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Peter Waldmann

Argentinien

Schwellenland auf Dauer

 

Meinen Söhnen
Adrian und Lucas
gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Argentiniens Weg in die Moderne (1880–2010): Von der blühenden Exportnation zum Entwicklungsstillstand

1. Wachstum nach außen, 1880–1930

Die Belle Époque (1880–1914)

Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Probleme ab dem Ersten Weltkrieg

Politische Entwicklung im Zeichen erweiterter politischer Partizipation

2. Konservative Restauration und populistische Reaktion, 1930–1955

Argentinien im Zeichen der konservativen Restauration

Die Herrschaft der Militärs und der Aufstieg Peróns

Die Ära Perón

3. Ein Land in der Krise, 1955–1983

Wirtschaftlicher Stillstand und relative Verarmung

Politische Instabilität

Refeudalisierung von Gesellschaft und Staat

4. Demokratie ohne Entwicklung, 1983–2010

Strukturelle Veränderungen

Demokratischer Aufbruch und Ernüchterung

Das alte Spiel

II. Ursachen des Entwicklungsstillstands: Ein Erklärungsversuch

5. Was heißt Entwicklungsstillstand?

6. Mentale Muster und Grundeinstellungen

Identitätsprobleme

Der Staat als Ausbeutungsobjekt

Regelsprengender Individualismus

Fehlen einer nationalen Entwicklungsstrategie

7. Gab es Alternativen?

Mögliche Wendepunkte: Der Zweite Weltkrieg und die Alfonsín-Regierung

Literaturverzeichnis
Danksagung
Über den Autor
Impressum

Einleitung

Dieses Buch, vor allem sein zweiter Teil, ist der vorläufige Endpunkt einer 40-jährigen, wiederholt unterbrochenen, aber stets aus Neue aufgenommenen Auseinandersetzung mit der La-Plata-Republik: mit ihren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und institutionellen Strukturen, ihren wachen, liebenswürdigen, oft faszinierenden Bewohnern, von denen nicht wenige meine Freunde geworden sind, und ihrer an dramatischen Wendungen reichen jüngeren Geschichte.

Zum ersten Mal sah ich das Land 1969. Ausgerüstet mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung, hatte ich vor, eine wissenschaftliche Untersuchung über die erste peronistische Regierungszeit (1946–1955) durchzuführen. 1969 war das Jahr, in dem das von den Streitkräften 1966 errichtete autoritäre Regime unter der Präsidentschaft von General Juan Carlos Onganía, das von den Argentiniern bis dahin widerstandslos akzeptiert worden war, erstmals angegriffen wurde. In Córdoba und Rosario brachen Aufstände aus, neu entstandene Guerillaorganisationen machten durch terroristische Anschläge von sich reden. Die Wut und Erbitterung, die in diesen Gewaltaktionen zum Ausdruck kamen, erstaunten den Neuankömmling. Gewiss, die Militärregierung kam einer politischen Entmündigung der Bürger gleich. Aber hatten sich die politischen Parteien nicht als unfähig erwiesen, den Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen und gemäß den Regeln der Verfassung zu regieren, so dass der Vorschlag, die Streitkräfte möchten die Macht ergreifen, nicht selten von ziviler Seite ausging? Außerdem handelte es sich im Falle des Onganía-Regimes, wie von Argentiniern selbst oft zu hören war, um eine dicta blanda, eine milde Diktatur. Die Sicherheitskräfte waren im Straßenbild kaum präsent, die Zensur hielt sich in engen Grenzen, Verwaltung und öffentliche Dienstleistungsbetriebe funktionierten wie unter einer zivilen Regierung. Drei Jahre kontinuierlichen Wirtschaftswachstums schlugen sich in einem relativ hohen durchschnittlichen Lebensstandard und einer generell entspannten sozioökonomischen Situation nieder. Nach der anfänglichen »Säuberung« der Universitäten war auch das kulturelle Leben wieder aufgeblüht, hatte sich allerdings schwerpunktmäßig in Stiftungen und private Zirkel verlagert. Namhafte Künstler und Wissenschaftler aus der ganzen westlichen Welt gaben sich in Buenos Aires ein Stelldichein. Wie waren unter diesen Umständen die Heftigkeit und der Ingrimm zu erklären, mit denen vor allem junge Leute gegen ein Regime aufbegehrten, unter dem es sich, insgesamt betrachtet, doch recht gut leben ließ?

Als ich nach etwa fünf Jahren das Land erneut besuchte, erkannte ich es auf Anhieb kaum wieder. Inzwischen waren die Peronisten an die Macht zurückgekehrt, die zunächst von Héctor Cámpora, dann dem aus dem Exil zurückgekehrten greisen Perón selbst und nach dessen baldigem Tod durch die Vizepräsidentin, seine Gattin »Isabelita«, ausgeübt wurde. Ein Krieg aller gegen alle schien entbrannt zu sein; die vor fünf Jahren auf mich insgesamt friedfertig und tolerant wirkende Gesellschaft zeigte sich nunmehr von ihrer konfliktiven, gewaltbereiten Seite. Man musste nicht lange suchen, um diesen gewalttätigen Zug zu entdecken, er war im Alltag in den unterschiedlichsten Formen präsent und füllte zudem die Medien. Die Kriminalität hatte zugenommen, und die paramilitärischen Akteure hatten aufgerüstet. Die Guerillaverbände waren zu machtvollen Organisationen herangewachsen, die nach Gutdünken Unternehmer und Vertreter des sogenannten Establishments bedrohten und umbrachten. Auf der Gegenseite waren rechtsextreme Todesschwadronen auf den Plan getreten, die sich ihre Opfer unter Gewerkschaftsführern und angeblichen Linkssympathisanten aussuchten. Nimmt man die kaum kalkulierbaren Interventionen der offiziellen Sicherheitskräfte hinzu, so ergab sich eine schwer überschaubare Lage, in der nicht mehr klar zu erkennen war, wer wen bekämpfte, und kein Bürger, der, in welcher Form auch immer, hervorgetreten war, ein Amt oder eine wichtige Funktion bekleidete, noch seines Lebens sicher war. Ich begann zu begreifen, dass ich es mit einer vielschichtigen, komplexen Gesellschaft zu tun hatte; einer Gesellschaft, bei der hinter der Fassade der Zivilität und Toleranz die unterschiedlichsten, teils auch finstren Kräfte am Werke waren und ihr inneres und äußeres Gleichgewicht erschütterten.

