Cover

FILM-KONZEPTE

Begründet von Thomas Koebner

Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz

 

Heft 56 · Februar 2020

Jacques Demy

Herausgeberin: Kristina Köhler

 

Print ISBN 978-3-86916-869-2
E-ISBN 978-3-86916-871-5

 

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Jacques Demy: LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT (1967)

 

Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.

 

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de

Inhalt

Kristina Köhler
Verschiebungen im Sinnlichen. Zum Kino von Jacques Demy. Ein Vorwort

Simon Frisch
Jacques Demys Poetik der Verschiebung und der Schwerelosigkeit. Eine Lektüre der Anfänge von LOLA und LA BAIE DES ANGES

Barbara Flückiger
Farbe und Ausdrucksbewegung. Jacques Demys Musicals LES PARAPLUIES DE CHERBOURG und LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT

Jörg Schweinitz
Mit Susan Sontag im Kino von Jacques Demy. LES PARAPLUIES DE CHERBOURG als Camp

Anne E. Duggan
Verque(e)re Märchenwelten. Zur Camp-Ästhetik von PEAU D’ÂNE

Jörg Becker
»Ein Streik und die Liebe.« Klassengegensätze, Arbeiterkampf und LIEBESTOD in UNE CHAMBRE EN VILLE

Daniel Winkler / Christian Quendler
Show Musical und »cinéma en chanté«. Metareferenzialität und Nostalgie in TROIS PLACES POUR LE 26

Sophie Rudolph
Demy par Varda. Über das persönliche und filmische Erinnern

Biografie

Filmografie

Autor*innen

Kristina Köhler

Verschiebungen im Sinnlichen. Zum Kino von Jacques Demy

Ein Vorwort

Demy gilt als »Ästhet« und »Poet« des französischen Kinos. Bekannt wurde er in den 1960er Jahren mit seinen traurig-schönen Musicals, in denen Leichtigkeit und Schwere, Freude und Melancholie auf intime Weise miteinander verflochten sind. Die Ausgangslage seiner Filme ist häufig ganz einfach; wie Hanns Zischler so schön beobachtet, setzen sie häufig an kleinen, zunächst unscheinbaren fait divers an – einer Liebesgeschichte, der Rückkehr in die alte Heimat, dem Besuch der Schausteller in der Stadt. »Aber die Farben und die Musik, die schwebende Kamera, die ganze désinvolture, die ›Ungezwungenheit‹ der Filme lassen die absichtsvolle Banalität der Geschichten weit hinter sich und präsentieren auf eigensinnige Weise eine andere Geschichte.«1

Diese anderen Geschichten öffnen sich wie ein doppelter Boden – in der auffälligen Farbgestaltung der Dekors und Kostüme, im minutiös choreografierten Zusammenspiel von Kamera, Körpern und Räumen. So wird das, was auf den ersten Blick bekannt und vertraut scheint, unter Demys Regie auf subtile Weise verschoben und leicht schräg.

Seine Filme sind – trotz aller Unterschiede – eng aufeinander bezogen, so dass häufig von einem eigenen Universum, einer »demy-monde«, die Rede ist.2 Damit ist nicht nur auf das gemeinsame Imaginäre verwiesen, sondern auch auf den charakteristischen Grundklang. Atmosphärisch scheinen die Filme in einer »Zwischenwelt« (so das Wortspiel, von frz. demi-monde für »Halbwelt«) zu siedeln, im flirrenden Abstand zwischen Hier und Anderswo, Wirklichkeit und Traum. Und so können sich seine Figuren mitunter von einem Film zum nächsten bewegen, an anderen Orten und in neuen Zusammenhängen wiederauftauchen – wie Lola, die eigentlich Cécile heißt. In LOLA (LOLA, DAS MÄDCHEN AUS DEM HAFEN, 1961) lernen wir sie als Showgirl kennen, die in einem Varieté in Nantes Matrosen verführt; Jahre später begegnen wir ihr in MODEL SHOP (DAS FOTOMODELL, 1969) auf den Straßen von Los Angeles wieder.

