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Table of Contents

Titel

Impressum

Ein Kapitel, das noch nicht zählt

1. Kapitel: A wie Anfang

2. Kapitel: B wie Bibliothek

3. Kapitel: C wie Chaos = Durcheinander

4. Kapitel: D wie Dunkelheit oder drunter und drüber

5. Kapitel: E wie Einfall

6. Kapitel: F wie Freundschaft

7. Kapitel: G wie Geschichten

8. Kapitel: H wie Hilfe oder Hoffnung

9. Kapitel: I wie Ich

10. Kapitel: J wie Ja, wir tun’s

11. Kapitel: K wie Können

12. Kapitel: L wie Lesen

13. Kapitel: M wie Möglichkeiten

14. Kapitel: N wie Neugier, Nacht und Nebel

15. Kapitel: O wie Opfer

16. Kapitel: P wie Paulina, weil sie die Geschichte schreibt

17. Kapitel: Q wie ein Quäntchen Glück

18. Kapitel: R wie Raus bist du noch lange nicht

19. Kapitel: S wie So sind wir am Ende

20. Kapitel: T wie Tue selbst etwas

E wie Ende

Die Personen, die in der Geschichte mitspielen

Mehr Zauberhaftes und Wunderbares

 

 

 

Elfriede Philipp

 

 

 

 

 

 

 

Entführt auf Schloss

Tintenfass

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

 

 

Copyright by: Elfriede Philipp

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2018

ISBN: 9783957535214

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by Elena Schweitzer

 

Ein Kapitel, das noch nicht zählt

Aber wir erfahren, wie Hortense tanzt und Grüße von Schloss Tintenfass erhält

 

Seit Tagen vermisste Hortense Nachtigall den Schlüssel zum hinteren Eingang ihrer unterirdischen Bibliothek. Sie musste ihn verlegt haben, und das ärgerte sie, denn nun gab es nur die steile Holztreppe, um von oben, dem Verkaufsraum ihrer Bücherei, in die Unterwelt zu steigen. Das war beschwerlich für sie und trotzdem lächelte sie, als sie die Bodenluke im Fußboden anhob. Auf der dritten Stufe würde das Licht automatisch aufflammen. Sie legte die rechte Hand fest auf das Geländer, um Halt zu finden. In der linken Hand trug sie ihren Stock, den sie beim Gehen brauchte, und ein Buch, was der eigentliche Anlass war, um hinunterzusteigen.

Das helle Licht, das aufgeflammt war, ging allmählich in einen warmen Schein über, der den Augen wohltat und Regale und die Buchrücken, die sie grüßten, hervorhob. Über ihr schloss sich mit einem leisen „Plopp“ die Bodenluke. Nun stand sie unten. Abgetretene rote Kokosläufer lagen zwischen den Regalreihen. Liebkosend strich Hortense mit den Händen über einige Buchrücken. „Da bin ich wieder einmal“, sagte sie dazu, als grüße sie Freunde. Aber Bücher waren ihre Freunde, deshalb vermochte sie sich auch kaum von einem zu trennen. So fanden die oben aussortierten, mehrfach geklebten Bücher, mit Flecken und Eselsohren verunziert, eine neue Unterkunft, Heimstätte, Bleibe in der unterirdischen Bibliothek. Jeder würde über ihre Grille lachen. Aber außer ihrer Mitarbeiterin wusste niemand davon. Eines Tages werde ich mich von ihnen trennen müssen, sagte sie sich immer wieder, der Gedanke war ihr schrecklich.

Mit langsamen Schritten, den Blick auf die Bücher gerichtet, ging Hortense Nachtigall dem hinteren Teil des Raumes zu, wo an der Wand ein kleiner Tisch stand mit Schreibzeug und einigen Karteikästen. Sie wollte das Buch ordnungsgemäß einordnen. Hortense Nachtigall gab etwas auf Ordnung. Aber da mahnte sie eine Stimme aus ihrem Inneren: „Es ist eine Übersetzung aus dem Englischen, es sollte schnell Freunde hier finden.“ Hortense nickte dazu und stellte es neben ein Buch, das den Titel „Heidi“ trug. Zwei Mädchen, die in der Fremde eine neue Heimat finden müssen. Sie dachte an Mary Lennox in der englischen Geschichte. Das gibt wunderbare Gespräche von Buch zu Buch.

Über dieses Buch war außerdem beim Lesen und hastigen Umblättern ein Topf mit Kakao gekippt worden, der seinen Inhalt vergossen hatte. Ein paar Marmeladenflecke kamen noch hinzu. Der Schaden blieb – auch nach allen Trockenversuchen durch Hortense. Eine verlegene Mutter und ein Junge mit rotem Gesicht brachten es ihr zurück. Als sie die tiefen Stirnfalten bei Hortense Nachtigall bemerkten, versuchten sie es mit einer langen Erklärung und Entschuldigung, sie zu glätten. Doch dieses Mal blieb Hortense Nachtigall hart. „Es ist das zweite Mal, dass dir so was passiert“, hatte sie vor Zorn bebend gesagt. „Vier Wochen Ausleihverbot.“

„Aber ich habe sie noch gar nicht gelesen, die Geschichte“, beschwerte sich der Junge.