Es folgten die Jahre der Militärdiktatur, in denen an die Stelle der offenen Konfrontation das »Verschwindenlassen« angeblicher und wirklicher Regimegegner in Nacht- und Nebelaktionen und das einer Distanzierung von den Opfern gleichkommende Schweigen der Mehrheit zu diesen Repressionsakten trat; dann die militärische Niederlage des Landes im Malvinas-/Falkland-Krieg gegen Großbritannien und die erneute Rückkehr Argentiniens zur Demokratie, die jedoch durch die wirtschaftlich angespannte Situation und die hohe Inflation überschattet wurde, die sich 1989 zur Hyperinflation steigerte; schließlich als Reaktion darauf die »neoliberale« Wende unter Carlos Menem 1990/1991 und zehn Jahre darauf der Staatsbankrott. Ich besuchte das Land in dieser Zeit mit einiger Regelmäßigkeit im Abstand von jeweils 3 bis 5 Jahren. Die Anlässe waren unterschiedlich: Teils handelte es sich um Einladungen von offizieller Seite, teils um wissenschaftliche Konferenzen und Gastdozenturen, teils um Gründe vorwiegend privater Natur. Auf diese Weise kam ich mit sehr unterschiedlichen sozialen Milieus, Institutionen und Personenkreisen in Berührung.

Der Eindruck, der sich aus diesen mannigfaltigen Begegnungen, Beobachtungen und Erfahrungen ergab, war, dass das Land nach einem kräftigen Modernisierungs- und Entwicklungsschub zwischen 1880 und 1930, von dem es immer noch zehrte, an eine Schwelle gelangt war, sich in eine Sackgasse manövriert hatte, welche zu überschreiten beziehungsweise aus der sich zu befreien ihm sehr schwerfiel. Die Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten als regelrechten Niedergang oder Abstieg zu bezeichnen erschiene übertrieben, da sie dazu zu ungleichmäßig verlief, sich in kleinen, unregelmäßigen Schritten vollzog. Der krisenhaften Zuspitzung der Verhältnisse folgten regelmäßig Erholungsphasen, am greifbarsten im ökonomischen Bereich in Form der »stop-go-cycles«. Nicht wenige unter den in kollektiven Angelegenheiten durchaus wundergläubigen Argentiniern knüpften an jeden dieser temporären Aufschwünge die Hoffnung, nun werde sich alles zum »Guten« wenden, das Land erneut den verlorenen Anschluss an die »Erste Welt« (den fortgeschrittenen Westen) finden. Doch eine strukturelle, längerfristige Betrachtungsweise enthüllte das Trügerische dieser Hoffnung. Die Indizien, die auf einen Entwicklungsstillstand, wenn nicht sogar auf regressive Tendenzen hindeuten, nahmen im Laufe der Jahre eher zu als ab. Dazu zählen unter anderem: die Häufung nicht naturbedingter, sondern durch Missmanagement verursachter Katastrophen; die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die Zersplitterung der einst umfangreichen sozialen Mittelschicht; die Zunahme sozialer Armut und des informellen Sektors, verbunden mit dem wachsenden Bildungsdefizit der Unterschichten und sozialen Randgruppen; Inkompetenz und Korruptheit der öffentlichen Verwaltung sowie das sinkende Niveau der politischen Führung und der politischen Klasse insgesamt; schließlich der tendenzielle Rückzug des Staates aus dem öffentlichen Raum, von dem sich sowohl Oberschicht- als auch Unterschichtgruppen Teile angeeignet haben und in eigener Regie verwalten.

Diese Krisendiagnose ist nicht neu, etliche argentinische Sozialwissenschaftler und Argentinien-Experten aus anderen Ländern sind zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt. La declinación argentina, der argentinische Niedergang, wurde zeitweise geradezu zum modischen Schlagwort. Unabhängig von dergleichen Modeströmungen stellt der Bicentenario, die Tatsache, dass Argentinien vor 200 Jahren seine staatsrechtliche Unabhängigkeit erlangt hat, für viele Argentinier einen Anlass dar, Bilanz zu ziehen und sich über den Entwicklungsverlauf der Nation, der nach einem äußerst hoffnungsträchtigen Start in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mittlerweile in eine Dauerstagnation zu münden scheint, Gedanken zu machen. Die dabei regelmäßig auftauchende Frage lautet: Warum? Wie ist dieser merkwürdige Stillstand nach so vielversprechenden Anfängen zu erklären?