IMG

LES HORIZONS MORTS (1952): In seinem Abschlussfilm übernimmt Jacques Demy auch die Hauptrolle

Demys Filme sind eng mit ihrer Zeit verwoben, und doch gehen sie nicht völlig in ihr auf; tatsächlich verlaufen sie immer ein bisschen quer zu den großen Strömungen der (Film-)Geschichte. Seine ersten Spielfilme dreht er im Frankreich der frühen 1960er Jahren, einer Zeit, die vom Kino und von den Manifesten der Nouvelle Vague geprägt ist. Damals frequentiert auch Demy den Zirkel der jungen Filmemacher*innen und -kritiker*innen um die Cahiers du Cinéma; seinen ersten Spielfilm LOLA dreht er gemeinsam mit dem Kameramann Raoul Coutard, der kurz zuvor mit Jean-Luc Godard À BOUT DE SOUFFLE (AUSSER ATEM, 1960) realisiert hatte. Da überrascht es kaum, dass auch LOLA und der zwei Jahre später entstandene Film LA BAIE DES ANGES (DIE BLONDE SÜNDERIN, 1962) zunächst als Teil der Nouvelle Vague wahrgenommen werden.3 Mit den Arbeiten von Godard und Truffaut verbindet Demys frühe Filme eine gewisse Lust am vermeintlich Beiläufigen sowie eine Bild- und Bewegungssprache, die die Räume, Figuren und ihre Geschichten auf offene Weise zueinander in Beziehung setzt. Gemeinsam ist ihnen zudem, dass sie ebenso spielerisch wie konsequent an den Traditionen des Kinos rütteln, diese umarbeiten, demontieren und neu zusammensetzen – und sich dabei gern an Versatzstücken des populären Kinos bedienen. Doch da, wo Truffaut und Godard Gangsterfilm und Film noir zitieren, knüpft Demy an Melodrama, Musical und Märchen an – an Genres, die gerade im männlich besetzen Kontext der Nouvelle Vague als exzessiv, sentimental, naiv (und weiblich) galten.4

Diese Anleihen bei Musical und Melodrama prägen den Grundgestus seiner Filme, wie spätestens 1964 mit dem Erscheinen von LES PARAPLUIES DE CHERBOURG (DIE REGENSCHIRME VON CHERBOURG, 1964) offenkundig wird. Im Stil eines Musicals (und doch etwas quer zu dessen Konventionen) erzählt der Film von der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen dem Automechaniker Guy und Geneviève, der Tochter der Schirmverkäuferin. Zwar lässt sich dieses »cinema en-chanté«, wie Jacques Demy sein gesungenes und »verzaubertes« (von frz. enchanté) Kino wortspielerisch umschreibt, durchaus als Hommage an das US-amerikanische Filmmusical verstehen, zelebriert es doch ähnliche Schauwerte von Gesang und Tanz, auffälligen Kostümen und Dekors. Doch wenn jede einzelne Dialogzeile gesungen wird und alltägliche Bewegungen (wie das Spazieren durch den Regen) zu choreografischen Mustern arrangiert werden, wird zugleich die Grundstruktur des Musicals – die Gegenüberstellung von handlungstragenden Szenen und Tanz- und Gesangsnummern – aufgehoben.5 Sie weicht bei Demy einer eher fließenden Modulation der Übergänge und Verschiebungen, die in LES PARAPLUIES DE CHERBOURG fast schon meteorologisch – über das Wetter und seine unterschiedlichen Aggregatszustände – arrangiert ist. Wenn der romantische Regen zu Beginn die Räume verdichtet, die Körper der Liebenden aneinanderrücken lässt und Berührungen wahrscheinlicher macht, geht er später zunehmend in ein melodramatisches Klima über, wo der Nieselregen die Abschiede begleitet und kaum noch von den Tränen zu unterscheiden ist, die über die Gesichter rinnen. Am Schluss des Films hat sich der Niederschlag zu dicken Schneeflocken verdichtet, die beim Wiedersehen der Liebenden am Weihnachtsabend auch die unterkühlte Distanz kommentieren, die sich zwischen ihnen eingestellt hat.6

*

Wurden Demys Filme im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre als »ästhetisch« und »poetisch« beschrieben, so war das nicht immer als Kompliment gemeint. Vielen Zeitgenossen galten seine Filme als »zu romantisch«, »zu sentimental« und stilistisch »zu extravagant« – oder, wie eine Kritikerin dieses Dilemma wohlwollend auf den Punkt brachte, als »too light for people to take seriously, too pleasant, too full of grace«.7 Demys Kino, so der Grundtenor dieser Kommentare, sei poetisch, aber nicht politisch.