„Wir werden es natürlich bezahlen, das Buch“, beeilte sich die Mutter hinzuzufügen.

„Natürlich, natürlich“, sagte Hortense etwas milder gestimmt. „Aber es geht mir um das Buch. – Gut, sagen wir vierzehn Tage.“

Jetzt lächelte Frau Nachtigall, als sie wieder daran dachte und am Tisch Platz nahm, den Stock neben sich. Tief atmete sie die besondere Luft ein, die nach Leder, alten Druckseiten und nach etwas schmeckte, was man nicht benennen kann. Sie sah hinauf zur Decke. Ihr kam es vor, als hingen von dort Regale herab, die in einem leisen Zugwind hin und her pendelten. „Was natürlich nur eine Täuschung ist“, flüsterte sie sich zu. Doch das Aussehen der kleinen Bibliothek war niemals das gleiche, wenn sie herunterkam. Ganz plötzlich veränderte sie ihr Gesicht, auch die Bücher standen mal hier, mal dort in den Regalen, um dann später an ihren Platz zurückzufinden. Und hing dort nicht ein Mädchenzopf aus einem Buch? Blitzte nicht eine Reihe dahinter die Spitze eines Säbels auf? Hortense strich sich über die Augen. Zauberei – Magie? Nun, wir werden es herausfinden.

Mit kleinen Schritten, in ihrer Vorstellung schienen sie ihr groß, ging sie zur Mitte des Raumes, wo ein freier Platz war. Da schloss sie die Augen, stützte sich auf ihren Stock, den linken Arm streckte sie aus. „Jetzt tanzen können“, murmelte sie, „ganz ohne Schwere und auf Zehenspitzen mit leichten Schritten, fast schwebend.“ Oh – sie fühlte, wie dieser Wunsch ihre Füße erreichte. „Jetzt“, flüsterte sie, „Mary Poppins, schicke mir deinen Schirm.“ Hortense richtete ihre Bitte an das Kindermädchen, das mit einem Schirm vom Himmel herabgeflogen kam. Dabei hielt sie noch immer die Augen geschlossen. Mit sanftem Wiegen in den Hüften, im Kopf hörte sie eine alte, halb vergessene Melodie, begann sie, sich zu bewegen.

 

„Juchhe – juchhe – die Fiedel klingt,

juchhe, im Dorf ist Tanz.

Der Müller seine Liese schwenkt,

die Grete nimmt der Hans.

Doch von den Mädchen allen,

die hier so fröhlich sind,

gefällt mir doch von allen,

des Geigers braunes Kind – juchhe.“

 

Der Text stimmte vielleicht nicht ganz, aber sie fühlte den Schirm in ihrer Hand, einen zierlichen Schirm, keinen Stock mehr. Jetzt war sie des Geigers braunes Kind, und sie konnte tanzen – leicht, schwerelos. Zwei Schritte nach rechts, zwei Schritte nach links, und sie drehte sich unter dem Schirm, den sie hochhielt, schneller und schneller. Die Verzauberung war da. Hortense Nachtigall hob noch den anderen Arm. Vielleicht würde sie mit dem Schirm bis an die Decke fliegen?

Da hörte sie an der Tür zum hinteren Ausgang ein Geräusch. Hortense musste sich erst besinnen. In ihrer Hand fühlte sie wieder den Stock. Die Tür öffnete sich. Mit leisen Schritten kam eine lange, dünne, schwarz gekleidete Gestalt herein. Was wollte sie? Wer wusste, dass sie hier war?

„Nur abzugeben“, sagte die Gestalt und drückte ihr eine Papierrolle in die Hand. Verwirrt nahm sie sie, und noch ganz benommen schloss sie die Tür. Ihr Atem ging schneller. Hortense setzte sich an ihren kleinen Tisch und rollte das Papierstück auseinander, hielt es vor sich hin. Sie sah, es war ein Plakat. Ein großes, dunkles Tintenfass beherrschte die Mitte, dahinter reckten sich düstere Schlossmauern empor. Hortense starrte auf das Tintenfass, ein Frösteln überlief ihren Rücken. Dann zweckte sie das Plakat an die Tür, an der Wand hingen daneben schon zwei andere. Sicher so eine Werbung für eine Reise, fand sie die Lösung dafür. Auf dem Plakat stand: Grüße von Schloss Tintenfass. Ihr fehlte noch immer ein Stückchen Boden unter den Füßen und ein Zipfelchen an klaren Gedanken.

Nach einer Weile ging sie hinaus auf einen kleinen Vorhof, wo in blauen Kübeln Hortensien blühten. Ganz in Gedanken nahm sie die Gießkanne und gab den Blumen in ihren Kübeln Wasser, die Linus Petermann sicher schon gegossen hatte, weil sie das immer vergaß. Hier herrschte eine angenehme Dämmerung. Hortense atmete den Geruch nach feuchter Erde ein.