Lange Zeit war es üblich, den »Schuldigen« in einer bestimmten Epoche, einer historischen Konstellation oder politischen Kraft oder Bewegung zu suchen, etwa in der Tatsache, dass Argentinien es versäumte, rechtzeitig Zugeständnisse an die USA, die aufsteigende Supermacht nach dem Zweiten Weltkrieg, zu machen. Insbesondere Perón und generell der Peronismus wurden für zahlreiche Fehlentwicklungen, vor allem den Verfall der politischen Kultur des Landes verantwortlich gemacht. Diese Schuldzuweisungen haben heute, zumindest unter Wissenschaftlern, einer differenzierteren und stärker strukturell ausgerichteten Betrachtungsweise Platz gemacht, wobei jede Disziplin naturgemäß die Hauptdefizite im eigenen Zuständigkeitsbereich ortet. So sehen Ökonomen die Hauptursache für die Dauerkrise des Landes in regelmäßig auftretenden Zahlungsbilanzengpässen und dem Fehlen einer dynamischen Schicht von Industrieunternehmern, die dafür gesorgt hätte, dass die nationalen Industrieprodukte (ähnlich wie die Nahrungsmittel) einen internationalen Absatz finden. Politologen verweisen auf die ständige Verletzung der Verfassung, den Hyperpräsidentialismus als politische Fehlentwicklung und die frühzeitige Intervention des Militärs in den politischen Prozess, die dessen chronische Instabilität erkläre. Soziologen wiederum legen den Hauptakzent auf das mangelnde soziale Vertrauen, den ausgeprägten Gruppenpartikularismus und die große Kluft zwischen den sozialen Schichten, welche die soziale Integration als Voraussetzung eines Entwicklungsfortschritts beeinträchtigen.

Alle diese Teilerklärungen haben ihre Berechtigung. Hier wird indes davon ausgegangen, dass es weniger bestimmte wirtschaftliche, institutionelle oder soziale Sachverhalte als solche sind, welche die argentinische Malaise begründen, als vielmehr die ihnen zugrunde liegenden, sie begleitenden, teilweise auch daraus entspringenden mentalen Grunddispositionen und -haltungen. Bestimmte Perzeptions- und Verhaltensmuster, die in Grundüberzeugungen und -einstellungen verankert sind, so die hier vertretene These, bilden in ihrer gegenseitigen Verflechtung und Prägekraft, die sie vor allem auf das Handeln der politischen Klasse ausüben, die Hauptursache für den Entwicklungsengpass, in dem sich Argentinien seit geraumer Zeit befindet. Im ersten, historischen Teil nur gelegentlich angesprochen, werden diese mentalen Züge im zweiten, analytischen Teil systematisch herausgearbeitet. Dabei handelt es sich erstens um die gespaltene Identität der Argentinier und, daraus resultierend, eine tiefe Ambivalenz, was ihre nationale Zugehörigkeit und die Bereitschaft, sich für die nationale Gemeinschaft einzusetzen, betrifft; zweitens um eine einseitig utilitaristische Auffassung vom Staat als Beuteobjekt sowie, unabhängig davon, den fehlenden Willen und die mangelnde Fähigkeit, Konflikte auf dem Verhandlungswege beizulegen; drittens um exzessiven Individualismus, gepaart mit einer Missachtung der Gesetze und generell der Rechtsordnung, die diesen in die Schranken weisen könnte; schließlich – viertens – um das Denken und Operieren in kleinen taktischen Schritten, das Fehlen einer umfassenden Entwicklungsvision und -strategie. Den vier Einstellungsmustern wird sowohl in ihrer Genese als auch in ihren konkreten Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft nachgegangen. Auch die Frage, ob und wann es eine Chance gegeben hat, aus den zu einem Gesamtsyndrom sich verdichtenden Mentalitätsmustern auszubrechen und einen alternativen Entwicklungsweg einzuschlagen, wird zur Diskussion gestellt.

Man könnte die Ergebnisse der Studie dahin gehend zusammenfassen, dass die Argentinier, ungeachtet ihrer Flexibilität und pragmatischen Anpassungsfähigkeit, außerstande waren, umzulernen und gewisse Parameter ihres Denkens, ihrer Orientierung und ihres Verhaltens zu verändern. Sie verharren weiterhin in Mythen, pflegen Einstellungen und Eigenschaften, die in der Phase des fabulösen Aufschwungs des Landes Anfang des 20. Jahrhunderts tolerabel oder gar nützlich gewesen sein mögen, angesichts der veränderten Gesamtsituation aber große Reibungsverluste mit sich bringen und gesamtgesellschaftlich betrachtet ein Entwicklungshindernis darstellen.

Anknüpfend an diesen Befund wäre die Frage aufzuwerfen, welche Lehren der argentinische Fall für Dritte bereithält. Man kann sie mehr ins Theoretisch-Abstrakte wenden oder in Bezug auf andere Länder stellen. Was zunächst die theoretisch-abstrakte Ebene betrifft, so liegt die argentinische Erfahrung sowohl quer zu den gängigen Elitetheorien als auch zu dem heute in den Sozialwissenschaften sich großer Beliebtheit erfreuenden sogenannten »rational-choice«-Ansatz. Die sozialwissenschaftliche Eliteforschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fast ausschließlich für die Machteliten und die Funktionseliten interessiert. Der dritte Teiltypus der Werteliten blieb aus der Betrachtung weitgehend ausgeklammert, da man davon ausging, in fortgeschrittenen Industriegesellschaften herrsche ein Wertepluralismus, der die Bezeichnung einer Gruppe als Wertelite als mehr oder weniger willkürlich erscheinen lasse. Außerdem war man der Überzeugung, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften entwickelten eine Stabilität eigener Art, die eine gemeinsame Wertebasis und Eliten, welche diese verkörperten, weitgehend überflüssig machte. Argentinien, dessen Gesellschaft bereits hochdifferenziert ist, zeigt das Irrtümliche dieser Annahmen auf. Viele der aufgezählten Defizite, vor allem der beklagenswerte Zustand der öffentlichen Institutionen und des politischen Bereichs, hängen letztlich mit dem Fehlen einer Elite zusammen, die sich jenseits aller partikularen Belange für das Wohl der nationalen Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit einsetzt und die gemeinsame Zukunft im Auge hat.

