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Die Neuen

Wer etwas Bestehendes übernimmt, möchte häufig gern alles (oder vieles) anders machen. Wir nicht. Mit dem vorliegenden Heft 53 übernehmen wir – Kristina Köhler und Jörg Schweinitz gemeinsam mit Fabienne Liptay, die von der ersten Stunde an dabei ist – als neues Herausgeberteam die »Film-Konzepte«. 2006 von Thomas Koebner begründet und in den letzten Jahren von Michaela Krützen, Johannes Wende sowie Fabienne Liptay herausgegeben und durch Michelle Koch redaktionell betreut, hat die Reihe ein Profil gewonnen, das von Vielfalt und Qualität zeugt, das sich bewährt hat und offen für neue Blicke auf immer neue Konzepte ist. Daran lässt sich bruchlos anknüpfen, und wir danken unseren Vorgänger*innen für das Geleistete.

 Die »Film-Konzepte« stehen für den genauen Blick auf das Material, für Analysen, die vom Detail zu großen Zusammenhängen (und wieder zurück) führen. Sie haben sich von Anfang an als eine Reihe verstanden, die es unterschiedlichen Autor*innen, jungen und alten, Filmwissenschaftler*innen und Kritiker*innen ermöglicht, in Dialog zu treten. Dies soll Programm bleiben. Auch in Zukunft möchten die »Film-Konzepte« eine Plattform für Vielstimmigkeit sein und Möglichkeiten bieten, auch mal etwas zu wagen und ausprobieren zu können. Gleichzeitig haben wir vor, unsere Blicke, Kompetenzen, Interessen und Vorlieben einzubringen. Was dieses neue Persönliche, das mit dem neuen Team ins Spiel kommt, ausmacht? Es wird sich im Laufe der Zeit an den folgenden Ausgaben ablesen lassen. Es gewinnt seine Substanz im Tun.

 Eine Reihe herauszugeben, die sich einzelnen Filmschaffenden hinter der Kamera widmet, ist in der aktuellen Landschaft alles andere als selbstverständlich. Nicht nur das Konzept des Autors wurde wiederholt für tot erklärt, auch damit verbundene Begriffe wie das Werk werden vielfach und zurecht kritisch revidiert. Warum dann noch eine Reihe, die sich an diesem Prinzip orientiert? Weil wir glauben, dass damit – sofern man es ohne falsche Verklärung und ohne biografische Obsession betreibt – ein Rahmen oder eine Perspektive gesetzt ist, die es erlauben, sich den Filmen und den Menschen, die die Filme machen, ihren ästhetischen Ideen und Gedankenwelten auf vielfältige Weise zu nähern. Dies bietet zudem die Möglichkeit, an die medialen Diskurse zum Kino anzuschließen, die heute (vielleicht mehr denn je) an herausragenden Personen orientiert sind. Wir wollen dabei nicht nur den Bogen quer durch die Kinematografien und Filmkulturen der Welt, vom Mainstream zur Avantgarde, von der Aktualität zur Filmgeschichte schlagen, sondern auch einen Ort anbieten, an dem sich die Idee des Autors am konkreten Fall auch kritisch hinterfragen lässt. Etwas wagen …, nicht nur Hommage betreiben, sondern nach Produktionsprozessen und historischen Kontexten fragen, vielschichtige Konstellationen und neben dem Grandiosen auch Randständiges sichtbar machen.

 Das Schöne am Neuen ist, dass es nicht lange neu bleibt.

 

Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz

Dezember 2018

Claudia Lenssen

Vorwort

Ula Stöckl ist eine Pionierin und Grenzgängerin unter den Regisseur*innen des deutschen Films. Als eine der ersten Frauen studierte sie in den 1960er Jahren an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, einem der Bauhaus-Idee verpflichteten Labor der Moderne, das von Inge Aicher-Scholl, einer Schwester der Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl, mitgegründet worden war. Ursprünglich mit dem Wunsch, Drehbuchautor*in zu werden, absolvierte sie in der neugegründeten Filmabteilung der Hochschule ab 1963 als erste Frau in der Bundesrepublik ein Studium, das sie zur professionellen Autorenregisseur*in ausbildete.

