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Keith Hamaimbo
Wer bin ich?

Studien
zur Theologie und Praxis
der Seelsorge
92

Herausgegeben von
Erich Garhammer und Hans Hobelsberger
in Verbindung mit
Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Keith Hamaimbo

Wer bin ich?

Das Enneagramm in der
seelsorglichen Begleitung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
ISBN 978-3-429-03775-8 (Print)

978-3-429-04789-4 (PDF)

978-3-429-06204-0 (ePub)

Vorwort und Dank

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2013/2014 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertationsschrift eingereicht.

Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Johann Pock, der die Arbeit von Anfang an mit großer Geduld betreut hat – auch in der Zeit, als er an die Universität Wien gewechselt ist. Ebenfalls danke ich Professor Dr. Jörg Seip, der als neuer Inhaber des Lehrstuhls für Pastoraltheologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn die Arbeit mitbetreut hat. Für die vielen Treffen mit den Doktoranden von Prof. Pock in Deutschland und in Österreich und bei Prof. Seip bin ich sehr dankbar.

Auch den Professoren an der Universität Bonn, die einige Teile der Arbeit gelesen und mir wertvolle Hinweise und Vorschläge gegeben haben, spreche ich meinen Dank aus: Prof. Dr. Georg Schöllgen, Prof. Dr. Karl-Heinz Menke und Prof. Dr. Reinhold Boschki.

Einen herzlichen Dank möchte ich auch den vielen anderen Menschen aussprechen, die auf unterschiedliche Weise bei der Anfertigung dieser Arbeit mitgewirkt haben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich mich bedanken bei: Steyler Missionare, Sabrina Miebach-Hamaimbo, Ingrid Lorenz, Prof. Dr. Bernd Lutz, Günther Gessinger, Ingeborg Fischer, Familie Miebach, Familie Huckebrink, Familie Schulte, Norbert und Familie Alda, Missionskreis der Gemeinde St. Josef in Emsdetten, Erzbistum Köln. Auch den Personen, die sich zu Interviews bereit erklärt haben, und denjenigen, die mir bei der Kontaktsuche geholfen haben, bin ich sehr dankbar.

Ich bedanke mich für die Förderung und Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung, ohne die die Fertigstellung dieser Arbeit nur schwer realisierbar gewesen wäre. Ein besonderer Dank gilt den Mitarbeitern der Stiftung in Bonn, mit denen ich zu tun hatte. Für die Endredaktion der Arbeit danke ich ganz herzlich den Institutsreferentinnen Monika Mannsbarth und Christina Wachelhofer vom Institut für Praktische Theologie in Wien.

Diese Arbeit widme ich meiner Familie, insbesondere meinen Kindern Lior Lumuno und Norea Mweke.

Inhaltsverzeichnis

A Kurzfassung

0 Einführung

1. Geschichtliche Hintergründe: Von Evagrios Pontikos bis zur Systematisierung des Enneagramms als Charaktertypologie in der neuen Zeit

2. Das Enneagramm: Theorien und Umriss der Enneagramm-Muster

3. Theologische Betrachtung: Systematisch- und pastoraltheologisches Verständnis und dessen Beitrag zur christlich-enneagrammatischen Arbeit

4. Enneagramm in der Praxis: Analyse von vorhandener Enneagramm-Praxis und Entwicklung von Handlungsoptionen

5. Perspektiven und Grenzen: Beobachtungen und Vorschläge in Bezug auf Gegenwart und Zukunft der Enneagramm-Arbeit

6. Zusammenfassung

B. Ausführliche Fassung des Inhaltsverzeichnisses

Inhalt

Vorwort und Dank

Inhaltsverzeichnis

0. Einführung

0.1. Fragestellung

0.2. Zur Methode

0.3. Erhebungsverfahren

0.4. Umgang mit den Daten

0.5. Analyseverfahren

0.6. Zum Aufbau der Arbeit

1. Geschichtliche Hintergründe: Von Evagrios Pontikos bis zur Systematisierung des Enneagramms als Charaktertypologie in der neuen Zeit

1.1. Entwicklung bis zum heutigen Stand

1.2. Einordnung in die christliche Tradition

1.3. Mönchtum (Wüstenväter und -mütter)

1.4. Evagrios Pontikos

1.4.1. Lehre und Praxis

1.4.2. Stufen des Wachstums bei Evagrios

1.4.3. Der geistliche Vater

1.4.4 Die Leidenschaften

1.4.5. Definition und Näheres zu den Leidenschaften

1.4.5.1. Apatheia (oder Leidenschaftslosigkeit)

1.4.5.2. Die Leidenschaften im Einzelnen

1.4.5.3. Völlerei/Gier/Unmäßigkeit

1.4.5.4. Wollust/Unzucht/Schamlosigkeit

1.4.5.5. Geiz/Habsucht

1.4.5.6. Neid/Traurigkeit

1.4.5.7. Zorn/Groll

1.4.5.8. Trägheit

1.4.5.9. Täuschung/Ruhmsucht

1.4.5.10. Stolz/Hochmut

1.4.5.11. Angst/Furcht

1.4.6. Symbole und Zahlen bei Evagrios

1.4.7. Die Biblische Zahl 153 und ihre Symbolik

1.4.8. Das Ziel des Evagrios und der enneagrammatischen Lehre

1.4.9. Humor bei Evagrios

2. Das Enneagramm: Theorien und Umriss der Enneagramm-Muster

2.1 Einführende Gedanken in das Enneagramm-Verständnis

2.1.1. Flügel

2.1.2. Pfeile.

2.1.3. Subtypen

2.2. Triaden-Theorie

2.2.1. 8-9-1-Zentrum

2.2.2. 2-3-4-Zentrum

2.2.3. 5-6-7-Zentrum

2.2.4. Verständnisfragen zu den Triaden

2.3. Prozess und Typologie

2.3.1. Gefahren des Enneagramms als Typologie

2.3.2. Prozess und Entwicklungsstufen

2.4. Typisierung

2.4.1. Typisierungsverfahren: Fragebogen/Typisierungsinterview

2.4.2. Herausforderungen beim Typisieren nach Riso und Hudson

2.4.3. Die Ferntypisierung

2.5. Vergleichender Überblick der Enneagramm-Typen

3. Theologische Betrachtung: Systematisch- und pastoraltheologisches Verständnis und dessen Beitrag zur christlich-enneagrammatischen Arbeit