Morgen ist Mittwoch, da gehe ich mit Linus Petermann, der ein alter Verehrer von ihr war, ein gemischtes Eis essen. Dabei erzähle ich ihm vielleicht von meiner unterirdischen Bibliothek – aber vielleicht auch nicht. Denn ein Geheimnis für sich ganz allein zu haben, ist wohl das Schönste, und man kann es später noch immer teilen.

Woran Hortense Nachtigall in diesem Augenblick nicht dachte, war, dass unterirdische Bibliotheken Orte sind, an denen Geschichten geboren werden. Hier schien gerade eine zu beginnen.

An der hinteren Tür von außen steckte ihr gesuchter Schlüssel. „Da bist du ja wieder“, sagte sie erfreut.

 

1. Kapitel: A wie Anfang

Wir lernen Paulina kennen und erfahren, dass sie den besten Aufsatz in der Klasse schreiben will

 

So hatte es sich Paulina nicht ausgedacht, wie es dann kommen sollte.

Damals saß sie im Wartezimmer von Frau Dr. Pieper, Augenärztin, neben ihrer Mutter, die bestellt war, und grübelte über den Anfang ihres Aufsatzes nach, den sie in den Ferien schreiben sollte. Auf ihren Knien lag ein Buch, aber sie schaute nicht hinein. Vor ein paar Tagen hatte ihre Klassenleiterin Frau Wiebold die Schüler gefragt, wer in den Sommerferien nicht verreise – also zu Hause bliebe. Einige zaghafte Hände wurden gehoben. Frau Wiebold musterte die Schüler, dann sagte sie, sie dürften sich als einen kleinen Ausgleich dafür eine fantastische, selbst erfundene Geschichte aufschreiben, dabei in Gedanken in fremde Länder reisen, während die anderen Schüler mit dem üblichen Aufsatz über das schönste Ferienerlebnis berichten sollten.

Obwohl Paulina ahnte, sie würde zu den Daheimgebliebenen zählen, es war fast zum Lachen, denn ihre Mutter arbeitete in einem Reisebüro, wollte sie ganz sicher gehen und fragte am Morgen ihre Mutter: „Wie ist es, Mam, verreisen wir dieses Mal? Omi hat uns eingeladen.“

Doch als ihre Mutter den weiten Blick bekam, der über sie hinweg sah, ahnte sie schon etwas von der Antwort.

„Ach, ich weiß noch nicht“, antwortete ihre Mutter ausweichend. „Gerade in den großen Sommerferien verreisen so viele Leute. Und Herr Huber“, der der Chef von ihrer Mutter war und der Oberreiseleiter in dem Reisebüro, in dem ihre Mutter arbeitete, „ist total überlastet.“ Herr Huber war immer überlastet, das wusste Paulina schon, und sie seufzte leise auf. „Sicher sähe er es nicht gern, wenn ich …“, ihre Mutter holte den Blick zurück und sah Paulina recht unglücklich an.

„Aber fast alle Kinder in der Klasse verreisen in den Ferien“, bohrte Paulina weiter, „außer vielleicht Betsie.“ Betsie war ihre beste Freundin, und geteiltes Leid ist halbes Leid – aber bitter war es doch. Auch gab es bei Betsie ganz andere Gründe dafür, die sie verstehen konnte. Ihre Eltern bauten gerade am Rande der Stadt, weil dort die Preise für Grund und Boden billiger waren, ein Haus. Sie wollten ein Auge auf die Handwerker haben und selbst da und dort mit anpacken.

„Wir werden noch einmal darüber sprechen“, verschob ihre Mutter die Entscheidung über das Verreisen. „Im Herbst gibt es auch noch schöne Tage und es sind wieder Ferien.“

Da stand Paulinas Entschluss fest: Sie würde ihrer Klassenlehrerin Frau Wiebold einen Aufsatz – besser noch eine Geschichte – liefern, die alle bisherigen Aufsätze in den Schatten stellen sollte. Mund und Nase dürften sie in der Klasse aufreißen, wenn sie ihn vorlas. Die Ferienberichte über Mallorca oder eine Seereise über den Atlantik, ein Flug über London, würden verblassen vor dem, was sie sich ausgedacht hatte.

Und so saß sie jetzt und kaute an ihrem ersten Satz, der, das wusste sie schon, sehr wichtig war, genau wie in einem Buch.

Leise vor sich hinmurmelnd, dachte sie: „Die schwarzgraue, große Ratte in dem stockdunklen Keller roch am Bein der Stoffpuppe Malwiena und überlegte, ob sie es anknabbern sollte.“ Wie die Stoffpuppe in den stockdunklen Keller gekommen war, vielleicht verloren von jemandem, musste sie später erklären.

„Hm, hm“, Paulina wiegte den Kopf. Spannend gewiss, aber bestimmt gab es Mädchen in ihrer Klasse, die sich vor Ratten gewaltig fürchteten. Nein, etwas anderes musste her.

