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AUFWACHEN

STIMMEN

FLASHBACK

CHRISTINA

PAPA ANTE PORTAS

EXKURSION

CUT

JUGENDALBUM

ASCHAFFENBURG

FLUG AN DIE THEMSE

SCHRÄG

REIZE

ERSTER SCHULTAG

ACHTZEHN

FREMDES FEST

PANTOFFELN IM SCHNEE

BAD GLEISWEILER

REDEN UND SÄGEN

HERZKLOPFEN

HALBZEIT

HEIMELIGER ABSTURZ

RETTUNGSANKER

WOHLFÜHLORT

LIEBESFLUCHT

KARIBISCHE FREIHEIT

LETZTE AUSFAHRT ELBA

FLIESEN UND DRINKS

ZWEI PAAR SCHUHE

HINTER DER THEKE

ZUM SCHLUSS


Über die Autoren

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

ZUM SCHLUSS

Das Dolomitengolf Hotel & Spa in Lavant liegt an der Südseite der Alpen, am Fuße der Lienzer Dolomiten; von meinem Zimmer aus eröffnet sich ein Blick auf das schroffe Bergmassiv und die Golf-Greens, die sich wie sattgrüne Teppiche um die Hotelanlage schmiegen. Für unsere anspruchsvollen Gäste ist das hier ein »Wohlfühlort« und es ist mein Anliegen, meinen Teil dazu beizutragen. Das Resort gilt unter den Golfern Europas als Top-adresse, und das nicht nur wegen seines großzügigen 36-Loch-Kurses: Auch die Küche, der Service und die Bar haben einen Ruf zu verteidigen; ich bin also auf ganzer Linie gefordert und das gefällt mir. Mein Job als Chef der Bar ist wie für mich maßgeschneidert: Da sind die täglichen Begegnungen mit den Gästen, die mich jeden Tag aufs Neue begeistern für meinen Beruf. Daneben bin ich auch als kreativer Kopf gefordert: Das Erfinden neuer Cocktails gehört in mein Aufgabengebiet, ebenso das Verkosten der aktuellen Weine und die Auswahl der Spirituosen. Ich habe die Aufgabe gefunden, nach der ich so lange gesucht habe. Dennoch weiß ich, dass die Reise bestimmt noch nicht zu Ende ist. Dass ich mich weiterentwickeln möchte und die Neugier nur temporär gestillt ist. Zunächst mache ich meine Weinsommelierausbildung und habe mir auch den Diplom-Sommelier als Ziel gesetzt.

Ich sitze am Schreibtisch, vor mir liegt das Manuskript: Es ist das Logbuch meiner Reise. Ich habe mir selbst versprochen, das hier alles aufzuschreiben und es fühlt sich richtig an, dass ich es getan habe. Ich möchte das Geschehene für mich und die Menschen, die mir etwas bedeuten, in eine Form bringen. Manches habe ich ausgespart, um die Geschichte schlank zu halten; wer nicht drin vorkommt, möge mir das verzeihen – ich habe niemanden vergessen.

Vielleicht ist dieses Buch der Versuch, die Erlebnisse dieser Odyssee vor dem erneuten Vergessen zu bewahren. Auch wenn dies noch nicht das Ende meines Abenteuers ist, ist es doch Zeit für eine Bilanz.

Vor rund dreitausend Tagen bin ich aufgewacht in einem Krankenhausbett, im Nebel- und Niemandsland, ohne Koordinaten, ohne Zeit- und Raumgefühl. Mit einem Hirn, das zwar denken und die Sprache konnte, aber das Bewusstsein für die eigene Identität verloren hatte. In einem Körper, der mir fremd war, mit einem Namen, der nicht meiner war.

Die ersten Wochen waren ein hilfloses Treiben. Statt des ersehnten Wiedererkennens herrschte in mir die Ratlosigkeit angesichts einer fremden, beliebig erscheinenden Umwelt. Jede Nacht setzte es Stürme und Gewitter im Kopf, die Tage waren matt, einsam und voller Befremden.

Aber da war meine Familie, allen voran meine Mutter. Sie waren mir eine »Flamme des Vertrauens« und die einzige Konstante in einem ansonsten absurd erscheinenden Vakuum. Ich möchte hier wiederholen, was ich an anderer Stelle schon gesagt habe: Ohne meine Familie gäbe es mich jetzt und hier nicht. Mein Dank geht an meinen Papa, an Thomas, an Silvia und nicht zuletzt an meine geliebte Schwester.

Zugegeben: Es war ein befremdlicher Start für mich – mit diesen Menschen, die sich als »meine Familie« ausgegeben haben – und die ich doch von nirgendwoher kannte.

Das Vertrauen war ein zartes Pflänzchen zu Beginn dieser »Liebesgeschichte«, aber diese Pflanze ist stetig gewachsen und sie hat mich genährt.

Die Jahre vor meinem Unfall sind unbekanntes Land geblieben; ein Zurück dorthin blieb mir verwehrt, die innere Landkarte blieb verschollen. Oft stelle ich mir die Frage: Vermisse ich diesen Teil meines Lebens?