Was den »rational-choice«-Ansatz angeht, so kann die argentinische Gesellschaft, vor allem die Mittelschicht, als Paradefall hochrational kalkulierender und vorgehender Individuen angesehen werden. Ich hatte während der Zeit der Hochinflation (1975–1988), als die durchschnittliche jährliche Inflationsrate bei 100 Prozent und teilweise darüber lag, wiederholt Gelegenheit, die Fähigkeit des Durchschnittsargentiniers zu bewundern, blitzschnell den Zeitverlauf zum Geldwert in Beziehung zu setzen und entsprechend (zum Beispiel bei der Verwendung von Kreditkarten) zu handeln. Zugleich ist das Land jedoch ein gutes Beispiel dafür, dass eine Vielzahl rational kalkulierender Individuen weder eine Gemeinschaft noch eine Gesellschaft, sondern allenfalls ein höchst instabiles, von ständigen Konflikten und Fragmentierungstendenzen bedrohtes soziales Gebilde ergibt. Es ist letztlich das »irrationale«, weil nicht auf den eigenen Vorteil bedachte Engagement, ein ohne genaue Vorkenntnisse und Absicherungen anderen Menschen entgegengebrachtes Vertrauen, das erst gesellschaftlichen Zusammenhalt stiftet und Entwicklung ermöglicht.

Können andere, insbesondere europäische Länder etwas aus dem argentinischen Beispiel lernen? Insoweit scheint große Vorsicht geboten. Die erheblichen Unterschiede, die zwischen einer ehemaligen spanischen Kolonie sowie einem klassischen transatlantischen Einwanderungsland einerseits und den Staaten des alten Kontinents mit ihren ganz andersartigen Strukturen und geschichtlichen Traditionen andererseits bestehen, sollten vor voreiligen Parallelisierungen warnen. Gleichwohl gibt es in Europa durchaus einige alarmierende Entwicklungstendenzen, die als Vorstufe zu den in Argentinien herrschenden Missständen gedeutet werden können. Zu denken ist etwa an Anzeichen einer allmählichen »Enthoheitlichung« des Staates, der zunehmend gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Interessen untergeordnet wird, an die Aufweichung der Rechtsordnung sowohl im Rahmen der Terroristenverfolgung als auch bei Wirtschaftsdelikten oder bei der »flexiblen« Handhabung der Verschuldungsgrenzen der öffentlichen Haushalte sowie, last, but not least, an die anhand von zahlreichen Einzelfällen belegbare moralische Krise der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Dabei handelt es sich bisher nur um Warnsignale, die auf möglicherweise bedenkliche Entwicklungen in der Zukunft hindeuten. Zwei Argumente sprechen jedoch dafür, diese Signale nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Das erste ist der Umstand, dass Europa mit Argentinien, wenngleich zeitlich verschoben, eine sich über gut 50 Jahre erstreckende Phase fast ununterbrochenen wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstandsgewinns teilt. So erfreulich sich dies aus rein ökonomischer Sicht ausnimmt, so bedenklich sind die sozialpsychologischen Folgen solcher anhaltender Wachstumsperioden. Ein Gutteil, wenn nicht die meisten der gegenwärtig Argentinien in Bedrängnis bringenden mentalen Züge bildeten sich, zumindest keimhaft, bereits in der sogenannten »Belle Époque« (1880–1914) heraus. Es wäre verwunderlich, wenn die europäischen Länder von diesen negativen Folgen kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwungs gänzlich verschont blieben. Das zweite Argument hängt mit der im letzten Abschnitt des Buches angewendeten Theorie der Pfadanalyse und deren Erkenntnissen zusammen. Wie dort aufgezeigt wird, sind pfadabhängige Entwicklungen prinzipiell langfristiger Natur. Wenn ein bestimmter historischer Entwicklungspfad einmal eingeschlagen ist, fällt es schwer, ihn zu verlassen und einen alternativen Kurs zu wählen. Man ist, mit anderen Worten, sobald sich bedenkliche Tendenzen abzeichnen, gut beraten, ihnen frühzeitig entgegenzutreten. Haben sie sich zu einem eigenen »Entwicklungsweg« verdichtet, dann fällt es schwer, das Steuer wieder herumzureißen und die entscheidenden Akzente für einen positiven Entwicklungsverlauf zu setzen.

I. Argentiniens Weg in die Moderne (1880–2010): Von der blühenden Exportnation zum Entwicklungsstillstand

1. Wachstum nach außen, 1880–1930

Die Belle Époque (1880–1914)

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs konnte Argentinien auf einen fast 35 Jahre anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung zurückblicken. Das stabile Wachstum von durchschnittlich 5 Prozent im Jahr wurde nur Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts durch eine vorübergehende Rezession unterbrochen. Das Land hatte sich neben Australien, Kanada und den USA zu einer der führenden Exportnationen für landwirtschaftliche Produkte wie Mais, Weizen oder Leinsamen sowie für Wolle und Rindfleisch entwickelt. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen war dem in Deutschland und den Niederlanden vergleichbar und lag höher als in der Schweiz oder Schweden. Buenos Aires, mit 1,5 Millionen Einwohnern die größte Stadt Südamerikas, war zu einer mit europäischen Hauptstädten durchaus vergleichbaren Metropole herangewachsen. Die Pampa, ein etwa 600 Kilometer breiter Gürtel fruchtbaren Landes rund um Buenos Aires, war von einem langen und weit verzweigten Eisenbahnnetz durchzogen, für das es in ganz Lateinamerika keine Parallele gab.