‚Auf den Kopf des Reisenden im Abteil 1. Klasse tropfte Blut aus dem Koffer im Gepäcknetz über ihm. Dann aber stellte sich heraus, es war nur Ketchup aus einer kaputten Ketchupflasche.‘ Der Gedanke peinigte sie, Paulina empfand Unbehagen, ob sie das nicht schon irgendwo mal gehört hatte und es deshalb kein richtiger eigener Anfang wäre.

Also weiter. ‚Als König Adobar mit gezücktem Schwert in das Verlies stürmte, um die Prinzessin im weißen Kleid zu befreien, die mit Ketten umwunden an einem Balken stand, sprang die große Ratte aus der Ecke auf ihn zu. König Adobar erbleichte.‘ Nein, nicht schon wieder die Ratte, dachte Paulina genervt. Die kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen.

Den Aufsatz würde sie schon schaffen, da war sich Paulina ganz sicher, auch wenn sie noch keinen richtigen Anfang gefunden hatte. Für ihre Aufsätze und das Vorlesen derselben bekam sie immer eine Eins. Dabei wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Gespräch mit ihrer Mutter am Morgen. Da war etwas gewesen, das sie gleich wieder verdrängt hatte, was aber wie ein kleiner Stachel in ihrem Fleisch saß. Ihre Mutter sagte so dahin, ohne sie anzusehen: „Vielleicht könntest du in den Ferien einen Zeichenzirkel besuchen, Paulina?“ Und deutete damit an, dass ihr sonst so gutes Zeugnis durch eine Drei im Fach Zeichnen erheblich herabgedrückt wurde.

„Da habe ich schon nachgefragt in der Schule, die nehmen mich nicht“, antwortete Paulina bedrückt. „Da muss man eine Eins oder Zwei haben. Sie geben keinen Nachhilfeunterricht.“

„Dann schau dir von Betsie etwas ab.“ Damit verwies ihre Mutter auf ihre beste Freundin, die eine funkelnde Eins in dem Fach erreichte und deren Arbeiten zu den schönsten Hoffnungen berechtigten, wie ihre Lehrerin Frau Wiebold es ausdrückte. Aber Betsie war kein guter Lehrmeister. „Schau einfach richtig hin – dann kommt alles von allein.“ Doch das half nicht viel. Dafür wusste Betsie nur das Übliche in ihren Aufsätzen zu erzählen, wobei Paulina immer etwas Besonderes einfiel. Auch Betsies Leseleistung war nicht die beste. Nun, ihre Mutter fand auch keine Lösung für ihr Problem.

Innerlich sehr unzufrieden mit dem Ergebnis ihrer Überlegungen, richtete sich Paulina auf und sah, dass die Frau ihr gegenüber weinte. Ein ganz lautloses, unauffälliges Weinen. Als wäre in der Frau im Augenblick nur einfach zu viel Feuchtigkeit vorhanden, die als Tränen aus den Augen rollten und auf den hellgrauen, weichen Pullover tropften, der teuer aussah und Paulina an das seidenweiche Fell einer Rassekatze erinnerte. Die Frau nahm jetzt die Brille ab. Die Perlmutteinfassung glänzte und Paulina bemerkte, dass die Frau zwei verschiedenfarbige Augen besaß: ein blaues und ein leuchtend grünes – Katzenaugen – Hexenaugen!

In dem Augenblick wurde ihre Mutter aufgerufen: „Frau Apple, bitte als Nächste!“

Die Mama stand fahrig, nervös auf. „Drück mir die Daumen, dass es nichts Schlimmes bringt“, flüsterte sie überhastet Paulina zu. Die nickte, sah ihrer Mutter nach, dann wieder zu der Frau mit der grünen und blauen Augenfarbe hinüber. Die Frau war nicht mehr jung, eher älter, oder es kam Paulina so vor, als besäße sie gar kein Alter, dafür die verschiedenen Augenfarben. Sie trug graue Hosen, eine silbergraue Anstecknadel auf dem Pullover und … ja, rote Schuhe. Richtig rote Sandalen mit einer silbernen Spange auf jeder Seite. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, setzte die Brille wieder auf und ein leises, verlegenes Lächeln dazu. Und nun gab es keine Träne mehr.

„Kann ich … kann ich vielleicht …“, stotterte Paulina ebenfalls verlegen und sah die Frau an.

„Nein, nein“, wehrte diese etwas erschrocken ab. „Oder vielleicht doch.“ Sie zögerte. „Du hast da ein Buch mit. Vielleicht kannst du mir sagen, wo ich in der Nähe eine Buchhandlung finde. Ich bin erst hierher gezogen und kenne mich noch nicht so gut aus.“

Paulina nickte erfreut, damit konnte sie dienen, und sie beschrieb ihr den Weg zu einer kleinen Buchhandlung, ganz in der Nähe.

Als ihre Mutter aus dem Sprechzimmer zurückkam, sagte sie: „Komm, wir gehen! Nichts Schlimmes. Frau Dr. Pieper hat mir eine Lesebrille verordnet. Damit kann ich dann besser lesen. Wie wäre es mit Vorlesen abends am Bett?“ Ihre Mama war in Spendierlaune.