In den Wochen nach dem Aufwachen habe ich mich wie ein Schiffbrüchiger an die Hoffnung geklammert, dieser alte Kontinent möge wieder vor mir auftauchen und mich retten aus der Orientierungslosigkeit. Aber mit jeder Meile, die ich weitergesegelt bin, wurde dieser Wunsch blasser; jede neue Entdeckung hat meinen Schmerz über den Verlust der Vergangenheit ein Stück gestillt, hat mir neuen Boden unter den Füßen geschenkt. Vermisse ich also die ersten siebzehn Jahre meines Lebens? Gegenfrage: Kann man etwas vermissen, was man nicht kennt?

Wer bin ich gewesen vor diesem Unfall?

Ich war tatsächlich ein anderer: Der alte Max war strukturiert, weniger spontan und sportbesessen. Und er hatte klare Absichten: Er war ein marathonbegeisterter Steuerfachangestellter, ein gewissenhafter Fußballtrainer, er hatte eine Clique und Kleinost­heim war sein Biotop; die große Welt hat ihn offenbar wenig gereizt. Meine Mutter sagt, sie hatte zwei Söhne. Der erste ist verstorben, aber jetzt hat sie mich, den neuen Max.

Den neuen Max treiben ganz andere Sachen um: Er ist neugierig und reiselustig, er genießt das Ungeplante, die spontanen Begegnungen, er liebt Zigarren und Drinks, er ist ein Genussmensch. Und er wird nie wieder einen Marathon laufen oder in einem Büro glücklich werden wollen.

Die Begegnung mit neuen Menschen war, neben meiner Familie, meine wichtigste Lebensnahrung der letzten Jahre, mein eigentlicher Aufbruch ins Neue. »Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen, wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht«, sagt Goethe. Es ist das Aktive des Kennenlernens, der Moment. Unzählige Begegnungen, wichtige und spontane, beiläufige und freundschaftliche, haben mich bereichert in den letzten acht Jahren, sie haben mich als Mensch wieder vernetzt; das Gefühl der Verlorenheit hat sich so aufgelöst, ich weiß jetzt, dass ich »dazugehöre« und nicht länger als Fremdkörper durch Raum und Zeit drifte. Und so ist es kein Zufall, dass mir diese Begegnungen quasi zur »Berufung« geworden sind: Ich genieße es, Gastgeber zu sein, meinen Gästen an der Bar ein gutes Gefühl zu geben; hier und da stelle ich ein paar Fragen und lade sie ein zu einem Austausch; mal bleibt es beim Small Talk, aber immer wieder entstehen Gespräche mit Tiefgang, die mir Einblick geben in ganz andere Lebenswege; mein eigenes Schicksal relativiert sich in diesen Momenten.

»Solange man bewundern und lieben kann, ist man immer jung«, sagt der Cellist Pablo Casals. Auch dieses Zitat ist mir zum Motto geworden. Die Neugierde, die Freude am »Wundern«, die Hinwendung auf das Neue: All das war zu Beginn meiner Reise keine Selbstverständlichkeit – ganz im Gegenteil, es musste erlernt, trainiert werden. Es war die schmerzhafte und notwendige 180-Grad-Drehung: das Loslassen der alten Identität; das Neuentdecken und -erfinden der Welt, in der ich heute lebe. Zu Beginn war da bedrohlich viel Weiß auf der Landkarte um mich herum. Jetzt, einige Jahre später, hat diese Landkarte Orte, Farben, Einträge und Erlebnisse zu verzeichnen; ich bin unterwegs und die Karte hat noch viel Platz. In diesem Sinn ist jeder neue Tag ein Anfang, ein weiterer Abschnitt dieser rätselhaft schönen Reise, die wir »das Leben« nennen.

Ende

Zu guter Letzt möchte ich vielen Menschen Danke sagen für alles, was sie für mich getan haben. Dank ihrer Unterstützung kann man meine Geschichte auch kurz und knapp zusammenfassen: Kein Drama – Happy End!

Allen voran danke ich meiner Familie. Meiner Mama und meinem Papa. Der großartigsten Christina, meinem Schwesterherz. Die besten Papa 2 und Mama 2, Markus und Silvia – auch ihr seid meine Eltern. Meiner Oma, die mir so viel Kraft und Lebensmut geschenkt hat. Meinem Opa und all meinen Tanten und Onkeln. Den kleinen und großen Cousins und Cousinen. Meinem Lehrmeister Thilo und seinem Team. Meinen besten Freunden Victor und Marcus. Meinen besten Freundinnen Franzi, Michelle und Lisa. Bonny und Matthias. Bernhard und Jasmin. Rudi und Moni. Hans und Gabi. Markus und Moni. Stephan und Steffen. Achim und Franky. Siri und Men. Stephan und Felix. Ramazotti-Nico und Sunny. Steffi, Murat und Willi. All den Gästen und Freunden des 30 Leut’. Frank und dem moments-Team. Nathalie und Irena. Alexa und Natascha. Den Freunden und Bekannten aus Aschaffenburg: Doris und Frank, Marco und Markus, Jacqueline und Katrin, Dorothee und Nicole, Atty und Markus. Simone und Max. Anja und Elena. Den Radolfzeller Freunden: Daniel und Cengiz. Cinderella und Reiner. Niri und Yvonne. Madi und Kathi. Katrin und Simona. Sabrina und Tommy. Marie und Simona. Nicoleta und Mike. Den Fröschen von Radolfzell, in Hoffnung auf unser baldiges Wiedersehen. Und den neuen Kollegen und Freunden aus Osttirol. Peter, Conny und Rene. Bianca und Achim. Rolf und Attila. Yvonne und Andre. Cathrin, Markus und ihrer Cosima. Patrick und Neela, Romed mit Sonja. Joe und Berni. Susi und Stephan. Clemens und Ania. Lisa und Solveigh. Hanjo und unser Rückspiel. Und all euch anderen Kollegen und Gästen. Danke auch an Sascha und Uli für die motivierende und literarische Hilfe.

