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Table of Contents

Titel

Impressum

I Projektionsflächen

II Bruchstellen

III Neues Leben

IV Abgründe

V Offenes Visier

VI Stalking

VII Flächenbrand

VIII Entscheidungen

 

 

 

Anne-Sophie Richard

 

 

 

 

 

Sorgerechtskrieg

An einen Narzissten gekettet

 

 

 

ROMAN

nach wahren Erlebnissen

 

 

 

 

 

 

DeBehr

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Copyright © 2019 Anne-Sophie Richard

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage 2019

ISBN: 9783957537201

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by ©bildschoenes

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Dieser Roman beruht zwar auf einer wahren Geschichte, Namen, Orte und Lebensumstände der Figuren wurden jedoch so stark fiktionalisiert,dass dadurch eventuell entstandene Ähnlichkeiten mit anderen, real existierenden Personen zufällig und nicht beabsichtigt wären.

 

I Projektionsflächen

Sommer 2007 bis 15. April 2009

 

 

„… dass die Presse auch vertreten ist“, die volltönende Stimme, die in stetem Fluss den Raum ausfüllte, war bisher recht angenehm gewesen. Von ihr ging eine unerschütterliche Bestimmtheit aus, die das Gefühl vermittelte, als habe hier jemand alles im Griff. Aber jetzt fühlte ich mich ertappt und blickte von meinem Schreibblock auf.

„Ähm, ja“, stammelte ich, „ich freue mich auch.“

„Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um ein paar deutliche Worte zur Berichterstattung im Wasnitzer Tageblatt anzubringen.“ Der Mann mit dem Soldaten-Haarschnitt am Kopf des Tisches hatte ohnehin schon die Aufmerksamkeit seiner knapp zwanzig Zuhörer. Jetzt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und reckte die Arme nach hinten, um sie über den Ecken der Lehne abzulegen, die er allerdings nur gerade so eben erreichen konnte. „Zu all unseren Aktionen, die wir als Wasnitzer Bürgerverein organisieren, lade ich immer auch die örtliche Presse ein. Umso bedauerlicher finde ich es, dass gewisse Veranstaltungen dort einfach nicht stattfinden. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn kaum jemand kommt, wie zuletzt beim Vortrag des Vertreters der Landesinitiative zur politischen Bildung.“

„Den hatten wir aber angekündigt“, das brachte ich nur piepsig heraus, und ich fühlte mich dabei wie ein unartiges Mädchen, das sich rechtfertigen musste.

„Das ist zwar richtig. Aber niemand aus Ihrer Redaktion hat es für nötig befunden, über diese sehr aufschlussreichen Ausführungen über rechtsextremistische Maschen der Nachwuchsgewinnung zu berichten. Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass die Aktionen, die wir als Bürgerverein organisieren, in Ihrer Redaktion hinten wegfallen. Da braucht man sich über manche rechtsextremistische Tendenzen in Wasnitz auch nicht mehr zu wundern…“

Das liegt ja wohl kaum daran, dass wir nicht über diesen Vortrag berichtet haben, dachte ich. In unserer Redaktion gingen ständig irgendwelche Einladungen ein. Wie alt mochte der Mann sein, der in seinem Nadelstreifenanzug hier reichlich overdressed wirkte? Anfang vierzig? Seine tragende Stimme und die Entschiedenheit, mit der er redete, ließen ihn älter wirken.

„… ist schon schade, dass sich junge Leute heute kaum noch für Politik begeistern lassen“, er sprach von „Pollidick“, ließ also alles auf einem weichen, unverkennbar pfälzischen „d“ federn, was mich zu der Überlegung führte, warum es ihn wohl nach Schleswig-Holstein verschlagen hatte. Ich selbst hatte dem pfälzischen Kleeburg zwar lange den Rücken gekehrt, erkannte andere Pfälzer aber immer noch sofort, selbst wenn diese fast sämtliche sprachliche Eigenarten bei sich ausgemerzt hatten.

„… muss sich ja nicht wundern, wenn in der Stadtverwaltung Entscheidungen getroffen werden, ohne die Bürger einzubeziehen. Nicht einmal wir als Bürgerverein werden gehört…“

Seltsam, dass er mit seinem Rede-Brei die Aufmerksamkeit der knapp zwanzig Vereinsmitglieder zu absorbieren schien. Ich wusste auch nach zwanzig Minuten noch nicht so recht, warum sie in diesem durchlüftungsbedürftigen Gemeinderaum zusammengekommen waren. Eine Tagesordnung gab es nicht, das Ganze war eher die Ein-Mann-Show des Vorsitzenden Hartmut Golwein, der seit Minuten ununterbrochen, durchaus distinguiert, sprach und dabei den Eindruck vermittelte, als sei ihm und seinen hehren Absichten ganz übel mitgespielt worden.

„…vielleicht ist es der Presse ja möglich, über unsere nächste Veranstaltung zu berichten.“ Jetzt sah er mich mit einem Blick an, der etwas Hilfloses, Flehendes hatte, das nicht zu seinem sicheren Auftreten passte. Blaue Augen, registrierte ich.

„Ich werde es weitergeben.“ Ich wusste genau, was mein Chef dazu sagen würde.

„Wer soll den ganzen Scheiß lesen?“ Rico Passmann sah kaum von seinem Bildschirm auf. „Dieser Heiopei aus Berlin –“

„Rheinland-Pfalz, glaube ich.“

„Ach, den haben‘se überall geschasst. Der ist bei der liberalen Wirtschaftspartei. Vorher Bremen, jetzt bei Rudkoff.“ Jetzt blickte der Lokalchef doch auf. „Gibt’s von diesem Treffen was zu berichten?“

„Eher nicht. Das Ganze machte doch sehr den Eindruck einer Selbsthilfegruppe.“

Passmann grunzte, zog aus einem der bedenklich hohen Papierstapel auf seinem Schreibtisch einen Zettel und reichte ihn mir. „Hier, der Leserbrief ist gekommen. Dann schustern Sie daraus eine Wochenendbetrachtung.“ Der längere Kommentar zu einem lokalen Thema, der wöchentlich in der Samstagausgabe erschien, war so eine Art Ritterschlag für denjenigen, der ihn schreiben durfte. Ebenso wie die Berichterstattungen über Stadtvertretersitzungen. So kannte ich es jedenfalls aus früheren Redaktionen: Prominente Themen besetzte der Chef persönlich. In Wasnitz lief es anders. Da durfte ich schon nach kurzer Zeit über alles berichten, was die Kleinstadt bewegte, was vor allem daran lag, dass sich vieles bei abendlichen Sitzungen abspielte. Abendtermine übernahm Passmann nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Meistens sah er zu, um achtzehn Uhr nach Hause zu kommen. „Meine Geheimwaffe“ nannte er mich dann gerne, und ich genoss das Vertrauen, zumal keiner meiner Kollegen mir den schnellen Aufstieg streitig machen wollte. Nicht, wenn das mit Abendterminen verbunden war.