„Wenn du meinst“, antwortete Paulina etwas unbestimmt, etwas weniger freudig, als ihre Mutter erwartet hatte. „Ich werde in nächster Zeit viel nachdenken müssen, gerade abends im Bett“, murmelte sie. „Ich schreibe an einem besonderen, fantastischen Aufsatz.“ Dabei überlegte sie angestrengt, ob die geheimnisvolle Dame mit den unterschiedlichen Augenfarben nicht eine Figur in ihrer Geschichte werden könnte.

Als sie mit ihrer Mutter ging und sich noch einmal umdrehte, wollte sie schwören, dass ihr ein blaues und ein grünes Auge nachsahen. Wirklich, sie hatte sich nicht getäuscht.

Obwohl es kein schöner Tag für die ältere, ehemalige Lehrerin Flora Hornnickel war, früher von ihren Schülern Mrs. Hornnickel genannt, weil sie neben Mathematik und Zeichnen auch einige Stunden Englisch unterrichtet hatte, erhellte jetzt ein Lächeln ihr Gesicht, als sie als Letztes von Paulina deren langen rötlichen Zopf am Hinterkopf sah. Soeben hatte sie erfahren, dass ihr auch keine Operation ein gesundes rechtes Auge schenken konnte. Mit dem linken musste sie recht sorgsam umgehen, um die vorhandene Sehkraft noch lange zu erhalten. Entschlossen lenkte sie ihre Füße in den neuen, roten Sandalen der kleinen, versteckt liegenden Buchhandlung zu, von der sie nun wusste, man verkauft dort Kinderbücher und leiht aber auch welche aus. Das war in dieser Zeit etwas Ungewöhnliches; Leihbüchereien gab es schon lange nicht mehr. Wenn man ein Buch entleihen wollte, ging man für gewöhnlich in die Stadtteilbibliothek. Aber an dieser Buchhandlung, deren Besitzerin Hortense Nachtigall hieß, war manches anders.

Den Anstoß zu diesem Entschluss, sich wenigstens zwei Kinderbücher zu kaufen oder auszuleihen, verdankte sie diesem Mädchen mit dem langen rötlichen Zopf am Hinterkopf, der ihr bis auf den Rücken hinunterreichte, und das ihr im Wartezimmer von Frau Dr. Elke Pieper gegenübergesessen hatte und unaufhörlich etwas vor sich hinmurmelte. Zuerst störte es sie in ihrem Kummer. Dann blieben Wortfetzen, ohne dass sie hinhörte, in ihrem Gedächtnis hängen und lenkten sie ab. “Ratte“ hörte sie und den Namen „Malwiena“, und beides zusammen erinnerte sie an die Geschichte „Das goldene Schlüsselchen“. Auf einmal erwachte ein so starker Wunsch in ihr, dieses Buch, so wie viele andere Bücher aus ihrer Kindheit, wieder zu lesen. Schluss mit Fernsehen! Lesen, so lange sie noch konnte, vor allem ihre Kinderbücher, von denen sie nur noch wenige besaß und viele verschenkt hatte. Weil sie auch Englisch unterrichtet hatte, fielen ihr auch eine Menge aus dem Englischen übersetzte Kinderbücher ein, wie: Der kleine Lord; Der geheime Garten; Mary Poppins; Alice im Wunderland, aber auch viele deutsche, wie: Emil und die Detektive; Die unendliche Geschichte und viele andere.

Die Bücher stürzten auf sie herunter wie ein warmer tröstlicher Regen in all ihrem Kummer. An die Bücher konnte sie sich klammern. – So birgt jede schlechte Nachricht ein Fünkchen Hoffnung.

Oh, wie es sie trieb, ihren hastig gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen. Jetzt gleich. Sie lief ihren Füßen hinterher, die schneller und schneller ihren Weg fanden. Dabei waren ihre Beine nicht mehr die jüngsten und besten. Die Lust darauf, möglichst schnell ihr Ziel zu erreichen, ein ängstlicher Blick auf ihre Uhr am Handgelenk sagte ihr, sie habe vielleicht noch eine halbe Stunde bis zur Schließzeit 18 Uhr; das trieb sie an. Das drängte die schreckliche Nachricht über ihr rechtes Auge zunächst nur ganz wenig, dann aber etwas mehr zurück. Sie blieb in ihr wie eine dunkle Melodie, die weiterklingt und sich allmählich mit helleren Tönen mischte. Aber das Dunkle überwog. Dabei wusste sie nicht, dass sie mit dem Öffnen der Tür zu Hortense Nachtigalls kleinem Buchladen in ihr größtes Abenteuer stolperte. Aber so kann es gehen, wenn man sich auf Bücher und Geschichten einlässt. Mrs. Hornnickel und Paulina sollten das bald erfahren.