3.1. Das Enneagramm in der theologischen Diskussion: Hinführung

3.1.1. Theologischer Anspruch an das Enneagramm

3.1.2. Enneagramm als neuer Impuls für die Theologie

3.1.3. Christlich-theologische Legitimität der enneagrammatischen Arbeit

3.2. Systematisch-theologisch

3.2.1. Terminologie und Theologie des Enneagramms

3.2.1.1. Erlösung und Enneagramm

3.2.1.2. Gnade und Enneagramm

3.2.2. Enneagramm: Beitrag zur Hamartiologie

3.2.2.1. Enneagramm und der innere Beobachter: (Selbstbeobachtung)

3.2.2.2 Enneagramm als Ermutigung zu einem dauernden Reformprozess mit individuellen und strukturellen Implikationen

3.2.2.3. Versöhnung und Annahme

3.2.2.4. Von Schuld und Selbsterkenntnis zu Gotteserkenntnis und Dank

3.2.3. Vorbehalte gegen das Enneagramm in Bezug auf die Hamartiologie

3.3. Pastoralverständnis der Arbeit (Pastoraltheologisch)

3.3.1. Ganzheitliche Seelsorge

3.3.2. Induktive Methoden in der Praktischen Theologie

3.3.3. Die heutigen Lebenswirklichkeiten

3.3.4. Konsequenzen einer erfahrungszugewandten Theologie

3.3.4.1. Lebenswirklichkeit als Ort des Lernens

3.3.4.2. Pluralitäts- und Kommunikationskompetenz (R. Bucher)

3.3.5. Subjektsein des Menschen

3.3.5.1. Subjektsein und ‚Communio’

3.3.5.2. Subjektsein von Gott her begründet

3.3.6. Aufeinanderbezogenheit der Gottes- und Nächstenbeziehung (Ottmar Fuchs)

3.3.7. Mystagogische Grundhaltung

3.3.7.1 Wertschätzung

3.3.7.2. Echtheit und Selbstkongruenz

3.3.7.3. Empathie

3.3.7.4. Alltäglichkeit

3.3.7.5. Befreiung

3.3.7.6. Universale Solidarität

3.3.8. Alltagsseelsorge

3.3.8.1. Alltagsseelsorge nach Stephanie Klein

3.3.8.2. Alltagsseelsorge nach Eberhard Hauschildt

3.3.8.3. Alltagsseelsorge: Ein Vergleich

3.3.8.4. Seelsorge durch das ‚Volk Gottes’

3.3.9. ‚Arbeit mit jungen Menschen’

3.3.9.1. Ernstnahme und Verständnis für Jugendliche

3.3.9.2. Mystagogische Jugendseelsorge/Jugendpastoral

3.3.10. Umgang mit dem ‚Psycho-Markt’

3.4. Ein Christliches Enneagramm?

3.4.1 „Verankertes“ christliches Enneagramm

3.4.2. Selbsterforschung und die christliche Lehre

3.4.3. Ablehnung des Enneagramms

3.4.4. Kompatibilität mit dem christlichen Glauben

3.4.4.1. Gnade

3.4.4.2. Menschenbild

3.4.4.3. Ergänzung mit schon vorhandenen Praktiken und Methoden

3.4.4.4. Praktische Führung zur Mündigkeit

3.4.4.5. Christliche Rahmen schaffen

3.4.4.6. Christliche Elemente in der Entwicklungsgeschichte des Enneagramms (Tradition)

3.4.4.7. Facettenreiche menschliche und kulturelle Phänomene als Konkretisierung Gottes Liebe zu seiner Schöpfung in ihrer Einzigartigkeit