Es gibt noch so viele mehr und so wenig Platz. Allen nicht genannten, aber verbundenen Menschen auch ein herzliches Dankeschön!


Max Rinneberg mit Ulrich Beckers

Du wachst auf, und dein Leben ist weg

Die Geschichte meines Gedächtnisverlusts

Patmos Verlag

ÜBER DIE AUTOREN

Max Rinneberg, geboren 1990, aufgewachsen bei Aschaffenburg, ist nach einer Ausbildung zum Versicherungskaufmann nun als Weinsommelier in einem Osttiroler Golfhotel tätig.

Ulrich Beckers ist Autor, Musiker und Comedian. Er hat unter anderem für Murat Topal und Eckart von Hirschhausen als Texter und Ideengeber gearbeitet. Bei Patmos sind von ihm erschienen: Freddy Leck mit Ulrich Beckers: Nicht jeder Fleck muss weg. Und: Hans Jürgen Herber mit Ulrich Beckers: Der lange Abschied.

ÜBER DAS BUCH

Wie lebt man ohne Vergangenheit?

Durch einen Sturz auf den Kopf verliert der 17-jährige Max Rinneberg sein Gedächtnis. Als er nach kurzer Bewusstlosigkeit im Krankenhaus aufwacht, ist seine Lebensgeschichte, das Archiv seiner Erinnerungen, gelöscht. Er erkennt seine Eltern und Freunde nicht mehr. Er erinnert sich nicht an sein Leben, seine Hobbys, seinen Beruf vor dem Unfall. Mühsam und nicht ohne existenzielle Krise muss der heute 26-Jährige sein Leben neu erfinden. Eine ergreifende Geschichte, die die Frage nach der eigenen Identität auf ungewohnte Weise neu stellt.

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0873-2

IMPRESSUM

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Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

© 2017 Patmos Verlag,

ein Unternehmen der Verlagsgruppe Patmos

in der Schwabenverlag AG, Ostfildern

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

ISBN 978-3-8436-0873-2 (Print)

ISBN 978-3-8436-0874-9 (eBook)

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VORWORT

Stell dir vor, du wachst auf …

Jeden Morgen unseres Lebens passiert genau das: Wir tauchen auf an die Oberfläche, unser Bewusstsein meldet sich zurück. Und doch ist es unbeschreiblich: Was genau ist da los?

Wir waren weit weg und wir kommen wieder. Kaum zu fassen, was da alles geschieht, was unser Hirn leistet in einem einzigen Augenblick, dem des Erwachens:

Während der Körper langsam hochfährt und Beweglichkeit und Funktionsfähigkeit wiederherstellt, passieren in unserem Bewusstsein seltsame Dinge: Gerade noch waren wir im Nichts, waren Namenlose in schwarzer Leere, hatten kein »Ich« – und jetzt, einen Lidschlag später, setzt sich alles auf wundersame Weise zusammen: Wir erkennen uns wieder, benennen wieder Dinge, vernetzen alles mit allem, wissen und erinnern uns: Wer wir sind und wie wir heißen und wer die anderen sind, wie spät es ist, wo wir sind und was das alles zu bedeuten hat. Wir stellen erste Vermutungen an, was der heutige Tag uns wohl bringen wird. Eben noch waren wir ein unbeschriebenes Blatt und einen Moment später ist dieses Blatt voll, ist da wieder ein Skript, ein hochkomplexer Plan.

Wir erfinden uns neu und sind doch die Alten, bei jedem Erwachen, von null auf hundert im Bruchteil einer Sekunde.

Stell dir vor, du wachst auf. Und all das passiert nicht.

Wer sind wir – ohne die Erinnerung an unsere Lebensgeschichte? Ohne das innere Fotoalbum, die unzähligen Geschichten, Querverbindungen und Episoden? Ohne unseren Namen, ohne das Vertrauen in unsere Liebsten? Sind wir dann überhaupt »jemand« – oder fängt alles bei null an?

Ist so etwas wie Identität ohne die unzähligen Zusammenhänge unserer Lebensgeschichte überhaupt vorstellbar?