Die Zuschreibung als »ästhetisch reizvoll, aber naiv« hat sich bis heute zu einer wiederkehrenden Denkfigur verfestigt. Unterstützt wird sie von einem semantischen Feld des Märchenhaften, Imaginären und Träumerischen, das in Beschreibungen von Demys Filmen schnell zur Hand ist.8 Zweifellos legen Demys Kommentare und auch seine Filme selbst diese Assoziationen nahe; problematisch werden sie jedoch dann, wenn dahinter andere Aspekte oder Lesarten ausgespart bleiben – etwa, wenn übersehen wird, dass seine Filme die Märchen, von denen sie erzählen, zugleich ambig und dissonant werden lassen. So hat die Fokussierung der Rezeption auf das Fantastische, Traum- und Märchenhafte nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Demys Kino als »unpolitisch« verstanden wurde – dass es in eine mythisch-zeitlose Parallelwelt der Elfen, Prinzen und Prinzessinnen abgeschoben und von der Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen seines Entstehens und Wirkens weitgehend losgelöst wurde.9

Dabei bietet Demys Filmografie durchaus Anlass und Spielraum für einen kritischen Blick auf die sozialen und historischen Umstände. Dieser Blick kommt zwar nicht als militante Parteinahme daher, doch viele seiner Filme kommentieren mal auf direkte, mal auf verschlungene oder ironische Weise gesellschaftliche Strukturen. So interessiert sich Demy mit seiner Neuinterpretation des Märchens THE PIED PIPER (DER RATTENFÄNGER VON HAMELN, 1972) auffällig intensiv für die Frage, warum der Rattenfänger den ihm versprochenen Lohn nicht bekommt. Der Film beleuchtet die korrupten Machtstrukturen der Kleinstadt zwischen Kirche, Bürgertum und Antisemitismus. Einen ironisch-pointierten Kommentar auf die Geschlechterverhältnisse liefert Demys einzige Komödie: In L’EVÉNEMENT LE PLUS IMPORTANT DEPUIS QUE L’HOMME A MARCHÉ SUR LA LUNE (DIE UMSTANDSHOSE, 1973) spielt Marcello Mastroianni an der Seite von Catherine Deneuve den Fahrlehrer Mazetti, der erfährt, dass er schwanger ist. Das wunderbar utopische Experiment des Films liegt darin, spielerisch so zu tun, als könne die Biologie der Geschlechter einfach umgekehrt werden. Viel zu schnell gewöhnen sich die Figuren an den männlichen Schwangerschaftsbauch – oder versuchen gar, daraus Profit zu schlagen. So wird der Film auch zu einem ambivalent-ironischen Kommentar zu jenen Anliegen, welche die Frauenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren artikuliert hatte: Während die Grundkonstellation der Handlung die Forderung nach Gleichheit der Geschlechter aufgreift, führt der Film zugleich vor Augen, wie absurd jene Argumente sind, die biologisches und soziales Geschlecht miteinander verwechseln.