3.5. Chancen eines christlichen Enneagramms

3.5.1. Neuer Zugang zur Kirche

3.5.2. Psychologie und Spiritualität

3.5.3. Dialogmöglichkeiten

3.5.4. Politische Ökumene

3.5.5. Spirituelle Ökumene

3.5.6. Kommunikationsgewinn auf interpersonaler Ebene

4. Enneagramm in der Praxis: Analyse von vorhandener Enneagramm-Praxis und Entwicklung von Handlungsoptionen

4.1. Erste Begegnung mit dem Enneagramm

4.1.1. Erst-Erfahrungen von Geistlichen

4.1.2. Durch Geistliche oder im Rahmen kirchlicher Arbeit

4.1.3. Durch Literatur und mündliche Weitergabe

4.1.4. Im Rahmen therapeutischer Angebote

4.2. Nach der ersten Begegnung

4.2.1. Nicht weiter am Thema interessiert

4.2.2. Dabei geblieben

4.3. Pastorale Handlungsbereiche

4.3.1. Das Enneagramm und die geistliche Begleitung (I)

4.3.2. Geistliche Begleitung als Alternative zu Gruppenarbeit

4.3.3. Geistliche Begleitung als „Therapie“

4.3.4. Enneagramm in der geistlichen Begleitung

4.3.5. Geistliche Begleiter

4.3.6. Enneagramm als Modell für personenbezogene Begleitung

4.4. Das Enneagramm in der Geistlichen Ausbildung von Priestern und Ordensleuten (II)

4.4.1. Geistliche Ausbildung

4.4.2. Das Enneagramm in geistlichen Gemeinschaften

4.4.3. Self-Esteem (Selbstwertgefühl)

4.4.4. Personal-Growth-Initiative ‘PGI’

4.4.5. Herausforderungen der Verantwortlichen

4.4.6. Villasante Ergebnisse

4.4.7. Weitere Kritikpunkte und Vorschläge

4.4.7.1. Enneagramm als Angriffsmittel

4.4.7.2. Die Wahl von Ennegramm-Lehrern bzw. Trainern

4.4.7.3. Wer darf/muss an Enneagramm-Seminaren teilnehmen?

4.4.7.4. Sich das Gelernte zu Eigen machen

4.5. Das Enneagramm in der Jugendarbeit und Jugendpastoral (III)

4.5.1. Identitätsfindung

4.5.2. Begleitung von Jugendlichen

4.5.3. Das Enneagramm und Jugendliche

4.5.4. Die Notwendigkeit für den Begleiter, sich und die Jugend zu ‚kennen’

4.5.5. Beispiele experimenteller Anwendung des Enneagramms im Rahmen von Jugendarbeit

4.5.5.1. Fall 1

4.5.5.2. Fall 2

4.5.5.3. Fall 3

4.6. Zeitpunkt der Enneagramm-Vermittlung

5. Perspektiven und Grenzen: Beobachtungen und Vorschläge in Bezug auf Gegenwart und Zukunft der Enneagramm-Arbeit

5.1. Rückblick und Zusammenführung

5.2. Möglichkeiten der Enneagramm-Arbeit

5.2.1. Menschenkenntnis in der Seelsorge und Pastoral

5.2.2. Dialogmöglichkeiten durch das Enneagramm

5.2.3. Seelsorgliche Professionalität und Enneagramm-Arbeit

5.2.4. Identifikation und Disidentifikation als Beitrag zu Professionalisierung

5.2.5. Bibel, Enneagramm, Gesellschaft (Menschen)

5.2.6. Anwendung des Enneagramms mit vorhandenen Modellen und Denkschulen

5.3. Grenzen des Enneagramms

5.3.1. Gefahr der Verabsolutierung

5.3.2. Erstarrung statt Veränderung und Umkehr

5.3.3. Die Kraft der (Auto)-Suggestion

5.3.4. Prozessuale Veränderung statt zielgerichteter Pragmatismus

5.3.5. Neigung zu „Alleswissern“ und „Kult-Figuren“

5.3.6. Gefahr der Vereinfachung

5.3.7. Typisierungszwang

5.3.8. Herausforderung des richtigen Umgangs

5.3.9 Kritik der Kritiker

5.4. Professionalität und Training

5.5. Enneagramm-Organisationen

5.5.1. Qualifizierung und Zertifizierung

5.5.2. Leitlinien der Enneagramm-Arbeit

6. Zusammenfassung

Anhang

Quellen- und Literaturverzeichnis

0. Einführung

Unter dem Titel ‚Alle Wege der Kirche führen zum Menschen‘ bezeichnet Papst Johannes Paul II. in Artikel 14 der Enzyklika „Redemptor hominis“ den Menschen als den „erste[n] Weg, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrags beschreiten muss“1, weil dieser Weg „von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt.“2 Da der Mensch im Zentrum des Handelns der Kirche stehen soll, und zwar aufgrund des Handelns Gottes, hat die Kirche den Auftrag erhalten, in ihrem Handeln ebenfalls den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. „Die Kirche, die aus einem eschatologischen Glauben lebt, betrachtet diese Besorgnis des Menschen um seine Menschlichkeit, um die Zukunft der Menschen auf Erden […] als ein wesentliches Element ihrer Sendung“3. Dies wird im Vorwort von „Gaudium et Spes“ als Leitwort des ganzen Dokuments auf den Punkt gebracht, in dem es heißt: „Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“ (GS 3)

In der Bibel wird aus dem Handeln Jesu heraus das In-den-Mittelpunkt-Stellen des Menschen bildlich dargestellt, beispielsweise in der Szene, in der Jesus einen Mann mit einer verdorrten Hand am Sabbat heilt. Er fordert den Mann auf, sich in die Mitte zu stellen, und fragt die Umstehenden, was besser sei: ein Leben zu retten oder zu vernichten (Mk 3,1-3). Von Jesu Tat her geleitet, kann sich Interesse am Menschen auch dadurch ausdrücken, dass es Bemühungen gibt, Menschen besser zu verstehen, und es ihnen gleichzeitig ermöglicht wird, sich selbst besser zu verstehen. Diese Arbeit geht von der Hypothese aus, dass dafür das Enneagramm, als psychologisch-spirituelle Charaktertypologie, eine gute Hilfe sein kann.

Als Ausgangspunkt meines Interesses an diesem Thema ist die Erfahrung bei Enneagramm-Seminaren für junge Männer und Frauen von unterschiedlichen Ordensgemeinschaften 2001/2002 in Sambia zu nennen, die von zwei Ordenspriestern geleitet wurden. Die genannten Ordensmänner führten Enneagramm-Seminare und - Workshops auch für andere Gruppierungen durch, z.B. für Jugendliche und verheiratete Paare. Bei meinen ersten Begegnungen mit dem Enneagramm war ich von der Beobachtung beeindruckt, dass viele Teilnehmer, die von den unterschiedlichsten Lebenshintergründen stammten, einen ganz persönlichen Bezug zu diesem Workshop entwickelten. Noch lange nach dieser speziellen Erfahrung konnte ich auf die Eindrücke zurückblicken und sie mit neuen Erfahrungen verknüpfen: sei es im sambischen Staatsfernsehen, in zahlreichen Enneagramm-Veröffentlichungen oder Enneagramm-Veranstaltungen, die ich in Deutschland miterleben konnte. Die Hinweise für den Einsatz des Enneagramms in unterschiedlichen Rahmen waren hinreichend, um den Impuls und das Interesse für eine tiefgehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Enneagramm zu geben. Ausgangspunkt dieser Forschung ist die Annahme, dass das Enneagramm dazu beitragen kann, Menschen auf persönlicher Ebene in den Mittelpunkt kirchlichen Handelns zu stellen und/oder ihnen diese Möglichkeit selbst zu geben. Die Arbeit möchte die theologischen Begründungen und Argumentationen aufzeigen, wie ein solches Vorhaben ermöglicht werden kann, und dazu Vorschläge unterbreiten, wie besonders im kirchlichen Rahmen eine christlich kompatible Einsetzung des Enneagramms (weiter-)4entwickelt werden kann.

Die vorliegende Untersuchung geht somit von zwei Arbeitshypothesen aus: 1. Die Kirche will die Menschen „in das Zentrum“ ihres Handelns stellen. 2. Das Enneagramm stellt eine Möglichkeit zur Vertiefung von Menschenkenntnis5 dar. Dies kann eine Chance sein, wie Menschen „in das Zentrum“ kirchlichen Handelns gestellt werden können. Als Ergebnis dieser zwei Arbeitshypothesen wird daher nach Möglichkeiten gesucht, diese „Eigenschaft“ des Enneagramms (Menschenkenntnis) und das „Vorhaben“ der Kirche (Mensch im Zentrum) in Einklang zu bringen.

