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Table of Contents

Titel

Impressum

Widmung

TEIL 1: FLUGBEGLEITUNG

Montag, 15. August 2016

Dienstag, 16. August 2016

Mittwoch, 17. August 2016

TEIL 2: FUNKSTILLE

Sonnabend, 20. August 2016

Montag, 22. August 2016

Donnerstag, 25. August 2016

Freitag, 26. August 2016

Sonnabend, 27. August 2016

Sonntag, 28. August 2016

TEIL 3: ZIELSUCHER

Montag 29. August 2016

TEIL 4: HAKEN SCHLAGEN

TEIL 5: GRENZVERLETZUNG

Dienstag, 30. August 2016

TEIL 6: FÄHRTENLESER

TEIL 7: OFFROAD

EPILOG

Freitag 2. September 2016

Montag, 3. Oktober 2016

Sonnabend, 31. Dezember 2016

ÜBER DEN AUTOR

 

 

 

 

 

 

Stefan Cammeratt

 

 

 

Funkstille

 

Nero Freibauer

Band 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Stefan Cammeratt

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2019

ISBN: 9783957536969

Grafiken Copyright by Fotolia by holwichaikawee

 

 

 

 

 

 

Für Gerda

 

 


TEIL 1: FLUGBEGLEITUNG

 

 

Freitag 17. Juni 2016

Nero hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, im Stehen zu warten. Während der Woche verbrachte er regelmäßig 60 Stunden sitzend, meist vor zwei Bildschirmen und oft in dahingelümmelten Positionen, die jedem Arbeitsmediziner ein Graus gewesen wären. Da kam die Viertelstunde am Gate gerade recht, um seine stattliche Körperlänge nochmals zu strecken. Der schraubstockartige Flugzeugsitz, in den er sich für die nächsten eineinhalb Stunden zwängen musste, kam früh genug auf ihn zu.

Für einen Moment betrachtete er sein leicht verzerrtes Spiegelbild in einer reflektierenden Reklametafel, mit der eine namhafte Investmentbank für ihre soziale Kompetenz warb. Bad Hair Day, oder besser Bad Hair Week, raunte er sich in Gedanken zu und versuchte, seine ungestüme rotblonde Mähne mit einer Handbewegung zu domestizieren.

Könnten sie ihn heute sehen, wären seine Eltern sicher nicht auf die Idee gekommen, ihn nach einem kleinwüchsigen, dekadent-fettleibigen Imperator mit hoher Stirn und mediterranem Teint zu benennen. Zumindest stellte sich Nero so seinen kaiserlichen Namensvetter vor, ohne dazu jemals detaillierte Forschungen angestellt zu haben.

Die Ankündigung, dass das Flugzeug zum Einsteigen bereitstand, gab Nero die willkommene Entschuldigung, seine Schachpartie abzuspeichern. Am Ende einer langen Arbeitswoche hatte das Programm auf seinem Handy einen unmenschlichen Wettbewerbsvorteil. Es war Nero klar, dass seine Stellung gegen den ausgeruhten virtuellen Angreifer schwer zu verteidigen sein würde.

Die Lautsprecherdurchsage löste eine allgemeine Aufbruchsstimmung bei Neros Mitreisenden aus. Präsentationen wurden abgespeichert, Laptops zugeklappt, dunkle Jacketts über weiße Hemden gestreift, Wasserflaschen geleert und Telefonate beendet. Nero kannte die schizophrene Stimmung nur zu gut: Einerseits entspannte Vorfreude auf das Wochenende, aber immer noch genug Testosteron, um die Ellbogen auszupacken und für das Boarding eine vorteilhafte Position zu ergattern.

Neros Blicke glitten über die Köpfe der Reisegesellschaft hinweg zu den riesigen Panoramafenstern, die den Blick freigaben auf die Startbahn, die wie ein Flugzeugträger in der Themse lag. Es war bereits fast 19.00 Uhr abends, aber ein paar Tage vor der Mittsommernacht machte die Sonne noch keine Anstalten, Richtung Atlantik weiterzuziehen. Die trostlos grauen Docklandschaften des Londoner Ostens erstrahlten in ungewohnt warmen Bernsteinfarben, und die Themse verwandelte sich in einen mit Diamanten besetzten Zauberteppich.

Er hätte den ungewohnten Anblick noch stundenlang genießen können, aber der metallisch verzerrte Aufruf an die Gäste der Economy Class zum Boarding ließ sich nicht mehr ignorieren.

Nero riss sich von dem Spektakel der Abendsonne los und wollte sich zu seiner Reisetasche herunterbeugen, als ein ungewöhnliches Gepäckstück in sein Blickfeld geriet. Eine kreisrunde Schachtel, in unaufdringlichen Pastellfarben, mit einem Tragegriff und etwa so groß wie ein Stapel von zwanzig Langspielplatten. Vielleicht eine Hutschachtel, vermutete er, gestützt auf vage Erinnerungsfetzen an Audrey Hepburn Filme.

Nicht nur das runde, farbenfrohe Gepäckstück stach unter den schwarzen Laptoptaschen und anthrazit-silbrigen Rollkoffern hervor. Die Eigentümerin der Hutschachtel hob sich ebenfalls von der überwiegend männlichen Reisegesellschaft mit ihren professionell gedeckten Anzugfarben ab. Eine elegante Erscheinung mit schulterlangen kastanienbraunen Haaren und den koordinierten Bewegungen einer Tänzerin, vielleicht 40 Jahre alt, vielleicht einen Kopf kleiner als Nero. Nero war noch nie ein guter Beobachter gewesen, und seine Unfähigkeit, sich Gesichter, Kleider oder Wohnungseinrichtungen zu merken, hatte schon mehrfach zu peinlichen Situationen mit Kollegen, Kunden und Nachbarn geführt. Aber was sich in diesem Moment in sein Gedächtnis einbrannte, war ihr spitzbübisches Lächeln, als sie bemerkte, dass Nero die Hutschachtel mit Interesse inspizierte.

‚Sie waren nicht zufällig in Ascot?‘

Die Worte hatten seinen Mund noch nicht verlassen, als ihm seine Frage schon deplatziert vorkam. Nero war nicht nur ein schlechter Beobachter, sondern hatte auch weder Talent noch Übung für spontane Schlagfertigkeit. Insbesondere nicht im Angesicht von attraktiven Frauen. Leider war es unmöglich, im Laminatboden des Gates zu versinken.

‚Stimmt!‘

Ihr Lächeln strahlte noch entwaffnender als zuvor. Bei der Betrachtung ihrer nahezu perfekten Zahnreihen fixierte sich Neros Unterbewusstsein auf ein fast unmerklich kleines Stück, das irgendwann vom rechten unteren Eckzahn abgebrochen war. Vielleicht ein Hinweis auf einen ungestümen kleinen Bruder, funkte der fürs Rationale zuständige Teil von Neros Hirn.     

‚Wirklich? Ich muss zugeben, das war ins Blaue hinein geraten. Dann ist also in Ihrer Schachtel tatsächlich ein Hut? Sehr ungewöhnlich für einen Freitagabend am City Airport. Wenigstens war das Wetter diese Woche ideal für Pferderennen!‘

Jetzt musste schon das Wetter dafür herhalten, dass Nero keine geistreichen oder lustigen Fortsetzungen einfallen wollten. Pferderennen waren ihm fremd. Was gab es da zu sagen? Wettmafia? Stürze und Todesfälle von Ross oder Reiter? Gab es eigentlich Doping im Pferdesport? Das klang alles nach Stimmungstöter.

‚Sehr gut geraten! Es ist tatsächlich Ascotwoche. Ich wollte schon lange mal hin, und dieses Jahr habe ich es einfach mal gemacht. Hier, schauen sie mal!‘

Mit einer geübten Handbewegung entriegelte sie den Schnappverschluss der Hutschachtel und präsentierte voll Stolz einen in tiefblau gehaltenen, sombreroartigen Strohhut, der mit einem regenbogenfarbigen Hutband und zwei farblich passenden Riesenfedern dekoriert war.

‚Wow! Ein tolles Teil! Wollen Sie ihn nicht zum Flug aufsetzen? Das würde den Abend für alle Cityflieger unvergesslich machen.’

‚Na, ich will lieber den Piloten nicht ablenken’, erwiderte sie schmunzelnd, während sie die Schachtel vorsichtig verriegelte.

‚Bei Galeria Kaufhaus bekommt man so einen speziellen Hut aber nicht, oder?‘, versuchte Nero die Unterhaltung am Leben zu halten.

‚Stimmt schon wieder! Der ist maßgeschneidert! Es gibt tatsächlich in Frankfurt noch einen Hutmacher. Günstig ist es zwar nicht, aber das war ich mir einfach mal wert.‘

‚Und, war die Queen auch da?‘ Unverfänglich genug.

‚Ja, gestern war Besuchstag der königlichen Familie. Elisabeth war angeblich da, aber ich habe sie nicht gesehen. Macht nichts, mit Prinzen und Prinzessinnen habe ich nichts am Hut.‘

Ihr Lächeln schien noch ein wenig kräftiger zu strahlen, so als ob sie Nero ermutigen wollte, ihr zu dem Wortspiel zu applaudieren.

Bevor Nero dazu kam, hatten die unergründlichen Strömungen der um Positionen rangelnden Menschenmassen die Hutträgerin ein paar Meter nach vorne gespült. Sie drehte sich noch einmal zu Nero um und schickte ihr jetzt wieder spitzbübisches Lächeln in seine Richtung.

‚Gute Reise!‘

‚Ihnen auch, vielen Dank!‘

Nero präsentierte Bordkarte und Reisepass, erklomm die Treppe zum Flugzeug mit federnden Schritten und nickte der Stewardess routiniert zu. Ein kurzes, freundliches Lächeln in Richtung der Hutträgerin in Reihe 7, bevor Nero in seinen Fenstersitz im hinteren Teil der Maschine sank. Was für ein anregender Abschluss einer langen Arbeitswoche! Nero freute sich auf eine Flugstunde Meditation im Schutz seiner Kopfhörer. Mal schauen, welche musikalische Untermalung seine Jazz Playlist für ihn bereithielt.

‚Charles Mingus – Goodbye Pork Pie Hat.‘

Das muss höhere Gewalt sein, dachte Nero, bevor er die Augen schloss und in seine Musik eintauchte.

 

Montag, 15. August 2016

Der Montagmorgen hatte in letzter Zeit ein wenig von seinem gewohnten Schrecken verloren. Mit 41 Jahren konnte Nero darin noch keine senile Bettflucht erkennen. Aber das Aufstehen um 4.45 Uhr war nicht mehr ganz so unerträglich wie vor einigen Jahren.

Nero schaffte es mittlerweile, eine kalte Dusche, eine oberflächliche Rasur, ein schnelles Frühstück, die Fahrt zum Rhein-Main-Flughafen und die Passkontrolle in gut 90 Minuten zu absolvieren. Glücklicherweise waren morgens um sechs kaum Reiseamateure unterwegs, die erst am Sicherheitscheck anfingen, die Tiefen ihrer diversen Taschen und Koffer nach Flüssigkeiten und Cremes zu durchwühlen und damit den eng getakteten Zeitplan der Vielflieger zu sabotieren.

Heute war alles reibungslos gelaufen. Nero ignorierte die Rolltreppen und legte die Treppen vom Gate zum Rollfeld zu Fuß zurück. Er ergatterte einen Stehplatz im Flughafenbus und ließ einen entspannt-gelangweilten Blick über seine Mitreisenden gleiten.

Das Bild, das sich in der nächsten Sekunde in seine Netzhaut brannte, löste einen körperliche Reaktion aus, die er sonst eher von Momenten kannte, wenn das Flugzeug ein Luftloch traf und unversehens absackte. Direkt ihm gegenüber stand eine Frau, den Blick auf ihr Handy gerichtet. Elegante Gesamterscheinung mittleren Alters und mittlerer Größe, mit schulterlangen kastanienbraunen Haaren. Die koordinierten Bewegungen einer Tänzerin waren im Stehen nicht zu beobachten, und eine Hutschachtel entdeckte er auch nicht.

Nero verfluchte seine ausgeprägte Schwäche, sich Gesichter zu merken.

‚Haben wir uns neulich nicht am Flughafen in London getroffen? Mit Hutschachtel?‘

Nero hatte das vage Gefühl, unverständliches Kauderwelsch von sich zu geben, ganz so wie jemand, der zwei Jahre Französisch in der Schule gelernt hat und dann in einem Pariser Bistro nervös losdruckst.

Die Frau reagierte ganz anders als ein Pariser Kellner. Sie blickte auf und lächelte spitzbübisch.

‚Ich glaube schon.‘

Das Lächeln war Nero Beweis genug.

‚Und schon wieder auf dem Weg nach London? Arbeiten Sie dort?‘

Wieder so eine blöde Floskel. Würde jemand sonst morgens um 6.30 in einem Flughafenbus stehen?

‚Ja. Auch. Ich arbeite eigentlich in Frankfurt, aber ich bin fast jede Woche für ein paar Tage in unserem Büro in London.‘

‚Ich weiß, wie das ist. Ich bin auch überwiegend während der Woche in London.‘

‚Und warum machen sie das? Keine Lust umzuziehen?‘

‚Ich lebe lieber in Frankfurt. Meine Freunde sind hier, das Wetter ist besser, es ist leichter, in einem guten Restaurant kurzfristig einen Tisch zu bekommen und ohne Reservierung ins Kino zu gehen. Außerdem weiß ich bei meiner Arbeit in London nie, ob ich morgen noch gebraucht werde. Da habe ich lieber meinen Lebensmittelpunkt in Frankfurt. Und Sie?‘

‚Das ist bei mir ähnlich. Ich wohne in Kronberg, weil ich die frische Luft im Taunus liebe. Die Luftqualität in London ist eine Katastrophe. Nach einigen Tagen in der Innenstadt merke ich immer, dass ich kurzatmig werde.‘

Komm, ermahnte sich Nero, sag irgendetwas Witziges oder Schlagfertiges, sonst wird das hier zum Interview ohne Erinnerungswert.

‚Guter Punkt. Ich habe das so bewusst noch gar nicht wahrgenommen. Aber seit Kurzem benutze ich eine Fitness-App, wenn ich laufen gehe. Und mir ist tatsächlich aufgefallen, dass ich in London meistens langsamer unterwegs bin als zu Hause, wenn ich am Rhein entlanglaufe. Vielleicht liegt es wirklich am Londoner Feinstaub.‘

Der Bus kam mit einem überraschenden Ruck zum Stehen. Da war wieder ihre tänzerische Eleganz, mit der sie die Bremsung spielerisch ausglich. Nero dagegen musste all seine Körperkoordination aufbieten, um seiner Gesprächspartnerin nicht ungebührlich nahezukommen.

‚Das war sportlich! Was hat den Fahrer wohl so überrascht? Viel Verkehr ist auf dieser Strecke ja nicht, und der Flieger steht auch immer gut sichtbar an der gleichen Stelle.‘

Nero nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, dass sein Esprit sich zu erholen schien. Und die Hutträgerin spielte den Ball schmunzelnd zurück.

‚Ich wette, der Fahrer hat gestern Formel Eins geschaut. Obwohl: Für diese Art von Bremsverhalten gibt es bei den Profis Strafminuten, oder?‘

‚Mir scheint, Sie kennen sich nicht nur mit schnellen Pferden aus.‘

‚Nein, nein, das war Zufall. Ich hatte mal einen Freund, der verrückt auf Autorennen war. Einer der Gründe, warum wir nicht mehr zusammen sind. Aber ein paar Fetzen Sachkenntnis sind hängengeblieben.‘

Hatte Sie bei Ihrer Antwort leicht gezwinkert? Wahrscheinlich war es nur der Luftzug, nachdem sich die Tür des Busses mit dem typisch schmatzenden Geräusch geöffnet hatte.

‚Da bin ich ja erleichtert. Ich mag Autorennen auch nicht. Ich fahre lieber Fahrrad als Auto. Nur im Londoner Chaos habe ich es noch nicht gewagt, ein Fahrrad zu benutzen.‘

‚Es hilft nichts, ich glaube wir müssen aussteigen, sonst nimmt uns Herr Vettel wieder mit zum Terminal.‘

Sie erklommen gemeinsam die Treppe zum Flieger. Die Hutträgerin machte es sich auf ihrem Stammsitz vorne rechts gemütlich, und beide wünschten sich gegenseitig einen guten Flug, bevor Nero zu seinem ebenfalls gewohnten Sitz ganz hinten links weiterzog.

Was für ein unerwartet anregender Montagmorgen, dachte Nero, als er seine Kopfhörer überstreifte und überlegte, welche Musik am besten zu seiner Stimmung passen könnte. Er entschied sich für ‚In a silent way‘ und ließ sich von Miles Davis‘ Trompete und Joe Zawinuls Rhythmus auf die Reisehöhe begleiten.

***

An der pünktlichen Ankunft in London lag es nicht, dass das Aussteigen unglücklich verlief. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Treppe am hinteren Ausgang freigegeben wurde. Als Nero schließlich aus dem Flugzeug trat, war die Hutträgerin, die vorne aussteigen konnte, schon im Terminal verschwunden. In der Schlange vor der Einreisekontrolle erspähte Nero sie kurz vor der Batterie automatisierter Passlesegeräte. Er schätzte ihren Vorsprung auf drei bis vier Minuten.

Wenig später hatte Nero den Blickkontakt verloren. Ernüchtert machte er sich auf den Weg Richtung Bahnhof, nur um nach wenigen Schritten die Hutträgerin erneut zu orten. Sie zog gerade Bargeld aus dem Automaten neben dem Gepäckkarussell.

‚Nehmen Sie auch den Zug in die Innenstadt?‘, ergriff Nero die Gelegenheit beim Schopf.

‚Ja. Kommen Sie, die nächste Bahn geht in drei Minuten, das schaffen wir noch.‘

Wenig später hatten Sie sich in den Waggon der Dockland Light Railway gequetscht. Es ging zwar nicht zu wie in der U-Bahn von Tokio, aber öffentliche Verkehrsmittel in London in der Zeit von sieben bis neun Uhr morgens waren auch keine Freude.

‚Da fühlt man sich gleich am Montagmorgen wie in einem Bienenstock, und wir als Drohnen mitten drin.‘

‚Was machen Sie denn in London?‘ Die Hutträgerin musste ihren Kopf kräftig in den Nacken legen, um in dem Gedränge den Winkel zu finden, der es erlaubte, ihre Frage mit Augenkontakt zu begleiten.

‚Ich arbeite im Security Bereich.‘

‚Klingt spannend! Aber wenn Sie beim MI5 wären, hätten Sie mir bestimmt gesagt, dass Sie Banker sind, oder?

‚Da haben Sie recht, meine Geheimdienstkarriere ist seit einiger Zeit vorbei’, antwortete Nero mit einem Augenzwinkern.

‚Ich arbeite freiberuflich für ein Unternehmen, das sich auf Corporate Security spezialisiert hat. Wir haben Kunden in ganz Europa, aber mein Spezialbereich ist der Finanzsektor, und deshalb komme ich schon seit Jahren nicht aus London weg.‘ Eigentlich eine gute Gelegenheit, sich vorzustellen, fiel Nero zu spät ein. ‚Aber ich sollte Ihnen das gar nicht erzählen, vielleicht arbeiten Sie ja selbst in einer Bank?‘

‚Nein, keine Sorge, mit Banken habe ich nichts mehr am Hut. Ich arbeite in der drittgrößten Wirtschaftsbranche in London.‘ Es sah so aus, als ob sie ihre Hutmetapher nicht nur benutzte, wenn sie eine Kopfbedeckung mit sich herumtrug.

‚Hmm. Sind Sie vielleicht Juristin?‘ Seit Nero vor einiger Zeit den letzten Roman von John Grisham gelesen hatte, waren holzgetäfelte Anwaltskanzleien und Renntage in Ascot für ihn eine naheliegende Verbindung. Aber er musste sich eingestehen, dass ihr spitzbübisches Lächeln nicht so recht zu der dunklen Holztäfelung passen wollte, die er sich ausmalte.

‚Nein, kein Jura. Zwei Versuche haben Sie noch.‘

‚Sind Sie vielleicht Wirtschaftsprüferin?‘

‚Two balls, no strike.‘ Sie kannte sich also mit Baseball auch aus. Bestimmt ein Ex-Freund aus den USA?

‚‘O. k., das ist eine echte Herausforderung! Aber bevor ich mich sang- und klanglos geschlagen gebe, rate ich, dass Sie als Talentscout bei Arsenal arbeiten.‘ Wenigstens ergab sich die Gelegenheit, diesen Tipp mit einem weiteren Zwinkern zu begleiten.     

‚Haha! Ein echter Traumjob. Den ganzen Tag an der frischen Luft, sicher gut bezahlt und ein Türöffner für das Kennenlernen von sportlichen Männern.‘ Noch so ein Lächeln aus spitzem Winkel, das Nero wie ein wärmender Sonnenstrahl traf.

‚Aber leider, leider falsch. Ich arbeite im Immobilienbereich. Gewerbliche Immobilien in ganz Europa. Ich muss allerdings zugeben, dass ich bis 2009 auch im Finanzbereich war, bei der Allianz in Frankfurt.‘

‚Dann haben Sie die Allianz im gleichen Jahr verlassen, in dem die Dresdner Bank verkauft wurde?‘ Nero hoffte, dass sein Kommentar nicht angeberisch wirkte.

‚Stimmt! Der Verkauf der Dresdner Bank hat aber ein stärkeres Presseecho bekommen als meine Karriereentwicklung.‘

Der sonnige Londoner Morgen verschwand, als der Zug kurz vor der Endstation Bank in sein unterirdisches Tunnelsystem abtauchte. Hunderte von Arbeitsbienen ergaben sich ihrem Schicksal und bewegten sich wie an Fäden gezogen durch das vertraute Labyrinth von Korridoren und Treppen, auf der Suche nach Tageslicht und Frischluft.

Nero hatte sich eine Rolltreppenstufe unterhalb der Hutträgerin positioniert, um sich endlich auf Augenhöhe vorstellen zu können, als ein Mitreisender mit der Statur eines übergewichtigen Sumo-Ringers links auf der Überholspur an ihnen vorbeidrängelte.

‚Uff! Im Rugby wäre das ein astreiner Tackle gewesen‘, entfuhr es Nero, während die Hutträgerin beschäftigt war, Gleichgewicht und Rollkoffer zu halten. Eine weitere Gelegenheit verpasst.   

‚Welchen Ausgang nehmen Sie?’, fragte Nero, als sie einen Moment später die Barriere am Ende der Rolltreppe passiert hatten.

‚Unser Büro ist in der Nähe vom Paternoster Square, gleich neben der St. Paul’s Cathedral, ich muss noch ein paar Ausgänge weiter.‘

‚Dann trennen sich unsere Wege wohl’, erwiderte Nero und fragte sich, warum er nicht wenigstens ‚für heute‘ hinzugefügt hatte. ‚Es war nett, Sie kennenzulernen.‘

‚Das fand ich auch! Eine schöne Arbeitswoche wünsche ich Ihnen.‘

Ihr spitzbübisches Lächeln und Neros kaum merkliches Erröten hätten einem sorgfältigen Beobachter verraten, dass ihr Händeschütteln nicht streng professionell gemeint sein konnte. Leider gab es in Londoner U-Bahnstationen nur selten solch sorgfältige Beobachter, und so verflüchtigte sich der magische Moment ohne Zeugen. Nero tauchte aus der Unterwelt auf, atmete, ohne es wahrzunehmen, eine Tagesration Feinstaub ein und machte sich federnden Schrittes auf zu seinem Büro.

***

Nero brauchte bei dem Tempo, das er sich beim Gehen in der City angewöhnt hatte, knapp fünfzehn Minuten von der Bank Station, Ecke Lombard Street, bis zu seinem Schreibtisch in der Arthur Street. Glücklicherweise fehlte von seinen fünf Kollegen noch jede Spur. Er warf sein Jackett achtlos auf den Stapel von Umzugskartons neben seinem Tisch, drehte sich in seinem Stuhl, den er mithilfe eines Rollcontainers zum Liegestuhl umfunktionierte, zum Fenster und genoss den unbeobachteten Akt der Rebellion.

Die Aussicht von Neros improvisiertem Liegestuhl war spektakulär. Zehn Stockwerke unter ihm zog die Themse ihre Bahn zur Nordsee. Zweimal am Tag, nur für ein paar Minuten, wenn die Sonne im günstigen Winkel durch das Häusermeer drang, verwandelte sich der träge, bleigraue Fluss in ein glitzerndes Band, morgens silbrig und abends golden. Bei Ostwind schwenkten die Flieger auf ihren Weg zum Cityairport ein und zogen im Abstand von wenigen Hundert Metern an Neros Bürofenster vorbei. Wenn Nero selbst beim morgendlichen Landeanflug auf der linken Seite des Flugzeuges saß, bildete er sich ein, dass er den Stapel gebrauchter Kaffeetassen auf seinem Schreibtisch ausmachen konnte, die sich dort gerne ansammelten.

Neros Firma verdankte das Büro einem zufriedenen Kunden, der seinem Corporate Security Berater nicht nur einen großzügig bemessenen Scheck ausgestellt hatte, sondern auch darauf bestand, die oberste Etage in einem seiner Bürohäuser für zwei Jahre kostenlos zur Verfügung zu stellen. Allerdings kam dieser geschenkte Gaul durchaus mit einem gewissen Mundgeruch. Die Stockwerke eins bis neun wurden nämlich von Grund auf saniert, sodass Nero und seine Kollegen während der Kernarbeitszeit das Gebäude mit Dutzenden Bauarbeitern, Handwerkern und Arbeitsmaschinen unterschiedlichster Lautstärke teilten, während es ansonsten grabesstill und damit fast ein wenig unheimlich wirkte.

Der Aufzug fuhr seit einigen Monaten auch nur bis zum siebten Stockwerk. Angeblich sollten die Ersatzteile des spanischen Herstellers kurzfristig eintreffen, aber ähnliche Zusicherungen waren schon in den letzten Wochen folgenlos geblieben. Der Zwang zum täglichen Treppensteigen hatte jedenfalls zu einer deutlichen Steigerung der körperlichen Fitness in der gesamten Belegschaft geführt.

Das größere Problem war aber die Baustelle gleich neben Neros Bürogebäude. Im Frühjahr war dort an der Ecke von Upper Thames Street und Swan Lane das Fundament für einen monströsen Glaspalast gelegt worden. Die Schautafeln am Bauzaun versprachen vierzig Stockwerke voller Büros, Restaurants und unbezahlbarer Wohnungen. Seither schraubte sich ein Stahlskelett in jeder Woche eine Etage weiter Richtung Himmel. Ohne Streiks, Materialknappheit oder Erdbeben würde das Ungetüm nächste Woche auf gleicher Höhe ankommen, und Nero schätzte, dass zwei weitere Wochen Baufortschritt ihn den Blick auf die Themse kosten würden. Bei Fertigstellung musste dann im Büro mit ewigem Halbschatten gerechnet werden. Es war vielleicht zum Besten, dass die Firma sich nach Ablauf der zwei Gratisjahre neu orientieren konnte.

Nero riss sich von dem meditativen Panorama los und fuhr seinen Computer hoch. Er navigierte lustlos durch den Login-Prozess und öffnete E-Mail, Webbrowser und einige andere Programme, die er heute brauchen würde. Schon bald musste Nero sich eingestehen, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Was war da heute Morgen passiert, auf diesem Flug mit der Hutträgerin? Die emotionale Seite seines Hirns bombardierte ihn mit Erinnerungsfetzen an ihr spitzbübisches Lächeln, während die rationale Seite ihm bittere Vorwürfe machte, sich nicht wenigstens vorgestellt zu haben. Ganz zu schweigen von verwegenen Ideen, wie zum Beispiel eine Verabredung zum Essen oder Kaffee vorzuschlagen.

Dieses Kind war wohl mit Hut in den Brunnen gefallen, gestand sich Nero widerwillig ein. Oder war die Situation mit etwas detektivischem Spürsinn noch zu retten? Nero ließ Revue passieren, was er über die Hutträgerin gelernt hatte. Viel war es nicht: Immobilienunternehmen mit Büros in London und Frankfurt, von der Allianz im Jahr 2009 dorthin gewechselt, wohnhaft in Kronberg.

Nero überzeugte die firmeneigene Kaffeemaschine, ihm einen doppelten Espresso zu brühen, nickte auf dem Rückweg zu seinem Platz noch leicht abwesend Dave und Zoe zu, die sich zwischenzeitlich eingefunden hatten, und wandte sich seinem Rechner zu. Der erste Schritt seiner Recherche verlief geradezu unglaublich effizient. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, um mit Hilfe von Google Maps herauszufinden, dass es am Paternoster Square ein einziges Immobilienunternehmen gab, das auch in Frankfurt präsent war. Nero klopfte sich gedanklich auf die Schulter, bis ihm klar wurde, dass der nächste Schritt eine größere Herausforderung sein würde. Miller Bentinck, der vermutliche Arbeitgeber der Hutträgerin, hatte laut Internetseite 500 Angestellte in sieben Ländern. Das konnte auf jeweils hundert mögliche Hutträger und -trägerinnen in London und Frankfurt hinweisen.

Leider gab es auf der Frankfurter Internetseite von Miller Bentinck keine Möglichkeit, sich durch die Bilder der leitenden Angestellten zu klicken. Das Angebot, Mitarbeiter namentlich zu suchen, half angesichts von Neros Wissensstand nicht weiter.

Hätte Nero geraucht, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt gewesen, sich durch Nikotin inspirieren zu lassen. Stattdessen meldete sich sein elektronischer Kalender und erinnerte Nero an einen telefonischen Termin mit einem Kunden, den er schon an normalen Arbeitstagen kaum ertragen konnte. Widerwillig griff er zum Hörer.

Eine halbe Stunde später hatte Nero den drohenden Kundenverlust abgewendet und konnte sich wieder auf die Suche nach der Hutträgerin im Frankfurter Heuhaufen konzentrieren.

Ihm fiel die LinkedIn-Plattform ein, mit der sich Professionelle und solche, die es werden wollten, vernetzen konnten. Nero wusste nicht mehr, wann und warum er sich bei LinkedIn angemeldet hatte. Er fand die Idee grauenvoll, seine knapp bemessene Freizeit mit dem Austausch von Glückwünschen zum Firmenjubiläum oder neuen Job zu verbringen. Außerdem war er sich sicher, dass er die Hälfte seiner LinkedIn-Kontakte noch nie gesehen hatte. Aber vielleicht war dieses digitale Folterinstrument ja in seiner konkreten Situation hilfreich. Er brauchte eigentlich nur einige Frankfurter Mitarbeiter von Miller Bentinck zu finden. Dann konnte er sich solange an ihren Kontakten entlanghangeln, bis hoffentlich irgendwann die Hutträgerin auftauchen würde. Die Chancen, dass LinkedIn-Mitglieder sich mit Bild registrierten, standen statistisch gut. Er musste einfach darauf hoffen, dass die Hutträgerin sich der Idee der professionellen Vernetzung nicht verweigert hatte.

Wieder machte Nero mit seiner Idee unerwartet guten Fortschritt. Es dauerte nur einige Minuten, bis er einen Herrn Lehmann in der IT-Abteilung von Miller Bentinck gefunden hatte. Dazu gesellten sich bald eine Frau Dr. Schmidt in der Personalabteilung und eine Frau Richter, die für Großkunden in Westfalen und Niedersachsen die Verantwortung trug und deren Portrait verriet, dass sie eine erfüllende Mission in ihrem Leben gefunden hatte. Herr Lehmann war leider nur mit seinem früheren Professor an der Fachhochschule Halle und seiner Mutter vernetzt. Doch obwohl Frau Dr. Schmidt und Frau Richter glücklicherweise bessere Netzwerker waren, geriet Neros Forschungsprojekt in eine Sackgasse. Die Hutträgerin war nicht unter den gut 50 Miller Bentinck Mitarbeitern, auf die er gestoßen war.

Nero war von der LinkedIn-Idee so überzeugt gewesen, dass es ihm schwerfiel, sie bereits fallen zu lassen. Stattdessen beschloss er, einige Routinearbeiten zu erledigen, um sein schlechtes Angestelltengewissen zu beruhigen und vielleicht auf andere Gedanken zu kommen. Beim zweiten doppelten Espresso des Tages fiel Nero dann auf, dass es noch einen alternativen Plan gab. Hatte die Hutträgerin nicht angedeutet, dass ihr Abgang bei der Allianz ein Presseecho ausgelöst hatte? Er hatte den Gedanken in dem Moment abgetan, vielleicht weil er persönlich niemanden kannte, dessen berufliche Veränderung den Medien eine Reaktion wert gewesen wäre. Vielleicht mit Ausnahme seines Cousins Tom, dessen Verpflichtung durch den Drittligisten Alemannia Aachen vor bestimmt zwanzig Jahren die Lokalzeitung einen Zweizeiler gewidmet hatte.

Einen Versuch war es wert. Mit neu gewonnenem Enthusiasmus zog Nero seine Tastatur heran und fütterte seine Suchmaschine mit den Worten ‚Miller Bentinck, Allianz, 2009, Immobilien, Wechsel, verpflichtet.‘ Zwei Sekunden später war die Suche erfolgreich:

‚Miller Bentinck verpflichtet Mia Small von der Allianz‘, meldeten das Handelsblatt und mehrere Immobilienfachblätter am 4. April 2009. Eine Zeitung widmete ihrem kurzen Artikel sogar ein Foto, in dem Nero, trotz seines schlechten Gedächtnisses für Gesichter, Mia eindeutig wiedererkannte.

‚Bingo‘ entfuhr es Nero, verbunden mit einem ‚fist pump‘, den seine aus ihrer Montagslethargie gerissenen Kollegen hoffentlich als Ausdruck eines beruflichen Erfolgserlebnisses verstanden.

Mit Mias Namen konfrontiert, gab die deutsche Internetseite von Miller Bentinck ihre E-Mail widerstandslos preis.

Nero wäre nicht Nero gewesen, wenn er nicht vor dem Gebrauch seines neuen Wissens sorgfältig über mögliche Nebenwirkungen nachgedacht hätte. Würde Mia es schätzen, dass er sie zum Gegenstand einer online-Recherche gemacht hatte? War es eine gute Idee, ihre Arbeits-E-Mail zu kontaktieren und dafür seine eigene zu nutzen? Und wäre es nicht prinzipiell besser, eine Nacht über alles zu schlafen? Aber Nero war sich bewusst, dass solch rationale Erwägungen oft nur eine Alibifunktion erfüllten, um den Kopf darüber hinwegzutrösten, dass der Bauch die Entscheidung bereits getroffen hatte.

Bevor sein Kopf ihn noch umstimmen konnte, tippte Nero ‚Putting a name to the face‘ in die Kontaktzeile des Mailformulars, fügte ‚Viele Grüße‘ hinzu, hielt den Atem für eine Sekunde an, wie ein Bogenschütze im Moment des Loslassens der gespannten Sehne, und drückte auf Senden.

***

Es dauerte keine Viertelstunde, bis Nero seine Antwort erhielt.

Ping: ‚Na das ist ja mal eine nette Überraschung! Ich hatte mich schon gefragt, ob ich Dir genügend Anhaltspunkte gegeben hatte … J Bin sehr beeindruckt! Nice to meet you!

Nero fiel ein Stein vom Herzen, und er bedankte sich mit einem extragroßen Stück Zartbitterschokolade bei seinem Bauch für die mutige Entscheidung.

‚Und ich bin froh, dass ich mit meiner Recherche nicht die Firewall von Miller Bentinck ausgelöst habe J  … Nice to meet you too, Mia.‘

Keine Sorge, unsere Systemsicherheit ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Ein Fall für Deine Firma? Ich kann Dich ja meinem IT-Kollegen vorstellen, vielleicht entdeckt ihr Gemeinsamkeiten J?‘

‚Klingt gut. Aber noch netter wäre es, bei Gelegenheit nach Gemeinsamkeiten mit Dir zu suchen … J.

Nero musste einfach Mias blitzsaubere Steilvorlage verwerten. Er versuchte, die Möglichkeit zu ignorieren, dass ihr der Ball einfach vom Fuß gesprungen war.

Warum nicht. Heute Abend? Ansonsten bin ich nächste Woche auch wieder in London.

Nero konnte sich tausend unerfreuliche Gründe für ein ‚warum nicht‘ vorstellen und war erleichtert, dass Mia keinen davon in Erwägung ziehen wollte.

Heute ist prima! Hast Du ein Lieblingsrestaurant? Oder lieber ein warmes Bier im Pub?

Mein Lieblingsitaliener ist ‚Da Vinci‘ in der Nähe vom Somerset House und Temple Station. Wenn Du mich aufspüren kannst, findest Du das ‚Da Vinci‘ auch. Pass aber auf, dass Du nicht im Louvre landest  … J. So gegen 8?‘

Haha! Wenn ich auf dem Weg die ersten französischen Unterhaltungen höre, kehre ich um! See you there! Freue mich.‘

Nero ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und verfolgte gedankenverloren die Fähre, die zehn Stockwerke unter ihm von London Bridge ablegte und flussabwärts Richtung Greenwich glitt.

‚Was ist los, Nero! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, Du bist am Wochenende einen Halbmarathon unter 90 Minuten gelaufen! Oder hat Eintracht Frankfurt ausnahmsweise einmal gewonnen? Aber wahrscheinlich kommt Deine gesunde Gesichtsfarbe nur daher, dass Du irgendwo über eine besonders hohe Firewall geklettert bist, oder?‘

Mit spielerischer Geste warf Frank aus der geschützten Stellung hinter seiner Computerbatterie einen Kaffeebecher in Neros Richtung, der sein Ziel nur knapp verfehlte. Ganz leer war er wohl nicht gewesen, jedenfalls hatte Nero die bräunliche Schleifspur am getroffenen Fenster vorher nicht wahrgenommen.

‚Frank, was ist aus Deinem Wurfarm geworden? Das reicht ja kaum zum Cricketspielen mit Deinem Nachwuchs! Was sagt Dein Orthopäde?‘

Nach fünf Jahren im gleichen Team wusste Nero, wo Franks wunde Punkte lagen, und er tauchte gerade rechtzeitig unter dem zweiten Becher weg, der diesmal in einer idealen Flugbahn auf Neros Kopf zuflog.

‚O. k., o. k., Frieden, ich gebe alles zu! Zeit fürs Teammeeting! Es gibt einige Firewalls zu diskutieren!‘

***

Nero machte sich um Viertel nach sieben auf den Weg. Google Maps hatte ihm bestätigt, was er aufgrund langjähriger Erfahrung in London auch geschätzt hätte: Es sollte eine halbe Stunde dauern, um den Weg zu ‚Da Vinci‘ zu Fuß zurückzulegen. Den Rest der Zeit hatte Nero eingeplant, um drei Stockwerke Treppen zu absolvieren und auf den einzigen in gelegentlichen Abständen funktionierenden Fahrstuhl zu warten. Außerdem hatte er sich vorgenommen, das Citytempo herauszunehmen und sozusagen im zweiten Gang, italienisch inspiriert, zum Treffpunkt zu schlendern. Es war immer noch mild draußen, und es kam nicht infrage, ins Schwitzen zu kommen. Für alle Fälle hatte er ein Reisedeo in seinem Rucksack.

Zu seiner Überraschung hatte der Fahrstuhl seines Gebäudes bereits einladend auf ihn gewartet, und die von Google vorhergesagte Gehzeit könnte sich an einer Frau mit hohen Absätzen orientiert haben. Jedenfalls war Nero zwanzig Minuten zu früh dran. Vor der Zeit im Restaurant anzukommen war keine Option, entschied sich Nero. Stattdessen suchte er sich direkt vor dem Somerset House einen freien Stehplatz an dem Geländer, das die flanierenden Massen davon abhielt, versehentlich in der Themse zu landen. Von hier hatte er einen unverbauten Panoramablick von Westminster über St. Paul’s Cathedral bis zur Tower Bridge und dem Shard.

Nero verfolgte, wie die untergehende Sonne ein Feuerwerk an den Hochhausfassaden von Canary Wharf abbrannte. Fast meinte er wahrzunehmen, wie sich die Lichtstrahlen von Fenster zu Fenster bewegten. Auf der Themse herrschte reger Schiffsverkehr. Passagierfähren zogen zwischen Westminster und Greenwich ihre Bahnen, kleinere Privatjachten aus Richmond und Windsor glitten auf frühabendlichen Vergnügungsfahrten die Themse hinab, und am gegenüberliegenden Ufer bereitete sich ein Partyboot darauf vor, mit feiernden Cityangestellten abzulegen. War heute wirklich noch Montag? Seine innere Uhr schien stehengeblieben zu sein. Die Eindrücke der letzten zwölf Stunden hätten normalerweise eine ganze Woche ausgefüllt. Und der Tag war noch nicht vorbei.   

‚Zum Glück‘, entfuhr es Nero. Er riss sich von seinen Betrachtungen los und machte sich mit entschlossenen Schritten auf den Endspurt, um es noch pünktlich zu ‚Da Vinci‘ zu schaffen.

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Nero hatte gerade genug Zeit, sich zu vergewissern, dass Mia noch nicht an einem der etwa zehn Tische im ‚Da Vinci‘ Platz genommen hatte, bevor er sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite erspähte. Sie hatte ihn auch gerade gesehen, winkte ihm zu und überquerte mit tänzerischer Eleganz die Straße.

‚Hallo Mia!‘

‚Hi Nero, Du Detektiv! Du hast das ‚Da Vinci‘ gut gefunden, sehe ich?‘

‚Ja, kein Problem, ich habe mich einfach zur Mia Lisa durchgefragt, die kennt hier jeder.‘

Mia antwortete mit ihrem entwaffnenden Lächeln und lotste Nero zielsicher zu einem Ecktisch, den sie reserviert hatte. Die Wand hinter Mia nahmen in die Jahre gekommene Schwarzweißfotos unterschiedlicher Größe ein, die Szenen aus italienischen Kinoklassikern zeigten. Rechts von Sophia Loren stapelten sich Rotweinvorräte bis zur Decke, überwiegend aus Sizilien und Apulien und, soweit Nero es sehen konnte, direkt importiert.

‚Vergiss die Speisekarte! Lass uns einfach das Tagesgericht nehmen. Paolo in der Küche zaubert jedes Mal etwas anderes auf den Teller, und ich bin noch nie enttäuscht worden.‘

‚Ich bin dabei.‘

‚Laura, bring uns doch bitte eine Flasche Wein, die zum Tagesgericht passt. Habt Ihr vielleicht noch eine Flasche von dem Südtiroler?’ Mia war offensichtlich sowohl mit dem Personal als auch dem Weinkeller bestens vertraut.

‚Manche italienischen Restaurants empfinden es als Beleidigung, wenn man Südtiroler Wein bestellt. Aber ‚Da Vinci‘ hat kein Problem damit. Und ich liebe alles, was aus Südtirol kommt. Ich versuche, mindestens zweimal im Jahr dort zu sein. Eine Woche in der grandiosen Bergwelt wandern, dazu die Sonne, die Luft und das Essen, und meine Batterien sind wieder für ein halbes Jahr aufgeladen‘, schwärmte Mia.

‚Das geht mir genauso. Ich liebe die Berge! Ist sicher alles Erziehungssache. Meine Eltern sind jede Sommerferien mindesten drei Wochen mit uns nach Österreich gefahren. Aber eher Richtung Kärnten. Südtirol kenne ich kaum.‘

‚Ja, das kommt mir sehr bekannt vor. Meine Eltern waren mit meiner Schwester und mir immer in Südtirol, und sie fahren heute noch jedes Jahr runter. Es gibt da eine ganz alte Familiengeschichte.‘ Mia ließ sich nur kurz von der Ankunft einer knusprig gebratenen und nach Salbei und Thymian duftenden Dorade unterbrechen.

‚Hmmm, ein Aroma wie im Urlaub! Santé!‘ Die Weingläser waren bereits großzügig gefüllt, und das Anstoßen vor der Kulisse von Mias Lächeln erforderte Neros volle Körperbeherrschung.

‚Jetzt bin ich auf die Familiengeschichte gespannt!‘

‚Also, es gab da einen Onkel Wilhelm in unserer entfernten Verwandtschaft. Wahrscheinlich eher Urgroßonkel aus heutiger Perspektive. Wilhelm war als ganz junger Mann im Ersten Weltkrieg in die österreichische Armee eingezogen worden und sollte für den Kaiser an der Front in Südtirol kämpfen. Laut Familienlegende lag Wilhelm im Frühjahr 1917 mit seinem Zug irgendwo in einer vorgezogenen Stellung im Vinschgau, als sie von einer Abteilung italienischer Gebirgsjäger überrascht wurden. Mitten im blutigen Kampf Mann gegen Mann ging eine riesige Gerölllawine ab und begrub Freund und Feind unter sich. Die einzigen Überlebenden waren mein Uronkel Wilhelm und ein Hauptmann namens Johannes, der die italienischen Gebirgsjäger angeführt hatte. Als beide übel zugerichtet, aber nicht ernsthaft verletzt, zu sich kamen, stellte sich heraus, dass Johannes in Meran geboren worden war und fließend Deutsch sprach. Die beiden beschlossen, dass sie genug vom Krieg und Umbringen hatten und vereinbarten an Ort und Stelle einen bedingungslosen Waffenstillstand. Mit dem Proviant von Wilhelms Zug, einem österreichischen Klappspaten, einer deutschen Säge, zwei italienischen Gewehren und einigen Decken, die wohl ursprünglich aus Spanien stammten, machten sich die beiden auf in die Berge, um sich dort zu verstecken.‘

‚Mia, ich könnte Dir stundenlang zuhören, wie Du erzählst. Aber vergiss nicht Deine Dorade, es wäre schade, wenn sie kalt wird, Paolo hat ein wahres Wunder in der Küche verbracht.‘               

Eine halbe Dorade und ein Glas Wein später nahm Mia den Faden wieder auf.

‚Jedenfalls, die beiden, Wilhelm und Johannes, stiegen also immer weiter in die Berge hinauf. Die wenigen Dörfer und Weiler, an denen sie vorbeikamen, waren schon seit Jahren verlassen, entweder weil Krieg, Hunger und strenge Winter alles Alltagsleben ausgelöscht hatten oder weil die Bewohner, die überlebt hatten, nicht noch einmal zwischen die Fronten geraten wollten. In den Bergen bei Melago, unterhalb des Rabenkopfes und vielleicht zwanzig Kilometer von der Schweizer Grenze, stießen sie dann auf eine Lichtung, auf der wohl ein Berghirte vor langer Zeit einen kleinen Unterschlupf für sich und seine Ziegen gebaut hatte. Noch wichtiger war aber der Brunnen gleich neben dem heruntergekommenen Verschlag. Die zwei Deserteure beschlossen, sich hier bis zum Kriegsende zu verstecken.‘

‚Die beiden hatten das sprichwörtliche Glück im Unglück. Wilhelm hatte als Schreinergeselle gelernt, und Johannes war Knecht auf einem Hof in Piemont gewesen. Außerdem fingen sie ihr Einsiedlerleben im Frühjahr an, sodass die Natur für das erste halbe Jahr zur Verbündeten wurde. Über die nächsten Monate bauten sie den Verschlag zu einer regenfesten Hütte mit einer offenen Feuerstelle, zwei kleinen Zimmern und einer überdachten Veranda aus. Wilhelm war als Junggeselle in den Krieg gezogen, und so schien es ihm nur recht und billig, die Hütte nach der Jugendliebe seines Mitbewohners auf den Namen Casa Maria zu taufen.‘

Mia nutzte eine Erzählpause, um ohne rechte Überzeugung im Rest ihrer abgekühlten Dorade zu stochern, und Nero schenkte ihr Wein nach.

‚Das war fast schon die ganze Geschichte. Wilhelm und Johannes haben in ihrer Hütte den Krieg schadlos überlebt. Johannes ging schließlich zurück auf seinen Bauernhof, heiratete seine Maria, die tatsächlich auf ihn gewartet hatte, und war von da an nicht mehr in den Bergen gesehen. Wilhelm ließ sich in der Nähe von Landeck nieder und konnte ein paar Jahre später die Bergwiese und die Casa Maria für wenig Geld kaufen. Die genaue Erbfolge kenne ich nicht, aber in den siebziger Jahren fanden sich meine Eltern als Eigentümer einer idyllisch gelegenen Berghütte in Südtirol wieder. Ein Geschenk des Himmels für die junge Familie mit einem Lehrergehalt und zwei Kindern. So lange ich zur Schule ging, haben wir den Großteil der Sommerferien in unserer Casa Maria verbracht.‘

Mia kramte ihr Telefon hervor und ließ ihren Zeigefinger über das Display tanzen.

‚Schau, ich habe sogar ein paar Bilder. Wie Du siehst, ist die Casa Maria mittlerweile richtig zivilisiert. Eine Straßenanbindung gibt es natürlich nicht, man muss von der Landstraße zunächst für etwa zehn Kilometer auf einem Waldweg fahren, dann den Wagen stehen lassen und eine gute Stunde bergauf wandern. Strom gibt es seit den sechziger Jahren, als in der Nähe ein Sessellift gebaut wurde und die Ortsverwaltung ein Stromkabel zu unserer Hütte abzweigte. Und das Mobilfunknetz funktioniert am besten bei Ostwindlage und Temperaturen zwischen 10 und 25 Grad, also etwa 2 Monate im Jahr. Die Inneneinrichtung ist mittlerweile richtig schnuckelig, nachdem wir jahrelang wie die Packesel beladen mit Kleinmöbeln, Lampen, Bettdecken, Gardinen und sogar einem völlig überflüssigen Bügeleisen den Berg hochgezogen sind.‘

‚Wenn ich mal eine Woche richtig ausspannen will, ohne Internet, ohne Abgase und ohne Small Talk, dann geht nichts über die Casa Maria!‘

Mia Small ohne Small Talk, wie soll das funktionieren, dachte Nero sich, aber er entdeckte in Mias Gesicht keinen Hinweis, dass sie es als Wortspiel gemeint hatte.

‚Aber genug von meinen Familiengeschichten! Jetzt bist Du dran. Karten auf den Tisch, Nero! Ein sympathischer Typ wie Du hat bestimmt eine Frau und mindestens zwei Kinder, die zu Hause auf ihn warten, oder?‘

Es war Nero klar, dass dieser Punkt in diesen Unterhaltungen früher oder später zur Sprache kommen musste. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Mia auch in zehn Minuten noch so großzügig mit ihren Komplimenten sein würde.

‚Nope‘, versuchte Nero, seine Antwort cool klingen zu lassen. ‚Leider nicht. Es ist da etwas dazwischen gekommen …‘

‚Spann mich nicht auf die Folter, 50 Shades of Grey sind nicht mein Ding‘, ermutigte Mia ihn mit einem herausfordernden Blick über den Rand ihres Weinglases hinweg.

Nero entschied sich, ohne Ausflüchte direkt zur Sache zu kommen.

‚Ich war für ein paar Jahre im Knast.‘

Nero hatte dieses Geständnis in den letzten fünfzehn Jahren bestimmt dreißigmal in vergleichbaren Situationen abgelegt, und meist war das Ergebnis unerfreulich gewesen. Er hatte förmlich sehen können, wie Jalousien vor lächelnden Frauenaugen heruntergingen. Die Impulsiven ließen Nachtisch und Espresso ausfallen und zogen sich sofort unter fadenscheinigen Entschuldigungen zurück. Die Kontrollierten blieben zum Nachtisch und Espresso, aber ließen ihn beim Abschied wissen, dass ein Wiedersehen nicht auf ihrer Prioritätenliste stand. Am meisten ärgerten Nero die Falschen, die beim Abschied lächelten und Luftküsschen austauschten und danach nicht mehr erreichbar waren.

Es gab nur zwei Ausnahmen: Eine war seine Ex-Freundin Josephine, die es ihm nach fünf Jahren und wider besseren Wissens angelastet hatte, dass sie trotz intensiver Versuche nicht schwanger geworden war. Die andere war Natascha aus Smolensk, die Nero kurz nach seiner Haftentlassung in einer Strandbar in Istrien kennengelernt hatte. Er hatte damals vermutet, dass sie sein in Englisch vorgetragenes Geständnis einfach nicht richtig verstand oder aus geschäftlichen Gründen nicht wirklich interessiert war.

Die Statistik sprach also klar dafür, dass der Abend im ‚Da Vinci‘ ein singuläres Ereignis bleiben würde. Umso erstaunter war Nero über Mias unerwartete Reaktion.

‚Ich wusste es! Du warst also doch Spion, bis Du aufgeflogen bist und drei Jahre in einem russischen Arbeitslager Steine klopfen musstest!‘

Mia holte wieder ihr spitzbübisches Lächeln hervor, aber Nero hatte den Eindruck, dass ihre Blicke diesmal wie Röntgenstrahlen versuchten, unter seine Oberfläche zu dringen.

‚Das wäre sogar gut gewesen, dann hätte ich den Waschbrettbauch und die Oberarme von Brad Pitt. Leider war es viel prosaischer. Ich war Hacker. Franjo, ein Kumpel von der Uni, und ich haben jahrelang allen möglichen Blödsinn mit unseren Computern angestellt. Anfangs war alles ganz harmlos. Wir haben uns Prüfungsaufgaben besorgt und damit viel stumpfsinniges Auswendiglernen gespart, ohne jemandem zu schaden. Dann haben wir uns bei der Zulassungsstelle eingeschlichen und den TÜV auf unseren Studentenkutschen um zwei Jahre verlängert. Franjo was das Gehirn in unserer Verbrecherbande und hatte irgendwann die Idee, sich beim Amt für Ausbildungsförderung reinzuhacken und unsere BAföG-Zahlungen kräftig aufzustocken. Ich war zwar technisch nicht halb so begabt wie Franjo, habe aber begeistert mitgemacht. Was uns das Genick gebrochen hat, war die Gebühreneinzugszentrale. Du weißt schon, die GEZ, die Typen, die die Rundfunkgebühren abkassieren. Das war ein echter Coup. Wir sind unbemerkt ins System rein, haben jedem GEZ-Kunden jeden Monat einen zehntel Pfennig mehr in Rechnung gestellt und den Gesamtbetrag dieser Rundungsdifferenzen auf unser Nummernkonto in Zürich überwiesen. Bei 25 Millionen GEZ Kunden kamen da mal eben 25.000 Mark im Monat bei uns an, die zunächst niemand vermisste. Vier Jahre und 1.2 Millionen Mark später sind sie uns aber doch irgendwie auf die Spur gekommen.‘

‚Verdammt, so ein elegantes Geschäftsmodell‘, entfuhr es Mia. ‚Ich glaube, den Teil der Geschichte, wo ihr auffliegt, ertrage ich nur mit einer neuen Flasche Wein. Du hilfst mir doch, oder?‘

Impulsiv war Mia scheinbar nicht, sagte sich Nero. Jetzt musste er nur noch herausfinden, ob sie kontrolliert oder falsch war, oder ob er auf eine bisher unbekannte Spezies gestoßen war. Wenig später klickten Mia und Nero ihre frisch gefüllten Gläser gegeneinander, und er brachte sein Geständnis zum bitteren Ende.

‚Unser Prozess hat damals ein riesiges Medienecho bekommen. Vielleicht hast Du von dem Zwei-Kaiser-Fall gehört? Franjo steht nämlich für Franz Josef, und meinen Namen kennst Du ja. Glücklicherweise gab es das Internet noch nicht, sonst wären wir YouTube-Stars geworden.‘

‚Tut mir leid, der Fall muss mir entgangen sein. Vor fünfzehn Jahren war ich ja noch fast im Kindergarten‘, entgegnete Mia mit ihrem perfektionierten Zwinkern.

‚Normalerweise würdest Du denken, dass Du als Ersttäter mit Bewährung davonkommst. Aber in unserem Fall ging alles schief, was schiefgehen konnte. Die öffentliche Aufmerksamkeit habe ich ja schon erwähnt. Die Richterin war gerade von ihrem Mann verlassen worden und war auf Rache am anderen Geschlecht aus. Jedenfalls kursierten solche Geschichten in der U-Haft. Sie sah in unserem vier Jahre anhaltenden Betrug ein Zeichen von hochgradiger krimineller Energie und meinte, dass die Schädigung einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung auf besonders asoziale Beweggründe hindeutete. Das Züricher Nummernkonto führte zum Vorwurf von Geldwäsche und Steuerhinterziehung, und außerdem waren die staatlichen Rächer sauer, dass von den 1.2 Millionen nur noch ein kleiner Restbetrag aufzufinden war. Jedenfalls gab es acht Jahre für Franjo und fünf für mich. Ich bin sicher, wenn ich zwei Bier getrunken und die Richterin im Affekt erwürgt hätte, wäre ich mit zwei Jahren auf Bewährung davongekommen. Sei’s drum. Drei Jahre musste ich absitzen. Und deutsches Fernsehen vermeide ich seither konsequent, weil mich sonst bei ARD und ZDF immer die Erinnerungen einholen.‘

Nero meinte zu sehen, wie Mia vergeblich versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen und etwas zu finden, was sie sagen konnte, ohne banal oder schulmeisterlich zu wirken.

‚Etwas Gutes hatte die ganze Geschichte natürlich auch‘, fügte er nach einem kräftigen Schluck aus seinem Weinglas hinzu.