 

2. Kapitel: B wie Bibliothek

Wir erfahren etwas über ein Gespenst mit

Zylinder

 

Hortense Nachtigall hinter ihrem Computer lächelte die neue Lesekundin erfreut an, die sich als Flora Hornnickel, ehemalige Lehrerin für Mathematik, Englisch und Zeichnen, auf der Karteikarte eingetragen hatte. Sie fand nichts Ungewöhnliches daran, dass eine ehemalige Lehrerin sich für Kinderbücher interessierte, das Gegenteil wäre eher auf Verwunderung gestoßen.

„Ach, Kinderbücher für Sie, wie schön. Gewöhnlich lesen Erwachsene lieber Romane oder natürlich Krimis“, wurde sie gelobt. „Nun, einige kaufen für ihre Kinder oder Enkelkinder Bücher, sind aber furchtbar enttäuscht, wenn sie hören, hier gibt es nur Kinderbücher.“

Mrs. Hornnickel nickte voller Verständnis dafür und bekräftigte: „Das hat schon seine Richtigkeit. Ich möchte einiges auffrischen und wieder lesen. Auch gibt es eine Reihe von Neuerscheinungen, die ich noch gar nicht kenne und auf die ich neugierig bin.“ Sie sah sich um, tastete mit den Augen die Regalreihen ab. Nachdem sich Mrs. Hornnickel entschieden hatte, ein brandneues, soeben erschienenes Kinderbuch zu kaufen, wollte sie noch zwei andere Bücher ausleihen, weil sie zurzeit nicht im Verkaufsregal vorhanden waren, zwei aus dem Englischen übersetzte bewährte, ältere Bücher, die sie früher gern gelesen hatte: Mary Poppins, die Geschichte von dem Kindermädchen, das mit einem Schirm vom Himmel schwebt, und Der geheime Garten.

Zu dieser Wahl nickte Hortense Nachtigall beifällig. Sie befragte sofort ihren Computer, ob sie nicht gerade ausgeliehen wären. Erfreut stellte sie fest, dass das nicht der Fall war, und ging zu der Abteilung, wo groß ‚Ausleihe‘ darüber stand, kam aber mit leeren Händen zurück, leicht auf ihren Stock gestützt.

„Nun, es ist mir sehr peinlich“, murmelte sie ärgerlich, ihre neue Lesekundin enttäuschen zu müssen, schüttelte den Kopf mit den hochgesteckten Haaren, darin Spangen wie kleine Schmetterlinge sich tummelten, „wir müssen einen geheimen Bücherklau haben. Anders ist es nicht zu erklären, dass Bücher verschwinden, aber nach zwei oder drei Tagen wieder im Regal stehen.“ Hortense Nachtigall wiederholte noch einmal mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln: „Wie peinlich.“

Frau Hornnickel sah jetzt schrecklich enttäuscht aus.

Etwas nervös, weil heute Mittwoch war, trat Hortense Nachtigall von einem Fuß auf den anderen. Jeden Mittwoch wurde sie von Linus Petermann, einem treuen Verehrer, mit einem Blumentopf in der Hand, in dem immer eine Hortensie blühte, abgeholt. Dann gingen sie ein gemischtes Eis essen und sprachen über die neuesten Bücher auf dem Buchmarkt. Das alles wusste die neue Kundin nicht, doch eine Lösung musste gefunden werden.

Frau Nachtigall sah auf ihre Uhr. „Wir schließen gleich. Aber wenn Sie vielleicht auch mit zwei zerleseneren Exemplaren zufrieden wären, dann …“ Sie sah Frau Hornnickel hoffnungsvoll an.

Als diese erfreut nickte, rief sie ihrer Kollegin zu: „Ich muss in die Unterwelt!“, und verschwand. Nach kurzer Zeit drückte sie ihrer neuen Kundin die beiden begehrten Bücher in die Hand. Diese fasste sehr vorsichtig zu. Mit geübtem Blick sah sie sofort, es waren zwei wundervolle alte Bücher und sicher reich illustriert, was sie bei den heutigen Ausgaben zum Teil schmerzlich vermisste. Zugegeben, sie sahen zerlesen aus. Mrs. Hornnickel bedankte sich, seufzte tief auf und murmelte dann vor einem tiefen, weichen Sessel: „Nur einen Augenblick.“ Mit einem Plumps sank sie aufatmend darauf nieder und schielte auf ihre neuen, roten Sandalen. „Die drücken gewaltig“, zischte sie durch die Zähne, „was ich nicht verstehen kann. Dabei schauen sie aus, als wären sie sehr bequem.“