Entscheidende Impulse für diesen spektakulären Wachstumsschub kamen aus Europa. Zu ihnen zählten der reichliche Zufluss von Kapital, eine unbegrenzte Zahl billiger Arbeitskräfte und die steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln auf dem alten Kontinent, die dort folglich gute Preise erzielten; außerdem die Verbilligung der Fracht- und Transporttarife über den Atlantik als Folge der Verbreitung der Dampfschifffahrt. Eine relación especial, eine besonders enge wirtschaftliche Beziehung, hatte sich zwischen Argentinien und Großbritannien, der damals führenden europäischen Industriemacht, herausgebildet. Die weitgehend in den städtischen Arbeitsprozess eingegliederte britische Bevölkerung wurde zu einem Hauptabnehmer argentinischer Agrarprodukte, vor allem von Rindfleisch. Im Gegenzug versorgte das Inselreich Argentinien mit den modernsten Industriegütern und Finanzierungsmitteln für den Aufbau seiner Wirtschaft. Rund 60 Prozent der ausländischen Investitionen entfielen auf britische Anleger, denen beispielsweise 80 Prozent des Eisenbahnnetzes gehörten.

Doch auch die einheimische Führungsschicht, die sogenannte »Generation der 80er Jahre«, leistete ihren Beitrag zur rapiden Modernisierung des Landes. Sie hatte die politischen Voraussetzungen geschaffen, indem sie die Indios in einem blutigen Feldzug aus der pampa húmeda brutal zurückgedrängt sowie der Rivalität zwischen Buenos Aires und den übrigen Provinzen durch die Trennung der Stadt Buenos Aires von der gleichnamigen Provinz ein Ende bereitet hatte. Zudem hatte sie durch die Konzentration militärischer, politischer und wirtschaftlicher Macht bei der Zentralregierung einen nach innen und außen handlungsfähigen, souveränen Staat errichtet. Auch die wirtschaftlichen Fortschritte im engeren Sinn waren primär das Verdienst dieser traditionellen Oberschicht. Sie öffnete das Land bewusst dem ausländischen Kapital und den Einwanderungsmassen aus Europa, bemühte sich durch großzügige staatliche Absicherung der ausländischen Kredite um den raschen Ausbau der Infrastruktur und sorgte als Besitzerin riesiger Ländereien durch Verbesserung des Saatgutes, der Rinderrassen sowie der Hege- und Weidebedingungen dafür, dass die argentinischen Ackerbau- und Viehzuchtprodukte international konkurrenzfähig wurden.

Der wirtschaftliche Aufschwung basierte auf einer umfangreichen Einwanderung und zog seinerseits unaufhörlich neue Zuwanderer an, so dass es zu einer regelrechten demografischen Erneuerung des Landes kam. Insgesamt kamen zwischen 1870 und 1914 rund sechs Millionen Ausländer nach Argentinien, von denen etwa die Hälfte dauerhaft im Lande blieb. Die meisten von ihnen stammten aus Italien und Spanien, doch bildeten sich auch deutsch-, französisch- und englischsprachige Einwandererkolonien. Der Zensus von 1914 wies circa ein Drittel der acht Millionen Einwohner des Landes als Nichtargentinier aus; in der Hauptstadt Buenos Aires lebten über Jahrzehnte hinweg fast genauso viele Ausländer wie Argentinier. Nicht wenige der Zugewanderten, vor allem italienische Familien, gingen in die Landwirtschaft. Der überwiegende Teil blieb jedoch in den Städten, so dass das rasche Bevölkerungswachstum nach 1880 von einer nicht minder rapiden Urbanisierung des Landes begleitet wurde. Großstädte wie Buenos Aires, Córdoba und Rosario verfünffachten oder verzehnfachten ihre Einwohnerzahl innerhalb von 50 Jahren; aus verlorenen dörflichen Siedlungen in der Pampa wurden Städte mittlerer Größe.

Die Gesellschaft, die sich im Zuge der raschen wirtschaftlichen Expansion und zunehmenden Bevölkerungsdichte allmählich herausbildete, war ebenso bunt wie heterogen, offen wie rücksichtslos. Die Möglichkeiten individueller Entfaltung und Mobilität schienen unbegrenzt zu sein. Die Kehrseite dieser Offenheit und Flexibilität der Strukturen war eine verbreitete Tendenz zur Desorientierung und Regellosigkeit, die sich in hohen Raten sozialer Abweichung und Anomie (Kriminalität, Prostitution, Spekulation, Glücksspiel) niederschlug. Gleichwohl blieben trotz des raschen sozioökonomischen Wandels die strukturbildenden Unterscheidungen zwischen Zugewanderten und Einheimischen und die zwischen den sozialen Schichten von Bedeutung.

