Linguistin in eine der Wohnkabinen und flößten ihr ein stark wirkendes Beruhigungsmittel ein. Als sie eingeschlafen war, hockten sie wortlos neben ihr und verbrachten die nächsten Stunden in angespanntem Schweigen. Traven resümierte, was er in den wenigen Stunden auf der Station erfahren hatte. Er musste sich mit der Tatsache abfinden, dass sich keines der bestehenden Rätsel gelöst, sondern sich nur neue aufgetan hatten. Was sollte er aus dem Zustand der beiden einzigen Personen schließen, die er bisher gefunden hatte, und was aus dem Ausmaß der angetroffenen Zerstörungen? Die vorhergegangenen Ereignisse erlaubten in diesem Zusammenhang noch immer keine Erklärungen - nicht einmal Spekulationen.