Das visuelle Erzählen fasziniert Ula Stöckl von jeher, auch in ihrer Tätigkeit an der State University in Orlando/Florida, wo sie Film lehrt und seit 2005 eine Professur auf Lebenszeit innehat. Im Atmosphärischen der Bilder, schrieb sie, ist das »nicht Gesagte oder durch Worte allein nicht Vermittelbare«1 enthalten. Darin spiegele sich die Situation wider, aus der sie mit ihrer Entscheidung für den Regie-Beruf ausbrechen wollte: »Frauen wurden nicht genannt, nicht gehört, waren unsichtbar, eine Negativfolie der männlichen Welt, in der wir lebten.«2

Das vorliegende Heft 53 der »Film-Konzepte« ist nicht in erster Linie aus dem Geist entstanden, Defizite dingfest zu machen oder Ula Stöckls Œuvre als Exempel für den Kampf um Sichtbarkeit, gegen sexistische Ausschlussmechanismen, aufoktroyierte Beschränkungen und generell das marginalisierte Filmschaffen von Frauen zu untersuchen. Umgekehrt geht es uns darum, ihre Plädoyers für die Vielfalt und Verschiedenheit der Welt, ihren unbestechlichen Blick auf Machtstrukturen bis in die intimsten Beziehungen und den besonderen Touch ihrer Filme genauer in den Blick zu nehmen. Wiederzuentdecken sind alle ihre Filme, auch ihre frühen Dokumentarfilme und die der späten Periode sowie ihre mittellangen, die sie in unverwechselbarer Handschrift in den 1970er Jahren für das Fernsehen realisierte.

 26 Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme realisierte Ula Stöckl im Lauf ihrer Karriere zwischen 1963 und 1993. Ihr Debütfilm NEUN LEBEN HAT DIE KATZE (1968), großes Kino in Farbe und Breitwandformat, war lange ein Geheimtipp und ist inzwischen zum Kultfilm avanciert. Die restaurierte Fassung der Kurzfilmserie GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND (1969–1971) macht ein Zeugnis ihres anarchistischen Humors wieder zugänglich, das nur selten und in verstümmelter Form zu sehen war.

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Ula Stöckl 1975, Digne Meller Marcovicz © bpk-Bildagentur Preußischer Kulturbesitz

 Jedes ihrer Drehbücher hat Ula Stöckl als »Ausgrabung« einer Situation, einer Konstellation oder Parabel verstanden. Bei jedem Film »wurde es eine Lebensaufgabe, das Private zu untersuchen und das Politische daran herauszustellen«. Ihre Haltung und ihre Anliegen haben an Überzeugungskraft und Dringlichkeit nichts eingebüßt.

Die Idee zu dieser Publikation entstand nach einer erfolgreichen Werkschau zu Ehren von Ula Stöckls 80. Geburtstag am 5. Februar 2018. Sechs Tage in Folge präsentierte das Arsenal Kino Berlin in Anwesenheit von Ula Stöckl und weiteren Gästen ein sehr gut besuchtes Programm, das die Experimentalfilmerin Bärbel Freund und der Kameramann, Produzent und Weggefährte von Ula Stöckl, Thomas Mauch, gemeinsam kuratiert hatten.3 Der Werkschau war eine intensive Recherche nach spielbaren Filmkopien vorausgegangen. Bärbel Freund kontaktierte dafür die Archive der Fernsehanstalten, für die vor allem in den 1970er Jahren Filme entstanden, und arbeitete mit Basis Film Verleih zusammen, die ihre späteren DER SCHLAF DER VERNUNFT (1983/1984) und DAS ALTE LIED (1991) produzierten.

 Bis auf den verschollenen Film SONNTAGSMALEREI (1971), der für die ZDF-Redaktion »Das kleine Fernsehspiel« entstand (siehe Ula Stöckls literarische Filmskizze dazu in diesem Heft), konnte Bärbel Freund das Gesamtwerk erschließen, einige Filme jedoch nur in streifigen VHS-Kopien oder farbschwachen DVDs ausfindig machen – bislang zumindest. Ihr vorläufiges Rechercheergebnis, eine Filmografie, die den derzeitigen Forschungsstand darstellt, exakte Längen, Herstellungsdaten und technische Daten verzeichnet, ist diesem Heft beigefügt.