0.1. Fragestellung

Das Enneagramm ist nicht unumstritten! Und da die Meinungen darüber vielseitig sind, kann es nicht selbstverständlich sein, dass die angesprochenen „Chancen“ aus der Enneagramm-Arbeit tatsächlich auch erkannt werden können. Diesbezüglich ist die Fragestellung der Untersuchung die, ob eine weitere eingehende wissenschaftliche Forschung dazu beitragen kann, klare Verhältnisse für die Anwendung des Enneagramms im pastoralen Bereich zu schaffen. In der Untersuchung wird diese Frage anhand von Teilaspekten der Enneagramm-Arbeit, Erfahrungen mit dem Enneagramm und theologischer Analyse behandelt.

Es sind Christen selbst, die gegenüber einer christlichen Anwendung des Enneagramms zurückhaltend sind. Paradoxerweise hat die christliche Enneagramm-Arbeit maßgeblich dazu beigetragen, dass das Enneagramm sich in neueren Zeiten fest etabliert hat. Um auf die kritischen Stimmen gegenüber der Enneagramm-Arbeit eingehen zu können, werden drei Bereiche berücksichtigt: das Enneagramm-Verständnis, die umstrittenen Aspekte der christlichen Enneagramm-Arbeit und die Frage, welche theologischen Gedanken in den Mittelpunkt gerückt werden, um eine klärende Funktion einzunehmen. All das wird vor dem Hintergrund der Enneagramm-Praxis diskutiert. Da es hier um ein Thema geht, das schon Eingang in die Praxis gefunden hat, werden alle anderen Erkenntnisquellen so eingesetzt, dass diese die Praxis des Enneagramms entweder besser erläutern, bestätigen oder korrigieren. Damit soll erreicht werden, dass auch theologische Überlegungen zum Enneagramm eine wirkliche Hilfe für die Weiterentwicklung der Praxis werden. So sollen sowohl intrinsische wissenschaftliche als auch christliche Bezüge der Enneagramm-Arbeit hervorgehoben werden, um die Akzeptanz des Enneagramms nicht nur bei denjenigen nachvollziehbar zu machen, die schon Erfahrungen sammeln konnten, sondern eine grundsätzliche integrative Offenheit der Enneagramm-Arbeit gegenüber den beiden erwähnten Bereichen von Wissenschaft und christlichem Bezug zu begründen.

0.2. Zur Methode

Der Fragestellung wird mit unterschiedlichen Methoden nachgegangen. Zunächst wird eine historische Rekonstruktion des Enneagramms mit Schwerpunkt in der christlichen Tradition unternommen. In der Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis des Enneagramms und den gängigen Theorien darüber wird Enneagramm-Literatur analysiert. Diese und andere psychologische Werke liefern die notwendigen Informationen für eine praktische und psychologische Klärung der Enneagramm-Theorie. An dieser Stelle spielen ‚außertheologische‘ Informationsquellen eine wichtige Rolle. In der theologischen Auseinandersetzung werden systematischtheologische und praktisch-theologische Erkenntnisse herangezogen. Hierzu zählen auch kirchliche Dokumente. Alle theoretischen Anteile der Arbeit werden durch eine Vielzahl von induktiv basierten Informationsimpulsen begleitet. Davon sind einige zitierte Befragungen, Berichte und Arbeiten von anderen Fachleuten und ein großer Teil von Interviews, die im Rahmen dieser Recherche durchgeführt worden sind. Die Ergebnisse der qualitativen Forschung erscheinen in der Arbeit nicht gesondert, sondern werden von Anfang an „im Dialog“ mit der eingesetzten Literatur verwendet. Obwohl die Interviewten sowohl aus dem deutschsprachigen Raum als auch aus Sambia stammen, versteht sich diese Arbeit nicht als Vergleichsstudie und erhebt auch nicht den Anspruch, repräsentativ zu sein. Die Befragungen zielen vielmehr auf persönliche Erfahrungen und Meinungen über das Enneagramm.6 Die aus den Aussagen gewonnenen Informationen dürfen daher im Rahmen und in Bezug auf das Ziel der Arbeit wissenschaftlich verwendet werden.

0.3. Erhebungsverfahren

Die in die Arbeit aufgenommenen Informationen stammen ausschließlich von den Interviews, die als elektronische Daten mit einem Diktiergerät aufgenommen wurden, im Zeitraum von Dezember 2009 bis Ende Mai 2010 geführt. Diejenigen, die in relativ kurzer Zeit aufeinander folgten, wurden aufgrund der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten zwischen Februar und März 2010 in Sambia und beim Kirchentag Mai 2010 geführt.

Für die Transkription wurde die „F4 Transkriptionssoftware“ verwendet. Zum größten Teil handelt es sich bei den Interviews um Einzelinterviews (20), es gab dazu noch zwei Paarinterviews und ein Gruppeninterview mit vier Personen.

Obwohl ich eine Liste von vorbereiteten Fragen hatte, wurden diese kaum oder nur in Einzelfällen wörtlich abgefragt. In diesem Sinne war das Interviewformat halbstrukturiert. Dies war wichtig, um im Interviewverfahren eine natürliche und spontane Atmosphäre zu vermitteln, aber gleichzeitig die Möglichkeit aufrechtzuerhalten, die unterschiedlichen Aussagen zu den Forschungsfragen am Ende miteinander vergleichen und analysieren zu können. Dadurch konnten sowohl die Experten von ihren Ansichten sprechen als auch einzelne Interviewpartner vom eigenen Leben erzählen. So war es mir mit dem Verfahren auch möglich, nur Fragen zu stellen, die gerade von meinem Gegenüber angesprochen worden waren. Dies führte dazu, dass die Reihenfolge der Fragen in den einzelnen Interviews variierte. Das erklärt auch, warum die Länge der Interviews sich stark unterscheidet. Mit dieser Vorgehensweise habe ich mich an der problemzentrierten Interviewform nach Andreas Witzel7 orientiert, mit der die Möglichkeit besteht, unterschiedliche Elemente in Forschungsinterviews einzubinden.