Im Unterschied zu den USA ist für Argentinien oft betont worden, dass die Einwanderer kaum Vorurteilen von Seiten der einheimischen Bevölkerung ausgesetzt waren, so dass sich ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration reibungslos vollziehen konnte. Als ein Grund hierfür wird nicht zuletzt die Zugehörigkeit beider Gruppen zum romanischen Kulturkreis genannt, der die Verständigung zwischen ihnen erleichterte. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die ausländischen Arbeiter, Angestellten, Unternehmensleiter und Pächter oft nicht an einer vollständigen Eingliederung in die argentinische Gesellschaft, insbesondere an der argentinischen Staatsangehörigkeit interessiert waren. Dies hing teils mit dem wirklich oder vermeintlich höheren Ansehen der Herkunftsnation zusammen, welches die »Argentinisierung« als sozialen Abstieg erscheinen ließ, teils mit der fortdauernden Verbundenheit mit dem Heimatland, die – bekräftigt durch eifrige Konsulatsbeamte – den Überseeaufenthalt zu einem zeitlich begrenzten Abenteuer machte, bei dem es möglichst viel Geld zusammenzuraffen galt. Hinzu kam, dass auch Nichtargentinier ihre wirtschaftlichen Interessen über Gewerkschaften und sonstige Interessenverbände verfolgen konnten, das heißt, die Annahme der argentinischen Staatsbürgerschaft brachte keinen offensichtlichen Vorteil. Diese Zurückhaltung wiederum kam der einheimischen Führungsschicht entgegen, die, sosehr sie die Fremden als Arbeitskräfte begrüßte, in politischer Hinsicht äußerst misstrauisch ihnen gegenüber war. Denn sie befürchtete, dass der Einfluss der Neuankömmlinge die eigene Machtposition untergraben und die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung erschüttern würde – eine Auffassung, die bei aller Konzilianz im täglichen Umgang von der einheimischen Bevölkerung prinzipiell geteilt wurde. Als Konsequenz dieser auf beiden Seiten vorherrschenden zwiespältigen Haltung behielten die meisten Einwanderer ihre ursprüngliche Nationalität bei. Dies hatte zur Folge, dass ein Großteil der städtischen Unterschichten und generell der wirtschaftlich dynamischsten Gruppen der aufstrebenden Nation über Jahrzehnte hinweg ohne politische Vertretung und Stimme blieb.

Auch die vertikale Gliederung der Gesellschaft nach sozialen Schichten und Klassen blieb trotz des ungeheuren Einwanderungsschubs unangetastet. Dies erklärt sich daraus, dass das Streben nach einem hohen sozialen Status, unabhängig vom wirtschaftlichen Erfolg, und entsprechender sozialer Anerkennung und Respektierung zu den traditionellen Grundzügen der argentinischen Gesellschaft zählt. Den traditionellen Familien der Oberschicht fiel diese gesellschaftliche Wertschätzung sozusagen automatisch zu, vor allem wenn sie es verstanden hatten, einem verdienstvollen, oft bis weit in die Kolonialzeit zurückreichenden Namen durch die Ansammlung von Reichtum auch den gehörigen äußeren Glanz zu verleihen. Diese alten Oberschichtfamilien hatten in der Sociedad Rural (SR) ihr zentrales, dem Großgrundbesitz verpflichtetes Interessenorgan und im Jockey-Club von Buenos Aires ihren bevorzugten gesellschaftlichen Treffpunkt, traten aber nach außen hin keineswegs als eine geschlossene soziale Kaste auf. Vielmehr stellten sie eine relativ offene Gruppe dar, offen für Aufsteiger, die sich durch außergewöhnliche wirtschaftliche Erfolge oder durch bedeutende intellektuelle oder sonstige Leistungen hervorgetan hatten. Bei aller Bewunderung für Europa, das in jeder Hinsicht als vorbildlich erachtet wurde, blickte die argentinische Führungsschicht nicht ohne Stolz auf die spektakuläre Entwicklung des eigenen Landes. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen zweifelte sie nicht daran, dass das Land erst am Beginn seiner »Karriere« stehe und eine große Zukunft zu erwarten habe. Wenngleich viele Sprösslinge aus den alten Häusern selbst wenig dazu beitrugen, diese Zukunft herbeizuführen, sich vielmehr auf den Lorbeeren und dem Vermögen der Vorfahren ausruhten, hat die »Oligarchie« – wie sie später genannt wurde – doch auch eine Reihe bedeutender Köpfe und begabter politischer Führer hervorgebracht.

Eine Besonderheit der argentinischen Schichtungspyramide bestand darin, dass sie schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt eine breite Mittelschicht aufwies. Auf dem Lande hatte die dominierende Form des Großgrundbesitzes nur in einigen wenigen Gebieten, wie beispielsweise in der Provinz Santa Fe, die Entstehung eines unabhängigen mittleren Bauerntums zugelassen, wohingegen es in den Großstädten, vor allem in Buenos Aires, bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zur Bildung umfangreicher mittelständischer Gruppen kam: einmal die genetisch ältere, weniger angesehene Schicht der Händler, Handwerker und Kleinproduzenten und, darüber gelagert, die neue Mittelschicht der Verwaltungsbeamten, Lehrer, mittleren und höheren Angestellten sowie Vertreter der freien Berufe. Die untere, hauptsächlich im produzierenden Gewerbe verankerte Mittelschicht setzte sich vorwiegend aus Einwanderern zusammen, die obere Mittelschicht vor allem aus Kreolen. In die gehobene Mittelschicht aufzusteigen war vor allem der Wunschtraum der Argentinier der »ersten Generation«, also der Einwanderersöhne, die damit ihre bescheidene soziale Herkunft überwinden wollten, was in der Regel durch einen höheren Bildungsabschluss, insbesondere ein Universitätsexamen gelang.