 Vor allem die für das Fernsehen produzierten Filme von Ula Stöckl stellen exemplarische Beispiele für die Defizite bei der Rettung des audiovisuellen Erbes dar. Diese Publikation macht auf die Notwendigkeit der Arbeit für eine bessere Sichtbarkeit des vernachlässigten Erbes aufmerksam. Wir verstehen die vorliegende Arbeit auch als Appell an die Stiftung Deutsche Kinemathek, die beteiligten Archive und Rechteinhaber sowie die Regisseurin selbst, die Restaurierung und digitale Verfügbarkeit ihrer Filme voranzubringen.

Ula Stöckl hat eine lange Geschichte als beredte Interpretin ihres Werks. Seit in den 1970er Jahren die Frage nach der weiblichen Identitätsfindung wider die patriarchale Hegemonie als ein Kernthema der Filme von Frauen in den Blick rückte, entstand eine Filmliteratur der authentischen Selbstaussagen.4 Auch Ula Stöckl nahm in Interviews, Statements zu ihren Filmen und autobiografischen Selbsterkundungen häufig Stellung. Ihre Äußerungen sind Teil der Geschichtsschreibung über den Beitrag der Frauen im Neuen Deutschen Film5. Dabei stieß in den 1970er Jahren ihr individueller künstlerischer Ansatz, jenseits von Theorien und politischen Programmen Geschichten über »Macht – Krieg – Liebe« zu erzählen, in der Diskussion um die Frage einer feministischen Filmästhetik z. T. auf Skepsis und Abwehr, beispielsweise in dem historischen Heft 12 der Zeitschrift Frauen und Film, das ihr 1977 gewidmet war.6 Ula Stöckl wollte ihrerseits auf keinen Fall dem Etikett »Frauenfilm« untergeordnet werden, das sie für ein Nischenprädikat des öffentlichen Diskurses hielt und konsequent ablehnte. Die filmhistorische Einordnung dieser Kontroversen findet sich in einigen Beiträgen dieses Hefts wieder, sie steht allerdings nicht im Zentrum. Es geht uns vielmehr um eine Neubewertung aus heutiger Perspektive.

 Anders als in der Rezeptionsgeschichte der männlichen Zentralfiguren des Neuen Deutschen Films stehen den Selbstauskünften von Ula Stöckl relativ wenige ausführliche Studien zu einzelnen Filmen und Werkgruppen gegenüber.7 Sie gilt als Zeitzeugin, aber weder existiert bislang eine Monografie, die die Zusammenhänge zwischen Leben und Werk untersucht, noch eine Schriftensammlung mit ihren (unverfilmten) Texten.

 Der Filmhistoriker, Essayist und Autor der Zeitschrift Filmkritik Helmut Färber, ein langjähriger Beobachter der Laufbahn von Ula Stöckl, machte mich auf dieses Manko aufmerksam. Dieses »Film-Konzepte«-Heft nimmt seine Anregung auf. Es versteht sich als ein erster Schritt, denn ein Überblick über ihre 50-jährige Karriere, ihre Lebensthemen und Erzählformen kann hier nur an ausgewählten Filmen dargestellt werden.

1. »Zuhause ist da, wo ich was verändern will.«

Ula Stöckl sagte über sich, dass sie von Kriegs- und Nachkriegsbildern geprägt sei und diese Erfahrungen im Rückblick die Wahl ihrer Themen erklärten. Geboren am 5. Februar 1938 in Ulm, erlebte sie als Sechs- und Siebenjährige die Bombennächte, in denen ihre Geburtsstadt vollkommen zerstört wurde. Ihre Familie verlor das gesamte Hab und Gut, lebte lange in Notquartieren und musste von Null beginnen. Drei Geschwister starben, der Vater kehrte spät aus dem Krieg zurück. Alles konzentrierte sich auf die Reorganisation des Alltags, zu der die Mutter durch öde Fabrikarbeit beitrug, sich der Pflicht opferte, während der Vater, ein Musiker, versuchte, beruflich wieder Fuß zu fassen. In ihren Filmen sei davon viel zu finden, sagt Ula Stöckl: »Immer wieder geht es um die Vaterfigur und die Rolle der Mutter, Generationen, Geschlechter- und Beziehungsfragen, Familie und Struktur, Arbeit und Liebe.«