0.4. Umgang mit den Daten

In dieser Arbeit sind alle Namen anonymisiert worden, außer die Namen von Personen, die professionell mit dem Enneagramm arbeiten und Personen des öffentlichen Lebens sind.

Die Interviews wurden weitestgehend im Original belassen. Nur dort, wo sie aufgrund der Umgangssprache missverständlich sein könnten, wurden sie sprachlich geglättet.

0.5. Analyseverfahren

Für das Analyseverfahren wurde die kostenlose Datenbearbeitungssoftware namens „Zettelkasten“ eingesetzt.8

Zur Analyse der Daten wurde nach den Prinzipien der Grounded Theory9 gearbeitet. Für diese Recherche habe ich die Arbeit von Jörg Strübing verwendet, der eine klärende Arbeit zu den Arbeitsmethoden und Theorien der Grounded Theory geleistet hat. Dies tut er vorerst, indem er die Unterschiedlichkeiten der Arbeit der Pioniere und Hauptvertreter der Methode (Barney G. Glaser, Anselm Strauss und Juliet Corbin) „als Ausdruck fundamentaler sozialtheoretischer und erkenntnislogischer Differenzen“10 bezeichnet und selber versucht, eine einfache aber verständnisvolle Darstellung der Grounded Theory vorzuzeigen, indem er die „Diskussion der epistemologischen und sozialtheoretischen Hintergründe der grounded theory“11 hinzuzieht.

Der Umfang der erhobenen Daten wurde bezugnehmend auf die Fragestellung analysiert. Daher wurde hier in der Behandlung von Codes12, Concepts und Categories nicht überwiegend auf einzelne Worte geachtet, sondern auf die angesprochenen Themenbereiche und ihre Inhalte. Aus diesem Grund war es auch für die Textauszüge, die tatsächlich in der Arbeit Verwendung fanden, nicht notwendig, die Transkriptionsregeln z.B. für Sprechgeschwindigkeit, Pausen, nonverbale Kommunikation einzuhalten und darzustellen. Obwohl so in einigen meiner Transkriptionen verfahren wurde, habe ich mich wegen der Verständlichkeit und Lesbarkeit entschieden, einige Wortformungen, die in die Arbeit gelangten, zu ändern.13 Dies betrifft Stellen, wo z.B. mehrere „ähs“ hintereinander kommen, größere Pausen eingelegt werden, oder Worte, bei denen im Gesprochenen Silben fehlen, z.B. „ich hätt’s“. Dies betrifft besonders die Interviews, die zuerst transkribiert worden sind.

0.6. Zum Aufbau der Arbeit

Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert. Ausgangspunkt sind die historischen Hintergründe des Enneagramms. Die Rückführung auf die christlichen Bezüge in der Entwicklung des Enneagramms soll zum christlichen Verständnis des Enneagramms beitragen. Hier werden besonders Aspekte der Lehre des Wüstenmönchs Evagrios Pontikos eingehend bearbeitet.

Das zweite Kapitel setzt sich mit der Enneagramm-Theorie auseinander. Ausgehend vom ersten Kapitel soll hier ein umfassenderes Bild vom Enneagramm gezeichnet werden. Im Rahmen einer derartigen wissenschaftlichen Arbeit soll die Vorstellung des Enneagramms lediglich dazu beitragen, den Lesern dieser Arbeit, die noch nicht mit der Theorie des Enneagramms vertraut sind, seine Grundanteile näher zu bringen. Hier wird nur auf eine generelle Auseinandersetzung mit der Enneagramm-Theorie eingegangen. Mit Verweis auf Ennagramm-Literatur, die sich detailliert mit den einzelnen Enneagramm-Typbeschreibungen beschäftigt, wird auf eine eingehende Darstellung der Typen verzichtet.

Im dritten Kapitel wird das Enneagramm aus theologischer Perspektive diskutiert: Im ersten Teil werden die Hauptthemen dargestellt, die in Bezug auf die Theologie in der Enneagramm-Arbeit wichtig sind. Dieser Teil beginnt mit einer Analyse des Diskussionsstandes des Enneagramms in der Theologie und endet mit einer Vorstellung von Themen und Praxen des Enneagramms, die für eine christlichtheologische Legitimität der enneagrammatischen Arbeit plädieren. Dies wird dann in den zwei weiteren Teilen konkretisiert. Der zweite Teil ist systematischtheologisch ausgerichtet und beschäftigt sich mit der Klärung der wichtigsten theologischen Terminologien, die in der Enneagramm-Arbeit zu finden sind. Der dritte Teil führt die pastoraltheologische Ausrichtung dieser Arbeit aus. Der Teil ist stark an die Literatur und die zeitgenössischen pastoraltheologischen Konzepte angelehnt. Der vierte Teil greift die Ergebnisse der vorangegangenen drei Teile auf, zieht Schlüsse und gibt Vorschläge für eine christliche Enneagramm-Arbeit und Theorie.

Exemplarisch werden im vierten Kapitel drei pastorale Handlungsbereiche zum Einsatz des Enneagramms behandelt. Angefangen von den Erfahrungen der Interviewten wird in diesem Kapitel gezeigt, wie das Enneagramm in der Praxis angewendet wird. Das Enneagramm in der geistlichen Begleitung, in der geistlichen Ausbildung von Priestern und Ordensleuten und in der Jugendarbeit und Jugendpastoral verbindet das Schlagwort „Begleitung“. Durch die Interviews und Berichte von anderen Projekten wird das Alltagswissen der Menschen hier vergleichsweise stärker rezipiert als in anderen Teilen der Arbeit. Damit wird ein Bezug zwischen den theoretischen Diskussionen und den Lebensrealitäten und Meinungen der Menschen über das Enneagramm hergestellt.