Zu den sozialen Unterschichten schließlich zählten auf dem Lande vor allem die kleinen Pächter und die saisonalen Landarbeiter. Die neue Form der intra- und internationalen Wanderarbeit – vor allem spanische Landarbeiter verließen im Winter ihr Land, um sich in Argentinien als Erntehelfer zu verdingen – verdrängte hier den Typus des traditionellen Viehhirten, den Gaucho. Das Gros der städtischen Unterschicht war im Handel, in den Gefrierfleischfabriken, bei der Eisenbahn, im produzierenden Gewerbe sowie als Hauspersonal beschäftigt. Drei Viertel davon waren Einwanderer, die als ungelernte Arbeiter die unterste Stufe der sozialen Schichtungspyramide bildeten. Die nächsthöhere Schicht stellte die schon wesentlich besser bezahlte Gruppe der angelernten Arbeiter und Facharbeiter. Das Lohnniveau war – insbesondere im Verhältnis zu den preiswerten Grundnahrungsmitteln – generell relativ hoch. Hauptprobleme waren die fehlende sozial- und arbeitsrechtliche Absicherung sowie die katastrophale Wohnungssituation, vor allem in der Hauptstadt. Viele Arbeiterfamilien mussten mit einem einzigen Zimmer in einem der sogenannten conventillos, den ehemaligen Residenzen der Oberschicht, auskommen.

Der Stolz vieler Argentinier auf die beachtliche Entwicklungsleistung des Landes, die sie weit über das Niveau anderer lateinamerikanischer Länder hinausgetragen hatte, ließ sie übersehen, dass dieser Aufschwung zum einen an ganz spezifische, keineswegs als dauerhaft zu sehende Bedingungen geknüpft war und zum anderen neben den zutage liegenden positiven Auswirkungen auch einige bedenkliche Folgen zeitigte. Zu den Voraussetzungen für das Funktionieren des nach 1880 praktizierten wirtschaftlichen Wachstumsmodells »nach außen« zählte neben dem Zufluss an Finanzmitteln und Arbeitskräften aus Europa vor allem die Erhaltung des Weltfriedens, ohne den die internationalen Handelsströme nicht garantiert waren. Außerdem war binnenwirtschaftlich gesehen das rasche und stetige Wachstum des Primärsektors in erster Linie durch die Erschließung neuer fruchtbarer Ländereien für Ackerbau und Viehzucht ermöglicht worden. Doch eben diese relativ problemlose »horizontale« Expansion stieß allmählich an ihre Grenzen, nachdem das Reservoir noch ungenutzter Böden in der Pampa fast ausgeschöpft war. Fortan waren Produktionsfortschritte nur noch von einer intensiveren Nutzung der landwirtschaftlichen Betriebsflächen zu erwarten, das heißt von einer Steigerung der Produktivität oder der Bewirtschaftung auch weniger ergiebiger Böden. Gleichzeitig war der industrielle Sektor noch außerstande, die Rolle eines wirtschaftlichen Wachstumsmotors zu übernehmen. Obwohl nach Beschäftigtenzahl und Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt keineswegs mehr unbedeutend, war die Industrie, mit Ausnahme des Lebensmittelsektors, in technologischer Hinsicht gegenüber Europa deutlich im Rückstand. Vom Aufbau einer nationalen Schwerindustrie konnte kaum ansatzweise gesprochen werden, da die benötigten Rohstoffe größtenteils importiert werden mussten. Eine aus eigener Kraft sich entwickelnde Industrie schien ein nahezu aussichtsloses Unterfangen.

Zu den bedenklichen Folgen des beschleunigten Wachstums »nach außen« gehörte vor allem die Verzerrung der Binnenstruktur des Landes durch die einseitige Ausrichtung der gesamten Wirtschaft auf die internationalen Exportmärkte. Diese Verzerrung kam am deutlichsten im extremen Entwicklungsgefälle zwischen der Haupt- und Hafenstadt Buenos Aires einerseits und den Randprovinzen andererseits zum Ausdruck. Buenos Aires, das Paris Lateinamerikas, war im Grunde ein Vorposten Europas und verstand sich auch als solcher. Hier liefen alle Verkehrsadern zusammen, waren wirtschaftlicher Reichtum, politische und militärische Macht und soziales Ansehen konzentriert, verfügte man über alle technischen Errungenschaften der Moderne und nahm am intellektuellen und künstlerischen Leben der westlichen Welt teil. Demgegenüber schien in den fernen Randprovinzen der Republik, von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen, die Zeit praktisch stillzustehen. Die wenigen Siedlungen waren ärmlich, heruntergekommen, verlassen; es gab kaum Krankenhäuser, Schulen und Bibliotheken. Entsprechend hoch waren die Kindersterblichkeit und der Analphabetismus. Die Straßen waren in schlechtem Zustand, der Verkehr wurde auf Maultieren abgewickelt. Nur in einigen Provinzen (unter anderem Río Negro, Mendoza, Tucumán, Misiones) hatte sich auf der Basis einer ausschließlich für den nationalen Markt bestimmten landwirtschaftlichen Produktion (unter anderem Wein, Früchte, Baumwolle, Zuckerrohr) ein bescheidener Wohlstand entwickelt. Zwischen diesen beiden Extrempolen erstreckte sich die Pampa, deren Erschließung für Ackerbau und Viehzucht das Land in erster Linie seinen rapiden Aufschwung zu verdanken hatte und die ihrerseits sichtbar an diesem Aufschwung teilgenommen hatte: zahlreiche Windmühlen, riesige bebaute Flächen, eingezäunte Weiden, bisweilen ein in einen Park eingebetteter stattlicher Gutshof (estancia) prägten das Bild. Aus dorfähnlichen Siedlungen waren etwa ein Dutzend Städte mittlerer Größe mit einer soliden infrastrukturellen Ausstattung entstanden. Dennoch blieb auch diese wirtschaftliche Schlüsselzone nur relativ dünn besiedelt, was wiederum mit der vorherrschenden Form des Großgrundbesitzes und der daraus resultierenden extensiven Bewirtschaftung der Ländereien zusammenhing: 61 Prozent aller Güter hatten einen Umfang von 1000 Hektar und mehr, auf Familienbetriebe von 500 bis 1000 Hektar entfiel dagegen nur ein knappes Viertel der gesamten Pampa-Fläche.