 Der Beitrag von Eva Hiller gibt der Wucht der prägenden Erfahrungen Raum. Ihr Text ist eine Collage aus berührenden autobiografischen Passagen mit zeitgeschichtlichen Momentaufnahmen, vom Nationalsozialismus über die Kindheit und erste Emanzipationsversuche bis zum Studium an der Ulmer Hochschule für Gestaltung, der folgenden Desillusionierung über die Filmszene Anfang der 1970er Jahre, und schließlich ein charakteristisches Erlebnis männlicher Dominanz mit Rainer Werner Fassbinder am Frankfurter Theater am Turm.

 Ula Stöckl schildert da in der ihr eigenen bildreichen Sprache, wie sie mit 16 Jahren eine Ausbildung als Sekretärin begann, mit 20 in London und Paris die Landessprachen studierte und Ende der 1950er Jahre einen Bürojob in der französischen Hauptstadt annahm. Sie wollte fort aus Ulm, wollte aus den vorgezeichneten Mustern als Ehefrau, Mutter und Zuverdienerin ausbrechen, nicht passiv sein, sondern anders leben und arbeiten als die Generation ihrer Mutter.

 Sabine Schöbels Essay über den Film DEN VÄTERN VERTRAUEN, GEGEN JEDE ERFAHRUNG (1982) setzt sich mit Ula Stöckls Versuch auseinander, den Schock zu thematisieren, den eine junge Deutsche als Au-pair in Paris erlebt, als ihre französischen Gasteltern sie mit dem Holocaust und der Schuld der Elterngeneration konfrontieren. Paris war Ende der 1950er Jahre ein Traumziel für junge Frauen, von denen einige später den Neuen Deutschen Film prägten. Wie Jutta Brückner, Ulrike Ottinger, Hanna Schygulla, Helma Sanders-Brahms (in gewissem Sinn auch Romy Schneider) bewegte sich Ula Stöckl dort in einer anderen Kultur, die ihren Blick öffnete. Ähnlich wie sie erfuhr auch Margarethe von Trotta von Freunden in Paris, welche deutschen Verbrechen in ihrer Heimat verschwiegen wurden.8

2. Macht, Krieg, Liebe und Film

»Der Wald der Unsicherheiten, Hoffnungen und Gefahren« führte Ula Stöckl nach Ulm zurück an die Hochschule für Gestaltung. Ihre Lehrer Alexander Kluge und Edgar Reitz, beide Unterzeichner des Oberhausener Manifests, verstanden ihre Arbeit dort als Experimentierfeld für neue dokumentarische und fiktionale Erzählformen. Sie wollten »Papas Kino« beerben, eine gesellschaftliche Trendwende befördern und andere Konzepte kreativer Arbeit verwirklichen. Beide hielten die Filmklasse dazu an, sich alle Bereiche des Filmemachens anzueignen.

 Anders, widerspenstiger und wilder als die Helden des Neuen Deutschen Films machte sich Ula Stöckl die avantgardistischen Ansprüche ihrer Lehrer zu eigen. Während May Spils in ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN (1967) mit cooler Geste äußerst erfolgreich den neuen Typ eines männlichen Leistungsverweigerers inszenierte, kreisten die Spielfilmdebüts von Alexander Kluge, ABSCHIED VON GESTERN (1966), und Edgar Reitz, MAHLZEITEN (1966/67)9, um weibliche Hauptfiguren, die zwar das Klischee weiblicher Gefälligkeit außer Kraft setzten, aber letztlich in der Rolle der Gebärerin befangen bleiben.