Das letzte Kapitel möchte unter der Überschrift „Perspektiven und Grenzen“ einerseits die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammenfassen, andererseits darauf aufbauend eine zukünftige Enneagramm-Praxis vorschlagen, die sowohl in der theologischen Diskussion als auch im christlich-kirchlichen Handeln und für die Menschen verständlich ist. Dafür sind die Beschlüsse handlungsrelevant ausgerichtet, indem kritisch auf die Chancen und Gefahren des Enneagramms hingewiesen wird. Abschließend werden Vorschläge für die Organisation von Enneagramm-Arbeit unterbreitet. Diese sind in dem Sinne gedacht, dass sie nicht nur auf die drei in der Arbeit vorgestellten Handlungsfelder beschränkt sind, sondern auch Orientierung für weitere Gebiete der Enneagramm-Arbeit geben, auf die sie ausgeweitet werden können.

1. Geschichtliche Hintergründe: Von Evagrios Pontikos bis zur Systematisierung des Enneagramms als Charaktertypologie in der neuen Zeit

Je nachdem, in welchem Rahmen mit dem Enneagramm gearbeitet wird, haben die Rückblickversuche in die Entwicklungsgeschichte des Enneagramms verschiedene Schwerpunkte. Im Aufsatz mit dem Titel „Das Ende der Sufi-These“ von Werner Küstenmacher wird zum Beispiel dafür plädiert, dass es nicht mehr reiche, den Ursprung des Enneagramms allzu schnell dem Sufismus zuzusprechen. Küstenmacher versucht, eine kurze aber präzise Rekonstruktion der historischen Entwicklung des Enneagramms zu leisten, worin er verdeutlicht, dass die Sufis nur einen Teil der Entwicklungskette des Enneagramms bilden. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Sufis das Wissen um das Enneagramm besonders geprägt haben. Aber zu erklären, dass sie das System erfunden hätten, würde das Enneagramm-Wissen verengen, denn es enthält mehr als nur die Elemente des Enneagramms, die in der sufistischen Lehre zu finden sind. Diesem Aufsatz nach wurde die These von den Sufi-Wurzeln des Enneagramms ohne genaue Überprüfung weitergegeben.14 Angesichts der unterschiedlichsten Hypothesen und Vorgehensweisen zu diesem Thema ist man im Allgemeinen der Ansicht, dass das Enneagramm uralt und sein Ursprung nicht bekannt sei. Sicher ist zumindest, dass es in Sufi-Gemeinschaften als ‚geheimes’ Wissen gelehrt wurde. Solche Angaben über die Herkunft des Enneagramms haben für das jeweilige Publikum einen gewissen Reiz, was nach Peter Winslow „dem Enneagramm auch einen unguten, elitären ‚Snob-Appeal’“15 verleiht.

Eine Analyse der Entwicklungsgeschichte des Enneagramms zeigt, dass das Enneagramm – wie wir es heute kennen – verschiedene Entwicklungsstufen durchlebt hat.16 Zusammenfassend schreiben Don Richard Riso und Russ Hudson: „Es ist ein Hybride, eine Mischung aus mehreren alten Weisheitslehren und moderner Psychologie.“17 Es besteht aus diversen Beiträgen verschiedener Strömungen, die sich im Laufe der Jahrtausende zu einem ganzen System geformt haben. Nach Riso/Hudson „handelt es sich um eine Zusammenfassung des universalen Wissens“18, in der die spirituellen und religiösen Traditionen des Buddhismus, der mystischen jüdischen Geheimlehre der Kabbala, des Christentums und des Islams (vor allem die islamischen Mystiker, die Sufis) vertreten sind.19

Enneagrammatiker machen einen Unterschied zwischen der Entwicklung des Enneagramm-Symbols auf der einen und der Beschreibung der Persönlichkeitstypen, wie wir sie heute kennen, auf der anderen Seite. Obwohl beide uralt sind, sind sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht im gleichen Rahmen entstanden. Dessen ungeachtet, dass das Enneagramm der Persönlichkeitstypen nicht so alt ist wie das Enneagramm-Symbol, sind die Grundideen, die dazu beigetragen haben, dass wir eine Psychologie der neun Typen haben, auch alt.20 „[E]rst in den letzten Jahrzehnten wurden diese beiden Quellen der Erkenntnis [das Symbol und die Persönlichkeitstypen] zusammengebracht.“21 Außer in den Ursprüngen ist dieses „Konglomerat“22 erkennbar in Riso/Hudsons Beschreibung der Zusammensetzung des Enneagramms: „Das Enneagramm ist eine geometrische Figur, in der die neun Persönlichkeitsgrundtypen und deren komplizierte Wechselbeziehungen symbolisch dargestellt sind.“23

Obwohl eine unumstößliche Festlegung des Ursprungs des Enneagramm-Symbols wegen fehlender genauer Überlieferung nicht möglich ist, wird behauptet, dass es schon in der babylonischen Zeit um 2500 v. Chr. entstanden sei. Nach Riso/Hudson sprechen die mit dem Enneagramm verbundenen Ideen weiter dafür, dass sie viel mehr mit dem klassischen Griechenland zu tun haben: insbesondere mit dem mathematischen und geometrischen Wissen, das unter anderem auf Pythagoras, Platon und einige Neuplatoniker hinweist.24

Der US-Amerikaner Michael J. Goldberg schreibt über das Enneagramm als „The Enneagramm styles“25, die so bereits Homer (ca. 750 v. Chr.) gekannt habe, wie wir sie auch heute im Wesentlichen kennen.26 Goldberg spricht nicht explizit vom Enneagramm der Persönlichkeitstypen, sondern über „the nine basic themes“.27 Mit den ‚neun Grundthemen’ zeigt er dann, wie der Dichter Homer in seinen mythologischen Schilderungen den König Odysseus auf dem Weg von Troja nach Ithaka, seinem Zuhause, irrfahren lässt. Auch in dem Roman „Odysseus“ des deutschen Fantasy-Autors Wolfgang Hohlbein28 sind die Schilderungen der Charaktereigenschaften seiner Charaktere auffallend und für diese Arbeit sehr interessant.29 Denn es kann auch bedeuten, dass Homer – obwohl er das Enneagramm in seiner heutigen Form nicht gekannt hat – Zugang zu einer Art ‚Charakterbeschreibungs-system´ hatte. Homer beschreibt die Charaktere so, dass jemand, der das Enneagramm nicht kennt – in diesem Falle Hohlbein –, trotzdem den Eindruck vermittelt, die Beschreibungen seiner Charaktere mit Hilfe des Enneagramms gemacht zu haben.30

Die Ähnlichkeiten zu den Enneagramm-Mustern lassen sich vielleicht so erklären, dass jemand, der den Menschen gründlich studiert, mit oder ohne Enneagramm zu solchen Charakterbeschreibungen kommt. Wenn dies der Fall sein sollte, dann wäre die Behauptung Goldbergs weit hergeholt.