Insgesamt hatte der wirtschaftliche Wachstumsprozess große Ungleichgewichte geschaffen – Ungleichgewichte zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren und Ungleichgewichte im Entwicklungsniveau zwischen den verschiedenen Landesteilen. So wie die Nation als Ganze sich von den Schwankungen der Preise für ihre wenigen Exportprodukte auf dem Weltmarkt abhängig gemacht hatte, so hingen die peripheren Provinzen des Hinterlandes vom Entwicklungsrhythmus und den Entscheidungen des Macht- und Verteilungszentrums Buenos Aires ab. Die Chancen einer Diversifizierung und damit einer ausgeglicheneren Entwicklung waren in beiderlei Hinsicht für absehbare Zeit gering.

Ein ganz spezielles Ungleichgewicht, das sich in der Folge der wirtschaftlichen Stärkung des Landes einstellte, war das zwischen einer offenen und dynamischen Gesellschaft einerseits und dem geschlossen gebliebenen politischen System andererseits. Die politische Herrschaft lag unverändert in den Händen der traditionellen Oberschicht, die sie über den Partido Autonomista Nacional (PAN, Nationale Autonomistenpartei) ausübte, einen lockeren Zusammenschluss unterschiedlicher politischer Tendenzen und Gruppierungen. Wenngleich in vielen Punkten uneins und zerstritten, hatten sämtliche wichtigen Führer des PAN in der Frage der Machtausübung einen klaren Standpunkt – nämlich ihre politische Vorherrschaft mit allen Mitteln zu wahren. Die Einschüchterung des politischen Gegners durch Gewalt und Wahlbetrug waren bis 1910 keine Ausnahme, sondern fest verankerter Bestandteil der politischen Praxis.

Da die politische Macht auf legale Weise nicht zu erobern war, sahen sich oppositionelle Gruppen gezwungen, den Weg der Verschwörung oder des Putschversuches einzuschlagen. Zunächst waren es nur unbedeutende Minderheiten, die ihrer Unzufriedenheit – meist unter Führung eines oppositionellen Oberschichtmitgliedes – auf diese Weise Luft machten, während die Bevölkerungsmehrheit, insbesondere das Gros der Eingewanderten, in politischer Apathie verharrte. Allmählich entstand jedoch aus den politisch wacheren Teilen der Zuwanderer, vor allem der ersten Generation der im Lande Geborenen, ein politisches Oppositions- und Protestpotenzial. Diese systemkritischen Gruppen ließen sich machtpolitisch immer schwieriger in Schach halten, zumal sich auch Teile des Militärs für die wachsende Kritik am Regime nicht unsensibel zeigten. Neben dem Partido Socialista (PS, Sozialistische Partei), der nur in der Hauptstadt über einen nennenswerten Anhang verfügte, war die Unión Cívica Radical (UCR, Radikale Bürgerunion) Hauptexponentin dieser Oppositionsströmung. Dabei wichen die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der UCR kaum von jenen der herrschenden Oberschicht ab. Der einzige konkrete Programmpunkt, der hinter der wolkigen Rhetorik und den von moralischem Pathos durchtränkten Äußerungen ihres Führers Leandro N. Alem auszumachen war, bestand in dem Verlangen, selbst die Macht auszuüben. Dies allerdings wurde aufgrund der unbeweglichen Haltung des Establishments mit zunehmender Militanz vorgetragen. Die kompromisslose Ablehnung der bestehenden politischen Verhältnisse wurde außerdem durch die Aufforderung an die Anhänger, strikte Wahlenthaltung zu üben, zum Ausdruck gebracht.

Diese Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit verfehlte ihre Wirkung nicht. Nach und nach gewann in der traditionellen Führungsschicht eine Fraktion, welche die politische Partizipationskrise ernst nahm, an Gewicht. Sie wollte verhindern, dass der aufgestaute politische Unmut in sozialrevolutionäre Aufstände münden würde, und ihn stattdessen durch ein politisches Reformprojekt auffangen und kanalisieren. Das Ergebnis dieses Umdenkens war die Ley Sáenz Peña von 1912 (benannt nach dem Präsidenten, unter dem das Gesetz eingebracht und vom Kongress verabschiedet wurde), die unter anderem die schriftliche, geheime, obligatorische Wahl für Männer vorsah und der stärksten Oppositionspartei ein Drittel der Sitze in der jeweiligen Kammer zubilligte. Die dahinterstehende Absicht war, der Herrschaft der traditionellen Machteliten eine breitere Legitimationsbasis zu verschaffen, zum Beispiel durch die Garantie eines politischen Mitspracherechts für die Partei der Radikalen. Tatsächlich eröffnete das Gesetz der UCR aber den Weg zur baldigen Regierungsübernahme.

Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Probleme ab dem Ersten Weltkrieg

In einem wirtschaftsgeschichtlichen Standardwerk ist der Abschnitt über die Zeit von 1914 bis 1933 mit »la Demora«, das heißt »die Verzögerung«, überschrieben. Die Verfasser wollten damit zum Ausdruck bringen, dass der Weltkrieg zu einer künstlichen Unterbrechung eines kurz vor seinem Ende stehenden Wachstumszyklus geführt und die danach einsetzende günstige Konjunktur die Illusion genährt habe, man sei wieder zu den »Goldenen Jahren« vor 1914 zurückgekehrt. Diese Illusion habe die erforderliche wirtschaftspolitische Neuorientierung bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929/1930 hinausgezögert, die sie dann unaufschiebbar machte.