Ula Stöckl war ihrer Zeit voraus, als sie die Männerdomäne Film eroberte und Regie führen wollte. Auch in der Ausbildung ging es darum, den Zugang zu erkämpfen, wahrgenommen zu werden, wenn ihr erster Kamera-Lehrer sie nicht durch die Kamera schauen lassen wollte und konsequent nur mit dem Assistenten sprach.

 Ihre frühen Dokumentarfilme griffen bereits Motive auf, die ihre eigene Herkunfts- und Bildungsgeschichte berührten und die Frage nach dem fehlenden Abitur mit möglichen Emanzipationschancen verknüpften. In HABEN SIE ABITUR? (1965) stellte sie beispielsweise in einer Abendschule Nachforschungen darüber an, warum die jungen Männer das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachholen wollten. Bei ihrem Besuch in einer Familie fand sie heraus, dass der Ehemann damit bessere Berufsaussichten verband, seine Frau jedoch für sich selbst die Weiterbildung ablehnte und vermeintlich nicht brauchte, weil sie mit der Rolle der Hausfrau und Mutter konform war. SONNABEND, 17 UHR (1966) porträtierte Jugendliche im wohlhabenden Münchener Viertel Bogenhausen und beobachtete, wie sie das Wochenende mit Spaziergängen, Einkaufstouren und Cafébesuchen verbringen. Auch hier geht es um das Abitur, für die jungen Männer ein Schlüssel zum Prestige, für die jungen Frauen der Zugang zum privilegierten Heiratsmarkt. »Keine bekennt sich zu vorehelichen Erfahrungen oder auch nur dem Wunsch danach.« In einer Familie doziert der Vater über den vorgezeichneten Lebensweg der Tochter, den er im Besuch einer Haushaltsschule sieht, die den Wert der jungen Frau als Partnerin eines erfolgreichen Mannes steigern soll.

  ANTIGONE (1964), der erste fiktionale Film, ihre fast abstrakte 8-minütige Adaption der Tragödie, stellte den Gegensatz zu ihren dokumentarischen Milieustudien dar. In knappen Off-Monologen nach Brechts Tragödienfassung geht es um das, was Ula Stöckl antreibt, den »Ungehorsam gegenüber willkürlichen Befehlen«, ein immer wiederkehrendes mächtiges Motiv in ihrer Welt. Antigone im ersten Kurzfilm, die Zauberin Kirke in ihrem fulminanten Langfilmdebüt NEUN LEBEN HAT DIE KATZE und Medea in DER SCHLAF DER VERNUNFT – Ula Stöckls Lieblingsfigur in der Mythologie nachgezeichnet – beschreibt der Beitrag von Uta Ganschow als ein »Angebot«, das die einengende Wirklichkeit transzendiert. Diese Kinofiguren sind, teils als radikale Tragödinnen, teils als hyperreale Kitschfantasien, große Ikonen weiblicher Entschlusskraft, die in den Visionen, Tagträumen, Parallelrealitäten der Protagonistinnen spuken und auf den Verlust bzw. die Nichtexistenz von realen und historischen Vorbildern verweisen.

3. »Vielfalt ist Reichtum«

Es ist kein Zufall, dass Ula Stöckls Langfilmdebüt NEUN LEBEN HAT DIE KATZE, ihr Abschlussfilm an der Ulmer Hochschule, im Mittelpunkt mehrerer Beiträge dieses Hefts steht. Bärbel Freund folgt in ihrem Beitrag den Sprüngen und Brüchen, der Lässigkeit und Improvisationslust, mit der der Film die emotionale Achterbahnfahrt zweier gegensätzlicher Freundinnen im Aufbruchsjahr 1968 skizziert. Sie kompiliert ein amüsantes Zeitbild aus Erinnerungen des Kameramanns Thomas Mauch an die Dreharbeiten in München und Umgebung, an das Spiel von Kristine de Loup und Liane Hielscher und Ula Stöckls Gespür für »radikale« Pop-Farben.

 Zwei Freundinnen driften in diesem Film durch München und die sommergelben Rapsfelder draußen, auf verschiedenen Wegen auf der Suche nach sich selbst, nach erfüllender Arbeit und Sinnlichkeit. Männer, die sie weder gängeln wollen noch langweilen, wären »ein’ Weltrevolution«, wie Ula Stöckls Protagonistin Anne (Kristine de Loup) einmal bemerkt.

 Die Regisseurin Tatjana Turanskyj schildert in einem enthusiastischen Fanbrief, wie nah ihr die Zerbrechlichkeit und Stärke der Frauenfiguren von Ula Stöckl ist, wie unmittelbar sich ihre Stimmung zwischen Gelächter, Krise und Rebellion überträgt und wie anregend der Witz ihres Cinéma vérité wirkt, wenn Anne und ihre Freundin Katharina (Liane Hielscher) auf die sehr von sich überzeugten Männer des Films treffen.

 Borjana Gaković interessiert sich in ihrem Beitrag für die Spannungen und Dissonanzen zwischen unterschiedlichen fiktionalen Ebenen in NEUN LEBEN HAT DIE KATZE. Sie analysiert die Sprünge zwischen Tagtraum- und Wirklichkeitsszenen als ein kühnes Experiment, Alltagserfahrungen und noch wenig greifbare utopische Selbstbefreiungsträume aus dem Kontrast der Erzählebenen heraus anschaulich zu machen.

 »Nie hatten Frauen so viele Möglichkeiten, zu tun, was sie wollen. Aber wissen sie, was sie wollen?«, beschrieb Ula Stöckl im Nachhinein die Gefühlswelt ihrer Protagonistinnen. Vielleicht sind die Zeichen heute leichter entzifferbar: Ula Stöckls Frauen hielten wenig vom Ehemodell, sie wollten sich in sinnvoller Arbeit verwirklichen und strahlten eine ansteckende, autoerotisch grundierte Sinnlichkeit aus. Die Regisseurin unterlief selbstbewusst die voyeuristischen Konzepte zur Darstellung weiblicher Figuren, wie sie z. B. in Filmen der Nouvelle Vague üblich waren – von den Körperbildern der Softpornos jener Jahre ganz zu schweigen.

  Avant la lettre der erst vage im Entstehen begriffenen Frauenbewegung erfasste Ula Stöckl den Wunsch nach weiblicher Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit. Etwas musste sich ändern, es war nur noch nicht greifbar.

NEUN LEBEN HAT DIE KATZE gilt heute als lange unterschätzter Einstand von Ula Stöckl in den Neuen Deutschen Film, die Kritik nahm ihn nach der Premiere bei der Internationalen Mannheimer Filmwoche 1968 allerdings reserviert auf. In dem gefühlten Revolutionsjahr wurden auf dem Festival Spenden für die Fahrräder des Vietcong gesammelt und Rosa von Praunheim und Werner Schroeter erhielten Auszeichnungen, Ula Stöckls spät nachts präsentierter Film rief überhebliche Reaktionen hervor, wie Borjana Gaković in ihrem Beitrag rekapituliert.

 Ula Stöckls Talent hätte gefeiert und gefördert werden sollen, aber sie war ihrer Zeit voraus. Der Film scheiterte zudem – außerhalb des idealistischen Biotops der Ulmer Hochschule – am maroden Verleihsystem der Bundesrepublik jener Ära. Im Jahr nach Einführung des Farbfernsehens ging der kleine Atlas-Verleih Bankrott, der den Film ursprünglich herausbringen wollte, andere Verleiher zogen das sichere Geschäft mit Softpornos und Lausbuben-Filmen vor.

 Ula Stöckl blieb eine Außenseiterin, das Ringen um Auszeichnungen, Finanzierungsquellen, internationales Image und Diskurshoheit im engen Feld der bundesdeutschen Filmkultur machten die männlichen Regiekollegen des Neuen Deutschen Films unter sich aus. Ein Klassiker sei aus NEUN LEBEN HAT DIE KATZE nicht geworden, urteilte die Filmhistorikerin Daniela Sannwald im Rückblick.10

 Erst zehn Jahre nach dem missglückten Start öffnete sich mit den parallelen Premieren von Helke Sanders DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEITREDUPERS und Margarethe von Trottas DAS ZWEITE ERWACHEN DER CHRISTA KLAGES im Internationalen Forum des Jungen Films der Berlinale 1978 für kurze Zeit ein neues Fenster für die Filme deutscher Filmemacher*innen.

