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Titel

Impressum

WIDMUNG

Selbst wenn es mein Leben kostet!

STICHWORTVERZEICHNIS

ÜBER DEN AUTOR

MEHR SPANNUNG VON F. A. CUISINIER

 

 

F. A. Cuisinier

 

 

 

 

 

Der Pianist

mit den mordenden Händen

 

Roman

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: F. A. Cuisinier

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2018

ISBN: 9783957535849

Grafiken Copyright by Fotolia by kebay, wilqku, david

 

Übersetzungen und Worterklärungen finden Sie im Stichwort-Verzeichnis am Ende des Buches.

WIDMUNG

Dieses Buch widme ich meinem Großvater Franz, den ich sehr geliebt habe und schmerzlich vermisse. Er hat mir, ohne große Worte, die Liebe zur Natur, dem Garten und der Tierwelt vermittelt. Ich erinnere mich an einen sehr schönen Sommertag, an dem ich mit ihm in seinem Garten auf der selbst gezimmerten Holzbank saß und er mich fragte:

„Junge, willste` ne Möhre?“

Als ich „Ja!“ gesagte hatte, stand er auf, ging zu dem Möhren-Zwiebel-Beet und zog eine mittelgroße Möhre mitsamt dem Grünzeug aus dem Boden. Dann schwenkte er sie zweimal in der Regentonne hin und her und reichte sie mir. Trotz kleiner Sandkörnchen zwischen den Zähnen gehört diese Möhre zu dem Besten, was ich je gegessen habe! Diesen Geschmack werde ich mein Leben lang nicht vergessen.

Ein anderes Mal waren wir beide auf einer Wandertour rund um den Vilsalpsee in Tirol. Etwas abgelegen machten wir Brotzeit-Pause in der damals noch winzigen Vilsalp, einer Alm, in der Käse gemacht wurde und man eine Kleinigkeit zu essen bekam. Wir aßen jeder eine dicke Schnitte Bauernbrot, belegt mit einer dicken Scheibe Käse. Dazu gab es frische, noch warme Milch, direkt von der Kuh aus dem dazugehörigen Stall. Unvergesslich großartig!„Ich hätte nie gedacht, dass es mal soweit kommt! Ich war immer der nette Junge von nebenan, unfähig, einer Fliege was zuleide zu tun! Ich habe immer an das Gute im Menschen geglaubt – und jetzt? Rein rechtlich gesehen bin ich ein Mörder! Gut, ich habe nur Vergewaltigern, Räubern und Mördern gegeben, was sie verdient haben – aber jetzt bin ich, eigentlich, selber ein Mörder! Wo soll das hinführen, ich kann doch nicht ständig der Rächer sein! Wo ist der nette Junge geblieben? Aber ich kann es auch nicht kontrollieren! Bin wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde! Das muss ein Ende haben! Selbst wenn es mein Leben kostet!

 „Bist Du fertig, Chéri?“

„Gleich, Maman! Der Smoking sitzt noch nicht so richtig! Ich fühle mich nicht so wohl darin!“

„Das gibt sich, das ist immer so bei neuen Sachen! Jetzt beeil Dich, Du weißt, was alles auf den Straßen von Paris passieren kann. Und wir dürfen auf keinen Fall zu spät kommen, immerhin findet die Veranstaltung nur wegen Dir statt! Und außerdem ist der Bürgermeister heute da!“

„Eben, ohne mich können sie nicht anfangen, große Künstler lassen ihr Publikum immer warten, das erhöht die Spannung und die Vorfreude!“

„Ja, Du sagst es: große Künstler! Davon bist Du aber noch etwas entfernt!“

„Die Kritiker schreiben aber was anderes!“

„Ciel, jetzt komm endlich! Wir müssen los!“

Vom Quai de Bourbon auf der Ile St. Louis bis zur Opéra Garnier sind es zwar nur ca. 4 km, aber sie mussten mitten durch die Stadt, da konnte es zu üblen Staus kommen, auch wenn die Hauptverkehrszeit gerade vorbei war!