Von wissenschaftlichen Belangen ist bei diesem Vergleich der Enneagramm-Muster mit den „Charakteren“ bei Homer festzustellen, dass sie die ältesten Belege einer Typenbeschreibung in der Weltliteratur sein könnten. Trotzdem ist die Annahme Goldbergs, dass Homer die Typen in dieser Weise gekannt habe, mit Skepsis zu betrachten. Hier können die Charaktere bei Homer auf das Enneagramm nicht eins zu eins übertragen werden. Grund dafür ist, dass es bei Homer nicht nur um neun Figuren, sondern auch darum geht, unterschiedliche Verhaltensweisen und Einstellungen darzustellen. So wie bei Goldberg können dann auch die Enneagramm-Muster daraufhin angepasst werden. Ähnlich kann auch mit anderen Typologien verfahren werden. Obwohl diese Darstellung kaum Handfestes zur historischen Rekonstruktion des Enneagramms beiträgt, kann gezeigt werden, wie durch die Vielseitigkeit des Enneagramms kaum ein Rückschluss auf eine einzelne Quelle bzw. Typenlehre gezogen werden kann.

Es waren unter anderem die mathematisch-spirituell-philosophisch-mystischen Strömungen im Laufe der Jahrtausende, die dazu beigetragen haben, dass die verschiedenen Aspekte der Enneagramm-Lehre sich weiterentwickelten und verbreiteten. Der Austausch von religiösen Ideen und Weltansichten zeigt sich besonders an der Rolle, die die Sufis und die jüdische Lehre der Kabbala in der Nutzung und Weitergabe der Enneagramm-Lehre spielten.31 Denn obwohl das Wissen um das Enneagramm meistens unter Eingeweihten tradiert wurde, blieb es trotzdem nicht innerhalb einer Gruppe. Allerdings kam es erst nach der Erlangung dieses Wissens im Westen durch George Iwanowitsch Gurdjieff (1875-1949), einem griechischarmenischen spirituellen Lehrer, Autor und Komponisten, dazu, dass das „Enneagramm“ den Weg in die breite Öffentlichkeit finden konnte, obwohl es anfangs von Gurdjieff als mündliches Lehrsystem der Sufis betrachtet wurde und nicht für jedermann zugänglich war.32 Einen ‚Bruch’ mit dieser ‚Tradition’ stellt die rasante Verbreitung von Enneagramm-Literatur dar, vor allem in den 1980er Jahren, als die ersten Enneagramm-Bücher auf dem Buchmarkt erschienen.33

1.1. Entwicklung bis zum heutigen Stand

Es gibt kaum eine Enneagramm-Schrift, die sich mit den historischen Hintergründen des Enneagramms befasst, ohne den Namen Gurdjieff zu erwähnen. Trotzdem ist das in Verbindung mit Gurdjieff gebrachte Enneagramm nicht mit dem Enneagramm der Typologien, wie wir es heute kennen, zu vergleichen. Wie schon erwähnt war vor Gurdjieff das Enneagramm-Symbol oder das allgemeine Enneagramm-Wissen keine Typologie, wie sie heute eingesetzt wird. Es war das Verdienst von Personen, die sich mit diesem Wissen auseinandergesetzt und dazu beigetragen haben, dass das Enneagramm-Wissen seine Bahn zur Entwicklung des Enneagramms der Persönlichkeitstypen nahm und seine „Geburtsstunde“ in der breiteren Öffentlichkeit fand. Als erster ist Oscar Ichazo34 zu nennen, dessen Wissen um das Enneagramm als von Gurdjieff unabhängig betrachtet werden kann, obwohl vermutet wird, dass er es aus der gleichen Quelle wie Gurdjieff schöpfte. Das Gemeinsame bei beiden ist, dass keiner von ihnen seine Quelle verraten hat. Vermutlich lernte Gurdjieff dieses Wissen kennen, angespornt von seiner Auseinandersetzung mit esoterischem Wissen, als er mit seinen Gefährten auf einer Suche nach altem Wissen für die Transformation des Menschen war. Mit diesem Ziel stieß er entweder in der Türkei oder in Afghanistan auf das Enneagramm-Symbol.35 Wie Gurdjieff nahm Ichazo das Enneagramm-Wissen auf, vermutlich als er in Kontakt mit den Sufisten gekommen war – unabhängig von Gurdjieff.36 „Als psychologische Typologie wurde [das Enneagramm-Wissen] durch Oscar Ichazo in den 70er Jahren von Bolivien aus in den Westen eingeführt.“37 Bei Rohr/Ebert wird Ichazo als derjenige beschrieben, der in den 70er Jahren das „‚Enneagramm der Fixierungen’ systematisiert[e]“38. Außer seiner systematischen Erarbeitung der vielen Komponenten des Enneagramms, die er aufgeschrieben hatte, konnte Ichazo dieses gesamte Material dem Enneagramm-Symbol zuordnen.39 Daraus schließt Bartels, dass die neue Interpretation und Systematisierung des Enneagramms der Charaktertypologien ein Verdienst Ichazos ist.40 Insofern würdigt Bartels Ichazo als den „Urheber des ‚modernen Enneagramms‘“41. Ichazos Verständnis des Enneagramms basiert auf der Überzeugung, dass im Wesen des Menschen – d.h. in dem, was ihn ausmacht, seiner Grundausstattung – eine Spiegelung der Eigenschaften Gottes auszumachen sei, welche den positiven Teil der Neun Typen des Enneagramms beschreiben.42 Demnach wird ein Bild vom Menschen vertreten, das grundlegend positiv ist. Interessanterweise ist der Ausgangspunkt seiner Typologie nicht die ‚Eigenschaft Gottes im Menschen’, sondern der Katalog der Todsünden, wie sie in der christlichen Tradition zu finden sind.43 Im Ganzen heißt dieser Einsatz des Enneagramms, dass, obwohl der Mensch im Grunde ‚gut’ ist, er seinen ursprünglichen Zustand vergisst, indem er seine göttlichen Eigenschaften aus dem Blick verliert, woraus die Fehlhaltungen entstehen. Nach der christlichen Lehre werden die Fehlhaltungen als die „Sieben Todsünden“ benannt. Um der Zahl des Enneagramms zu entsprechen, mussten zwei hinzugefügt werden: die Angst und die Täuschung.44 „Ichazo verfolgte die Vorstellungen über die neun göttlichen Eigenschaften von der mittelalterlichen Literatur – u. a. Chausers Canterbury Tales und Dantes Purgatorio – bis zu den Wüstenvätern des vierten Jahrhunderts, von denen der Begriff der Sieben Todsünden stammt, und zum antiken Griechenland zurück.“45