NEUN LEBEN HAT DIE KATZE blieb Ula Stöckls aufwändigste und anspruchsvollste Produktion. Keiner der nachfolgenden Filme konnte an den cineastischen Reichtum und die Vielschichtigkeit dieses Schlüsselfilms anknüpfen. Der Kampf um Anerkennung, Arbeitsmöglichkeiten und autonome Kreativität blieb eine Machtfrage, die ihre Karriere über 50 Jahre prägte. Dennoch hielt sie unter den schwierigen Bedingungen an ihren Leitmotiven fest.

 Eine Idee des Autorenkinos in der 68er-Emphase war, Arbeit und Leben zu einem Ganzen zu verbinden. Mit Edgar Reitz, an dessen Spielfilm MAHLZEITEN sie noch während des Studiums als Regieassistentin mitgearbeitet hatte, ließ sich Ula Stöckl in der frustrierenden Filmkrise ihrer ersten Berufsjahre auf ein kühnes Kollektivexperiment ein. Auch Reitz’ Folgefilm nach dem großen Erfolg von MAHLZEITEN, die E.-T.-A.-Hoffmann-Bearbeitung CARDILLAC (1969), fiel der schlechten Verleihsituation zum Opfer. Als trotzige Reaktion darauf beschlossen beide, mit einem von der Bundesfilmpreisprämie für CARDILLAC finanzierten Filmcoup »das Kino zu verlassen«11. Ula Stöckls französische Freundin Kristine de Loup, das einprägsamste Gesicht in NEUN LEBEN HAT DIE KATZE, wurde für das Projekt der Kurzfilmserie GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND gewonnen, für das Ula Stöckl als Drehbuchautorin und Regisseurin, Edgar Reitz als Kameramann, Produzent und ebenfalls Regisseur verantwortlich zeichneten. 22 Filme von unterschiedlicher Länge, gedreht und montiert mit Edgar Reitz’ 16-mm-Equipment, wurden innerhalb von 18 Monaten im Münchener Szenelokal Rationaltheater zur Aufführung gebracht. Die Gäste konnten anhand der ausliegenden Filmliste das jeweilige »Abendmenü« wählen, die Reihenfolge der Filme wurde durch die Stimmenzahl bestimmt.

 Im vorliegenden Heft beschäftigt sich Sophie Charlotte Rieger aus der Perspektive einer Queer-Feminist*in mit der anarchistischen Kunstfigur, die Kristine de Loup in dem wilden Genre-Mix der Serie verkörpert.

 Fast 50 Jahre nach dem experimentellen Rundumschlag des Gruppenprojekts gegen die andauernde Macht der Schwarzen Pädagogik, gegen heuchlerische Sexualmoral, Geschlechterstereotypen und Gewalt regen die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND auch Uta Ganschow, Bettina Henzler und Toby Ashraf zu Kommentaren aus heutiger Sicht an.

 Das Kübelkind, eine weibliche Pikaro-Figur im symbolisch aufgeladenen signalroten Nachtkleid, die mit ihrer ikonischen schwarzen Perücke auch wie eine grelle Parodie auf das Starkino à la Elizabeth Taylors Cleopatra bis zu Godards Nana S. wirkt, scheint nach wie vor zu polarisieren.

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Punktetabelle in der Juni-Ausgabe der Filmkritik (1971)

Es kann als Opfer der sexistischen Hegemonialkultur gedeutet werden, aber auch als archetypische Anarchistin und befreiende Fantasie, als unverwüstliche pure Kinofigur, die die Chiffren tradierter Märchen, Kinogenres und Alltagszenarios in drastischem Camp-Stil ans Licht bringt.