Die Idee, die eigene Vita auf Reset zu setzen, ist eine oft bemühte Fantasie. Man kennt sie als Handwerkszeug von Thrillerautoren: Der feindliche Spion gerät in Gefangenschaft und wird seiner Persönlichkeit beraubt; nach der Gehirnwäsche und mit neuer Identität ausgestattet, wird er zum perfekten Instrument seiner neuen Auftraggeber.

Ganz andere Gründe, zu vergessen, haben Menschen mit schweren Traumata: Für sie ist ihre Vergangenheit ein Quell des Leidens, sie sehnen sich nach der Befreiung aus den Klauen ihrer eigenen Geschichte. »Dissoziativ« nennt man diese Form der Amnesie, sie ist eine Art Notfallprogramm: das Vergessen als Ausblenden des Unerträglichen. Hypnose und andere Verfahren können in Einzelfällen helfen, traumatische Erlebnisbereiche neu zu entdecken, vielleicht auch neu zu bewerten.

Nicht wenige Berühmtheiten haben solche schweren Traumata im Gepäck ihrer Vita: Celebritys wie Michael Jackson haben ein Leben lang daran gearbeitet, sich selbst neu zu erfinden, um nicht die Last der alten Identität ertragen zu müssen.

Und dann sind da noch die Weisheitslehrer, die Philosophen und die Zen-Buddhisten: Für sie ist die Idee der eigenen Vergangenheit – genau wie die einer Zukunft – ein Produkt des Verstandes, eine Illusion. Die Vorstellung eines individuellen Selbst, das sich aus seiner eigenen Geschichte speist, empfinden sie als mentale und spirituelle Begrenzung, die es zu überwinden gilt: Nur das Jetzt zählt. Die Vergangenheit ist nicht real. So wenig wie die Zukunft. Nur im Moment gibt es die Befreiung von der Illusion einer eigenen Identität.

Aber was bleibt von uns – ohne diese Identität?

Als Max Rinneberg am 24. 10. 2008 nach einem Sturz auf den Kopf im Krankenhaus erwacht, sieht zunächst nichts nach einem medizinischen Drama aus: Der Siebzehnjährige hat nur eine kurze Phase in der Bewusstlosigkeit verbracht, es wird ein Schädel-Hirn-Trauma zweiten bis dritten Grades diagnostiziert. Die medizinischen Untersuchungen lassen auf keine direkte Hirnschädigung schließen, sein Körper ist nur leicht verletzt. Und er hat Schwierigkeiten, sich an irgendetwas vor dem Unfall zu erinnern.

Die Ärzte diagnostizieren das Ausbleiben der geistigen Orientierung als retrograde und temporär begrenzte Amnesie – das ist nichts Ungewöhnliches nach einer Gehirnerschütterung.

Doch das Vergessen entpuppt sich als langfristiges Problem: Max’ Erinnerungen an sein altes Leben bleiben auch nach Wochen aus. Das prozedurale Gedächtnis als Hort der Fähigkeiten und der Großteil der Wissenssysteme haben nur leichten Schaden genommen. Aber das biografisch-episodische Gedächtnis, das Archiv der persönlichen Lebensgeschichte, scheint komplett gelöscht.

Medizinisch ist der Fall ein Rätsel: Das »Vergessen« der eigenen Lebensgeschichte, also das dissoziative Verdrängungsvergessen ist normalerweise Folge einer psychischen Schädigung. Etwaige psychische Traumata sind aber in Max’ Leben nicht feststellbar.

Wie wird ein siebzehn Jahre junger Mann fertig mit dieser Situation? Was sind Max’ Schritte zurück ins Leben? Und was gibt ihm die Hoffnung wieder?

Stell dir vor, du wachst auf – und dein Leben ist weg.

AUFWACHEN

Am Anfang ist der Atem.

Es hebt und senkt sich, immer wieder. Luft strömt aus und ein. Macht wieder Platz für neue Luft, die einströmt und wieder hinausweicht.

Es ist ein Auf und Ab, ein tiefer Rhythmus, etwas, das aus sich heraus lebt und pulsiert. Es ist beruhigend und köstlich: Frische Luft belebt mich. Sie ist alles, was ich brauche.

Der Sauerstoff ist mein Elixier: Wie leuchtende Flüssigkeit strömt er in meine Lungen, fließt durch alle Bahnen, Adern, Verästelungen, wie ein breiter Strom mäandert er sich bis in die tiefsten Niederungen meiner Körperlandschaft; er vergoldet alles und erweckt es zum Leben.

Mir wird warm und ich habe ein gutes Gefühl.

Ich atme.

Mein Körper erwacht, die Organe regen sich. Ich spüre das Herz, das auf dem Weg ist und schlägt, eine tiefe Trommel in meiner Mitte, es ist im Einklang mit dem Atem. Ich muss nichts tun: Es arbeitet und lebt aus sich. Mein Körper hat einen Plan, alles ist im Fluss. Und ich stehe am Rande dieses Flusses, staunend und sprachlos.

Der Fluss ist stark und er ist eine Einladung an mich: Willkommen im Leben.

Ich habe ein gutes Gefühl. Ich lebe und ich will leben.

Irgendwo setzt das Denken ein.