Die Strecke führte an den größten Sehenswürdigkeiten der Innenstadt vorbei, dem Hôtel de Ville, dem Rathaus von Paris, dem Théâtre du Châtelet, dem Louvre, dem Palais Royal und der Comédie Française. Berühmte Bauwerke und Institutionen, die viele Touristen anlocken.

Es war zwar schon sein 23. Konzert, aber dieses war etwas ganz Besonderes:

Die altehrwürdige Oper des berühmten Baumeisters Garnier, mit ihrer ebenso berühmten Deckenmalerei von Marc Chagall gilt als Juwel unter den Opernhäusern der Welt, da durfte man nicht zu spät kommen! Und er wollte die Kritiker ja auch nicht verärgern, hatten diese ihn ja seit einiger Zeit hochgelobt als „Wunderkind“ und „jugendlichen Maestro“!

Ciel de Montfort war auch genau das, fühlte sich aber wie ein ganz normaler Musiker. Er hatte keine Allüren, ging nicht in die Restaurants der „Reichen und Schönen“ und stellte sich bei Berthillon’s Eisdiele, dem Mekka der Eisliebhaber in Paris, artig in die Warteschlange vor dem Geschäft, die in den Sommermonaten schon mal 100 Meter lang sein konnte! Und da stand er ziemlich oft, denn er wohnte direkt um die Ecke! Ciel war freundlich, zuvorkommend und liebte das einfache Leben. Das konnte er immer dann genießen, wenn er auf dem Weingut seines verstorbenen Vaters an der Loire Ferien machte und dort mit seinem Großvater die Reben pflegte oder angeln ging. Dann gab es Hausmannskost zu essen, man traf sich am Fuße des Weinbergs mit Freunden und sang alte französische Lieder zur Gitarre.

Das war eigentlich seine Welt, aber seine Mutter sonnte sich im Ruhme ihres hochbegabten Sohns. Sie war durch ihn eine Persönlichkeit in Paris geworden, wurde hofiert und zu den Bällen und Festen der Reichen eingeladen – das war ihr Leben, aber eben nicht seins! Er liebte Musik, ging völlig auf in seinem Spiel, aber das „Drumherum“ ging ihm auf die Nerven:

Tee trinken mit abgespreiztem Finger, dauernd Smoking, Frack und Anzüge tragen, aufpassen, was man sagte, Verbeugung hier, Handkuss dort – das war nichts für ihn! Nach den Konzerten Applaus, Verbeugung, Zugabe und nichts wie weg! Kein Stehempfang, kein Small Talk mit honorigen Leuten, kein Zuprosten: „Habe die Ehre, Frau Kammersängerin!“, konnte ihn reizen. Schnell nach Hause, umziehen, aufs Fahrrad, ab in die Parks, auf dem Gras in der Sonne liegen, lesen, Leute beobachten. Aber das konnte er vergessen – Mutter sorgte schon dafür, dass alle ihr Wunderkind hofierten, sein Spiel lobten und ihn, und natürlich seine Mutter (!!) zum Tee, zum Ball oder zur „Fête“ einluden. Und was das Schlimmste war: Er musste die Einladungen auch annehmen und hingehen! Und auf nettes Musikgenie machen, was ihn total aufregte!

Viel lieber hätte er mal abends eine Disco besucht, neue Leute kennengelernt und endlich eine Freundin gefunden! Denn er war, trotz seiner 25 Jahre, immer noch „Jungfrau“! Es war nie Zeit für die Liebe gewesen und Mutter hatte wie ein General darauf geachtet, dass keine junge Frau in seine Nähe kam!

Ciel hatte die Nase gestrichen voll!

„Heute gebe ich noch mal ein grandioses Konzert, lasse die ganzen „Lobhudeleien“ und das ganze „Genie-Geschwafel“ über mich ergehen und morgen früh schnappe ich mir mein Fahrrad und weg bin ich! Maman schreibe ich eine SMS: „Ich mache eine mehrtägige Fahrradtour an der Seine entlang, übernachte irgendwo im Hotel, mach Dir keine Sorgen, irgendwann muss ich doch mal erwachsen werden!“ Dann schalte ich das Handy ab und genieße mein Leben!“

„Hab ich’s nicht gesagt, jetzt stehen wir im Stau und kommen zu spät – welche Blamage!“

„Maman, wir haben noch genug Zeit, hier ist nur die Ampel rot – bisher sind wir immer 1 ½ Stunden zu früh zu meinen Konzerten gekommen!“

Eine kleine Ansammlung von Autos staute sich an der Kreuzung Rue de Rivoli und Rue du Pont Neuf. Nichts Besonderes, wäre dieser kleine Stau nicht dort gewesen, hätte man sich fragen müssen, ob Fußballweltmeisterschaft ist oder das Endspiel der Rugby-Ligue. Nach ein paar Minuten ging es zügig weiter. Als sie in der Tiefgarage des Opernhauses ankamen, war niemand zu ihrem Empfang anwesend, sie waren eben viel zu früh.

„Das ist demütigend! Das größte Musik-Genie des 21. Jahrhunderts kommt zu einem Konzert und keiner hält es für nötig, uns zu empfangen!“

Ciel verdrehte die Augen: „Maman!“

„Ja, ist doch wahr!“

Es war ein großes Konzert, Ciel wurde gefeiert, der Applaus wollte nicht enden und er musste 4 Zugaben spielen. Er aber war nicht zufrieden! Natürlich hatten weder die Zuhörer noch die Kritiker bemerkt, was ihm unangenehm an sich selbst aufgefallen war: Nuancen seines Spiels waren nicht so souverän vorgetragen worden wie bisher üblich! Ein paar Mal hatte er sich dabei ertappt, an was anderes gedacht zu haben! Trotzdem war sein Spiel exzellent, er hatte es ja auch bis zum „Geht-nicht-mehr“ geübt, Stunde um Stunde, Tag für Tag. Aber es bestärkte ihn in seiner Wahrnehmung: „Ich brauche eine Pause, mal total abschalten, leben!“

 „Sie sind wirklich ein großer Meister Ihrer Kunst, Monsieur de Montfort, wollen Sie nicht heute Abend zu einer kleinen, aber feinen Soirée zu uns an die Place des Vosges kommen? Unsere Tochter Gwendoline ist heute aus den USA nach Hause gekommen, sie studiert in Harvard Zahnmedizin. Sie ist gerade Beste ihres Jahrgangs geworden!“

„Das hat mir gerade noch gefehlt, eine Zahnärztin als Freundin!“, dachte Ciel. „Wahrscheinlich wird sie an meinen Zähnen herummäkeln und mir eine Zahnspange aufdrängen!“

„Ich bin untröstlich, Madame de Chalain, aber ich bin gerade in extrem wichtigen Studien zu dem Mozart-Zyklus „Mein Wien“ involviert, die kann ich nicht unterbrechen, das würde meinen künstlerischen Werdegang äußerst ungünstig beeinflussen! Vielleicht ein anderes Mal!“

Die Angesprochene hauchte ein: „Dafür habe ich doch größtes Verständnis, unsere Gwendoline wird sicher auch noch lernen müssen!“ Dabei merkte Madame gar nicht, dass es den Mozart-Zyklus „Mein Wien“ gar nicht gab – eine reine Erfindung Ciels! Dessen Mutter allerdings giftete ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der bei „Halloween“ anderen Menschen einen Schock versetzt hätte.

„Diese Fratze sollte sie sich patentieren lassen, damit ließe sich bei Maskenherstellern sicher viel Geld verdienen!“, dachte Ciel.

Die Standpauke seiner Mutter am Abend fiel entsprechend heftig aus und er ging früh ins Bett.

Am nächsten Morgen, die Sonne schien fröhlich in sein Zimmer, sprang Ciel voller Tatendrang aus dem Bett. Als er aus dem Fenster sah, ging die Sonne gerade auf und ließ die Kuppel von Sacré Cœur wie Gold erstrahlen. Er liebte diesen Blick aus seinem Fenster auf die berühmte Basilika, wünschte er sich doch des Öfteren, dort nebenan zu wohnen, da wo die „normalen“ Leute leben und das Viertel etwas Verruchtes an sich hatte. „Und wenn ich von meiner Fahrradtour wiederkomme, gehe ich abends ins „Alcazar“ in die Rue Mazarine, ich will endlich leben wie ein normaler Mann und mir auch mal nackte Brüste ansehen!“ Da seine Mutter zu dieser Uhrzeit noch ihren Schönheitsschlaf hielt, konnte er sich unbemerkt rausschleichen, er holte sein Fahrrad und die am Vortag unbemerkt gepackten Fahrradtaschen aus der Tiefgarage und schon stand er am Quai und begann seine Tour zu sich selbst. Am Pont de Sully schrieb er die geplante SMS an seine Mutter und stürzte sich ins Leben!

Als Élaine de Montfort um 9 Uhr erwachte, kräftige Sonnenstrahlen drangen durch die sündhaft teuren Vorhänge, ließ sie, wie jeden Morgen nach einem Konzert, den Abend noch einmal Revue passieren und sonnte sich zum zweiten Male im Glanze ihres Sohnes. Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, ging sie an Ciels Zimmertür und rief: „Aufstehen, Chéri! Beeil Dich und hilf mir beim Vorbereiten des Frühstücks!“ Aber es rührte sich nichts! „Chéri? Bist Du wach?“ Keine Reaktion! Sie drückte die Klinke herunter und sah in das Schlafzimmer ihres Sohnes, der aber nicht anwesend war! „Wahrscheinlich ist er im Bad!“ Im Bad war er aber auch nicht! „Der gute Junge will mich mit einem komplett gemachten Frühstück überraschen, wie nett!“ Aber in der Küche war er auch nicht. „Vielleicht ist er Croissants holen gegangen, aber eigentlich hätte er sich da bei mir abmelden müssen!“ Sie suchte das Haus ab, aber Ciel war weg! Als er nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück war, rief sie ihren Bruder Felix an: „Stell Dir vor, Ciel ist nicht zu Hause und hat sich nicht bei mir abgemeldet!“

„Der kommt sicher gleich wieder!“

„Er ist schon fast eine Stunde weg!“

„Vielleicht wollte er Croissants holen und noch was anderes einkaufen, ruf ihn doch am Handy an!“

„Ja, sicher hast Du recht, das mach’ ich!“ Aber auch der Anruf brachte nichts ein, die Mailbox sagte: “Bon jour! Dies ist der Anschluss von Ciel de Montfort, ich bin momentan nicht zu erreichen, bitte hinterlassen Sie Rufnummer und Anliegen, ich melde mich sobald wie möglich!“

„Chéri, wo bist Du, ich mache mir Sorgen, ruf mich sofort an!“

Als nach zwei Stunden weder ein Anruf noch ein Lebenszeichen von Ciel auftauchte, rief seine Mutter die Polizei, um eine Vermissten-Anzeige aufzugeben. „Da müssen Sie zu uns ins Commissariat de Police an den Quai des Orfèvres kommen!“

„Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie hier sprechen, ich bin Madame de Montfort, mein Sohn ist der berühmte Pianist Ciel de Montfort!“

„Gut, aber deshalb müssen Sie trotzdem zu uns kommen, um eine Vermissten-Anzeige aufzugeben!“

„Ich werde mich über Sie bei Ihrem Vorgesetzten beschweren, wie ist dessen Name?“

„Hören Sie, wir sind hier rund um die Uhr damit beschäftigt, Paris von Verbrechern zu säubern, wir haben keine Zeit dafür, Sie zu besuchen, kommen Sie ins Commissariat!“ Damit legte er auf!

Madame de Montfort war außer sich und rief ihren Bruder an: „Ciel ist immer noch nicht zurück, wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe die Polizei informiert, die wollen die Vermissten-Anzeige nur im Commissariat am Quai des Orfèvres aufnehmen! Ich verstehe die Welt nicht mehr, wir sind doch keine normalen Leute!“

„Beruhige Dich und lass Dich zur Polizei fahren!“

„Aber Felix, ich setze mich doch nicht wie ein gewöhnlicher Mensch in ein gemeines, nach Rauch stinkendes Büro!“

„Élaine, weißt Du, wie viele Leute in Paris pro Tag vermisst werden? Hunderte, da können die nicht jeden aufsuchen!“

„Felix, ich bitte Dich, ich bin doch nicht jeder!“

„Élaine, je schneller Du im Commissariat bist, desto schneller haben sie Ciel gefunden!“

Das wirkte! „Ja wenn Du meinst, dann muss ich mich wohl oder übel dazu herablassen, ein Skandal ist das!“

Im Kommissariat meldete sie sich beim Concierge, der sie weiterschickte und den zuständigen Beamten informierte. Natürlich ließ er sie warten und sagte zu seinem Kollegen: „Ich hasse diese feinen Pinkel! Die meinen, sie wären was Besseres, es wird wirklich wieder Zeit für eine neue „Französische Revolution“! Weg mit dem eingebildeten, reichen oder neureichen oder sogar adeligen „Gesocks“, das wie Schmarotzer von uns lebt und sich von uns bedienen lässt!“

„Beruhige Dich, Charles!“

„Ist doch wahr!“

„Der Nächste, bitte!“

„Madame de Montfort, welche Ehre für uns, welch helles Licht in unserer schäbigen Kammer!“ Charles’ Kollege verschluckte sich und bekam fast einen Erstickungsanfall.

Madame de Montfort brauchte eine Stunde, um über die berühmten Taten ihres Sohnes, gefolgt von seiner Charakterstärke hin zu seinem Verschwinden zu kommen. Der Beamte, der die wichtigen Stellen am PC mitgeschrieben hatte, sagte: „Sie müssen hier unterschreiben!“ – Madame unterschrieb und erhielt einen Durchschlag. „Wenn wir was wissen, melden wir uns, wenn er wieder auftaucht, melden Sie sich umgehend bei uns! Bon jour, Madame!“ Damit ging der Beamte aus dem Raum.

Madame de Montfort fühlte sich wie Leutnant Bligh, der Kapitän der „Bounty“, der von seiner meuternden Mannschaft auf offenem Meer ausgesetzt worden war. Angewidert ging sie zu dem Platz zurück, wo das Taxi, natürlich nicht, wie befohlen, auf sie gewartet hatte. Sie sah sich hilflos um. Weit und breit kein Taxi zu sehen. Sie erinnerte sich an die Worte ihres Sohnes: „Wenn Du es nicht benutzt, brauchst Du auch kein Handy, wozu habe ich es Dir geschenkt?“ Sie kramte es aus der 4000 € teuren „Hermès“-Tasche, machte es an und wollte gerade die Taxi-Nummer wählen, als das Handy ununterbrochen piepte, weil sie die 52 Nachrichten der letzten Wochen natürlich weder abgehört noch beantwortet hatte. Als das Piepen zu Ende war, wählte sie den Taxiruf und bestellte einen Wagen. Nach einer halben Stunde, Madame war einem Nervenzusammenbruch nahe, fühlte sich wie eine Verdurstende in der Sahara, kam das Taxi. Es war zufällig derselbe Fahrer wie vorhin, natürlich machte ihm Madame, als sie sich hinten reingesetzt hatte, sofort schlimmste Vorwürfe, warum er nicht, wie befohlen, gewartet hätte, was den Taxifahrer dazu nötigte, „Aussteigen!“ zu sagen und schon stand sie wieder auf der Straße! Ein erneuter Anruf bei der Zentrale, diesmal ohne Vorwürfe, das Taxi kam nach weiteren 30 Minuten! Diesmal kein Murren, so lernt man anständiges Benehmen! Wieder zu Hause angekommen, legte sie sich auf die Chaise longue – feine Leute haben ja keine Couch!!! Sie war fix und fertig!

Ciel war von der Pariser Innenstadt nach Stadtplan in den Südwesten gefahren, über die Rue Monge, den Boulevard Arago, die Avenue du Général Leclerc bis er aus der Stadt draußen war und in die Vororte kam, die sich für einen verwöhnten, reichen Jungen ziemlich gewöhnungsbedürftig anfühlen mussten. Aber er genoss seine Freiheit, merkte, dass die einfachen Leute genauso Spaß am Leben hatten, vielleicht sogar mehr als die Reichen! Er fuhr vorbei an Leuten, die im Café saßen, was tranken oder aßen und dabei lachten. Sie standen an den Bushaltestellen und quatschten und lachten und verpassten ihren Bus, schienen aber glücklich zu sein! Die Vorstadt hatte einen gänzlich anderen Geruch, war laut, überall hektisches Treiben, er entdeckte kleine, uralte Gassen, neue Gerüche und vollkommen andere Musik! Und er fühlte sich sauwohl! Irgendwann war er am Land und eh er sich versah, hatte er 40 km weggeradelt und verspürte einen starken Durst und Hunger. In Morsang an der Seine, einem ziemlich kleinen, aber netten Ort, setzte er sich in ein Bistro direkt am Wasser, mit Tischen draußen, bestellte sich ein Pression und ein Stück Quiche Lorraine, trank und aß und schaute den leicht bekleideten Mädels nach. Innerlich kam er aus dem Grinsen gar nicht mehr raus!

Dann breitete er die mitgenommene Landkarte aus, um zu entscheiden, wo er denn nun hinfahren wollte. Dabei fiel ihm auf, dass Orléans ja gar nicht so weit weg war. Diese Stadt war ihm in guter Erinnerung geblieben, weil er in seiner Kindheit oft mit seinen Eltern an die Loire zu den Großeltern väterlicherseits gefahren war, die in der Nähe von Amboise ein Weingut hatten und dann über Orléans fahren mussten. Bei seinen Großeltern hatte er sich immer wohlgefühlt, wohler als zu Hause, wohler als in der Elite-Schule, wohler als bei anderen Verwandten. Doch nach dem Tod seines Vaters, der im Weinberg bei der Lese von einem Blitz erschlagen wurde, hatte seine Mutter den Kontakt zu den „gemeinen Leuten“ abgebrochen und er war seit zehn Jahren nicht mehr dort gewesen, was er sehr vermisst hatte! „Das mach’ ich! Ich besuche meine Großeltern in Amboise!“ Er zahlte und schwang sich voller Euphorie wieder auf sein Rad. Nach weiteren 30 km merkte er, dass er so einer sportlichen Herausforderung mangels Übung doch nicht so ohne Weiteres gewachsen war und an seine körperlichen Grenzen stieß. Er suchte sich in dem kleinen Ort Ormoy-la-Rivière an dem Flüsschen Juine ein Hotel und nahm sich ein Zimmer für eine Nacht. Er bestellte sich auf der Gartenterrasse genüsslich erneut ein Bier und aß ein Steak tartare mit Pommes frites. „Herrlich!“, dachte er, „diese Freiheit, diese vollkommen andere Welt, jetzt bin ich erwachsen, ein Mann! – Nein, ein Mann bin ich nicht, 25 Jahre alt und hatte noch nie Sex! Das muss sich ändern, so schnell wie möglich!“ Da er aber der einzige Gast des Hotels war, musste dieses Vorhaben leider noch warten! Nach dem dritten Bier trat die entsprechende Wirkung ein. Ciel ließ die Rechnung auf sein Zimmer schreiben und schleppte sich mehr schlecht als recht in dasselbe. Er war das erste Mal in seinem Leben etwas betrunken, kaputt vom Radfahren, aber so glücklich wie noch nie!

Madame de Montfort telefonierte wieder mal mit ihrem Bruder: „Felix, ich bin untröstlich, Ciel bleibt verschwunden! Was mach ich denn jetzt?“

„Vielleicht hat Ciel ja was auf Deine Mailbox gesprochen!“

„Auf was?“

„Auf den Anrufbeantworter Deines Handys!“

„Ach, ich hasse dieses Ding! Wenn man es anmacht, piept es immer wie verrückt!“

„Klar, weil jemand auf die Mailbox gesprochen hat! Wenn Du das natürlich nicht abhörst, bist Du auch nicht auf dem Laufenden!“

„Ich kann das aber nicht!“

„Ciel hat es Dir doch gezeigt!“

„Ja, aber ich habe nicht richtig zugehört!“

„Mach das Handy an, ich leite Dich durch das Menu!“

„Menu, ich will aber nichts essen!“

„Menu heißt das, was man mit dem Handy machen kann!“

„D’accord, also was soll ich machen?“ Felix erklärte ihr alles genau, führte sie zu den Mails und SMS und, siehe da, sie fanden die SMS mit Ciels Nachricht.

„Ich bin erschüttert, da will der Junge allein eine Fahrradtour machen, ohne mich! Wie kann er so undankbar sein! Wenn er sich verletzt, nicht auszudenken, seine Karriere könnte vorbei sein! Ich bin erschüttert!“

„Der ‚Junge‘ ist 25!!“

„Aber er kennt doch nichts, da draußen!“

„Eben deshalb!“

„Nicht auszudenken, wenn er ein Mädchen kennenlernt! Das überlebe ich nicht!“

„Das wird er vermutlich überleben!“

„Wie meinst Du das?“

„Ach, nichts!“

„Was mach ich jetzt?“

„Nichts, lass den Jungen mal ins richtige Leben reinschnuppern, Bier trinken, essen, was schmeckt, ein bisschen poppen …“

„Felix! Du wirst gewöhnlich!“

„Weil ich ein Mann bin und kein Hampelmann, der nur macht, was man ihm befiehlt! Lass den Jungen in Ruhe. Wenn Du ihn weiter wie ein Baby behandelst und dauernd rumkommandierst, wird er Dir weglaufen! Warte ab, er kommt irgendwann von alleine zurück!“

„Aber!“

„Nichts aber! Verstanden?“

„Ja, Felix!“

„Wie bitte, hast Du gerade ‚Ja, Felix‘ gesagt?“

„Ja, Felix!“

Als Ciel am nächsten Morgen um halb zehn aufwachte und auf seine Armbanduhr schaute, schreckte er aus dem Bett hoch: „Au weh, schon so spät, Mutter wird toben!“ Dann bemerkte er seinen Irrtum, grinste trotz entsprechender Kopfschmerzen fröhlich in sich hinein, drehte sich noch mal um und schlief tatsächlich wieder ein, für eine halbe Stunde. Dann erwachte er erneut, weil ihn irgendetwas drängte: „Ciel, Du willst doch heute zu Deinen Großeltern fahren, die werden sich riesig freuen, Dich zu sehen! Steh endlich auf!“ Mit einem großen, enthusiastischen Satz sprang er aus dem Bett und fiel gleich wieder zurück, geplagt von stechenden Kopfschmerzen. „Wow, merde, so fühlt sich also ein Kater an! Das sollte ich nicht so oft machen – oder doch, gerade weil es „verboten“ ist!“ Er duschte, zog dieselben Sachen vom Vortag wieder an, „ein herrliches Gefühl!“, und ging kleinlaut zum Frühstück: „Bekomme ich noch ein Frühstück, ich habe verschlafen?“

„Natürlich“, sagte die Besitzerin, ich kann doch einen so hübschen, gut gebauten Jungen nicht ohne Frühstück aus dem Haus lassen!“

Ciel bemerkte gar nicht, dass sie mit ihm flirtete, weil er überhaupt keine Erfahrung mit Frauen hatte. Hätte er die gehabt, wäre ihm sofort aufgefallen, dass Madame alleine im Hause war, ihr Mann auswärts und hätte das schamlos, zum Wohle beider, ausnutzen können! Und sein erstes Mal mit einer älteren Frau erleben zu dürfen – das wäre für ihn wahrscheinlich das Beste gewesen, was ihm hätte passieren können! Aber er reagierte nicht auf die Avancen der Wirtin, die etwas traurig schaute, als er seine Rechnung bezahlte.

„Wenn Du wieder mal in der Gegend bist, würde ich mich über einen Besuch sehr freuen!“

Ciel wunderte sich, dass ihn die Wirtin geduzt hatte, konnte sich aber, mangels Erfahrung, darauf keinen Reim machen. Leider, für ihn! Er schwang sich auf sein Fahrrad und „Autsch! Tut mir der Arsch weh! Oh, nein!“ Er schob das Rad erst einmal ein paar Meter weiter, als er bemerkte, dass ihn die Wirtin beobachtete. „Jetzt bloß keine Schwäche zeigen!“ Er stieg wieder auf und radelte los und tat so, als wenn das die normalste Angelegenheit der Welt wäre.