 Thema des Beitrags von Bettina Henzler ist in erster Linie das zweite Gruppenprojekt DAS GOLDENE DING (1971), für dessen Drehbuch Ula Stöckl verantwortlich zeichnete, ohne allerdings im Lauf der Arbeit an der Regie beteiligt zu werden. Der Film ist die Adaption der antiken Sage um Jason und Medea, die Hüterin des Goldenen Vlieses, das von Jason geraubt wird. Das tragische Geschehen um die Eroberung des mythischen Göttersymbols, Medeas Liebe zu Jason und ihre blutige Rache, die Tötung ihrer gemeinsamen Kinder, wird bei Stöckl und den Regisseuren Edgar Reitz, Alf Brustellin und Nicos Perakis von Kindern dargestellt.

 Bettina Henzler folgt der Spur der intensiven Auseinandersetzung mit Kinder- bzw. kindlichen Figuren in Ula Stöckls Werk. Seit Kristine de Loup in NEUN LEBEN HAT DIE KATZE und GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND setzte sie sich fasziniert mit Stoffen und visuellen Erzählformen auseinander, in denen sie das utopische Potenzial ihrer antiautoritären Energie spiegelt und ihre Zurichtung und Unterordnung unter geschlechtsspezifische Normen problematisiert. Der Beitrag stellt dieses bislang noch kaum untersuchte Interesse in den größeren Horizont des Neuen Deutschen Films, in dem Kinder eine überraschend kontinuierliche, vielschichtig modifizierte Rolle gespielt haben.

4. »Offene Liebeskonzepte«

Bärbel Freund und Toby Ashraf öffnen in den weiteren Beiträgen die Perspektive auf Ula Stöckls Autor*innenfilme in den 1970er Jahren und später. Sie selbst schrieb über die Fernsehfilme bis 1978, dass sie darin die »Schwierigkeiten« untersucht habe, »denen Frauen in ihrer sexuellen Selbstbefreiung oder in einem offenen Liebeskonzept begegnen«. Diesen roten Faden sieht sie in dem verschollenen Film SONNTAGSMALEREI (1971), in HASE UND IGEL (1974), ERIKAS LEIDENSCHAFTEN (1976) und EIN GANZ PERFEKTES EHEPAAR (1974). In allen diesen Filmen stehen Frauen im Mittelpunkt, die »das emotionale Nachsehen« haben, weil es ihnen nicht gelingt, ihre Interessen wahrzunehmen.

 Bärbel Freunds Beitrag zu ERIKAS LEIDENSCHAFTEN greift Erinnerungen des Kameramanns und Produzenten Thomas Mauch an die Entstehung des – in Zeiten des Farbfernsehens – ungewöhnlichen Schwarz-Weiß-Films auf. Anschaulich schildert der Werkstattbericht, wie das Team um Ula Stöckl und ihre Protagonistinnen Vera Tschechowa und Karin Baal die Begegnung zweier Freundinnen auf engstem Raum in der Münchener Wohnung der Regisseurin realisierten. Es geht um ihre verloren gegangene Jugendfreundschaft, ihre gegenseitige Abrechnung miteinander und mit ihren verlorenen Träumen von einem erfüllten Leben, sinnerfüllter Arbeit, Autonomie und Liebe.

 Auch Toby Ashraf geht in seiner ausführlichen Passage durch Ula Stöckls Leitmotive auf ERIKAS LEIDENSCHAFTEN ein. Sein Interesse gilt den Figuren und Konstellationen ihrer Filme, die auf den ersten Blick vielleicht eine queer-feministische Lesart nahelegen, avant la lettre in ihrem Werk präsent. Der Beitrag streift Dokumentarfilme wie ihre beiden Beiträge zur legendären Fernsehreihe UNERHÖRT (1987), in denen Ula Stöckl die Geschichte der Frauenbewegung in der Weimarer Republik erforschte, oder als Beispiel für ihre widerspenstigen Kinderfiguren das schöne Roadmovie DER KLEINE LÖWE UND DIE GROSSEN (1973), in dem sich ein androgyner elfjähriger Wuschelkopf auf der Fahrt nach Rom mit bester antiautoritärer Debattierlust seinen Onkeln widersetzt, die einen typischen kleinen Mann aus ihm machen wollen.