Der Leserbrief stammte von einem Wasnitzer Mitglied der liberalen Wirtschaftspartei. Der ließ sich über seinen Parteikollegen Golwein aus, kritisierte, dass dieser einem überregionalen Berliner Radiosender ein Interview gegeben und dabei so kräftig über die angebliche Nazi-Schwemme hergezogen habe, dass Wasnitz‘ Image nun überregional einen Knacks habe. Das sei übel für die Außenwirkung der kleinen Ostsee-Stadt, die vor allem vom Tourismus lebe. Oh ja, ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass der redegewandte Bürgervereinsvorsitzende seine Stimme gerne aus einem Radio kommen hörte. Da hat jemand den Mund zu voll genommen, dozierte ich in meinem Kommentar und fühlte mich überlegen, als ich über das falsche Mikrofon lästerte, das sich Golwein da ausgesucht habe. Als ich meinen Text anschließend noch einmal las, war ich hochzufrieden.

Am Wochenende dekorierte ich meine Dachgeschosswohnung in der Schwedenstraße adventlich mit allem, was der Schuhkarton mit der Aufschrift Diverses hergab, den ich aus meinem Kellerabteil hervorgeholt hatte. Es war Stefans Schrift, was mich in leichte Wehmut versetzte, auch wenn ich den acht Jahren mit ihm nicht nachtrauerte. Dazu war es zwischen uns am Ende zu reizlos geworden, unsere Beziehung war in geschwisterlichem Nebeneinander verglüht. Nicht einmal über die Aufteilung der Sachen hatten wir gestritten, als wir unseren gemeinsamen Haushalt in Schonbergen auflösten.

Mein erstes Weihnachten in Wasnitz also, nachdem ich von der Tageblatt-Lokalredaktion Schonbergen in das anderthalb Autostunden entfernte Pendant versetzt worden war. Die klare Trennungslinie war mein eigener Wunsch gewesen – nichtsahnend, was Wasnitz für mich bereithalten sollte.

„Wenn Sie mich schon in die Pfanne hauen wollen, warum rufen Sie mich nicht vorher an und reden mit mir?“ Der Anruf kam am Montagmittag, als ich gerade erst meinen Schreibtisch zum Spätdienst erreicht hatte.

„Ich möchte niemanden in die Pfanne hauen“, verteidigte ich mich reflexartig. „Ich habe lediglich eine Meinung geäußert.“

„Wenn Sie mich vorher gefragt hätten, dann hätte ich Ihnen gesagt, dass der Redakteur des Berliner Radiorotors auf mich zugekommen ist. Nicht umgekehrt.“

Als ob das einen Unterschied gemacht hätte. „Wie auch immer, offenbar sind Sie mit Ihren Äußerungen jemandem auf die Füße getreten, sonst hätte sich Herr ...“, ich suchte den Leserbrief auf dem Tisch, „Herr Laube nicht an uns gewandt.“

„Ach, dieser Laube“, Golwein schnaubte verächtlich. „Für die Zukunft bitte ich Sie einfach, dass Sie mich vorher anrufen, bevor Sie über mich schreiben.“

„Mal sehen.“ Versprechen würde ich so etwas auf keinen Fall.

„Hat Passmann schon mit dir gesprochen?“ Meike Brabant hatte das Telefonat mitangehört. „Heute früh haben schon zwei Leute deshalb angerufen. Einer von denen will sogar sein Abo kündigen.“

„Du meine Güte, doch nicht wegen meiner Wochenendbetrachtung?“

Meike, die zwar jünger als ich, aber schon zweifache Mutter war, drückte eine Haarsträhne zurück in den Zopf, für den ihre blonden Haare eigentlich noch nicht lang genug waren. „Nee, das ist echt obskur. Dieser Golwein scheint die alle aufgescheucht zu haben… Achtung, Chef kommt.“ Durch das Glasfenster des benachbarten Sekretariats konnte man einen Teil des Flurs sehen, aber Passmann kündigte sich auch immer schon durch ein leichtes Beben des gesamten Etagenfußbodens an. Er war nicht dick, sondern fett.

„Ach, Frau Becker“, Passmann wuchtete seinen kurzen, beleibten Körper ins Großraumbüro und zeigte mit dem Finger auf mich, „den nächsten Kommentar müssen Sie anders formulieren. So geht das nicht.“ Er watschelte hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten.

Ich sah ihm mit offenem Mund hinterher und wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Hä? Der hat den Text doch vorher gelesen.“

Meike zuckte mit den Schultern. „Passmann schwimmt immer oben, wirst du schon noch merken.“

*

Verkaufsständer mit Postkarten und Schmuck sowie ein Aufsteller mit Gummibärchen-Tüten versperrten den ohnehin engen Durchgang zum Tresen, der vor der breiten Regalwand voller Zigarettenschachteln kaum auszumachen war. Das ungestüme Zischen kam aus dem Kaffeeautomaten, der zwischen einer Lostrommel und der Brötchenvitrine mindestens ein Drittel des Tresens belegte.

„Kaffee?“ Golwein sah seitlich um den Automaten herum zu mir.

Ich schüttelte den Kopf. Ich war unsicher, wie ich ihm begegnen sollte. Unser erstes Aufeinanderprallen lag ein halbes Jahr zurück. In einer Siebenundvierzigtausend-Einwohner-Stadt wie Wasnitz blieb es nicht aus, dass ich ihm gelegentlich über den Weg gelaufen war, zumal er auch noch den Stadtkonsum im Zentrum betrieb. Meistens hatte er mit ausdruckslosem Gesicht knapp an mir vorbeigesehen, aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als mich anzublicken. Immerhin war er derjenige gewesen, der sich ans Tageblatt gewandt hatte, um mit einem Redakteur über seinen Ärger mit dem Bauamt zu reden.

„Kommen Sie, wir setzen uns nach hinten.“

Immerhin kein bissiger Kommentar, dachte ich und folgte ihm durch den länglichen Flur in einen kleinen Raum, in dem vier Bistrotische standen.

„Ich wollte das Bistro eigentlich jetzt eröffnen, Anfang Juli, um die Urlaubersaison noch mitnehmen zu können.“ Er deutete auf einen Stuhl, setzte sich mir gegenüber und legte einen abgeschabten Aktenordner auf den Tisch. „Aber daraus wird nichts, das hab‘ ich nur dem Bauamt zu verdanken.“ Selbst als er jetzt die Lippen zusammenpresste, um in seinem Ordner etwas zu suchen, zog er sie an der rechten Seite leicht nach oben. Er trug ein weißes Hemd zum dunkelbraunen Geschäftsanzug, im Vergleich dazu waren seine Tische eher schlicht mit einer Serviette in der Mitte geschmückt. „Im Bauamt hat man mir nämlich gesagt, dass ich einen Architekten beauftragen muss, um für das Bistro einen Nutzungsänderungsantrag stellen zu können. Der Architekt hat mich viel Geld gekostet, was überhaupt nicht nötig gewesen wäre, wie ich anschließend von meiner Rechtsanwältin erfahren habe.“

Ich machte mir hastig Notizen, alleine schon, um ihn nicht dauernd ansehen zu müssen. So bitter-nachdrücklich, wie Golwein seine Erlebnisse vortrug, konnte ich nicht anders, als Mitleid für ihn zu empfinden.

„Wie kam die Rechtsanwältin ins Spiel?“

„Die hat die Sache für mich geprüft und hat mir nun auch noch eine dicke Rechnung dafür geschickt. Das Ganze fing schon damit an, dass ich nichts – keine Eingangsbestätigung, rein gar nichts – vom Bauamt bekommen habe, nachdem ich meine Unterlagen Ende Januar eingereicht habe. Und als ich später per Mail nachhakte und darauf hinwies, dass wegen des fehlenden Umsatzes zwei Arbeitsplätze akut gefährdet seien, wurde ich wie ein Bittsteller behandelt.“

Der abgeklärte Blick aus den blauen Augen, den er mir immer wieder zuwarf, wirkte zugleich tieftraurig... kämpft um seine Existenz… und dann musste ich blöde Kuh ihm auch noch einen Haken versetzen.

„Ich werde das jedenfalls nicht mehr länger mitmachen. Notfalls müssen wir das vor Gericht klären.“

Hochanständig von ihm, dass er nicht in alten Sachen bohrte.

„Auf dem Schild vorne steht noch ein Name, das Unternehmen führen Sie mit Frau –?“

„Mit Frau Nina Tempel, aber ich bin alleiniger Geschäftsführer.“

Auf dem Foto, das ich von ihm aufnahm, blickte er bekümmert-grimmig in die Kamera, wirkte dabei gleichzeitig sehr verletzlich. Die Sache mit der Wochenendbetrachtung hatten wir beide mit keiner Silbe erwähnt. Hartmut Golwein schien ganz andere Sorgen zu haben, dagegen war mein Angestelltendasein purer Luxus. Es sollte weitere Wochen dauern, bis meine Metamorphose vollendet war. Längst lag da schon alles deutlich vor mir, nur dass ich es nicht erkannte.

In einer unwichtigen Ankündigung für eine unbedeutende Veranstaltung hatte ich ihn lapidar als „LWP-Politiker“ bezeichnet. Musste schmunzeln, als ich Ihren Bericht las, kommentierte er per Mail gleich am nächsten Morgen und um künftig Unklarheiten zu vermeiden, listete er mindestens ein halbes Dutzend Posten auf, die er bei der liberalen Wirtschaftspartei innehatte: Wahlkampfleiter, Geschäftsführer der LWP-Frauen im Kreis Wasnitz, Büroleiter des LWP-Bundestagsabgeordneten Frank Rudkoff, lauter leitende Pöstchen, die recht beeindruckend klangen. Zeit für den Stadtlauf fand er auch noch, ich entdeckte seinen Namen einige Tage später sogar ziemlich weit vorne in der Ergebnisliste.

- Alle Achtung, Sie sind fit! Beeindruckte Grüße aus der WT-Redaktion, schrieb ich spontan und aus einer Wohlfühl-Sommerlaune heraus per Mail, die ebenfalls Anteil an der weiteren Entwicklung hatte.

Prompt rief er zurück. „Ist meine Mail angekommen?“

„Wenn Sie die Pressemitteilung für Rudkoff meinen: Ja, die haben wir.“

„Schön, ich wu…ni…ko…“

„Die Verbindung wird gerade ganz schlecht. Sind Sie unterwegs?“

„Moment“, kurze Pause, dann war er besser zu verstehen. „Ich bin gerade in Thüringen, nehme da heute Nachmittag an einer Podiumsdiskussion teil.“

„Sie tanzen wohl auf jeder Hochzeit, was?“

„Nur nicht auf meiner eigenen, haha…“

Wir lachten gemeinsam, dann wurde die Verbindung wieder schlechter. Es war nur ein ganz kurzer Moment der klaren Verständigung gewesen, nichtsdestotrotz mochte ich seine eloquente, offene, schlagfertige Art. Und dass er großmütig genug war, meine Wochenendbetrachtung nicht allzu ernst zu nehmen. Neben Verfügbarkeit strahlte er eine gewisse emotionale Bedürftigkeit aus. Vor allem war ich selber gerade Single. Bei meiner Google-Recherche stieß ich auf einen Wikipedia-Eintrag: Hartmut Golwein, deutscher LWP-Politiker, war zuvor Pressesprecher der LWP Bremen gewesen, davor Generalsekretär in Thüringen und Mitglied des Bundesvorstands. Der Wechsel nach Schleswig-Holstein bedeutete einen rapiden Abstieg. Der LWP-Bundestagsabgeordnete Frank Rudkoff hatte ihn einige Monate zuvor als Wahlkreismitarbeiter eingestellt. Nach Stationen in der großen Bundespolitik erhielt er also in der Schleswiger Provinz sein Gnadenbrot. Mit Anfang vierzig?

- Wo stecken Sie heute Nachmittag? M. Becker vom WT

Die SMS schickte ich von meinem privaten Handy aus.

- Im Büro.

- Gut, dann komme ich vorbei.

Auch das war wieder eine kurzentschlossene Aktion, aus dem Bauch heraus.

Das LWP-Büro lag nicht weit von der Tageblatt-Redaktion entfernt. Außer Golwein hielt sich niemand darin auf. Er kam mir zur Bürotür entgegen, die Hemdsärmel aufgekrempelt, seine Anzugjacke hing über der Rückenlehne seines Schreibtischstuhls. „Schön, Sie zu sehen.“ Sein kraftloser Händedruck passte nicht zu der unerschütterlichen Selbstgewissheit, die er ausstrahlte. Er bot mir den Besucherstuhl gegenüber an. „Möchten Sie Kaffee?“

„Ach, bitte keine Umstände. Ich kann sowieso nicht lange bleiben.“

Auf dem Tisch stand ein Papptablett mit Kuchen vom Bäcker, den ich ebenfalls ablehnte. Bei allem Übermut – ein Kaffeekränzchen ging nun doch zu weit. Offenbar war es Golweins Angewohnheit, sich auf seinem Stuhl zurückzulehnen und die Arme auf den Ecken der Lehne abzulegen. Auf dem breiten Chefsessel wirkte er dadurch allerdings noch schmaler, als er ohnehin schon war. Die buschigen Augenbrauen und zwei senkrechte Falten über der Nasenwurzel, vor allem aber seine selbstsichere Aura ließen ihn dennoch männlich-kraftvoll wirken. „Arbeiten Sie schon lange beim Tageblatt?“

Souverän, wie er den Small Talk übernahm. „In Wasnitz bin ich erst seit ein paar Monaten, beim Tageblatt aber schon länger. Davor war ich in anderen Lokalredaktionen, aber letztes Jahr drehte sich das Personalkarussell wieder einmal.“ Ich merkte selber, dass ich zu schnell redete. „Wasnitz ist okay… nee, eigentlich gefällt es mir hier ziemlich gut.“ Ich lächelte ihn an.

Er lächelte auch und sah mich abwartend an.