»Vous êtes un cinéaste marxiste, tendance Broadway,« legt ein Gesprächspartner in einem Interview Demy nahe.10 Und Demy widerspricht nicht. Tatsächlich machte er in zahlreichen Gesprächen und Kommentaren deutlich, dass er sich den »kleinen« Leuten stärker verbunden fühlte als dem Bürgertum.11 In seinen Filmen sind die Spannungen zwischen den Klassen indes sehr viel komplexer arrangiert. Zwar ist Sympathie für die »kleinen Leute« deutlich spürbar, die als Schausteller, Matrosen, Automechaniker, Frisörinnen, Parfümverkäuferinnen, Fahrlehrer, Werftarbeiter, alleinerziehende Mütter und Cafébesitzerinnen seine Filme bevölkern. Doch diese begegnen charismatischen Figuren der Bourgeoisie, Aristokratie oder des Showbusiness, die stets etwas gebrochen von »besseren Zeiten« erzählen: der alternde Showstar, die verschuldete Baronesse, die verarmte Schirmverkäuferin, der vereinsamte Kaufmann, der Heimkehrer (aus dem Krieg oder dem fernen Amerika). Die Beziehungen zwischen denen, die (ökonomisches, soziales, kulturelles oder symbolisches) Kapital haben, und denen, die keins haben, bleiben ambivalent, denn die Klassenfrage wird zumeist in die Mikroebene menschlicher Beziehungen verlagert – in die Liebesbeziehungen und die Familie. Entscheidend ist, dass Demy diese Spannungen nicht einfach auflöst, indem er für die eine oder andere Seite Partei ergreift, sondern diese Spannungen selbst zum Thema macht. Doch im Unterschied zu dem, was viele seiner Zeitgenossen unter einem politisch engagierten Filmemachen verstanden, bedient er sich dabei gerade nicht einer nüchtern-dokumentarischen Filmsprache, die sich der Realität verpflichtet fühlt und deren Missstände aufdeckt. Häufig verlagern sich die Spannungen in die ästhetische Textur – sie werden als dissonante Farbkontraste in den Räumen und Kostümen sichtbar oder als gegenläufige Musikthemen ausgetragen.

Und so ist Demys Filmsprache nie neutral oder harmlos. Schon seine Vorliebe für Musical und Melodrama, zwei Genres, die aus Sicht der linksintellektuell geprägten Filmkritik per se unter Ideologieverdacht standen, kamen einer kleinen Provokation gleich. Ein Marxist, der Filme im Broadway-Stil inszenierte? War es möglich, sich die Mittel des Musicals »auszuborgen«, ohne sich dessen Ideologie – etwa: die Aufhebung der Wirklichkeit als Eskapismus – einzuhandeln? Die Vermischung dieser Ebenen irritierte nicht nur das bildungsbürgerliche Wertesystem, das Kunst und Unterhaltung strikt als Gegenpole begriff, sondern auch den cinephilen Diskurs der 1960er und 1970er Jahre, der aus einem ähnlichen Wertesystem heraus daran festhielt, den Regisseur als auteur und das Kino als Kunst zu verstehen. Demys Filme irritieren diese Denksysteme, insofern seine Referenzen fast immer doppelt kodiert sind, auf die populäre und bürgerliche Kultur gleichzeitig verweisen und diese in eigentümlichen Mischverhältnissen vorführen: Seine Musicals sind immer auch kleine Volksopern; seine Filmbilder bedienen sich ebenso bei der modernen Malerei wie bei der Plakatkunst; in der Musik seiner Filme vermischen sich klassische Musik und Jazz mit Elementen der Popmusik. Das politische Moment von Demys Ästhetik liegt also eher in diesen Mischverhältnissen begründet als in einem bestimmten Anspruch filmischer Moderne, der auf Bruch, Schock oder distanzierende Verfremdung abzielt. Und so ist das Kino für Demy weder Ideologiemaschine noch Mittel zur Aufklärung oder Kritik; sondern die Kunst, mit den Mitteln der Unterhaltung zu verzaubern und zu irritieren. Damit, so könnte man sagen, vollzieht sich das Politische in seinen Filmen nie losgelöst vom Sinnlich-Ästhetischen, sondern (im Sinne Rancières) in Form unzähliger Verschiebungen, die das Sinnliche neu ordnen, aufteilen und hervorbringen.12

*

Mit diesen Überlegungen sind einige Motive dafür geliefert, warum es sich lohnt, Jacques Demy gut 30 Jahre nach seinem Tod einen Band der »Film-Konzepte« zu widmen und seine Filme neu zu betrachten, ja teilweise wiederzuentdecken. Der wichtigste Grund vielleicht – sie machen etwas mit dem Kino selbst. Mit der Art und Weise, wie sie bekannte Geschichten und vertraute Genres umarbeiten, fordern sie uns dazu auf, die Kategorien, in denen wir über das Kino nachzudenken gewohnt sind, zu reflektieren. Auch als Arbeit an der Filmgeschichte lassen sie sich verstehen; sie wälzen nicht nur historiografische Narrative vom französischen Kino als Autoren- und Kunstkino (von der Nouvelle Vague bis zum jeune cinéma français) auf produktive Weise um, sondern auch allzu schematische Gegenüberstellungen von Kunst- und Unterhaltungskino. Alle hier versammelten Beiträge setzen zu solchen Relektüren von Demys Filmen an, die verhinderte Lesarten freilegen und neue Aspekte dieser engagierten Ästhetik aufspüren möchten.