Worte bilden sich, klar und deutlich, sie reihen sich aneinander, bilden Sätze, einfache Gedanken. Es sind Vermutungen und Fragen.

Wie arbeitet dieser Körper? Bin ich sein Bewohner? Wie hängt das alles zusammen?

Bewusstsein meldet sich: Wer ist das, der diese Fragen stellt? Bin das ich? Und wer ist ich?

Da ist diese weite Ahnung, dass etwas auf mich zukommt: das Leben. Ich bin dabei, Erfahrungen zu machen. Ich bin neugeboren. Ich bin unwissend und neugierig.

Ich bin frei.

Mein Denken macht jetzt eine Pause. Irgendwo ist da noch etwas Größeres, etwas außerhalb von mir. Ich kann es spüren. Es ist im ersten Moment anders und es verängstigt mich, mein Atem stockt: Da ist Umgebung: die Welt draußen, außerhalb meines Körpers.

Gerade noch war ich tief im Innen, zeitlos und im tiefen Frieden. Nun ist es das Jetzt, das Hier, der Moment: Ich erwache.

Ich lasse mich darauf ein, beginne, diesen Moment, diesen Ort wahr werden zu lassen. Da ist ein deutlicher Unterschied: Das, was ich im Innern spüre, in meinem Körper. Und dann das andere, das, was außer mir ist. Was ist da?

Ich rieche, lausche, fühle.

Ich liege da, auf meinem Rücken, mein Körper ist gebettet. Von allen Seiten ist er in eine Hülle verpackt, in ein Zelt aus Watte. Irgendwo unten, an meinen Zehenspitzen, fällt diese mollige Temperatur ab, die Zehen sind kühler, fast ein bisschen frisch ist es dort. Dort endet der Kokon, öffnet sich dem Außen. Meine Arme liegen links und rechts passiv neben meinem Körper, lang und ausgestreckt. Der linke fühlt sich kühler an als der rechte. Wie an den Zehenspitzen zieht es auch dort, scheint auch der linke Arm nicht unter diesem wärmenden Schirm von Watte zu liegen. Und noch etwas ist anders. Ein leise pochender Schmerz meldet sich. Irgendetwas Spitzes steckt dort in meinem linken Unterarm. Ich kann es nicht sehen, aber ich weiß, dass es da ist. Eine Flüssigkeit dringt durch diesen Kanal in meinen Arm und breitet sich von dort mit jedem Schlag meines Herzens in meinem Körper aus. Ich weiß nicht, was es ist. Aber es tut mir gut.

Vom Hals abwärts bin ich eingepackt in diesen Schutzmantel; das, worauf ich liege – was immer das ist –, bietet mir weichen Halt und Schutz, die Watte um mich herum ist meine zweite Haut, mein Pelz, meine Höhle. Ich weiß, dass ich diese Hülle brauche: Sie bietet mir Schutz und Wärme. Ich brauche diese Energie, um zu leben. Alles ist gut.

Da sind noch andere Empfindungen. Die sind nicht gut.

Ich spüre ein schmerzhaftes Pochen und Stechen an meinem Kopf. Am Kinn nervt da außerdem ein Kratzen, ein Jucken. Auch hier scheint etwas in mir zu stecken. Es ist ein anderes Stecken als das im linken Arm. Da spannt sich etwas quer über die Haut: Irgendwas wird hier zusammengezogen, geklammert.

Viel größere Sorgen macht mir dieses Stechen im Kopf; es ist intensiver als alles andere. Irgendwo im Zentrum meines Kopfes wohnt es, von hier sendet es seine Wellen wie ein Funksignal, bestrahlt die äußeren Zonen meines Schädels. Wo genau sitzt dieses Ding? Der Schmerz breitet sich knapp links der Mitte meines Kopfes aus. Es ist ein präsenter, pulsierender Schmerz, er ist stark und fordernd, er raubt mir Kraft und Nerven. Ich mache mir Sorgen: Der Schmerz saugt meine Energie auf. Werde ich dieser Attacke auf die Dauer gewachsen sein? Noch liege ich geschützt in meinem Wattenest, aber der Feind ist in meinem Kopf.

So kann es nicht weitergehen. Ich beschließe, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf das, was da noch ist, außerhalb von mir.

Meine Zehen, mein Kopf, mein linker Arm sind offenbar nicht im Innern des Schutzzeltes, sie ragen irgendwo ins Außen.

Da ist kühle, frische Luft.

Ich sauge die Raumluft ein, schnüffele sie prüfend.

Ich rieche! Seltsam klar und streng, fast beißend ist die Luft. Wo bin ich, was ist das für ein Raum? Es ist der Geruch von Sterilität und Hygiene. Noch kann ich diesen Geruch nicht zuordnen.

Jetzt öffnet sich ein weiterer Kanal: Der Druck weicht aus meinen Ohren, sie sind frei und tasten den Raum ab …

Ich höre – zum ersten Mal in meinem Leben! Was ist da, in diesem Raum?

Es ist ruhig – aber es ist nicht still. Was ich höre, ist nicht hier drinnen. Es kommt von draußen: Da ist ein Rauschen, Streicheln und Rascheln, mal leise und zart, dann wieder kräftig und bestimmt. Es ist der Wind.