„Ähm, ja“, ich rutschte auf die vordere Kante des Stuhls, „also eigentlich wollte ich nur mal Entschuldigung sagen für den Kommentar, den ich damals geschrieben habe. Mein Chef hatte mir das Thema hingelegt, und ich habe es dann halt geschrieben. So“, ich strich ein wenig zu hektisch mit der flachen Hand durch die Luft, „jetzt ist das vom Tisch.“

„Ach, dieser Laube ist ein Idiot. Kriegt den Mund sonst nicht auf, aber schreibt hinten rum solche Briefe.“ Bei den Konsonanten glitt seine Oberlippe jedes Mal leicht nach rechts oben, was ihm eine aufregende Ausstrahlung von kritischer Zerrissenheit verlieh. „Der hat auch nicht mit mir geredet, sondern gleich ans Tageblatt geschrieben.“ Seine Augenbrauen zogen sich jetzt auch noch zusammen. Dann schob er entschieden einen Hefter auf seinem Schreibtisch zur Seite. „Sollte man nicht allzu ernst nehmen.“

„Wie gesagt, ich wollte das eigentlich nur mal klarstellen.“

„Das ist nett von Ihnen, danke.“

„Ja, also“, ich erhob mich verlegen wieder vom Stuhl, „ich muss jetzt wieder rüber.“

„Oh ja, kein Problem“, er erhob sich ebenfalls leichtfüßig und kam zu mir hinüber, ganz der Mann von Welt, der mich galant zur Tür begleitete, während ich mich wie ein kleines Mädchen fühlte. Den Rückweg in die Redaktion legte ich ausgesprochen beschwingt zurück. Hässlich war Golwein jedenfalls nicht. Ganz und gar nicht. Gut, er war etwas zu klein… viel zu klein… einen Meter siebzig vielleicht, aber der Anzug kleidete ihn gut. Altersmäßig haute es auch hin. Er war ungefähr vier Jahre älter als ich – und in jeder Hinsicht in Reichweite, wie mir schien. Das Komplizierte an den Internet-Dates, mit denen ich mir die vergangenen Monate vertrieben hatte, waren nämlich die Entfernungen. Je attraktiver, desto länger der Fahrweg, so war es mir jedenfalls vorgekommen.

Kaum war ich wieder draußen, kam seine SMS:

- Und beim nächsten Mal dürfen Sie den Kuchen auch annehmen.

- Ist ja prima, wenn das bei Ihnen zum Standard gehört.

- Standard nicht für jeden. Wollte nur sagen, dass ich es sehr schön fand, mit Ihnen zu sprechen. Und Kuchen kriegen bei mir nur Menschen, die mir sympathisch sind.

- Freut mich sehr. Wir können das Kaffeekränzchen sehr gerne fortsetzen. Übernächste Woche. Nächste Woche mache ich eine Pressereise nach Nordirland. Nehme Joggingsachen mit. Dann geht anschließend auch wieder Kuchen rein.

- So, wie Sie jetzt sind, gefallen Sie mir. Wir können ja mal zusammen laufen. Kommen Sie mich besuchen.

- Vorausgesetzt, ich überlebe den Linksverkehr.

- Wer beim Wasnitzer Tageblatt überlebt...

- Knapp…

- Kenne ich, nur bin ich dann manchmal einfach gegangen.

- Bei Passmann???

- Nein, ich meinte, ich habe mir die Freiheit und den Luxus einer eigenen Meinung erlaubt. Zu unbequem, nicht gut für die Karriere.

- Manchmal hilft Diplomatie. Schade, die Leichtigkeit des Flirts war verflogen.

- Oh, dieses Wort ist mir fremd. Bin immer geradeaus.

- Lassen Sie uns diese tiefschürfende Diskussion vertagen.

Der Kurztrip nach Nordirland, den ich ausgiebig nutzte, um Material für eine Reise-Reportage zu sammeln, war genau nach meinem Geschmack. Entdecken, recherchieren, schreiben. Auf eine feste Beziehung war ich nicht aus. Verliebt war ich auch nicht, eher: offen für einen Flirt. Aber was genau damals in mir vorging, konnte ich nie rekonstruieren, auch wenn ich eines sicher wusste: Die Ambivalenz war von Beginn an da.

- Schade, dass Sie nicht hier sind. Unternehmerstammtisch, organisiert von Rudkoff. Gähn. Hätte gerne mit Ihnen geplaudert.

Bei Golwein loderte definitiv auch ein Flämmchen, das, kaum war ich in Deutschland gelandet, wieder aufflackerte. Schon auf dem Flughafen hatten wir ein wenig gesimst, in Nordirland hatte ich mein Handy allerdings ausgeschaltet gelassen: zu hohe Roaming-Gebühren. Mein letztes Urlaubswochenende wollte ich nutzen, um meine Reportage zu schreiben.

- Muss morgen spät arbeiten. Mache mit dem Konsum bei der langen Einkaufsnacht mit.

- Dann weiß ich ja, wo ich Sie finden kann.

- Gerne. Ick freu mir J

- Wissen Sie was? Sie können nicht nur gut reden, sondern mich auch in stundenlanges Gesimse verwickeln J

- Ok, ich rede zu viel und, ich geb‘s zu, auch gerne. Aber ich kann auch ganz still sein und gut zuhören.

- Ihr Reden ist wirklich eine außerordentliche Fähigkeit, ich glaube, das wissen Sie auch.

- Und mir macht das Gesimse mit Ihnen Spaß. Sie sind eine intelligente, attraktive Frau.

- Merci J Simsen ist dann also eine gute Übung für Sie, Dinge auf den Punkt zu bringen.

- Dinge auf den Punkt bringen, das kann ich schon. Nur nicht so diplomatisch.

- Bleiben Sie mal schön so, wie Sie sind.

- Bisher sind alle Versuche, mich zu ändern, gescheitert. Ich finde Sie so, wie ich Sie bisher kenne, auch gut JJ

- JJ

- Und ich dachte, Sie finden mich zum Kotzen.

- Dachte ich bei Ihnen auch.

- Ach was, ich fand Sie attraktiv und dachte: Mensch, warum findet die mich nur so sch…

- Ich glaube, ich traue mich morgen gar nicht mehr in Ihren Konsum.

Als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, kam er um seinen Verkaufstresen herum und umarmte mich lange zur Begrüßung. „Malin“, sagte er nur leise.

Es fühlte sich warm und geborgen an. Und ein bisschen so, als wolle er sich an mir festhalten.

„Schön, dass du noch gekommen bist.“

„Es ist eine Menge los in der Stadt. Ich war mit einer Freundin shoppen. Ariane steht noch vor einer Umkleidekabine an. Und du hast anscheinend nie Feierabend, was?“

„Ach, ich wollte eigentlich nie selber im Geschäft stehen, sondern Personal einstellen.“ Er griff sich einen Großkarton mit Kerzen vom Fußboden und ritzte die Klebestreifen mit einem Messer auf. „Aber dazu wirft es nicht genug ab, die Vorbesitzer haben mich reingelegt und mir falsche Bilanzen vorgelegt. Ich habe nur Frau Zeller, eine Rentnerin, die mir stundenweise hilft, den Rest mache ich komplett alleine. Und wenn ich nicht meine Pension und den Job bei Rudkoff hätte, dann könnte ich mir das gar nicht leisten. Ich zahle obendrauf, um jeden Monat die Miete aufbringen zu können.“

„Dann gib den Konsum doch wieder auf.“ Pension? Eine Rentnerin? Too much information.

„Geht nicht. Zeitmietvertrag: Ich habe mich für fünf Jahre gebunden. Die muss ich durchziehen. Deshalb ja auch der ganze zusätzliche Verkaufskram und das Café: um zusätzliche Einnahmen zu bekommen.“ Während er redete, nahm er die Kerzen aus dem Karton und sortierte sie zu allerhand weiterem Schnickschnack in ein Regal.

„Läuft das denn wenigstens?“ Ich fühlte mich etwas überfahren von diesem Schwall an Informationen.