In der weiteren Entwicklung des Enneagramms spielte Claudio Naranjo eine große Rolle. Naranjo ergänzte sein Wissen über die modernen Persönlichkeitstypen mit dem des Enneagramms und entwickelte daraus die Typenlehre des Enneagramms. Der Chilene benutzte sein psychiatrisches Wissen und ergänzte damit die Entwürfe Ichazos zu einer vollständigen Form.46 „Seit den grundlegenden Arbeiten Ichazos und Naranjos haben viele Menschen, unter anderem die Autoren [Riso/Hudson] das Enneagramm weiterentwickelt und an ihm viele neue Facetten entdeckt.“47 Besonders die Ordensleute der Gesellschaft Jesu, die Jesuiten, spielten eine große Rolle in der Entwicklung und Nutzung des Enneagramms: Zu nennen ist hier vor allem Don Richard Riso, der selber Jesuit und von ihnen geprägt war. Eine seiner Beiträge ist die Feststellung der Entwicklungsstufen.48 Über die Arbeit Naranjos und ihre Verbindung mit der ‚jesuitischen Tradition’ schreibt Johannes Bartels:

Es war der chilenische Psychiater Claudio Naranjo, der im Anschluss an das Arica-Training in Chile ab 1971 die ersten Enneagramm-Kurse auf nordamerikanischem Boden veranstaltete. Einer der Teilnehmer war der Jesuit Robert Ochs. Ochs, der in dieser Lehre Elemente der Wüstenväter-Tradition der kapitalen Leidenschaften wiedererkannte, sah darin eine Möglichkeit, die christliche Lehre der Heiligung zu konkretisieren. Er übersetzte Naranjos Lehre in die Sprache jesuitischer Theologie und begann im selben Jahr, das Enneagramm im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Loyola-Universität in Chicago zu vermitteln.49

In seiner Würdigung der Leistung der Jesuiten nennt Bartels die Veröffentlichung des Werkes („Das wahre Selbst entdecken – eine Einführung in das Enneagramm 1984“) des Jesuitenpater Patrick O’Leary, der Dominikanerin Maria Beesing und von Pater Robert J. Nogosek von der Kongregation vom Heiligen Kreuz. Nach Bartels leistet die Arbeit der drei Autoren einen zweifachen Beitrag zum Enneagramm: Als Erstes zu nennen ist die erstmalige schriftliche Fixierung des Enneagramms, in der einige wichtige Aspekte des Enneagramms enthalten waren, u.a. die Triaden-Theorie, die Zentral- und Seitenpunkte und die Pfeiltheorie.50 Ein zweiter Beitrag ist der Versuch der Autoren, das Enneagramm, das seiner Geschichte nach nicht nur christliche Eigenschaften hat, sondern sein Wissen von anderen Quellen speist, theologisch ‚akzeptabel’ zu machen. In ihrer Arbeit mit dem Enneagramm, und besonders in ihrem Buch „Das Enneagramm, die 9 Gesichter der Seele“, haben auch Rohr/Ebert das Enneagramm im Licht des christlichen Glaubens dargestellt und neu interpretiert. Sie benutzen in diesem Zusammenhang den Begriff der „Taufe51 des Enneagramms. Dies beinhaltet die Betrachtung des Enneagramms nicht im Sinne eines Selbsthilfeinstruments wie bei Gurdjieff oder Ichazo, und auch nicht wie in vielen Enneagramm-Büchern, die das Enneagramm als eine Technik darstellen, die das Bewusstsein steigert, sondern als Weg der Selbstbeobachtung oder Selbstreflexion, der dem Menschen seine ‚Erlösungsbedürftigkeit’ und Angewiesenheit auf die Gnade Gottes bewusst macht.52 In diesem Sinne fasst Bartels zusammen: „Durch seine ‚Taufe’ hat sich das Enneagramm zugleich vom esoterischen Heilsweg zum sünden- und bußtheologischen Instrument der Selbsterkenntnis gewandelt.“53

1.2. Einordnung in die christliche Tradition

Obwohl das Enneagramm der Persönlichkeitstypen eine ‚Entwicklung’ unserer Zeit ist, liegen seine Wurzeln in einer Vergangenheit, die als ‚bruchstückhaft’ gesehen werden darf.

Ebert beschreibt seinen Aufsatz in der internationalen amerikanischen Enneagramm-Zeitschrift „Enneagram Monthly“ (März 1996) unter dem Titel „Are the Origins of the Enneagram Christian at all?“ wie seine ‚Suche’ nach einer christlichen Quelle des Enneagramms eine Antwort zum Teil in Evagrios Pontikos’ Schriften findet. Unabhängig von ihm sei auch Lynn Quirolo zur gleichen Feststellung gelangt. Ihr Aufsatz erschien in der gleichen Zeitschrift in zwei Teilen unter dem Titel ‚Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram‘.54 In Eberts deutscher Version des Artikels, der im Rundbrief55 der ÖAE (Ökumenischer Arbeitkreis Enneagramm e.V.) unter dem Titel „Hat das Enneagramm doch christliche Wurzeln?“ erschien, schreibt er: