Cover

Table of Contents

Titel

Copyright by: Vadim Rossick

Widmung

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

 

 

 

 

Vadim Rossick

 

 

 

Im Wald

der vermisten

Kinder

 

 

 

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Vadim Rossick

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2020

ISBN: 9783957537317

Grafiken Copyright by: © Alexey Protasov

 

 

Dieses Buch ist Tatjana Pohl und den Leuten

von Aschaffenburg gewidmet.

„Phantasie strebt an, Realität zu werden.“
André Breton

 

KAPITEL 1

Der 1. Oktober, Montag, Traum

 

Stille und Kälte. Eine anormale, undurchsichtige Dunkelheit füllt meine Realität. Es gibt keine Luft darin. Anstelle der Luft gibt es hier leidenschaftslose und unendliche Finsternis. Tief atme ich diese Finsternis. Mit Mühe atme ich ein und aus.

Obwohl sich die Dunkelheit allmählich lichtet, wird ein großer, formloser Fleck in einer Ecke des Schlafzimmers verdickt. Er ist schwarz und glänzend wie Harz, das wir in der armen sowjetischen Kindheit trotz Kaugummi gekaut haben. Dieser mich erschreckende Fleck wird in fassbare Gestalt langsam umgeformt.

Keines sehend, verstehe ich trotzdem, dass in der Ecke Kinder stehen. Es sind drei. Sie stehen bewegungslos und sehen mich aus der Dunkelheit an. Kälte und Stille. Totenstille.

Eines von den Kindern ist unser Lukas. Aus irgendeinem Grunde weiß ich es genau. Lukas’ Hände halten einen Jungen und ein Mädchen. Alle drei sind im gleichen Alter. Warum sind sie hier, in dieser Finsternis? Ein seltsamer Gedanke erscheint in meinem Kopf. „Möglicherweise sind sie schon gestorben?“ Das kann nicht sein! Was den Jungen und das Mädchen angeht, bin ich nicht sicher, denn Lukas schläft im Kinderzimmer. Die Totenstille stirbt plötzlich. Ein Kindergelächter klingelt in der Finsternis wie silberne Glocken. Es wird lauter und lauter. Es wächst vom zarten Piano bis zum heftigen, durchbohrenden Crescendo. Ich bekomme kalte Füße. Das Gelächter schraubt in meine Ohren unbarmherzig ein. Mein Herz wird in ein winziges Klümpchen zusammengepresst. In diesem Moment, in dem mein Kopf schon das schreckliche Gelächter nicht mehr aushalten kann und bereit ist, wie ein Gasballon zu explodieren, verstehe ich endlich, dass ich einen Horrorfilm träume. Ich habe also die Nase voll von diesem Albtraum und wache resolut auf.

Ich bin aufgewacht. Auf dem Nachttisch klingelt mein dicker, runder Wecker. Dieser Hysteriker ist mir ein Dorn im Auge. Im Schlafzimmer herrscht eine Hundekälte. Es ist nicht Winter. Derzeit ist erst Oktober, aber es ist stürmisch und nass. Marina hat die Heizung gestern Abend vor dem Einschlafen abgeschaltet. Die ruhmreiche deutsche Sparsamkeit.

Ich lebe in einem kleinen bayerischen Örtchen. Wir nennen es „Unser Städtl“. Unser Städtl ist ein ganz normales Städtchen. Nichts Spektakuläres. Am hohen Mainufer steht ein quadratisches altertümliches Schloss, das von drei Seiten mit Weinbergen umgeben ist. An der vierten Seite befindet sich ein Labyrinth aus engen Gassen und Straßen. Einst versammelten sich Feudalherren und andere mittelalterliche Ritter im Schloss auf Party. Es strömte Wein, es wurden Rinder gebraten und tödliche Komplotte geschmiedet. Im tiefen Schlosskeller wurden Lösegeld-Gefangene gequält. An den rauen Wandsteinen brannten Fackeln. Romantik! Aber dies ist seit Langem vergangen. Jetzt befinden sich im Schloss eine Bibliothek und eine Kunstgalerie. Im Schlosskeller wurde eine Tiefgarage eingebaut. Die Nachkommen der blutgierigen Ritter sitzen in Büros oder fahren Busse. Sie lächeln breit und treten taktvoll zur Seite. Das macht nichts. Das ist ein Ergebnis des sozialen Fortschritts.

Neben dem Schloss schießen Häuser aus dem Boden wie Pilze. Meistens zwei- und dreistöckig. In einem Haus im zweiten Stock wohne ich. Meine Adresse, wenn sie jemanden interessant ist, Pestalozzistraße 1. Ich wohne hier mit meiner Frau Marina (sie ist Deutsche aus Kasachstan) und ihren Söhnen zusammen. Alexander (oder Sascha) ist 24 Jahre, Lukas ist 10 Jahre alt. Vor zwei Jahren kam ich aus Russland nach Deutschland. Wir heirateten und fuhren zur Hochzeitsreise nach Paris. Dann hatte ich einen Kleinhirninfarkt. Alle schlechten Dinge sind drei. In meinem Fall ist es ein Kleinhirninfarkt, Tod bei der OP und Auferstehung danach. Nein, falsch! Es gibt noch schlechte Dinge – zwei brandneue Löcher in meinem Schädel, die mit einer Platte bedeckt sind, und eine qualvolle Depression, in die ich nach dem Kleinhirninfarkt eingetaucht bin.

Apropos mein Beruf, ich bin Schriftsteller. Leider bin ich Schriftsteller, der eine permanente Trockenperiode durchmacht. Ich möchte natürlich einen schaurigen Thriller über eine Familie mit Familiengeheimnissen oder über eine Dynastie der Bankiers und Politiker schreiben, aber … Statt der Straße zum Ruhm und Geld habe ich eine andere Straße gewählt. Eine Straße, die dorthin führt, wo es immer dunkel und leise ist. Ein schneller, schmerzloser Selbstmord, und ich werde wohl für immer ins Jenseits hinübergehen. Depression.

Gesagt – gemacht. Meine imaginäre Sanduhr ist umgedreht. Meine Zeit strömt wie Sand. Der letzte Monat meiner Existenz beginnt heute. Ich bin 53 Jahre alt. Dieses reife Alter ist gut genug für einen schönen Tod. Warum muss ich weiterleben? Ich kann keinen Sinn in meinem Leben finden. Mein Leben ist ein Scherbenhaufen. Normalerweise bringen Scherben Glück, aber dies ist nicht mein Fall. Alles klar. Ich halte Kurs Richtung Tod!

Marina weiß nichts von meiner Entscheidung. Sie hat ihre eigenen Probleme, zum Beispiel Krebsverdacht. Das ist auch nicht prima. Marina besucht die Ärzte, bekommt die Analyseergebnisse und ambulante Behandlung. In unserem Städtl gibt es eine Menge Ärzte. Das bedeutet, Marina erlebt keine Langweile dabei.

Ich sehe den Wecker an. Der Wecker sieht mich an. Es ist neun Uhr morgens. Marina ist nicht da. Sie ist schon gegangen. Lukas soll in der Schule sein. Sascha soll an der Arbeit sein. Pilzgeruch aus der Küche und Geruch der feuchten Grüne von der Straße. Es hat geregnet in der Nacht. Die Balkontür ist weit geöffnet. Die Vögel zwitschern schöne Melodien, als ob sie erzählen, wie sie tierisch gut übernachtet haben. Aus der Kirche hinter dem Fenster verläuft ein Gesang. Harmonisch und traurig. Obwohl sich die Kirche neben unserem Haus befindet, war ich niemals drin.

„Tu erst das Notwendige, dann das Mögliche, und plötzlich schaffst du das Unmögliche!“[1]

Ich stehe auf und ziehe mich an. Ene, mene, Apfelkuchen – Socken, eine Sporthose, ein T-Shirt. Das T-Shirt liegt unter dem Bett wie ein toter Hund. Kein Problem. Ein toter Hund beißt nicht mehr. Ich ziehe meinen Rollladen hoch. Das ist unerlässlich. Fast jedes Fenster in Deutschland ist mit diesem Ding ausgerüstet. Der Abend endet mit einem Herunterfahren der Rollläden, der Morgen beginnt mit einem Hochfahren der Rollläden. Wie das Ritual mit der Fahne auf dem Kriegsschiff: nach unten – nach oben. Nach dem Hochfahren der Rollläden muss man einen Gruß an den bleiernen Himmel geben und auf die Toilette laufen.

Die Küche salutiert mir mit dem Frühstück. In einer Teflonpfanne versteckt sich ein Spiegelei mit Tomaten unter dem Deckel. Auf dem Teller liegen Toasts mit Butter und Konfitüre. Auf der Tischfläche stehen eine Zuckerdose und eine Milchpackung. Ein dreidimensionales Stillleben. Ich brühe mir einen Kaffee auf. Ich bin nicht in Eile. Meine Zeit dehnt sich wie ein Muskelstrecker. Im Juni hatte ich einen Kleinhirninfarkt: ein Krankenwagen, eine OP, zwei neue Löcher in meinem Schädel, die mit einer Platte bedeckt sind. Ein Monat in der Klinik und drei Monate schon zu Hause. Bei dem Hirninfarkt wurde mein Vestibularapparat beschädigt. Ich kann kaum das Gleichgewicht aufrechterhalten und mich auf einen Gegenstand konzentrieren. Ich spreche drei Sprachen mit einem identischen Stottern. Sand im Getriebe. Übrigens bin ich noch am Leben.

Ich kaue langsam auf dem Spiegelei herum. Ein schwaches Sonnenlicht leuchtet wie durch den dichten Lampenschirm hindurch. Die Küche ist trübe. Die Herbstsonne spart Protuberanzen. Nach dem Essen warten Tabletten auf mich. Mein Chirurg in der Klinik hatte gute Nachrichten im Gepäck – ich muss diese Tabletten bis zu meinem Lebensende einnehmen. Mach’s gut!

Ich schalte den Radioapparat ein, der über dem Tisch hängt. Antenne Bayern. Ihr Motto: ,,Wir lieben Bayern, wir lieben Musik!“ Das bedeutet faktisch, dass sie Autobahnstaus und langweilige Popmusik lieben. Ein kurzer Degradierungskurs. Öffnen Sie Ihren Mund möglichst breit, bis er quadratisch ist, und lächeln Sie!

Lukas kommt zeitnah von der Schule. Er ist zehn Jahre alt, aber sein Verhalten ist das Verhalten eines Fünfjährigen. Oder ich bin vielleicht nicht gerecht? Lukas sieht vollkommen glücklich aus. Für Glück hat er die Mutter, einen LEGO-Baukasten und ein wöchentliches Taschengeld, freitags. Lukas spricht Russisch schlecht, hingegen spricht er den lokalen deutschen Dialekt perfekt. Lukas hat einen Freund, einen kleinen bebrillten Burschen namens Jason und verbringt seine meiste Zeit mit Jason. Sie rennen Kopf am Kopf auf der Straße oder kriechen zwischen den Spielzeugen auf dem Teppich in unserem Wohnzimmer.

Sascha kehrt hundemüde um 17.00 Uhr heim. Er ist ein guter Mann – hoch, schlank und ernst. Kein Witzbold. Sascha sieht wie ein KZ-Häftling aus, weil er viel raucht, wenig trinkt, noch weniger isst. Sascha arbeitet als Industriemechaniker und verdient gutes Geld. Ihm gefällt sein Leben.

Generell wohne ich mit zufriedenen Menschen zusammen. Nur ich bin unzufrieden. Depression? Der Hirninfarkt hat mein Leben in einen formlosen Klumpen umgewandelt. Vor einem halben Jahr war ich voll von Optimismus und Plänen für die Zukunft, aber jetzt blieb davon nur ein grauer Aschenhaufen übrig. Blase und zerstreue die Asche in alle Winde!

Ich setze mich an den Arbeitstisch und schalte den Computer ein. Ich öffne einen seit Langem angefangenen Text. Das war noch vor dem Hirninfarkt. Seit jener Zeit ist keine Zeile hinzugefügt worden. Ich habe ja keinen Buchnamen gegeben. Also guten Morgen, mein Krimi! Keine Panik! Papa ist da! Ich schaue auf dem Monitor. In meinem Kopf gibt es kein Gehirn, sondern Vakuum. Es zeigt, dass ich gar nichts den Lesern zu sagen habe. Oder ich habe keine Lust darauf? Auf so unnötige Art und Weise vergehen meine Tage. Ein grauer Tag für einen anderen grauen Tag sitze ich sinnlos am Computer. Ich bin wie unfruchtbarer Wüstensand. Keine Ideen, Sujets, Personen. Eine literarische Kraftlosigkeit. Ist es möglich, dass diese literarische Kraftlosigkeit viel besser als literarischer Kretinismus ist?

Ich habe mich an den Nachttraum erinnert. Die seltsame Dunkelheit, die seltsamen Kinder, das seltsame Gelächter. Der seltsame Traum. Für was ist das? Egal für was! Ich will nicht daran denken. Ich werde am Tisch den ganzen Monat sitzen, den Oktober durch die Fenster ansehen und dann einen französischen Abschied nehmen.

Die Tür öffnet sich. Das ist Lukas. Er ist von der Schule nach Hause gekommen. Sein Gesicht ist rot, seine Augen glänzen. Der Bub wirbelt durch das Wohnzimmer ins Kinderzimmer, wo ständig Unordnung herrscht. Beim Vorbeigehen sagt er mir sein traditionelles „Hallo, Vadim!“ Ich öffne meinen Mund, aber der Bub ist schon verschwunden. Er ist schnell wie ein Porsche. Eine enorme Geschwindigkeit, aber weder Geschwindigkeitsbeschränkung noch Geschwindigkeitsregelanlage. Das 21. Jahrhundert. Niemand hat die Zeit, um am Computer tagelang zu sitzen und auf den Monitor fruchtlos zu schauen. Niemand, außer mir. Ich konzentriere mich auf den Text. Alles Käse!

Mein Telefon klingt. Das ist Katja – Marinas Schwester. Eine Frau mit einem Kater. Ihr Kater hat keinen richtigen Katzennamen. Er reagiert nur auf den Aufruf „Komm, friss!“ Der kleine, dünne, graue „Komm, friss!“ ersetzt Katja ihre Familie. Sie behandelt ihn wie ein rohes Ei. Nach deutschen Maßen ist „Komm, friss!“ 70 Jahre alt. Er versteinert vom Alter und leidet an Arthrose und Arthritis. „Komm, friss!“ ist ständig krank. Ein armes Luder.

„Wie geht’s dir?“, fragt Katja.

Ihre Frage ist rein symbolisch, und ich murre vor mich etwas Unverständliches hin.

„Ich bin auch“, sagt Katja geheimnisvoll. „Wo ist Marina?“

„Marina ist auf Achse“, antworte ich auch geheimnisvoll. In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung, wo meine Frau ist. Marina geht und kommt, wie es ihr gefällt. Das ist ihre Gewohnheit seit den Jahren der Einsamkeit. Ich kämpfe nicht dagegen. Kein Sinn. Nach einem Monat verwandelt sich ihre Einsamkeitsfrist in die Unendlichkeit.

Katja schweigt. Offenbar wartet sie auf meine Initiative im Gespräch. Okay.

„Wie geht’s dir und deinem Kater?“, frage ich.

„Ich bin in Ordnung, aber mein Söhnchen ist krank. Er niest. Ich weiß nicht, wie ich ihn behandeln kann.“

Katjas Klagelied ist mir schon lange bekannt.

„Vielleicht hat er eine Allergie? Haben Katzen Allergien auf Menschen?“

Katja lacht.

Die Kirchenglocken zerstören unser Gespräch. Sie schlagen fleißig hundert Mal nacheinander. Wegen dieses Klangs kann ich nichts hören. Als sich der Klang endlich beruhigt, höre ich den langen Piep-Tönen zu. Ich trommle kurz mit den Fingern auf den Tisch. In meiner Geheimsprache bedeutet das: „Also gut!“

„Ich gehe auf die Straße!“, wirft Lukas ein, vorbei an mir zur Ausgangstür durchlaufend. Der Bub kaut Gummibärchen. Der Geschmack der Gummibärchen ist praktisch identisch mit den süßen Autoreifen. Gummibärchen ersetzen Lukas die Mahlzeiten. Lukas meint, dass Erwachsene sehr komische Wesen sind. Warum beschädigen sie ihren Magen mit Suppe, Kartoffeln, Wurst, Käse, Brot und ähnlichem Quatsch? Das ist kein Fall für ihn. Es gibt ja die Bonbons!

„Was ist mit deiner Hausaufgabe, junger Mann?!“, schreie ich aus Leibeskräften. Marina hat mich angewiesen, Lukas’ Hausaufgaben zu kontrollieren.

„Heute hab ich keine!“

Genau das Gleiche. Die Antwort entspricht dem Standard. Lukas hat nie Hausaufgaben. Wenigstens ist er davon fest überzeugt. Obwohl sein Klassenleiter eine andere Meinung hat. Jemand von ihnen irrt sich. Aber wer?

Die Tür öffnet sich wieder. Das ist meine Frau. Marina tritt ein. Sie trägt schwere Taschen und Tüten.

„Hallo, Schatzi!“, sagt Marina keuchend. Ich mache mich auf die Strümpfe und komme langsam meiner Frau entgegen. Es ist genauso schwierig, wie im Wachs zu schwimmen. Ich beeile mich, natürlich nach Möglichkeit. An der Küchenschwelle übergibt Marina mir die Tüten. Die Sache ist erledigt! Jetzt könnte sie sich umkleiden, aufs Sofa fallen lassen und ihre Beine ausstrecken. Der Ehemann (ich bin’s) sorgt um die Zukunft.

Ich sehe den Inhalt der Tüten an. Fleisch, Lachs, Brot, Wurst in Scheiben, Käse, Kaffee, Bonbons (Schade! Lukas ist nicht da.), Gebäck, Eier, Bohnen, Kartoffeln, Zwiebeln … Eine russische Familie könnte eine Woche nicht hungrig bleiben. In Deutschland essen wir das zwei Tage lang und danach schmeißen wir alles, was übrig ist, in den Mülleimer. Das Essen ist für uns billig und oft kostenlos.

„Wo ist Lukas?“, klingt der Mutterschrei aus dem Schlafzimmer, wo Marina sich umkleidet. Die beste Mutti der Welt!

„Er spaziert draußen mit Jason zusammen“, beruhige ich die beste Mutti der Welt. „Zwei glückliche Kakerlaken.“

„Okay.“

„Ups, ich hab’s vergessen! Katja hat dich gerade angerufen“, informiere ich meine Frau.

Marina erscheint aus dem Schlafzimmer und nimmt ihr Handy heraus.

„Katja? Hallo! Das ist Marina.“

Ich höre nicht zu, weil ich wieder am Computer sitze. Ich sehe dabei mein Spiegelbild. Eine Narbe auf dem Kopf ist nicht zu sehen. Die Narbe befindet sich auf dem Nacken. Graue Haare, hässliche Augensäcke, unreine Haut. Im Großen und Ganzen nichts Außergewöhnliches. Alt und traurig. Eine echte Oktoberperson, sozusagen. Im Monitor hinter meinem Gesicht beginnt ein dunkles Nichts. Meine Augen sehen mich aus dem Nichts fragend an. „Wie geht’s dir dort, Kumpel? Warum bist du dort?“

Warum? Ich weiß es nicht. Mein persönliches inneres Chaos stimmt nicht mit dem Chaos der Welt überein. Meine Gegenwart ist derzeit genauso durchsichtig wie ein Spinngewebe. Meine Zukunft ist vor drei Monaten gestorben. Diese bedauerliche Situation dauert schon viel zu lange an. Schluss damit! Erst einen Monat. Er vergeht schon. Morgen Abend werden zwei Tage vorbei sein.

Die Kirchenglocken erklingen draußen.

Seit zwei Jahren auf der Pestalozzistraße habe ich mich an ihr Beisein gewöhnt. Ich vergesse sie, aber die Glocken bringen mich oft in diese Realität zurück. Der Laut singender Bronze. Lang, klangvoll, manchmal lästig. Viertelstündlich. Die Kirchenglocken schweigen erst in der Nacht. Wahrscheinlich schlafen sie auch.

„Katja bittet uns, morgen früh ihren Kater zum Tierarzt zu bringen. Zum Impfen“, teilt Marina mir mit und steckt das Handy in die Tasche.

„Hat sie sich endlich entschieden, „Komm, friss!“ zu betäuben und zu schlachten? Tolle Idee!“, sage ich aus Unachtsamkeit. Ich beschäftige mich mit anderen Dingen im Moment.

„Du spinnst?!“, ärgert sich Marina. „Sag keine Dummheit! ,Komm, friss!’ ist das beste Wesen in der Welt für Katja. Sie hat für ihn mehr Geld ausgegeben als ich für dich!“

„Ich bin mir ganz sicher darüber“, stimme ich beleidigt zu.

„Fährst du mit, also?“, unterbricht Marina meine Beleidigung. Meine Ehefrau ist immer so – resolut und ziemlich knallhart. Frau Stacheldraht.

„Ich fahre mit“, nicke ich. Es ist besser, schlecht zu fahren, als gut zu sitzen.

„Okay, abgemacht“, beendet Marina unser Gespräch. „Wir holen ,Komm, friss!‘ morgen früh ab, bringen ihn zum Tierarzt, dann zurück nach Hause, und Feierabend. Katja wird nicht zu Hause sein. Sie hat einen Termin beim Zahnarzt.“

Termin! Ein magisches Wort, das in Deutschland alle Türen öffnet. Wenn du einen Termin hast, darfst du reinkommen.

Marina fängt an, mit dem Geschirr in der Küche zu donnern. Inzwischen denke ich mir: „Warum verliere ich wertvollste Zeit am Computer? Zeit ist Geld!“ Ich mache Schluss damit und schalte den Fernseher ein. Man muss die Zeit auf eine andere Weise verlieren. Ich wechsle die Kanäle. Deutsch, russisch, deutsch …

Klick! Nachrichten. Die Welt dreht sich, das Leben brodelt. Das Leben in der Welt, die aus den Extremisten und ihren Opfern besteht. Ein Terroranschlag auf dem Boston-Marathon, eine Explosion in einer Düngemittelfabrik in Texas, Atomschlag-Drohung Nordkoreas, Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus im Nahen Osten. Sake-Tag in Japan. Es gibt Opfer dort viel mehr als in Boston. Pleiten, Pech und Pannen.

Klick! Weltwirtschaft. Reisfelder irgendwo in der Pampa. Aus dem Gebüsch beobachten Affen die tief gebückten Bauer. Hä! Dieses Spielchen ist nicht geeignet für sie. Arbeit macht aus einem Affen einen ermüdeten Affen. Essen Sie lieber Bananen!

Klick! Showbusiness. Das ist ein sexuelles Äquivalent der Gewalt. Die halbnackten Sängerinnen verderben mich moralisch. Ihr Intellekt ist genauso wie bei dem Weinkorken.

Klick! Ein US-Kassenschlager über das antike Griechenland. Götter, Göttinnen und Helden in weißen Betttüchern. Lorbeerblätter, Oliven, unappetitlicher Ziegenkäse. Die dunkelhäutigen alten Griechen überraschen mich. Herakles mit den Muskeln von Mike Tyson. Aphrodite mit dem Lächeln von Whoopi Goldberg. „Okay, Bwana Zeus. Jawohl, Bwana Zeus. Wow!“ Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?

Klick! Auf dem Bildschirm erscheint jetzt Dunkelheit. Ist gut.

„Schatzi, hast du nicht vergessen, dass du morgen einen Termin bei Frau Polowinkin hast?“, fragt Marina aus der Küche.

Ich zucke zusammen. Ganz genau. Morgen möchte meine Hausärztin Frau Polowinkin eine Blutentnahme bei mir durchführen. Seit der OP stehe ich unter ihrer Kontrolle. Zuerst war die Blutentnahme jede Woche, jetzt ist sie jeden Monat. Morgen ist mein nächster Termin. Heilige Scheiße!

„Natürlich, Liebes. Ich habe das nicht vergessen“, lüge ich. „Bringst du mich zur Praxis?“

„Habe ich eine andere Wahl?“, seufzt Marina, aus der Küche herausschauend. „Hast du Hunger?“

Marina ist meine eigene Fahrerin. Ich besitze keinen Führerschein mehr. Die Frist meines russischen ist vor Kurzem abgelaufen. Einen deutschen habe ich nicht bekommen – der Hirninfarkt. Deshalb fährt Marina mich überall hin. Wir haben einen alten blauen Ford. Sascha fährt mit unserem Ford an seine Arbeit, und wenn wir das Auto brauchen, bringt Marina ihren Sohn hin und holt ihn nach der Arbeit ab. Morgen muss sie das auch tun.

Sascha ist noch nicht da, Lukas spaziert an der frischen Luft, deswegen speisen Marina und ich zu zweit. Ich esse Spätzle mit Fleisch. Nicht schlecht. Spätzle schmecken besonders lecker in Kombination mit Fleisch. Antenne Bayern über meinem Kopf macht unsere Mahlzeit ausflussreich. Katy Perry, Shakira, Pink, Autobahnstaus, Avril Lavigne, Mariah Carey, Anastacia, Autobahnstaus.

„Willst du Kaffee oder Tee?“, fragt Marina und streckt ihre Hand zur elektrischen Teekanne.

„Kaffee, bitte.“

Nach dem Hirninfarkt hat sich mein Geschmack völlig geändert. Vieles hat sich geändert seit dieser Zeit, und der Geschmack auch. Er hat mich im Stich gelassen. Zum Beispiel kann ich Tee nicht mehr trinken. Tee hat sich in ölige Flüssigkeit mit einem abscheulichen Beigeschmack verwandelt. Jetzt trinke ich nur noch Kaffee.

Marina brüht sich einen Beutel mit schwarzem Tee auf und schüttelt in meinen Krug einen großen Teelöffel Nescafé. Ich werfe in den Instant-Kaffee zwei Süßstofftabletten. Noch ein Problem von mir. Ich esse keinen Zucker wegen eines Kohlenhydratüberflusses. Hier ist der Überfluss, dort ist der Mangel. Im Schnitt funktioniert mein Körper akzeptabel. Das Wichtigste für mich ist jetzt, das Gleichgewicht zu behalten und ruhig zu bleiben. Gleichgewicht ist Leben. Wenn das Gleichgewicht beschädigt ist und sich das Wägestück zur Seite bewegt, bedeutet dies den Tod. Du wirst aus der Wirklichkeit ins Jenseits gehen. Einmal passierte dieser Scheiß mit mir schon wirklich. Dort gibt es nichts Interessantes. Die dortige Welt besteht aus einem grauen Schleier. Ich sah ihn.

Nach dem Essen setze ich mich wieder an meinem Computer. Wieder öffne ich den seit Langem angefangenen Text ohne Namen. Ich starre gedankenlos zum Fenster. Marina donnert mit dem Geschirr in der Küche. Sie füllt die Spülmaschine. Plötzlich kommt eine Eiswelle an mich. Neben dem Fenster stehen zwei kleine Figuren in milchweißen Leichengewändern. Ein Junge und ein Mädchen. Die Kinder halten sich die Hände. Ich sehe ihre Gesichter nicht. Die Kinder stehen schweigend. Nur ihre Leichengewänder flattern im kalten Zugwind.

Dieser ganz schöne Schrecken dauert einen wahnsinnigen Augenblick und dann verschwindet die haarsträubende Vision. Der muntere Klang der Kirchenglocken hinter den Fenstern vertreibt sie aus meiner Realität. Ich sehe den milchweißen Vorhang an. Mein Herz schlägt wild. Die Vorhangbewegung hat meine Einbildung verwirrt. Die Wirklichkeit und das Jenseits. Hin und her. Ich schmunzle, obwohl meine Lippen nervös zittern. Es ist komisch, aber mein Rücken ist nass von Schweiß!

Nach dem Glockengeläut schreien Türken draußen. Ich mache einen Spaziergang ins Schlafzimmer, um die Straße anzuschauen. Vier kräftige, unrasierte Männer laden alte Sachen auf einen Lkw. Jemand in einem Nachbarhaus möchte in eine andere Wohnung umziehen. Ich konnte mich nicht zwingen, zum Fenster im Wohnzimmer hinüberzugehen. Möglicherweise zeigt sich eine kleine eiskalte Hand hinter dem Vorhang hervor und drückt fordernd meine Hand. Blödsinn, natürlich, aber meine Angst ist ganz real. Niemandem wünsche ich solche Visionen und Träume. Mein Morgentraum war zum selben Thema: Kinder in milchweißen Leichengewändern.

Ich schaue zum Fenster, hinter denen es mal wieder regnet. Die mutlose Herbstsonne verschwand hinter einer trüben Wolke. Oktober in Bayern.

Ich wechsle mein von Schweiß stinkendes T-Shirt gegen ein frisches. Die Spülmaschine summt fleißig in der Küche. Wo ist Marina? Wo ist meine Frau Stacheldraht? Oder mein zartes Mädchen. Marina ist unten im Hof. Sie möchte Bioabfall in einer Mülltonne beerdigen. In unserer bayerischen Öko-Welt gibt es einen Mülleimer für Bio, einen für Plastik, einen für Altpapier und so weiter. Auch lässt niemand die Klobrille offen. Diese Öko-Welt ist wahrscheinlich affengeil, aber nicht kinderleicht.

Nach dem Sonnenuntergang wird es schnell finsterer. Ich sitze immer noch vor dem Computer. Der Computer informiert darüber, dass er eine neue E-Mail hat. Wer könnte es sein? Wieder Spam? Oder jemand kommt aus meiner Verwandtschaft? Ich schaue die E-Mails an. Es gibt wirklich einen Brief von aloiskalt@ … de. Alois Kalt? Ich kenne diesen Namen nicht. Es ist interessant. Obwohl Lesen die Dummheit gefährdet, lese ich die E-Mail durch. Sie ist auf Deutsch geschrieben.

„Sehr geehrter Herr Ross, ich wäre so sehr dankbar, wenn Sie am nächsten Sonntag um 16.00 Uhr zu mir kommen könnten. Ich danke Ihnen schon im Voraus für Ihr Verständnis. Das ist äußerst wichtig!“

Weiter steht eine Adresse dabei: ein kleines Dörfchen. Das ehemalige Großdeutschland ist kein großes Land, deswegen liegt dieses Dörfchen weit von hier, aber allerdings nicht in Sibirien – ungefähr hundert Kilometer entfernt. Die E-Mail endet mit der üblichen deutschen Höflichkeit: „Mit freundlichen Grüßen“ und der Unterschrift: „Alois Kalt“.

Ich schmunzle und denke innerlich: „Na und?“                                      

Bumm-bumm-bumm! Der alarmierende Kirchenglockenklang läutet hinter dem Fenster.

 

KAPITEL 2

 

Wer ist dieser Alois Kalt? Er ist mir ganz unbekannt. Null Ahnung. Ich bin aber nicht von gestern. Meine Finger klimpern auf der Tastatur. Okay, mal gucken, was das Internet über ihn weiß. Aha, es weiß etwas. Zum Beispiel gibt es einen österreichischen Volksdichter namens Alois Kalt. Leider ist er schon seit Langem gestorben und schreibt niemandem Briefe. Es gibt auch noch einen anderen Alois Kalt. Dieser ist viel interessanter. Ich lese einen vorjährigen Zeitungsartikel durch.

„Im letzten Monat bespricht die deutsche Öffentlichkeit eine schlechte Nachricht: das Bayerische Monster – der grausigste Verbrecher in der Geschichte Deutschlands – könnte unter Hausarrest stehen. Ein verurteilter pädosexueller Serienmörder Alois Kalt verbrachte 20 Jahre im Gefängnis und seine lebenslange Haft wurde in Hausarrest umgewandelt. Jedoch zeigt die deutsche Öffentlichkeit keine Nachsicht dem Bayerischen Monster gegenüber. Eine Diskussion über die Anwendung der Todesstrafe für Ausnahmefälle hat wieder begonnen.

Am 4. Februar hat die erste Gerichtsverhandlung stattgefunden. Die Polizei musste erhöhte Sicherheitsmaßnahmen einsetzen. Der Maniac wurde auf dem Weg ins Gericht von 160 Polizisten beschützt. Auf dem Kopf hatte er einen Stahlhelm. Sein Weg war das strengste Geheimnis. Das war nicht umsonst getan: vor dem Gerichtsgebäude protestierten Alois Kalts Gegner. Und wer weiß, was eine wütende Menschenmenge entscheiden könnte.

Die deutsche Öffentlichkeit erinnert sich sehr gut daran, wie skandalös der Umzug von Bea Kalt aus dem Gefängnis ins Kloster war. Bea Kalt war Alois Kalts Ehefrau und Mittäterin. Die Presse tobte noch lange Zeit danach. Das Kloster wurde von den empörten Mitbürgern belagert. Übrigens lebte Bea Kalt im Kloster nicht lange Zeit und in weniger als einem Jahr starb sie an Krebs. Das war im Jahr 1992.

Obwohl die Experten meinen, dass das Bayerische Monster nicht auf freien Fuß gesetzt werden soll, haben die Verwandten der Opfer des Wahnsinnigen sowieso ins Europäische Gericht für Menschenrechte eine Klage eingereicht. Die Anwälte der Familien seiner Opfer meinen sogar, dass das deutsche Strafrecht entsprechend revidiert und geändert werden muss, um den besonders gefährlichen Verbrechern die Möglichkeit einer vorzeitigen Befreiung oder Nachsicht zu entziehen.

Bea und Alois Kalt wurden im Jahr 1991 festgenommen. Das Bayerische Monster wurde für Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Vergewaltigung, Folter und Mord, einschließlich an dreißig Kindern, das jüngste fünf Jahre alt, für schuldig erklärt. Die Leichen von den Zwillingen Hänsel und Gretel Reiner wurden bis jetzt nicht gefunden. Der Maniac sagte nicht, wo er sie begraben hat. Arzt Alois Kalt wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Jetzt ist er 64 Jahre alt. Schullehrerin Bea Kalt wurde zu 30-jähriger Haft als Mittäterin verurteilt. Da Alois Kalt als Haupttäter für schuldig erklärt wurde, wurde Bea Kalt nicht zu Gefängnis verurteilt, sondern ins Kloster gesperrt. Die Kalts haben im Jahr 1971 verheiratet und wurden 1991 geschieden. Sie befanden sich damals schon in ihren Strafanstalten. Sie hatten ein eigenes Kind.

Das Gerichtsurteil über den Hausarrest von Alois Kalt wird heute verkündigt.“

Mein Gott! Ich bin ganz baff. Kurz gesagt, Herr Kalt ist ein Arschloch. Diese gruselige Kompanie ist sein Zuhause: Deutschland: Karl-Heinz Sadrozinski alias Jürgen Bartsch wurde als der „Kirmesmörder“ bekannt (ermordete „nur“ 4 Jungen), Peter Kürten wurde der „Vampir von Düsseldorf“ genannt (Mord in 69 Fällen), Bruno Lüdke (51 – 85 Frauen), Fritz Haarmann, der „Werwolf von Hannover“ (24 – 27 Jungen), Karl Denke, der „Kannibale von Münsterberg“ (Er hatte mindestens 42 Menschen getötet, verarbeitet, gegessen und Teile ihres Fleisches auf dem Breslauer Wochenmarkt verkauft. Aus ihrer Haut machte er sich Schnürsenkel und Hosenträger), der Onkel Tick-Tack, der Blaubart von Fehmarn, der Totmacher, das Ungeheuer vom Schwarzwald, der Todesengel, der Heidemörder …

Russland und die Ukraine: Andrej Tschikatilo (53 Opfer), Alexander Pitschuschkin, der „Irre vom Bitza-Park“ (48 Morde und 3 Mordversuche), Sergej Golowkin alias „Fischer“ (11 Jungen wurden von ihm ermordet, zerstückelt, enthauptet und teilweise gegessen), Anatolij Onoprijenko, der „Terminator von Tschernobyl“ (52 Opfer), die Bestie von Lyswa, Kolja der Menschenfresser, der Schachbrettmörder …

Die USA: David Berkowitz, the „Son of Sam“ (7 Morde und 9 Mordversuche), Jeffrey Lionel Dahmer, the „Cannibal of Milwaukee“ (17 Jugendliche und Männer wurden von ihm ermordet, vergewaltigt, zerstückelt und teilweise gegessen), John Wayne Gacy jr., the „Killer-Clown“ (Vergewaltigung und Ermordung von 33 Jungen und jungen Männern), the Green River Killer, the Eyeball Killer, the Alligator Man …

Unbekannte Serienmörder: von Jack the Ripper bis the Zodiac Killer, the Honolulu Strangler, the Axeman of New Orleans, the Mad Butcher of Kingsbury Run, the Freeway Phantom, the Tylenol Killer …

Was machen sie gerade im Moment? Töten sie weiter?

Die Kreaturen, die die Hollywood-Traumfabrik ausgedacht hat: Freddy Krueger, Hannibal Lecter, Norman Bates, Michael Myers, Dexter Morgan, Chucky Doll, Joker, Leatherface, Ghostface, Pinhead sehen viel freundlicher aus als die echten Maniacs.

Was will aber das Bayerische Monster von mir? Warum bin ich in seinem Visier?

Ich suche im Internet nach zusätzlichen Angaben über Kalt und finde sie sofort. Das Bayerische Monster wird auf vielen Webseiten erwähnt. Unter Maniacs, Serienmörder und ähnlichen ekelhaften Typen nimmt er Platz. Ich tippe im Browser „Bayerisches Monster“ und erkenne noch Einzelheiten seiner hässlichen Biografie. Alois Kalt wurde im Jahr 1947 geboren. Nach dem Abitur studierte er Medizin und wurde Arzt. 1971 heiratete er Bea Devaux. Im nächsten Jahr bekam Bea einen Sohn und und und …

Es gibt auch eine Liste seiner Opfer. Ich lese sie durch.

… unbekanntes Opfer, ein Mädchen etwa 15 Jahre alt, mit dem Hammer getötet, vergewaltigt, beraubt.

Inga М., 12 Jahre alt, vergewaltigt, beraubt und mit Schlägen am Kopf getötet. Sie wurde am 17. Juni 1977 unweit vom Waldweg gefunden.

Erica H., 6 Jahre alt, vergewaltigt und mit einem Pflasterstein getötet. Sie wurde am 3. September 1977 im Gebüsch bei einem Feldweg gefunden.

Unbekannter Junge, 10 bis 12 Jahre alt. Schwere Beschädigungen des Schädels und eine tiefe Schnittwunde am Hals. Er wurde in einen Brunnen in der Nähe einer Eisenbahnstation geworfen. Seine Leiche wurde am 22. August 1978 gefunden.

Stina H., 8 Jahre alt. Sie wurde am 10. November 1978 im Wald gefunden.

Krista Sch., 9 Jahre alt. Sie wurde mit Schlägen eines Hufeisens am Kopf getötet. Sie wurde im November 1978, einen Monat nach dem Verschwinden, gefunden.

Martin I., 12 Jahre alt. Er wurde mit Schlägen eines unscharfen Gegenstandes am Kopf getötet. Seine Leiche wurde am 1. Januar 1979 gefunden.

Friedel Sch., 16 Jahre alt. Schwere Beschädigungen des Schädels mit einem Eisenstock. Vergewaltigung. Sie wurde im Februar 1979 im Walde unter einem Brennholzstapel gefunden.

Unbekanntes Mädchen. Ihr zerschmetterter Schädel wurde Anfang März 1979 gefunden …

Die blutige Liste scheint mir unendlich zu sein. Dieser tödliche Wunderwuzzi tat alles Schreckliche allein. Das Gericht entschied, dass die Ehefrau des Maniacs nicht an den Morden teilgenommen hatte.

Vor dem Gericht wurde Alois Kalt bei Tag und Nacht in einem Eisenkäfig schwer bewacht wie ein gefährliches Raubtier. Seine Hände und Füße waren in Ketten gelegt. Das wundert mich nicht. Während der Polizeiermittlung führten die bekannten deutschen Ärzte eine medizinische Untersuchung von Kalt durch. Die Anwälte des Bayerischen Monsters behaupteten, dass Kalt psychisch krank war, aber ergebnislos. Die Ärzte bewiesen das Gegenteil eindeutig, obwohl die Beschreibung der Gräueltaten von Kalt zeigt, dass der Autor dieser Grässlichkeit nicht vollkommen psychisch gesund ist. Aber trotzdem kein Dachschaden. „Gute Arbeit!“, würde ich zu diesen Ärzten sagen.

Ich bewege mich in die Küche, um mir Kaffee einzugießen. Ohne Kaffee wird das Leben des Bayerischen Monsters schlecht wahrgenommen. Marina ist im Keller. Dort hängt unsere gewaschene Wäsche zum Trocknen. Okay. Ich kann mich um alles selbst kümmern. Mit einer Tasse Kaffee kehre ich in das Wohnzimmer zurück.

Ich sitze im Sessel und trinke den aromatischen heißen Kaffee. Perfekt! Ich habe Maniacs niemals verstanden. Durch den nasskalten Wald laufen, einen fremden Pilli oder eine Muschi kauen und vor Freude schreien, wie Tschikatilo es gemacht hat. Friede, Freude, Eierkuchen? Ein fragliches Vergnügen. Und gar nicht ästhetisch.

Ich lenke mich vorübergehend von der blutigen Liste für ein angrenzendes Thema ab. Die Todesstrafe. Warum taucht der Mörder von dreißig Kindern seit Langem nicht im siedenden Schwefel der Hölle? Im Gegenteil, er ist 65 Jahre alt und schreibt mir einen Brief.

Es ist so gut, dass kluge Köpfe das Internet erfunden haben! Jetzt kann ich, ruhig am Tisch sitzend, viel Neues über die Anwendung besonders grausamer Hinrichtungsmethoden entdecken.

In den mittelalterlichen deutschen Liliputanerkönigreichen schlug man mit einem Schwert den Kopf des Verbrechers ab. Im Übrigen gab es damals auch andere interessante Hinrichtungsmethoden. Hexen wurden verbrannt. Für Ehebruch wurden die Männer durch Vierteilung hingerichtet, die Frauen versenkt. Was war mit den Hexen-Ehebrecherinnen? Kommen Feuer und Wasser zusammen? Das wäre interessant, zu erfahren. Radebrechen, lebendig begraben, mit einem Pfahl durchbohren und ähnliche raffinierte Hinrichtungsarten. Die Protestanten bemühten sich darum mit großem Fleiß und Eifer genauso wie die Katholiken.

Dann kam ein gewisser Ady H. auf die Bühne und biss in den sauren Apfel. Der größte Feldherr aller Zeiten liebte die Todesstrafe durch Erhängen oder die Guillotine. Jawohl, mein Führer! Die Wehrmacht praktizierte eine Exekution durch Erschießen. In den Konzentrationslagern funktionierten Gaskammern und Galgen. Die Auswahl der Hinrichtungen war ziemlich groß.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Nazihauptverbrecher erhängt und die Alliierten beruhigten sich damit. In der Bundesrepublik und Westberlin war die Todesstrafe im Jahr 1949 abgeschafft. Die DDR wurde mit harter Hand regiert. Ossis hauten bis 1966 die Köpfe ihrer Feinde mit einer Axt oder Guillotine sparsam ab. Danach haben sie sich entschieden, sie zu erschießen. Kommunismus um jeden Preis. Endlich war die Todesstrafe in der DDR im Jahr 1987 auch abgeschafft. Keine Tickets für die letzte Schifffahrt mit dem Schiff der Toten mehr. Dann kam die deutsche Wiedervereinigung. Laut Artikel 102 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist jetzt die Todesstrafe abgeschafft und das Bayerische Monster kann mich als Gast zu sich einladen.

Dennoch muss ich zugeben, dass dieser seltsame Brief vom seltsamen Menschen mein ruhiges und stilles Leben gestört hat. Warum will Kalt mich treffen? Woher weiß er über mich?

Neben mich setzt sich Marina. Das dunkle Wohnzimmer. Gelbes Licht strömt aus der Nachtlampe. Unser Fernseher schnurrt etwas Lyrisches. Lukas schläft schon. Sascha ist nicht zu Hause. Nach der Arbeit ist er zu Besuch bei einem Freund. Sein Freund heißt auch Sascha. Der zweite Sascha wohnt in der Nachbarschaft. Die Freunde verbringen viel Zeit miteinander. Sie trinken Bier und reden über etwas Unwichtiges.

Die beiden Freunde waren die Mitschüler. Jetzt lernt Lukas in dieser Schule. Nach dem Schulabschluss wollen sie zusammen ausbilden. Aber unser Sascha erhielt eine Ausbildung als Industriemechaniker, sein Freund keine. So stand er außerhalb der deutschen Wohlstandsgesellschaft. Erfolglos versuchte der zweite Sascha, eine neue Ausbildungsstelle zu finden, und landete zum Schluss im Sessel zu Hause. Gott sei Dank, seine Eltern füttern ihn. Wenn unser Sascha an der Arbeit ist, sitzt der zweite Sascha zeitgleich am Computer. Er spielt kostenlose Online-Strategiespiele. Die Welt digitalisiert sich.

Marina gähnt laut hinter meinem Rücken. Bist du erschöpft, meine Liebe? Marina beginnt zu erzählen, wie sie ihren Tag verbracht hat. Sie war beim Arzt. Wenn ihre medizinischen Tests negativ sind, wird bei ihr eine Operation anstehen. Eine Amputation. „Nicht lange warten!“, sagt Doktor Olschewsky.

Das sind noch nicht alle schlechten Nachrichten. Am Morgen, als ich schlief, rief Marina ihre ältere Schwester Natascha an. Natascha reiste als Spätaussiedlerin nicht nach Deutschland. Sie blieb mit ihrer eigenen Familie in Kasachstan. Vor einem Jahr wurde bei ihr metastasierter Leberkrebs festgestellt. Natascha hat schon zwei Leber-Operationen hintereinander gehabt, aber Metastasen treten immer wieder einmal auf. Heute früh hat sie Marina gebeten, nach Kasachstan anzukommen, um sich persönlich zu verabschieden. Das ist doch ganz klar, dass Nataschas Gesundheitszustand sehr schlecht ist.

„Nun, wie hast du dich entschieden?“, frage ich meine Frau.

Marina zieht ihre Schultern in die Höhe.

„Wie kann ich mich entscheiden? Ich bin mir sicher, dass ich nach Kasachstan fliegen muss.“

„Wann?“

„So bald wie möglich, Schatzi. Morgen buche ich einen Flug nach Astana.“

„Was ist mit den Kindern?“

„Ich nehme die beiden mit. Sascha hat zwei Urlaubswochen. Lukas’ Schulferien fangen gerade an.“

Marina umarmt mich, steckt ihre Nase in meinen Hals und flüstert leise in mein Ohr: „Du musst allein sein. Kannst du es?“

Tja! Ich bin mutig und werde mir vor Verzweiflung die Haare nicht raufen.

„Mach dir darum keine Sorgen. Ich bin an Einsamkeit gewöhnt. Wie lange wird deine Reise voraussichtlich dauern?“

„Einen Monat vielleicht. Ich muss meine Schwester unterstützen. Die Kinder müssen meine Heimat kennenlernen. Außerdem möchte ich einige alte Freundinnen besuchen.“

Ich habe eine wachsende Angst um Marina und Natascha. Die Schwestern gehen zu Ende. Meine ganze Welt geht zu Ende. Ein Stück weiter und Schluss. Obwohl wir alle früher oder später Mist werden, beruhigt mich diese Philosophie nicht. Keine Sorge, Mädels! Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.

„Wie geht’s deiner Literatur?“, wechselt Marina das Thema.

„Mehr schlecht als recht“, seufze ich, „mein Gebet für finanzielles Glück erreicht Gott überhaupt nicht.“

Ich will meiner Frau von der Einladung des bayerischen Monsters erzählen, aber die Türklingel hält meinen Mund. Sascha hat seinen Schlüssel dabei. Wer ist da? Marina und ich blicken vorwurfsvoll auf die Wanduhr. Es ist in Bayern nicht üblich, zu Besuch so spät zu kommen, um Kaffee zu trinken.

Marina öffnet die Tür. Auf der Schwelle beugt sich eine von zwei unserer Nachbarinnen – die alte Frau Krauss. Sie ist Sudetendeutsche. Nach dem Kriegsende kam Frau Krauss aus Tschechien nach Deutschland. Jetzt ist sie 90 Jahre alt. Frau Krauss blinzelt mit ihren kurzsichtigen Augen. Sie ist mit einem schäbigen Schlafrock bekleidet. Ihre Hände zittern.

„Was ist los, Frau Krauss?“, fragt Marina die alte Dame warmherzig und schaltet das Licht im Flur ein.

Frau Krauss sieht ganz dramatisch aus. Sie drückt ihre Hände hilflos an die Brust. Ihr zahnloser Mund murmelt undeutlich: „Ich bitte Sie um Verzeihung, aber ich fühle mich nicht wohl. Ich habe keine Verwandten. Alle sind schon gestorben. Ich habe niemanden dabei. Könnten Sie mir helfen?“

Frau Krauss schluchzt. Marina umarmt die Alte zärtlich.

„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“

Unsere Nachbarin schüttelt verneinend den Kopf.

„Nein danke. Keine Ursache. Ich habe mein Medikament schon eingenommen. Könnten Sie bei mir einfach kurz sitzen, bis das Medikament anfängt zu wirken? Wenn es möglich ist. Ich wäre sehr dankbar.“

Marina sieht mich fragend an. Ich nicke. Meine Frau beruhigt die Alte. „Aber selbstverständlich, Frau Krauss. Ich werde bei Ihnen weilen. Gehen Sie mit.“

Marina führt Frau Krauss ab. Ich bleibe im Licht der Nachtlampe. Es ist schon fast Mitternacht.

In Deutschland gibt es eine schöne Tradition, den Hausnachbarn zu Weihnachten ein Fläschchen Sekt und Süßigkeiten zu schenken. Wenn die Nachbarn nicht zu Hause sind, lässt man das Weihnachtsgeschenk vor ihrer Tür liegen. Dafür schicken wir Lukas gewöhnlich. Ihm gefällt dieser Auftrag sehr, weil er von unseren Nachbarinnen fünf Euro bekommt. Ich habe Frau Krauss und Frau Hunger eben mit diesen Weihnachtsgeschenken kennengelernt. Frau Hunger ist auch eine alte Dame. Sie ist eine Altersgenossin von Frau Krauss und der Oktoberrevolution.

Aber ich lasse mich ablenken. Was ist mit der Todesstrafe? Ich lese einen Artikel im Internet. Der Streit über die Notwendigkeit und die Nutzlosigkeit der Todesstrafe könnte ewig dauern. Mir scheint es, dass Adepten und Gegner der Todesstrafe nie übereinstimmen werden. Todesfreunde behaupten, die positiven Auswirkungen der Todesstrafe sind stärker als die negativen. Die aus dem Alten Testament stammende Redewendung besagt, dass bei erlittenem Schaden Gleiches nur mit Gleichem vergolten werden soll: „Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm wieder tun.“

Es klingt gut.

Ein Mensch hat ein Huhn gestohlen – Abhauen einer Hand. Dieser Schurke hat ein zweites Huhn gestohlen – Abhauen zweiter Hand. Abhauen eines Fußes. Abhauen einzelner Finger oder Fingerglieder. Abschneiden oder Ausreißen der Zunge. Auf solche Art und Weise kann man den Schurken reduzieren, bis er verschwindet. Und alles ist wieder in Ordnung! Es gibt keine Kriminalität mehr. Es bleiben noch mehr Hühner.

Freundliche Gegner der Todesstrafe wiederholen endlos, dass jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat. Eines ihrer wichtigsten Argumente sind falsche Gerichtsurteile. Es ist eine Tatsache, dass immer wieder Justizirrtümer passieren. Diese falschen Gerichtsurteile, obwohl sie ziemlich selten sind, ergehen regelmäßig. Der erfahrenste und scharfsinnigste Richter ist kein Gott, sondern nur ein ermüdeter Mensch mit Krankheiten und Familienproblemen. Er braucht unbedingt Tatsachen, Beweise und Augenzeugen. Was in Wirklichkeit geschehen ist, wissen nur der Verbrecher und sein Opfer. Gerichtliche Praxis zeigt, dass Richter manchmal tragische Fehler begehen. Wenn infolge solcher Fehler ein Mensch zu Haft verurteilt worden ist, kann man dieses Urteil aufheben, den Unschuldigen freilassen und eine finanzielle Kompensation zahlen. Man muss einfach im Knast abwarten und Tee trinken. Wenn jemand aber hingerichtet wurde, obwohl er nicht schuldig war, kann man das Urteil unmöglich beheben.

Meiner Meinung nach ist der Mord für die Gerechtigkeit blöd. In vielen Ländern, besonders mit den Führern an der Spitze, wurde eine einmal eingeführte Todesstrafe mehr und mehr angewendet und brachte derart furchtbare Folgen, welchen ihre Abschaffung niemals gebracht hätte.

Im Internet erkenne ich, der 10. Oktober ist the World Day Against the Death Penalty (Welttag gegen die Todesstrafe). Die ganze progressive Menschheit soll den feiern. Kurz gesagt, die Todesstrafe und Menschenrechte sind inkompatibel. Die Todesstrafe der Unschuldigen ist schon ein ausreichender Grund für ihre Abschaffung in der ganzen Welt. Außerdem bekamen Verbrecher keine kalten Füße vor der Todesstrafe. The Zodiac Killer, the Honolulu Strangler, the Axeman of New Orleans und viele andere sind tätig. Die Europäische Union kämpft mit Rat und Tat um die volle Abschaffung der Todesstrafe. Na super. Ich bin dafür, ungeachtet des Bayerischen Monsters, das hundert Kilometer von mir entfernt wohnt. Der Staat darf seine Menschen nicht töten. Grausamkeit multipliziert Grausamkeit oder wie sagte Martin Luther King jr.: „Finsternis kann keine Finsternis vertreiben. Das gelingt nur dem Licht. Hass kann den Hass nicht austreiben. Das gelingt nur der Liebe.“[2]

Die ermüdeten Kirchenglocken hinter dem Fenster rufen alle ins Bett. Sie verabschieden sich von uns – wir sehen uns morgen. Es ist schon die Nacht. Ich sitze ganz allein im Wohnzimmer. Die Zimmerecken sind dunkel. Das Licht der Nachtlampe umgrenzt mich wie ein rettender Kreis. Dieses Licht schützt mich vor der Finsternis und ihrer Untiere, zum Beispiel von Jungen und Mädchen in milchweißen Leichengewändern.

Ich bin hier ein Fremder. Meine Vergangenheit ist in Russland geblieben. Meine lange, lange Vergangenheit. Meine Eltern, mein Bruder und Sohn (ich will nicht, dass meine DNS mit mir zusammen sterben wird), Freunde und Bekannte, Arbeit und Arbeitskollegen. Meine Frauen … Ich bin wie eine erwischte Eidechse, die ihren Schwanz abgeworfen hat und sich unter einem Stein versteckt hat. Zwar schaffte ich es nicht, vor meiner Ex-Ehefrau zu fliehen. Violetta ist auch hier. Unter demselben Stein. Wahrscheinlich schläft sie jetzt in einem Bett mit einem neuen deutschen Ehemann in einem ruhigen Städtchen in einem benachbarten Bundesland, irgendwo neben Stuttgart. Es ist ziemlich weit von unserem Städtl. Weit nach deutschen Maßen natürlich. Eine ungefähr 3 Stunden lange Autobahnfahrt. Zum Ende der Welt.

Die Eingangstür knallt. Das ist Sascha. Seine Jacke ist mit nassen Flecken befleckt. Es riecht im Raum nach feuchtem Tabak. Klar. Auf der Straße regnet es.

„Wo ist die Mutter?“

„Sie ist bei Frau Krauss. Die Alte fühlt sich nicht wohl und hat Angst, allein zu bleiben.“

„Okay. Dann gehe ich zu Bett. Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Sascha geht zu Bett. Er muss morgen früh zur Arbeit gehen. Er steht um 5.00 Uhr auf, weil seine Schicht um 6 beginnt. In Deutschland beginnen viele Leute ihre Arbeit sehr früh. Kein Wunder, dass es niemand um 20.00 Uhr auf den Straßen gibt. Hingegen machen Morgenmuffel Feierabend schon nachmittags. Plus/minus, plus/minus. Durchschnittlich geht es gut. Gleichgewicht.

Strömender Regen prasselt an die dunklen Fensterscheiben. Ich schalte den Computer aus und trommle mit den Fingern auf den Tisch. In meiner Geheimsprache bedeutet das: „Es ist Zeit, zu Bett zu gehen, du kranker Mensch.“

Marina ist immer noch nicht da. Sie achtet auf Frau Krauss’ Wohlbefinden. Ich liege in der Dunkelheit und starre an die Zimmerdecke. Auf dem Bett geparkt. Dem breiten Ehebett gegenüber steht ein altertümlicher Kleiderschrank mit Spiegel aus Eichenholz, der von Wand zu Wand und vom Fußboden bis zur Decke reicht. Es ist ein Rätsel, wie der Kleiderschrank hierhergebracht wurde. Er war schon hier, als Marina in diese Wohnung einzog. Der Kleiderschrank ist größer als das Fenster und die Tür im Schlafzimmer. Möglicherweise wurde der Kleiderschrank zusammen mit dem Haus gebaut? Oder er ist im Schlafzimmer gewachsen wie ein Baum? Eines Tages fand Marina in diesem Schrank eine staubige Flasche Champagner von 1939. Ein Nazi hat die aufgespart, um seine Eroberung der Welt zu feiern. Vorfreude ist die schönste Freude. Aber wahrscheinlicher ist allerdings, dass er diese Flasche einfach vergessen hat.

An der Decke befindet sich ein kompliziertes Labyrinth von Schimmel. Schimmel ist eine deutsche nationale Tragödie. Die Engländer sprechen über das Wetter, die Deutschen sprechen über Schimmel. Jedes gesellschaftliche Gespräch kommt unvermeidlich zu diesem aktuellen Thema. „Haben Sie in ihrem Haus Schimmel? Schwarz oder grau? Und wie kämpfen Sie gegen ihn? Vor Kurzem hat man mir ein schönes Mittel gegen Schimmel empfohlen …“ Und so weiter und so fort. Aber alle Mühen sind sinnlos. Dieses Übel besiegt. Grund? Feuchtes Klima plus keine gute Lüftung in den Räumen.

Die Kindergespenster beunruhigen mich nicht mehr. Ich bin fast eingeschlafen. Aber! Marina! Meine Frau lässt sich geräuschvoll auf das Bett neben mir fallen. Sie ist kalt wie Eiscreme.