„Könnte besser sein.“

Ich verzog mitleidig das Gesicht, war insgeheim aber von seiner offensiven Art beindruckt. „Ist ziemlich mutig gewesen, sich den Mietvertrag ans Bein zu binden. Mir würde die Courage für sowas fehlen. In mir steckt nur eine graue Angestelltenseele.“

„Ach, Quatsch.“ Er warf den leeren Karton hinter den Tresen. „Was soll ich denn sonst machen? Auf dem Arbeitsmarkt habe ich keine Chance mehr. Ich bin jetzt vierundvierzig und habe nichts Gescheites gelernt. Mich stellt niemand mehr ein.“

„Was ist das für eine Pension, die du bekommst?“

„Ich war zehn Jahre bei der Bundespolizei. Aber da wollte ich weg“, ein Kunde kam, Hartmut kassierte sein Geld und redete anschließend sofort weiter. „Man hat mir Profilierungssucht vorgeworfen. Gisela Meier, die kennst du bestimmt auch. Und Siegfried Maybach, der ist auch ganz schlimm. Und noch andere. Die wollen mich nicht mehr als Vorsitzenden im Bürgerverein. Meinetwegen lege ich alles hin, damit habe ich kein Problem.“

Es kamen mehrere neue Kunden, deren Geld Hartmut routiniert entgegennahm. „Ich habe dem Redakteur des Berliner Radiorotors, der mich damals interviewt hatte, deinen Kommentar zugeschickt. Diese Wochenendbetrachtung. Wir haben uns beide darüber amüsiert.“

Neuer Kunde. „Mit Passmann habe ich auch gesprochen. Ich habe ihn gefragt, warum er dich auf den Leserbrief von Laube angesetzt hat. Weißt du, was er geantwortet hat? ‚Die kommt aus dem Süden, die lässt sich keine Meinung vorschreiben‘.“

Neuer Kunde.

Ich war ohnehin sprachlos, fühlte mich, nun ja, ein kleines bisschen verraten. Außerdem fand ich die Themensprünge anstrengend. Nahm auch die Frau mit den blonden, langen Haaren zunächst nicht wahr. Die wollte nicht bezahlen, sie kam nicht einmal ganz in den Verkaufsraum hinein, stattdessen verschwand Hartmut mit ihr kurz vor der Tür. Ich lugte in meine Tüte und freute mich über die schicke Esprit-Winterjacke, die ich mir gekauft hatte. Die ich Hartmut noch gar nicht zeigen konnte. Nordirland erschien mir auch schon weit entfernt, und es wäre mir banal erschienen, jetzt davon anzufangen. Im Vergleich zu seinen handfesten Problemen.

„Es gibt auch Leute, die aus dem Verein austreten, wenn ich das nicht mehr mache“, Hartmut redete schon wieder, als er zu mir zurückkam. Die Blonde war nicht wieder mit hereingekommen. „Anstrengender Besuch. Sie denkt, dass wir was miteinander haben.“

„Wie kommt sie darauf?“

„Ach“, Hartmut winkte ab, „keine Ahnung.“

Weil schon wieder ein neuer Kunde kam, packte ich meine Tüte und tätschelte ihm den Rücken. „Na, ich lass dich besser mal in Ruhe weiterarbeiten.“

- Habe Dich ins Herz geschlossen.

Es fiel mir leicht, das am selben Abend noch abzuschicken.

- Das ist schön. Ich hatte das vorher schon mit Dir getan, seit Deinem Besuch in meinem Büro.

- Ich glaube, da war ich eher beeindruckt. Davor eigentlich auch schon.

- Ich bin ein ganz normaler, langweiliger, durchschnittlicher Typ und will nicht beeindrucken. Bin einfach so.

„Gisela Meier hat mich heute im Büro besucht. Sie hat mir wütend die Schatzmeister-Unterlagen hingeknallt und ist am Ende wieder rausgerannt.“ Hartmut rief abends an und sprudelte gleich los.

„Gisela Meier: Das ist die aus der Pressestelle der Stadt, ja?“

„Ich habe ihr gleich gesagt, dass ich heute nicht gut drauf bin. Sie meinte ‚Deine zynischen Bemerkungen kannst du dir sparen‘. Ich habe geantwortet, dass ich immer noch selber entscheide, wann ich zynische Bemerkungen mache.“

„Ach herrje.“

„Mir geht es heute scheiße. Ich war tagsüber beim Notar und habe mein altes Haus in Altenburg verkauft. Das hat mich nicht unberührt gelassen, ganz und gar nicht.“

„An wen hast du es denn verkauft?“ Lieber hätte ich gewusst, ob er alleine in diesem Haus gewohnt hatte. War er nicht aus Bremen hergezogen?

„Ach, die Leute kannte ich nicht, das lief über einen Makler. Kam alles sehr kurzfristig. Wenn ich es dir nicht erzählt habe, war das keine böse Absicht, dann habe ich nur nicht daran gedacht.“ Das wirkte sofort besänftigend. „Diese Querelen im Bürgerverein machen mich auch fertig. Ich überlege, mich nicht mehr als Vorsitzender zur Wahl zu stellen. Ich will nicht, dass im Wasnitzer Tageblatt steht: ‚Golwein wurde abgewählt‘. Das kann ich vor der Kommunalwahl nicht gebrauchen. Nächstes Jahr im Juni will ich für die Stadtvertretung kandidieren.“

„Hast du noch nicht genug um die Ohren?“

„Ach“, das Zuschlagen einer Autotür war zu hören. „Ich habe auch schon eine Idee, wie ich vorgehen will. Du schreibst einen Artikel über das einjährige Bestehen des Bürgervereins, und in dem Zusammenhang gebe ich dann bekannt, dass ich im Dezember nicht mehr für den Vorsitz kandidiere, weil ich wegen der Kommunalwahl keine Zeit mehr dazu habe. Dann bin ich sauber raus.“

„Klingt aber arg konstruiert.“

„Es gibt Leute, die sagen: ‚Du bist mal wieder geflüchtet‘.“

„Wer sagt das?“

„Ach“, lautete die Antwort, das Klirren eines Schlüssels war zu hören, „bin jetzt vor meiner Wohnung, lass später nochmal telefonieren.“

Seit meinem Besuch in seinem Stadtkonsum telefonierten wir jeden Abend miteinander, wobei Hartmut immer irgendetwas zu erzählen hatte. Mich störte das nicht, zumal ich meine eigenen Alltagserlebnisse aus der Redaktion im Vergleich zu seiner turbulenten Existenz totlangweilig fand.

„… führe ja noch mit Nina Tempel offiziell zusammen den Stadtkonsum, das ist meine Ex, mit der hab‘ ich in Altenburg in dem Haus gelebt, das jetzt verkauft ist. Ich hab‘ mich zu Jahresbeginn von ihr getrennt, beim Konsum ist sie nur aus steuerlichen Gründen als Mit-Geschäftsinhaberin aufgeführt, über sie sollten Gewinne versteuert werden, aber daraus ist aus mehreren Gründen nichts geworden, jetzt will ich die Rechtsform für mein Unternehmen ändern, damit es künftig auch offiziell alleine in meiner Hand ist…“

Erst zu Jahresbeginn getrennt? Das ging aber fix bei ihm.

„… schließe hier morgens um halb sieben den Laden auf, Frau Zeller will so früh noch nicht arbeiten, sie kommt nur, wenn ich in Rudkoffs Büro sitze –“

„Wollen wir heute Abend zusammen kochen?“ Ich war ihm einfach ins Wort gefallen.