Was Mrs. Hornnickel später noch weniger verstehen konnte, war, dass es so still um sie geworden war, als sie nach einiger Zeit die Augen aufschlug und sich umsah. Erschrocken fuhr sie auf. War sie hier eingeschlafen? Fassungslos und verstört stellte sie fest, dass sie eine Gefangene zwischen Reihen von Regalen und unendlich vielen Büchern war. Frau Hornnickel versuchte, den Schreck zu verarbeiten, dass man sie vergessen hatte wie einen überflüssigen Regenschirm. So etwas war ihr noch nie passiert. Energisch rüttelte sie an der Eingangstür. Die Klinke bewegte sich nicht. Gefangen – eingeschlossen! Sich zur Ruhe zwingend, nahm sie wieder auf dem Sessel Platz. Was sollte sie tun? Anrufen! Wen? Bei ihr zu Hause gab es niemand, der abheben würde. Die Polizei? Sie zögerte. Da stellte man ihr gewiss unangenehme Fragen. Vielleicht kam sie da selbst in Verdacht? „Warum haben Sie sich einschließen lassen? Wie kam es dazu?“ Sie sah den Polizisten schon vor sich, mit so einem schmalen Bärtchen auf der Oberlippe. Nein! Die lassen wir mal lieber aus dem Spiel. Mrs. Hornnickels Augen streiften einen gefüllten Einkaufsbeutel neben sich. Sie brauchte nicht zu hungern. Und die neuen Augentropfen hatte sie auch noch besorgt, ehe sie die Bücherei betrat.

Bücher umgaben sie in Hülle und Fülle – die Nacht sich mit Lesen zu vertreiben, schien ihr durchaus möglich, wenn auch nicht so verlockend wie zu Hause. Am Morgen, wenn die erste Bibliothekarin den Raum betreten würde, wollte sie Krach schlagen – gewaltigen Krach. Und die Bücher würde sie zurückgeben und nie wieder einen Fuß hierher setzen. Nur ihr schöner Plan, alle die von ihr geliebten Kinderbücher wieder zu lesen, zerflatterte dabei vor ihren Augen. Nun, sie würde bis zum Morgen ausharren, und die Strafpredigt blieb. Das war das Mindeste, was geschehen musste. Sonst würde sich die Bücherei durch den Leichtsinn der Bücherfrau mit dem schönen Namen Hortense Nachtigall in ein Gefängnis verwandeln.

Sie streckte die Beine so lang aus, wie es ging. Erschöpft drückte sie den Rücken gegen die Sessellehne. Mit Verlangen dachte sie an ihr gemütliches Zuhause. Wie wunderbar wäre jetzt eine Tasse heißer Tee. Bedrückt und verärgert kramte sie in ihrer Tasche nach den neuen Augentropfen. Sie schraubte die kleine Flasche auf. Geschickt träufelte sie, den Kopf zurückgelehnt und nach der Zimmerdecke schauend, einen Tropfen der klaren Flüssigkeit in jedes Auge. Nun hatte sie zwei Stunden Zeit, um es noch einmal zu wiederholen. Frau Hornnickel beschloss, aus ihren Einkäufen in eine Hand ein Brötchen und in die andere Hand eine Scheibe Schinken zu nehmen und abwechselnd abzubeißen. Eifrig wickelte sie beides aus. Leicht auf den Zehenspitzen wippend, spazierte sie mit Schinken und Brötchen in den Händen durch alle vier Räume. Jetzt taten ihr die Füße nicht mehr weh. Sie betrachtete hier und da etwas, ohne es zu berühren. Der Schinken war alle.

Mit aufkeimender Hoffnung drehte sie an einem Fenstergriff. Dahinter befand sich ein Rollladen, heruntergelassen. Doch den konnte sie hochziehen. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Die Hoffnung erstarb. Nach der Überlegung, Vorübergehende dürften sie bemerken, trug sie einen Stuhl in einen hinteren Raum. Da konnte sie noch eine Weile lesen. Getröstet wischte sie ihre Hände an ihrem Taschentuch ab. Die Buchrücken musternd, entdeckte sie ein halb herausgezogenes Buch. Befriedigt stellte sie fest, sie hatte Emil und die Detektive erwischt. Gleich fühlte sie sich freudig erregt. Lesend marschierte sie mit weit ausgreifenden Schritten zwischen den dicht stehenden Bücherregalen auf und ab.

Bald las sie mit guter Betonung laut und stellte sich eine ihrer früheren Schulklassen dabei vor. Undeutlich sah sie erwartungsvolle, gespannte Kindergesichter vor ihren Augen – und natürlich die Geschichte.

„Zuerst ist da einmal Emil, Emil Tischbein, der Held der Geschichte. Seine Mutter wäscht blonde und braune Köpfe von Kundinnen in ihrer Stube und frisiert sie und arbeitet unermüdlich, damit sie zu essen haben und die Gasrechnung sowie die Kohlen, die Miete, die Kleidung, die Bücher und das Schulgeld bezahlen können.“

Hier hielt Frau Hornnickel ein, warf einen kurzsichtigen Blick an den Bücherregalen entlang, weil sie ihre Brille auf die Stirn hinaufgeschoben hatte, und blätterte im Buch zurück. Ja, sie ging ganz so vor, als müsse sie Kindern, die keinen blauen Dunst von Emil Tischbein hatten, die Geschichte von Erich Kästner verständlich erzählen.