In meinem Innern lausche ich weiter dem Pulsieren meines Herzens, dem Auf und Ab des Atmens; es ist wie Musik, ruhig und sanft. Und diese Musik löst in mir einen tiefen Frieden aus.

Die Neugierde meldet sich: Was ist das überhaupt für ein Raum, in dem ich hier liege? Und woher kommt dieses Windgeräusch?

Ich will es sehen.

Meine Augenlider sind träge, sie wollen nicht loslassen voneinander.

Schließlich öffne ich die Lider, zum ersten Mal.

Blendend hell ist es da draußen, ich schließe die Augen wieder, wage blinzelnd einen zweiten Anlauf: Es ist die weiße Decke über mir, einfarbig und flach; sie ist alles, was ich sehe.

Doch einfach weiß ist sie nicht: Der helle Putz ist geriffelt, gestreift, mal glatt, dann wieder pockennarbig und unregelmäßig wie eine Mondlandschaft. Tausend Geschichten stehen da geschrieben, eine ganze Welt auf eineinhalb Quadratmetern. Wie kann so etwas Simples so komplex sein? Wahnsinn.

Ich senke den Blick, in dem ich meinen Kopf anwinkele. Ich bin in einem mittelgroßen Zimmer: weiße Einbauschränke, eine Nische mit Sitzgruppe, eine Tür. Und da ist das große Fenster zu meiner Linken, mein Auge in die Welt da draußen.

Ich sehe einen wunderschönen Herbstmorgen. Himmelblau strahlt das Firmament, schwere Wolkenberge in bleigrau, taubenblau, schieferfarben türmen sich davor auf, ziehen vorbei wie eine massige Herde. Bäume wiegen sich, tanzen ausgelassen mit goldenem, orangem, gelbem Blattwerk. Es ist eine Sinfonie und der Wind ist ihr heimlicher Dirigent. Ich kann mich kaum sattsehen an so viel Schönheit.

Ich lasse ab von der berührenden Welt da draußen, kehre zurück in den Raum. Ich bin gespannt auf meinen Körper. Ich habe ihn von innen erforscht und jetzt kann ich es kaum erwarten, das Erspürte von außen wahrzunehmen.

Ich schaue an mir hinab, entlang der blassgelben Bettdecke.

Weit unten, am Ende des Lakens sehe ich zwei Füße. Irgendetwas stimmt hier nicht: Wenn das meine Füße sind, wieso sind sie dann so weit weg von mir? Ist das überhaupt mein Körper?

Ich prüfe nach, wackele mit dem linken, dann mit dem rechten Fuß, bewege die große Zehe auf beiden Seiten: kein Zweifel, das sind meine Füße, das bin ich.

Ich kann es kaum fassen: Ich stecke offenbar im Körper eines Erwachsenen! Das ist zutiefst verwirrend! Bin ich nicht gerade erwacht, habe ich nicht eben zum ersten Mal gerochen, gehört, gesehen? Wie kann das sein, wie passt das alles zusammen?

Die gelbe Bettdecke reicht mir bis zum Hals hinauf, sie umschließt meinen ganzen Körper. Das erklärt, wie dieses wohlige Gefühl der Schutzhülle zustande kommt. Nur der linke Unterarm schaut aus der Daunendecke heraus. Und auch hier erkenne ich den Grund der Kühle, des metallischen Stechens im Arm. Dort steckt eine kleine Nadel, an der ein Schlauch hängt. Von dort rinnt etwas in meinen Körper. Die Flüssigkeit tut mir gut. Alles ist gut, ich bin einverstanden.

Was mich weit mehr beunruhigt, ist dieses Gefühl, in falschen Körper zu wohnen.

Sollte ich nicht ein kleines Baby sein, das im den Armen seiner Mutter, seines Vaters liegt? Schutzbedürftig und zart? Bin ich nicht gerade erst geboren worden?

Es befremdet mich. Unerklärlich ist das alles, ich habe quälende Fragen und keine Erklärung. Bis hierhin war doch alles gut: Ich bin aufgewacht und angekommen; ich will leben, teilnehmen an der Welt da draußen. Und jetzt das.

Etwas macht sich in mir breit. Es ist ein neues, unangenehmes Gefühl, das keinen Namen hat. Und dieses Gefühl ist eindeutig nicht gut.

Ich bin verwirrt. Die behütete Geborgenheit, die unschuldige Neugier des Erwachens ist verloren, sie ist etwas anderem gewichen, sie lässt mich erkalten. Etwas Größeres hat den Raum betreten und stellt mich vor unlösbare Fragen.

STIMMEN

Doch ich habe keine Zeit, mich weiter damit zu beschäftigen, denn da ist eine andere Wahrnehmung.

Ich höre Stimmen, zwei Stimmen. Verstehen kann ich sie nicht, sie klingen gedämpft, sind zu weit weg. Sie kommen von irgendwo außerhalb dieses Zimmers. Jetzt werden sie lauter und klarer. Nun sind sie unmittelbar vor der Zimmertür. Ich bilde mir ein, die ersten Wortfetzen zu verstehen. Doch dann verstummen sie mit einem Mal. Warum reden die Stimmen nicht weiter? Haben sie etwas zu verheimlichen? Ahnen sie mein Lauschen? Es fühlt sich nicht gut an.

Einen kurzen Moment später registriere ich das mechanische Klicken der Türklinke. Ein kleiner Windhauch stößt in den Raum, bewegt die Luft bis zu meinem Bett. Dann höre ich Schritte auf dem kautschukartigen Boden, gepaart mit leisem Quietschen. Sind das Gummistiefel? Noch kann ich niemanden sehen, jetzt öffnet sich die Tür und die beiden Unbekannten kommen herein.

Eine Frau und ein Mann betreten den Raum. Ich schätze beide auf Mitte oder Ende vierzig. Mein Blick wandert vom Gesicht der Frau zu dem des Mannes und wieder zurück; ich kenne weder sie noch ihn. Beide Gesichter sind gezeichnet von einer gewissen Hilflosigkeit, vielleicht ist es auch Müdigkeit. Ich bemühe mich, etwas Markantes in ihren Gesichtern zu entdecken, etwas, das ich schon kennen könnte. Es misslingt.

Die Frau und der Mann stehen jetzt auf der rechten Seite meines Bettes; die Frau auf der Höhe meiner Hüfte, der Mann zwei Schritte dahinter, am Fußende. Er bückt sich kurz, stellt einen Rucksack ab. Jetzt schauen mich beide an. Es fühlt sich noch immer nicht gut an. Was passiert hier?

Die Frau greift jetzt mit ihrer Rechten nach meiner Hand, die ich inzwischen aus der Bettdecke genommen habe. Ich lasse sie gewähren. Ihre Hand ist warm und trocken, sie umfasst meine Finger, umschließt dann die ganze Hand. Es fühlt sich gut an.

Die Frau schenkt mir ihre ganze Aufmerksamkeit, da ist viel Wärme in ihrem Blick.

Sie fragt: »Wie geht es dir?«

Es sind meine ersten, klar gehörten Worte. Es ist eine Frage. Und ich bin gemeint. Ich will so ehrlich wie möglich antworten – und forme meine ersten Worte auf dieser Welt:

»Mir tut der Kopf weh. Er pocht unglaublich stark und es drückt. Mein Daumen hier« – ich zeige ihr den rechten Arm und recke den Daumen hoch –, »der pocht auch sehr. Mein Kinn, das Knie aber auch. Außerdem bin ich sehr müde.«

Die Antwort der Frau ist ein aufmunterndes Lächeln, ein bestätigendes Nicken.

»Das wird alles wieder.«

Ich schaue den Mann an, auch er nickt jetzt und bemüht sich um ein Lächeln. Er wirkt ein wenig unbeholfen, aber ich habe, genau wie bei der Frau, keinen Zweifel daran, dass er es ehrlich meint: Beide möchten mir offenbar ein Gefühl von Sicherheit und Ruhe vermitteln. Das ist gut.

Die Frau hat fast schulterlanges, kastanienbraunes Haar. Sie trägt eine schwarze, rechteckige Brille, ihre Nase ist etwas breiter als die des Mannes. Von der Nase abwärts zu den Lippen verlaufen zwei Lachfalten; offenbar hat sie Freude im Leben. Ihre braunen Augen strahlen Güte aus, aber da ist auch Sorge in ihrem Blick. Sie trägt eine weiße Bluse und eine braune Fleecejacke, dazu graublaue Jeans.

Der Mann hat dünnes, braunes Haar, das stellenweise ins Graue wechselt, er trägt einen Dreitagebart. Sein Blick ist unstet, er wirkt nervös.

Gekleidet ist er klassisch: kariertes Hemd, darüber ein Rundhals­pullover in schlichtem Grau, dunkle Jeans und braune Schuhe. In seiner Hemdtasche scheint etwas zu stecken, vielleicht ist es ein Mobiltelefon. Über seinem Arm trägt er noch die beiden Jacken. Doch das alles sagt mir nichts, ich kenne diese Menschen nicht.

Meine rechte Hand ruht noch immer in den Händen der Frau. Jetzt spüre ich etwas Eigenartiges. Es ist ein kurzer, warmer Impuls, der von der Frau ausgeht. Ich weiß nicht, ob sie dasselbe spürt wie ich: Sie entzündet in mir etwas, es ist ein Funken, ein Lichtlein; ich nenne es die Flamme des Vertrauens. Es ist ein sehr gutes Gefühl.

Mein Blick wandert zurück zum Gesicht der Frau. Ich will nur das eine wissen – es platzt aus mir heraus, seit Minuten kann ich nichts anderes denken:

»Wer bist du?«

Die Frage trifft die Frau wie in Faustschlag. Sie starrt mich an, ihre Augen füllen sich mit Tränen und ich kann fühlen, dass sie kurz davor ist, die Fassung zu verlieren. Doch sie ringt mit sich, erlangt die Kontrolle wieder. Währenddessen lässt sie meine Hand nicht los.

»Ich bin deine Mutter. Und das ist der Thomas«, sagt sie fest und sie tut es mit dem herzlichsten Lächeln; dieses Lächeln brennt sich in mein noch frisches Gedächtnis. Es ist der schönste Satz der Welt.

Doch mein Verstand schlägt Alarm: Das ist meine Mutter? Und dann ist Thomas also mein Vater? Wieso kenne ich diese Menschen nicht? Wie kann das sein?

Während mein Denken sich aufbäumt und nicht begreifen kann, hält die Frau weiter meine Hand und es meldet sich in mir ein Gefühl: Ich spüre, dass dies ein besonderer Moment ist. Es ist der Anfang von etwas, das dauern wird und nicht vergeht. Die zarte Flamme des Vertrauens leuchtet, bekommt Nahrung. Es war nur ein kurzer Dialog, es sind nur Momente. Mir erscheint das alles wie vergrößert, verlangsamt, wie eine Ewigkeit.

Überwältigt schlafe ich ein, die ersten Eindrücke meines Lebens haben mir einiges abverlangt.

Donnergeräusche wecken mich. Hat sich das Wetter so schnell verschlechtert, dass es nun gewittert?, frage ich mich und schaue aus dem Fenster. Der goldene Herbstmorgen ist zu einem nüchternen Vormittag ergraut. Aber es ist still draußen, der Donner kann unmöglich von dort kommen. Dann poltert es schon wieder. Und einen kurzen Augenblick später noch einmal. Immer wieder. Es ist ein lautes Donnern, ein Grollen. Langsam wird mir bewusst: Es ist nicht das Wetter – es rumort in mir! Und es wird sogar noch lauter, noch heftiger. Es knallt und hallt, poltert direkt in meinem Kopf. Das ganze Spektakel erschüttert mich, lässt mich am ganzen Körper erzittern. Ich bekomme eine Gänsehaut!

Ich spüre ein sehr großes Nichtgut.

Was hat das zu bedeuten – und was soll ich tun?

Ich schließe meine Augen und hoffe, dass es so weniger wird, leiser, erträglicher. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird noch heftiger! Und dann, wie aus dem Nichts, schießt ein Blitz dazwischen, ein blendend weißes Aufleuchten, grell wie ein Magnesiumblitz, direkt hinter meinen geschlossenen Lidern. Dieses Licht ist enorm weiß; ich öffne die Augen – und sehe trotz allem nichts anderes mehr als dieses grelle Licht!

Das Blitzen wiederholt sich, es ist heller und stärker als die Sonne: ein unerträglich hartes, schmerzhaftes Weiß. Ich öffne die Augen, ich schließe sie: Es bleibt, wie es ist. Es gibt kein Entkommen.

Dann gibt es eine Pause und Stille kehrt ein. Ich entspanne mich langsam.

Doch die Ruhe trügt. Denn jetzt – vollkommen unvermittelt – überfällt mich eine Monsterwelle aus Licht und Krach, sie bricht sich über mir, begräbt mich unter sich. Sie haut mich in Stücke, ich bin wehrlos, ich spüre nichts mehr, außer Schmerz. Mein Kopf, meine Arme, und Beine sind taub, bis in die kühlen Zehenspitzen nehme ich nichts mehr wahr.

Irgendwann – endlich! – klingt das innere Wetterleuchten ab, fährt der Lärmpegel herunter, nimmt das Weiß an Leuchtkraft ab. Wie lange hat das gedauert? Ich habe kein Zeitgefühl.

Aber was dann kommt, ist nicht besser:

Ich sehe und höre nichts mehr, bin taub und blind. Wo bin ich?

So schwebe ich irgendwo in düsterster Schwerelosigkeit, losgelöst im Nichts. Um mich ist Totenstille, große Leere.

Ich kann nicht vor oder zurück, der Zustand ist absolut, ohne Alternative: Ich bin gefangen. Das Absurde an diesem Gefängnis ist, dass es weder Mauern noch Zäune, weder Decken noch Böden braucht, um mich zu halten: Es ist die Orientierungslosigkeit, die mich zum Sträfling macht; ich bin ihr Opfer. Ich kann nichts tun, ich kann mich nicht befreien. Alles, was ich tun kann, ist, ruhig bleiben, Geduld üben. Warten.

Es muss einen Grund geben, warum ich hier gestrandet bin, selbst wenn ich ihn ad hoc nicht erkennen kann. Es muss eine Antwort geben.

Aber die Leere schweigt, bleibt mir jede Erklärung schuldig. Das stimmt mich traurig: All das wundervolle Fühlen und Spüren, das ich gerade erst in mein neues Leben gelassen habe, all das ist nicht mehr da. Mir wird kalt ums Herz. Ich versuche, die entzündete Flamme des Vertrauens in meinem Herzen zu finden, meinen Anker, die Verbindung. Ich hoffe, ich kann das alles hier, in der tiefsten Schwärze, wiederbeleben, die Flamme durch diese Nacht retten. Doch ich habe sie verloren. Fernab höre ich wieder Donnergrollen, es ist wie ein Nachhallen, dann bin ich wieder allein mit der Stille.

Eine halbe Ewigkeit. Nichts passiert.