„Geht leider nicht. Um sechs schließe ich den Laden, dann mache ich schnell die Abrechnung, muss mich aber beeilen, um bis sieben im Großmarkt zu sein, der schließt dann, danach fahre ich wieder in den Konsum, räume die Sachen ein, manchmal muss ich nach Altenburg in den Großmarkt fahren, wenn sie in Wasnitz nicht das haben, was ich brauche.“

„Dann kann ich aber erst recht nicht nachvollziehen, warum du dich noch in diesem Bürgerverein aufreibst.“

„Ich auch nicht. Du, ich muss jetzt los zur Fraktionssitzung, lass morgen weitertelefonieren, schöne Frau.“

„Na schön. Dann… viel Spaß.“ Fraktionssitzung? Ich starrte den Telefonhörer an wie ein Gespenst, das soeben viel Wind aufwirbelnd an mir vorbeigehuscht war.

„Hartmut hat mir schon beim ersten Treffen Sachen erzählt, die ich total vertraulich fand“, erzählte ich meiner Freundin Ariane, die ich stattdessen abends zum Kochen eingeladen hatte. „Nur dass es bei ihm nichts von ‚anvertrauen‘ hat. Ich glaube, der würde vor jeder beliebigen anderen Person auch sein Leben ausbreiten. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist bei ihm… wie soll ich sagen? ... nur rudimentär vorhanden.“

Ariane lachte, drehte das Weinglas in ihrer Hand und lehnte sich auf dem Korbstuhl an meinem Esstisch zurück, den sie sofort angesteuert hatte. Das war ihre Vorstellung vom gemeinsamen Kochen. „Ist halt ein offener, extrovertierter Mensch. Gib dem armen Mann doch erstmal eine Chance.“

„Heute hat er mir von einem Telefonat mit einer“, ich malte Gänsefüßchen in die Luft, „‚frischgebackenen Staatssekretärin aus Thüringen‘ berichtet. Seit der Landtagswahl sitzt die LWP dort doch in der Regierung, da hat Hartmut gleich mal den Kontakt zur Frau Staatssekretärin aufgenommen.“

„Ist doch gut, wenn er solche Kontakte hat.“

„Den wurmt das. Er meinte, wenn er noch in Thüringen wäre, würde er jetzt Staatssekretär werden. Immerhin hat er eingeräumt, dass fünf Jahre dazwischen liegen. Aber er hat diese LWP-Tussi tatsächlich gefragt, ob sie einen Job für ihn hat, als Chauffeur oder so. Da frage ich mich doch, was mit uns ist.“

„Was meinte er denn dazu?“

„Gar nichts. Das ist es ja. Er hat sich darüber ausgelassen, dass die sich alle gegenseitig die Posten zuschieben würden, alles sei schon vergeben.“

„So sind Männer eben. Posten, Statussymbole – das brauchen die.“

„Na toll. Dann bin ich nur Beiwerk für ihn?“

Ariane ließ ihre violetten Acrylfingernägel auf der Tischplatte klacken. „Hasi, beim nächsten Mal gehen wir wieder aus, hier kommst du nur auf düstere Gedanken.“ Sie ließ ihre langen, dunklen Augenwimpern klimpern.

Ich hatte sie ganz zu Beginn meiner Wasnitzer Zeit kennengelernt, als ich über einen jungen Restaurantkaufmann berichten sollte, der seine Ausbildung als Jahrgangsbester in Schleswig abgeschlossen hatte. Dieser hatte in dem Hotel gelernt, als dessen Direktorin Ariane angestellt war. Als ich mit ihr ins Gespräch kam, wurden wir uns schnell einig, dass das Kulturangebot in der Kleinstadt bescheiden war, ganz zu schweigen von der Herrenauswahl. Wir stellten außerdem fest, dass wir beide Ende dreißig und neu in Wasnitz waren. Das reichte uns, um uns zum Plauderabend in einem Weinlokal zu verabreden, der immerhin so unterhaltsam wurde, dass wir in Kontakt blieben. Mit Frauen wie Ariane hätte ich mich während meiner Studentenzeit in Westfalen sicherlich kein zweites Mal getroffen, denn wenn ich ehrlich war, verband uns nicht wirklich viel miteinander. Aber ich hatte schnell festgestellt, dass Wasnitz, tief in der nördlichen Provinz, ein Ort der Kompromisse werden würde, wenn ich nicht alleine ausgehen wollte. „Naja, bei einem Stellenangebot von einer großartigen überregionalen Zeitung wäre ich auch auf der Stelle weg aus Wasnitz“, sagte ich.

Ariane lachte wieder und griff nach der Halskette mit dem goldenen Stern-Medaillon, die in ihrem üppigen Ausschnitt verrutscht war. „Ich habe ihn mal gegoogelt. Der ist ja schon gut rumgekommen: LWP-Generalsekretär in Thüringen, Pressesprecher in Bremen –“

„Hat aber anscheinend alles eher unrühmlich geendet, jedenfalls ist er nirgendwo aus eigenem Entschluss gegangen.“

„Ist das nicht normal in der Politik?“

„Da schien es immer auf zwischenmenschlicher Ebene gekracht zu haben. Hartmut sieht sich selbst als jemand, der mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält, auch wenn es ihn die Karriere kostet. Und trotzdem hat er sich nicht geziert, nach fünf Jahren wieder bei einer früheren Parteikollegin anzurufen und zu fragen, ob die ihm nicht vielleicht einen Posten in der Landesregierung zuschustern kann. Also ich kenne mich ja mit politischen Gepflogenheiten nicht aus, aber es hätte mich schon sehr gewundert, wenn er sich mit diesem Anruf einen Job in der Regierungskanzlei verschafft hätte.“

- Mittelmaß ist das, was man nie sein will und dann doch ist.

- Maß überkommt einen nicht einfach, das legt man selber fest.

Seltsame Kommunikation, vor allem wunderte mich, dass ich mich selber in eine Art Therapeutenmodus begab. Das passte überhaupt nicht zu mir, ja, es nervte mich auch. Aber letztlich genoss ich das Gefühl, umworben zu werden. „Hallo schöne Frau“, so begrüßte er mich oft, und in diesen Momenten vergaß ich seine Macken sofort wieder.

Seine Wohnungstür stand offen, aber diesmal wartete nur der schwarze Labrador-Mischling in der Öffnung. Sein wedelnder Schwanz klatschte jedes Mal gegen das dunkle Holz. „Der ist sonst an meinem Hintern festgewachsen“, Hartmut erschien jetzt auch in der Wohnzimmertür.

Friedo schien die einzige emotionale Konstante in seinem Leben zu sein, dachte ich, als ich später auf seinem weinroten Stoffsofa saß und mich in seiner Wohnung umsah. Die schwere Kolonialstil-Vitrine war mit Zigarettenkistchen und silbernen Feuerzeugen gefüllt, eine Truhe diente als Tisch. Fotos gab es keine, nur ein surrealistisches Mann-mit-Hut-Poster, irgendeine Magritte-Gemäldekopie, die reichlich trostlos wirkte.

„Hier, auf diesem Sofa haben meine Eltern gesessen“, er deutete auf das zweite abgeschabte Stoffsofa, „und ich habe ihnen sehr deutlich gesagt, dass sie nichts von mir zu erwarten haben, wenn sie mal was brauchen.“

Hatte ich gerade einen Übergang verpasst? Ich wusste, dass seine Eltern in Ganzbruch wohnten, etwa neunzig Kilometer von meiner Heimat Kleeburg entfernt.

„Immerhin haben sie dich hier in Wasnitz besucht. Ist doch nett. Ganzbruch liegt nicht gerade um die Ecke.“

„Das hätten sie sich sparen können. Sollen sich lieber an meine Geschwister halten.“

„Wie viele hast du?“

„Fünf.“ Er winkte ab.

„Tja, Eltern, Geschwister und die Beziehungen zu ihnen. Ist bei mir auch kompliziert.“

Hartmut wedelte wieder abwehrend mit der Hand. „Mir geht’s aber im Moment emotional auch deshalb so schlecht, weil meine Ex Nina schwanger war.“ Er strich sich mit der Hand über die helle Stoppelfrisur und betrachtete intensiv den strapazierfähigen, braunen Sisalteppich. „Sie hat das Kind gestern abtreiben lassen. Ihr Macker ist nicht mitgekommen, dafür habe ich sie aber unterstützt…“

Plötzlich hörte ich seine Stimme aus weiter Ferne, als sei mir ein Glassturz übergestülpt worden, obwohl er immer noch neben mir auf dem blutroten Sofa saß.

„… habe morgens mit ihr telefoniert. Und nachmittags noch mal, um zu erfahren, ob alles gut gelaufen ist.“ Hartmut redete einfach weiter. Jetzt streichelte er Friedo, der zu seinen Füßen lag. „Ich könnte keine Frau, mit der ich mal zusammen gelebt habe, hängen lassen, wenn sie mich um Hilfe bittet.“

Ex-Freundin getröstet… Das reibst du mir einfach so unter die Nase?

„Bei so einer Schwangerschaft mache ich mir natürlich Gedanken, warum es mit uns nicht geklappt hat“, er fuhr sich wieder durch die Haarstoppel.

… gefällt sich auch noch in der Rolle des edlen Samariters, der aufopferungsvoll einspringt, wenn der „Macker“ versagt. Eine eiserne Hand umfasste mein Herz und drückte so fest zu, dass mir schwindelig wurde. Ich konnte ihn nicht mehr ansehen. Raus hier. Jetzt. Sofort. Wie betäubt stand ich auf, zog meine Jacke an.

„Ist irgendwas?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Willst du gehen?“

Ich nickte.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Ich schüttelte den Kopf. Raus hier. Schnell. Finger weg von Hartmut, den ich überhaupt nicht einschätzen konnte. Dieser Impuls war so stark, dass ich nur im Gehen nach meiner Jacke griff und wortlos die Wohnung verließ, ohne Hartmut noch einmal anzusehen. Kontakt zur Ex: Wusste doch jeder, dass so etwas vermintes Gelände war, da sondierte man doch vorher zumindest einmal, wie der andere dazu stand. Scherte er sich um meine Gefühle? Diese Gedanken rasten wild in meinem Kopf, als ich mechanisch in mein Auto stieg und zurück in meine Wohnung fuhr. Hauptsache, er war besser als sein Nachfolger… Kontakt zur Ex, das war toxisch und tabu… Natürlich war es kindisch, einfach so herauszustürmen, aber sowas musste man einfach nicht erklären… diese Nina – er hatte ja sogar seinen Stadtkonsum noch mit ihr. Das konnte ich nicht, ich brauchte klare Linien, wollte auserwählt und einzig sein. Nein, das mit Hartmut war nicht meine Welt, da war ich jetzt hundertprozentig sicher.

Doch dann geschah etwas Seltsames.

- Du warst so plötzlich weg. Ist irgendwas?

- Warum antwortest Du nicht?

- Bitte, Malin, wenn ich Dich verletzt haben sollte, dann tut es mir leid. Ich wollte Dich nicht verletzen, dafür bist Du mir zu nah und lieb.

- Es tut mir so leid, Dich, ohne es zu wollen und zu wissen, so verletzt zu haben, dass Du nicht mehr mit mir sprichst. Ich fühle mich hilflos und schlecht.

- Ich bin sehr traurig. Weiß nicht, was ich tun kann.

Hartmut bemühte sich plötzlich um mich. Bis zu fünf Mal am Tag sprach er mir auf den Anrufbeantworter und klang dabei tieftraurig. „Liebe Malin, ich kann das nicht verstehen, was hab‘ ich denn getan, gesagt, gemacht, was dich verletzt hat? Ich entschuldige mich von Herzen, weil ich das niemals wollte. Bitte verzeih mir, das lag nicht in meiner Absicht.“

Weinte er sogar? Damit hatte ich definitiv nicht gerechnet. Hartmut, den ich immer in seiner eigenen Welt gefangen erlebt hatte, kümmerte sich auf einmal um mich, machte sich Gedanken, sprach mit ungewohnt weicher Stimme und unter Tränen. Hartherzig klang das nicht, grausam-empfindungslos fühlte ich mich jetzt eher selber, während ich den Anrufbeantworter anstarrte. Hilflos, weil ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Ja, wenn ich es genau betrachtete, war es doch im Grunde ein rührender Zug, dass er sich um jemanden in einer Notlage kümmerte. Gut, es handelte sich um seine Ex-Freundin, deshalb war es vielleicht nicht besonders sensibel von ihm, mir das unter die Nase zu reiben. Aber war diese Denkart womöglich etwas zu engstirnig und schaffte Probleme, wo gar keine waren? Eifersucht macht hässlich. Wenn er sich zu dieser Nina zurücksehnte, würde er mich doch wohl kaum so umwerben und umsorgen. Diese Seite an ihm kannte ich noch nicht, und sie gefiel mir außerordentlich gut, zumal es sowieso nicht mehr funktionieren würde, die ganze Sache kommentarlos im Sande verlaufen zu lassen, nachdem er so viel Wirbel veranstaltet hatte. Zehn Tage waren vergangen, und er fragte mit unverminderter Emphase, was denn los war. Früher oder später würden wir uns über den Weg laufen, und dann musste ich zu meiner Eifersucht stehen. Außerdem fand ich Hartmut anziehender denn je – und wurde mir meines kindischen Verhaltens immer deutlicher bewusst. Trotzdem wollte ich sicher sein, dass er es ernst meinte. Wenn ich ihn mit Schwung wegstieß und er dann immer noch zurückkehrte, so meine Überlegung, gab es vielleicht doch eine Bindung.

Lieber Hartmut,

ich will ganz ehrlich zu Dir sein: Bei Dir hatte ich von Anfang an den Eindruck, in ein dichtes Netz von Verflechtungen mit früheren Frauengeschichten geraten zu sein. Ich weiß zum Beispiel nicht, wer die blonde Frau war, die in der langen Einkaufsnacht in Deinem Konsum aufgetaucht und kurz mit Dir vor der Tür verschwunden ist. So feindselig, wie sie mich angesehen hat, handelt es sich aber wohl kaum um eine platonische Beziehung.

Ich muss gestehen, dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe, genau genommen habe ich mich wohl sogar in Dich verliebt und mir sehr gewünscht, dass mehr daraus wird. Aber ich halte es für unmöglich, eine neue Beziehung aufzubauen, so lange nicht frühere Beziehungen verarbeitet sind. Ich glaube auch, dass dieses so selbstlose Bedürfnis, anderen zu helfen, immer auch die selbstsüchtige Jagd nach Anerkennung und Dankbarkeit ist und dem Gefühl, unentbehrlich zu sein. Ich möchte aber kein Gespräch über Deine vermeintlich edlen Motive führen.

Weißt Du, was ich auch ein bisschen verletzend finde? Dass Dein Interesse an der schönen Frau gleich null zu sein scheint. Als ich Dir vor einigen Tagen in meiner Wohnung Fotos von mir zeigen wollte, bist Du auf meinem Sofa eingeschlafen. Klar, Du warst müde, das kann ich sogar nachvollziehen. Aber ich denke, beim Austausch von Lebensgeschichten sollte eine gewisse Ausgewogenheit herrschen. Um es mal deutlich zu sagen: Mein Bedarf an den Lebensgeschichten anderer ist mehr als gedeckt. Ich hoffe nicht, dass ich jemals einen anderen übermäßig mit früheren Geschichten behelligt oder ihn in eine persönliche Lebenskrise hineingezogen habe.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle die Reißleine ziehen, so weh es tut. Ratlos und traurig,

Malin

Während ich schrieb, leuchtete mir meine Argumentation so folgerichtig ein, dass ich gar nicht mehr sicher war, ob ich den Brief einwerfen wollte. Denn nur dadurch, dass ich den Faden überhaupt aufnahm, würde das Drama weitergehen, das war mir durchaus klar. Dennoch fuhr ich zu seiner Wohnung und steckte den Umschlag in den Briefkasten.

Als hätte ich bei Hartmut einen Stopfen gezogen, überschüttete er mich jetzt mit Gedankensplitter-SMS, phasenweise im Minutentakt:

- Oh, Malin, ich habe Deinen Brief gelesen.

- Ich habe Dich doch auch sehr, sehr lieb gewonnen und mir fehlen die Worte.

- Ich habe mich in Dich verliebt und es war niemals meine Absicht, Dich zu verletzen, aber ich habe es getan, und das werde ich mir nicht verzeihen.

- Was immer ich auch sagen könnte, um zu erklären, es würde von Dir als Verteidigung gesehen werden.

- Malin, ich weiß, ich bin ein Depp... ein rücksichtsloser Egoist… Ich bin jemand, der so viel falsch macht, wie man nur falsch machen kann. Aber ich habe Dich sehr lieb…

Ich starrte mein Handy perplex an. Was immer ich erwartet hatte – diese Ladung Selbstvorwürfe sicherlich nicht. So etwas hatte ich noch nie erlebt, und wieder kam ich mir selbst grausam vor. Und das alles nur wegen meiner egoistischen Eifersucht.

- Ich habe Angst davor, Dich zu durch meine Art zu verletzen. Ich kann manchmal wegen Banalitäten laut werden. Andere halten es dann für Schreien, aber für mich ist es nur lautes Reden…

Was damit gemeint war, sollte ich noch erfahren.

Wir machten dort weiter, wo wir aufgehört hatten, nur dass Nina Tempel von da an tabu war. Wir sprachen einfach nicht mehr über sie. Nicht einmal über Eifersucht und einsame Lebenskrisen-Monologe, über die ich mich ja auch beschwert hatte. Eine Umarmung, ein Kuss, wechselseitiges „Tut mir leid“, das war’s. So nahm ich meine regelmäßigen, kurzen Abstecher in den Konsum wieder auf.

„Kerstin kommt gleich.“ Hartmut wirkte unruhig. Kerstin, das war die Blonde, mit der er in der langen Einkaufsnacht kurz draußen verschwunden war, soviel wusste ich immerhin. „Im Bürgerverein denken sie ohnehin schon, dass ich einen zu guten Draht zum Tageblatt habe.“

„Was soll daran schlecht sein?“ Ich wollte nicht schon wieder ein Drama wegen einer anderen Frau machen. Trotzdem passte mir das Ganze nicht. Ich hatte keine Lust, mich ständig in Konkurrenz mit anderen Frauen zu betrachten. Das könnte ihm so passen. Ich streichelte Friedo, der selig schlummernd hinter dem Tresen lag. Als ich mich wieder aufrichtete, stand Kerstin Steinbach vor dem Tresen.

Emotionslos sah sie mich an, schmallippig, wobei die Mundwinkel leicht nach oben gezogen waren, was ihr eine spöttisch-sauertöpfische Aura verlieh. Die braunen Reh-Augen standen recht weit auseinander, die spitze Nase erwies sich im Profil als vollendeter knöcherner Haken. Der Rest an ihr war wulstig: der üppige Po in einen engen Rock gezwängt, über dem prallen Busen wölbte sich eine Bluse, die über dem Hosenbund ein Vordach bildete. Die blonden Haare trug sie offen.

„Ich geh dann mal in die Redaktion.“ Ich klopfte dem Labrador aufs Fell und umrundete den Tresen. „Hallo. Kennen wir uns schon?“ Ich konnte es nicht lassen, den bissig-schnippischen Gesichtsausdruck betont freundlich zu beantworten.

Miss Sauertopf sah mich misstrauisch an, brachte dann immerhin ein knappes, verhaltenes „hallo“ über die schmalen Lippen. Hartmut hatte durch sein Engagement beim Bürgerverein nun einmal häufig mit dieser Kerstin zu tun, sagte ich mir auf dem Rückweg. Wenn die ihm da den Rücken stärkte, konnte das nichts Schlechtes sein. Sagte ich mir wieder und wieder.

„Friedo haart, ich möchte ihn nicht in meiner Wohnung haben.“ Es war das Wochenende nach meinem Nina-Krise-Brief. Hartmut hatte samstags angerufen und gefragt, ob er nach Ladenschluss zu mir kommen sollte. „Was wollen wir denn überhaupt hier machen?“, fügte ich unsicher hinzu, als ich merkte, dass mein Einwand nicht gut ankam. Das Hundeverbot war eine Eingebung gewesen, die mir genau in dem Moment gekommen war, als ich Hartmuts deprimierte Stimme hörte. Ich ahnte, dass er wieder eine Menge zu erzählen haben würde… zu beklagen.

„Bei uns ist alles immer so kompliziert.“

„Weißt du was? Ich komme jetzt zu dir.“ Dann konnte ich selber entscheiden, wann ich wieder ging. Obwohl ich nicht die geringste Sehnsucht nach einem schlechtgelaunten Jammerlappen verspürte, sah ich durchaus, dass er eine Menge Probleme hatte. Außerdem war meine Reaktion wegen der Nina-Geschichte womöglich etwas zickig gewesen, jetzt auch noch das Hundeverbot... jaja, ich war auch kein leichter Fall. Und vor allem: Ich wollte an diesem Abend noch Sex haben.

Seine Wohnungstür stand wieder offen, als ich das zweite Obergeschoss erreichte, und wieder begrüßte mich nur Friedo dort. Immerhin wedelte der freudig mit dem Schwanz. Hartmut lag auf dem Sofa, lethargisch an die Wand starrend.

„Hallo.“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, das Zimmer leise betreten zu müssen. Eine Umarmung war definitiv gerade nicht angesagt.