Bei ihrem Hin- und Herlaufen war Mrs. Hornnickel immer unbewusst an derselben Stelle stehen geblieben, um kurz anzuhalten, ehe sie weiterging. Jetzt sah sie hinab auf ihre Schuhe. Da klang etwas hohl unter ihren Füßen. Aufmerksam schaute sie auf den Läufer unter ihren Schuhen. Es war ein schmaler, robuster, schon leicht abgetretener Kokosläufer, an dieser Stelle geteilt und wieder aneinandergeschoben. Ihre rechte Fußspitze tastete darüber hin, um eine Unebenheit zu finden. Sie stellte nur Glätte, absolutes Gleichmaß am Boden fest. Zerstreut ging sie weiter, ohne die Augen von ihrer Buchseite zu heben, aber sie las nicht mehr, sondern lauschte ihren Schritten nach. Dann verharrte sie an derselben Stelle wieder.

„Da ist etwas – oder meine Nerven spielen mir einen Streich!“ Was unter diesen seltsamen Umständen nicht verwunderlich wäre. Der Himmel sollte sie davor bewahren, ihre Neugier zu befriedigen, etwa den Läufer anzuheben, um darunterzusehen. Entschlossen bog sie mit einem kurzen Schwenk in die nächste Regalreihe ein – um überhastet zurückzukehren.

Obwohl sie die Antwort schon kannte, fragte sie sich: „Also was tun wir, Mrs. Hornnickel?“

Widerwillig hockte sie dann am Boden, um den störrischen Kokosläufer anzuheben. Eine ebene Fußbodenplatte zeichnete sich ab, auf das Genaueste eingepasst. In einer runden Vertiefung lag ein Eisenring. Er musste das Geräusch nach Metall und unbefestigter Tiefe ausgestoßen haben. Hatte er auch noch „Hier!“ gerufen? Ablehnend schüttelte sie den Kopf. Sofort wusste sie, es wäre klüger gewesen, den Läufer zu lassen, wo er seinen Platz hatte. Nun musste sie auch den nächsten Schritt tun und den Ring ergreifen, um die Falltür anzuheben. Nein! Schon tauchte ein Satz in ihrem Gedächtnis wieder auf, lockend, verheißungsvoll: „Ich muss in die Unterwelt“, hatte Hortense Nachtigall ihrer Kollegin zugerufen. War das der Weg in die Unterwelt?

Noch glaubte sie, die Wahl zu haben, konnte den Läufer wieder zurückschlagen und so tun, als wäre alles geklärt. Was war da schon? Nur eine Falltür im Fußboden. Aber da wäre sie eben nicht Mrs. Hornnickel gewesen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Hier durfte sie das sogar wörtlich nehmen.

Und sie hätte auch nicht Alice im Wunderland lesen dürfen, um zu wissen, dass sich unter einem Loch etwas verbarg. Wie der sie angrinsende Eisenring ihr verriet – bestimmt ein Geheimnis. Mrs. Hornnickel schwärmte für Geheimnisse. Oh – ein Geheimnis zu entdecken, war schon immer ihr heimlicher Wunsch gewesen. Sie hatte sich das nie richtig eingestanden. Aber jetzt, wo es vor ihr lag, das Geheimnis, fühlte sie ein Jucken im Rücken. Niemand würde sie außerdem sehen, wenn sie darunter nur eine Büchse Bohnerwachs und Putzlappen entdeckte. Ein viereckiges Loch gähnte ihr entgegen, eine Holztreppe führte nach unten.

Ehe sie einen Fuß auf die erste Stufe setzte, flüsterte sie vorsichtshalber: „Alle guten Geister, steht mir bei.“ Ein Blick in die schauerliche Finsternis und Tiefe sagte ihr, dass sie jetzt im Begriff war, alle Warnungen, die sie sonst bei jedem Schüler ausgesprochen hätte, in den Wind zu pusten. Was trieb sie nur, wie eine Dumme in ihr Verderben zu laufen?

Der große schwarze Höllenhund, der unten lauern würde, mit Augen, groß wie Suppentassen, biss gewiss zu. Das wäre es dann gewesen. Nur würde sie mit ihrem plötzlichen Tod der Bücherei keinen Gefallen tun. Warum hatte man sie auch eingeschlossen?!

Zu ihrer Überraschung aber blieben der Höllenhund, Giftschlangen und Fußangeln aus. Dafür blendete sie eine plötzliche Helligkeit, die ihr in die Augen stach. Nur zwei rasche Griffe an das Geländer der Holztreppe retteten Mrs. Hornnickel vor dem Absturz. Trotzdem zappelten ihre Beine in der Luft. Auch warf sie einen ängstlichen Blick ringsum. Er gewann sogleich an Festigkeit. Ein tiefes Ausatmen folgte. Erleichtert stellte sie fest, sie war dabei, ihre Füße in den Raum einer unterirdischen Bibliothek zu setzen. Bücherregale, wohin ihre Augen schweiften. Wie eine Katze strich sie an ihnen entlang. Fast hätte sie ihren juckenden Rücken daran gerieben. Der Geruch nach altem Leder, Leim und Wärme kitzelte ihre Nase.

Überwältigt murmelte sie: „Tausendundeine Nacht könnte man hier lesen!“