Simon Frisch widmet sich Demys ersten beiden Spielfilmen LOLA und LA BAIE DES ANGES, die er im Kontext der Nouvelle Vague verortet. Mehr als für den »Poeten« Demy interessiert sich Frisch für dessen Poetik und Arbeitsweise, der er entlang einer detaillierten Analyse der Anfänge beider Filme nachspürt. Dabei macht er die große Durchlässigkeit von Demys Kino zur französischen Kultur der 1960er Jahre sichtbar. Was Demy mit diesen kulturellen Versatzstücken macht, ist weniger ein Dekonstruieren, als vielmehr ein Verschieben oder Überdrehen bestehender Gattungen, Topoi und Ikonografien. Gerade dort, wo seine Filme schwerelos werden, so Frisch, lassen sie sich auch als Verschiebungen bestehender Kräfteverhältnisse verstehen.

Eins der am häufigsten mit Demys Filmen assoziierten Stilmerkmale ist wohl die auffällige Farbgestaltung, die in ihrer markanten Abweichung vom Alltäglichen zeichenhaft, fast exzentrisch daherkommt. Gerade seine beiden bekannten »Musicals« LES PARAPLUIES DE CHERBOURG und LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT (DIE MÄDCHEN VON ROCHEFORT, 1967) wurden als »bonbonfarben« und »zuckersüß« beschrieben und deren Sets als »Intérieurs im Glamourstil der Zeitschriften über das schöne Wohnen«.13 Wo viele Kommentare ungenau von »Farbigkeit« reden, setzt Barbara Flückiger mit ihrer Analyse der Farbdramaturgie beider Filme an, die Aspekte der Narration und Bildkomposition ebenso in den Blick nimmt wie Texturen und Materialien. Beide Filme, so Flückiger, beziehen sich zwar in Bruch wie Kontinuität auf Hollywoods Regelwerke zur Farbgestaltung, unterscheiden sich in ihrem Vorgehen jedoch deutlich. Während die Farbdramaturgie in LES PARAPLUIES DE CHERBOURG einer affektiv-emotionalen Logik folgt, die das Verhältnis der Figuren untereinander und zu ihren jeweiligen Milieus signalisiert, ist die Farbgestaltung in Les DEMOISELLES DE ROCHEFORT stärker geometrisch angelegt. Das Filmbild wird hier gleichsam zum Schachbrett, auf dem das ausgeklügelte Zusammenspiel von Körpern, Beziehungen und Bewegungen im Raum choreografiert ist.

Ebenso wenig wie das Attribut »bunt« ausreicht, um Demys Farbwelten zu beschreiben, lassen sich seine Filme adäquat über das Begriffsvokabular klassischer Filmtheorie erfassen. Denn da, wo diese Theorien visuellen Exzess und erzählerische Ökonomie, Form und Inhalt, Kunst und Populärkultur als streng voneinander getrennte Sphären oder gar antagonistische Kräfte denken, durchmischen Demys Filme diese Elemente auf eigensinnige Weise. Umso interessanter ist, dass sich parallel zu Demys Filmschaffen im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre neue Konzepte der Kulturtheorie und -analyse herausbilden, die seiner Arbeit an bestehenden Genres, Erzähl- und Zeichenstrukturen entsprechen. Zu denken ist etwa an Roland Barthes, der mit seinen Mythen des Alltags (1957) Ideologiekritik im und am Material des Alltäglichen betreibt – ein Gestus, den Demy mit seinem Interesse für die faits divers und Alltagsgeschichten teilt. Wenn sich Barthes über Seifenpulver-Reklame, Großaufnahmen von Greta Garbo oder den damals neuen Citroën D. S. beugt, spürt er zugleich einer Reihe von Klischees und Ikonografien nach, denjenigen verwandt, die Demy in seinen Filmen zelebriert und demontiert. In einer ähnlich aufschlussreichen Zeitgenossenschaft stehen Demys Filme zu Susan Sontags Essay Notes on Camp, der 1964 – im selben Jahr wie LES PARAPLUIES DE CHERBOURG – herauskommt. In seinem Beitrag geht Jörg Schweinitz der Verwandtschaft von Sontags Text und Demys Film aus film- und theoriegeschichtlicher Perspektive nach und reflektiert »Camp« als ästhetische Sensibilität, die Mitte der 1960er Jahre als eine Sphäre des (intellektuellen) Zeitgeschmacks möglich wird. Zwar stellten Demys Zeitgenossen die Verbindung zwischen seinen Filmen und Sontags Konzept noch nicht her, doch Schweinitz veranschaulicht, wie präzise sich Demys »Liebe zum Übertriebenen, zum ›Übergeschnappten‹« über Sontags Perspektive beschreiben lässt – und zwar als exzessive Stilisierung, die mal in Pathos, mal in Ironie kippt und bei aller Faszination für das große Gefühl immer auch ein Moment der Distanzierung bereithält.

»Camp«, allerdings in einer eher queertheoretischen Ausdeutung, ist auch der zentrale Begriff für Anne E. Duggan, über den sie in ihrem Beitrag eine Relektüre von Demys Märchenfilm PEAU D’ÂNE (ESELSHAUT, 1970) unternimmt.14 Sie befragt den Film auf alternative Geschlechterpolitiken und zeichnet nach, wie Demy ein klassisches Märchen zur Geschichte über queere Formen der Sexualität umschreibt. PEAU D’ÂNE, so ihre These, akzentuiert Aspekte eines transgressiven Begehrens, das in dem Märchen über die inzestuöse Vater-Tochter-Liebe bereits angelegt war. Diese queere Dimension des Films, so Duggan, trete einerseits über die vielfältigen filmischen Verweise auf eine schwule Ästhetik hervor, wie sie im Frankreich der 1960er Jahre insbesondere durch die Arbeiten Jean Cocteaus bekannt war. Eine Kritik heterosexueller Ordnungen zeige sich andererseits auch in der Art und Weise, wie der Film etablierte Dichotomien von Natur und Kultur, Mann und Frau, Alt und Neu umwälze – sei es über die Figurenkonstellation und ihre Besetzung oder auch die Gestaltung von Kostümen und Räumen.

Wie das Thema der Klassenunterschiede in Demys Filmen verhandelt wird, beleuchtet Jörg Becker in seinem Text. Am Beispiel von UNE CHAMBRE EN VILLE (EIN ZIMMER IN DER STADT, 1982), der vom Streik der Werftarbeiter in Nantes erzählt, untersucht Becker, wie Demys Filme politische und soziale Spannungen in erzählerische Konstellationen, kontrastreiche Bild-, Farb- oder Musikarrangements übersetzen. Der Kampf der Werftarbeiter reicht in UNE CHAMBRE EN VILLE auf verschlungene Weise ins Intimste der Figuren hinein; er manifestiert sich in ihren Wohnungen ebenso wie in ihrem Begehren. Nicht zuletzt aufgrund dieser Spiegelungen zwischen dem Politischen und dem Privaten entfachte der Film, wie Becker nachzeichnet, in Frankreich zu Beginn der 1980er Jahre eine kontroverse Debatte über das Verhältnis von Kino und Politik.

Mit seinem letzten Film TROIS PLACES POUR LE 26 (1988) knüpfte Demy noch einmal an sein »cinéma en-chanté« mit gesungenen Dialogen an. In ihrem Beitrag zeigen Daniel Winkler und Christian Quendler, wie der Film metareferenziell und nostalgisch auf eine Vergangenheit verweist, die die US-amerikanische Showkultur der 1930er und 1940er Jahre umfasst, aber auch Demys eigenes Filmschaffen der 1960er Jahre. Der nostalgische Gestus schien ebenso aus der Zeit gefallen wie die Hauptfigur des gealterten Showstars, gespielt von Yves Montand, der sich in den künstlichen Welten von Opernbühne und intimen Bars wohler fühlt als auf den Straßen Marseilles. Dort wirbeln die junge Marion und ihre Freundinnen in neonfarbenen Kleidern und poppigen Choreografien herum, als kämen sie geradewegs aus einem MTV-Videoclip. Mit diesem Generationenthema verhandelt TROIS PLACES POUR LE 26 auch Demys eigene Positionierung im französischen Kino Ende der 1980er Jahre, insbesondere mit Blick auf das jeune cinéma français, das zu dieser Zeit aufkam. Die Filme der um 1960 geborenen jungen Filmemacher*innen setzen sich zwar deutlich von Demys Sujets und seinen Inszenierungsweisen ab; dennoch bildeten seine Filme für sie eine wiederkehrende Referenz – gerade dann, wenn es darum ging, komplexe Zwischentöne zwischen Schwere und Leichtigkeit, Pathos und Beiläufigkeit filmisch auszuloten. So singen etwa in Pascale Ferrans L’ÂGE DES POSSIBLES (DIE ZEIT DER ENTSCHEIDUNGEN, 1995) zwei junge Frauen auf einer Party lautstark das Liebeslied von Prinz und Prinzessin aus Demys PEAU D’ÂNE mit. »Oh, nein, nicht PEAU D’ÂNE!«, beschwert sich zunächst einer der Gäste. Was als alberne Partylaune mit ironisch-übersteigerten Gesten beginnt, entwickelt im Verlauf der Szene eine Intensität, die die Mitzwanziger auf intime Weise ergreift und aus ihren Rollen wirft. Das Beispiel lässt sich auch symptomatisch lesen für die Art und Weise, wie Demys Kino von nachfolgenden Generationen von Filmemacher*innen interpretiert und zitiert werden sollte: als eines, das gerade dort berührt, wo man sich von den großen Gefühlen zu distanzieren sucht.15

IMG

Erinnerungen von, mit und an Jacques Demy: JACQUOT DE NANTES von Agnès Varda (1991)

Während unserer Arbeit an diesem Band verstarb Demys langjährige Partnerin, die Filmemacherin Agnès Varda. Mit dem Familienunternehmen Ciné-Tamaris hatte sie sich nach Demys Tod 1990 für die Erhaltung, Restaurierung und Vermittlung seiner Filme eingesetzt. So war das Andenken an Demy über viele Jahrzehnte von Vardas Perspektive geprägt. Und diese war geleitet von einer affektiv aufgeladenen Nahsicht, in der biografische Elemente (die Kindheit an der Atlantikküste, seine Herkunft, die Familie) eine zentrale Rolle spielten, während andere Aspekte (wie Demys nie offen ausgesprochene Bi- oder Homosexualität) zurücktraten.16 Vor diesem Hintergrund reflektiert Sophie Rudolph Vardas Erinnerungsarbeit als spezifische Form der Geschichtsschreibung und zeichnet nach, wie sich in Vardas Filmen über Demy, JACQUOT DE NANTES (1991) und L’UNIVERS DE JACQUES DEMY (DIE WELT IST EIN CHANSON. DAS UNIVERSUM DES JACQUES DEMY, 1995), persönliches, kollektives und filmisches Erinnern aufs Engste miteinander verweben.

Wie jede Geschichtsschreibung bleibt auch die vorliegende Publikation notwendigerweise bruchstückhaft und unabgeschlossen. In gewisser Weise passt das zum Werk von Jacques Demy, das neben der sichtbaren Filmografie aus gut einem Dutzend realisierter Spielfilme auch eine sehr viel umfassendere unsichtbare Filmografie nicht realisierter Filmprojekte, Skizzen, Drehbücher und Gemälde umfasst – darunter Skaterella, eine Aschenputtel-Verfilmung auf Rollschuhen, sowie Vorarbeiten für ein russisches Filmmusical Anouchka, für das Demy Tänzer*innen des Bolschoi-Theaters auf den Plätzen von Sankt Petersburg in raumgreifenden Choreografien inszenieren wollte.17 Man kann bedauern, dass Demy nie dazu kam, diese Filme zu realisieren. Doch wer mit seiner Filmsprache und Sensibilität vertraut ist, wer sich einmal auf den fantasievollen Modus seiner Filme eingelassen hat, dem dürfte es nicht schwerfallen, diese Filme in der eigenen Imagination lebendig werden zu lassen.

Kristina Köhler

Dezember 2019