The Cover Image
 

 

Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall ist klar, dass das Ende der Geschichte weiterhin auf sich warten lässt. Stattdessen wirft ein anderes Ereignis aus dem Jahr 1989 lange Schatten: 26 Jahre nach der Fatwa gegen Salman Rushdie stellt uns der Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo einmal mehr vor die Frage, wie der Westen seine Werte selbstbewusst verteidigen kann – ob nun gegen Fundamentalisten, Populisten oder die antiwestliche Rhetorik eines Wladimir Putin. Während viele Linke und Liberale durch die Logik der politischen Korrektheit gleichsam gelähmt sind, schwingen sich Figuren wie Marine le Pen und Bewegungen wie Pegida zu Verteidigern des Abendlandes auf.

In dieser Situation plädiert Carlo Strenger für eine Haltung der zivilisierten Verachtung, mit der das aufklärerische Toleranzprinzip wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird: Anstatt jede Glaubens- und Lebensform zu respektieren und diskursiv mit Samthandschuhen anzufassen, müssen wir uns daran erinnern, dass nichts und niemand gegen wohlbegründete Kritik gefeit sein darf: »Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen.«

Carlo Strenger, geboren 1958, lehrt Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv und schreibt als Kolumnist für Haaretz und die Neue Zürcher Zeitung. Im Jüdischen Verlag erschien zuletzt Israel. Einführung in ein schwieriges Land.

 

 

Carlo Strenger

Zivilisierte Verachtung

 

Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des edition suhrkamp Sonderdrucks 2015

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

edition suhrkamp

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.

Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-74132-0

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

Das Eigentor der westlichen Kultur

Ein Testfall: Die Fatwa gegen Salman Rushdie

Die Geburt des Toleranzprinzips in der Aufklärung

Kolonialismus und zwei Weltkriege

Der Aufstieg der politischen Korrektheit

Verantwortliche Meinungsbildung: der Ärztetest

Wenn Ressentiment zur Tugend wird

Religion und zivilisierte Verachtung

Kränkungen ertragen

Die Leidenschaft für die Freiheit

Nachweise

Vorwort

Dieser Essay über das Recht und die Pflicht der freien Welt, ihre Grundwerte zu verteidigen, schwebte mir seit Jahren vor; den vorliegenden Text habe ich im Spätsommer 2014 geschrieben. Meine Motivation war, der relativistischen Tendenz der politischen Korrektheit, die glaubt, alle Positionen, Glaubenssätze und Lebensformen hätten den gleichen Respekt verdient, entgegenzuwirken. Dieser oft gedankenlose Respekt hat meiner Meinung nach vielen liberal eingestellten Menschen den Mut genommen, offensiv für die fundamentalen Werte der offenen Gesellschaft – Freiheit, Kritik und offene Diskussion – einzutreten. Die Gefahr, die ich sah und heute erst recht sehe, besteht darin, dass rechtsnationale Parteien und Gruppierungen die vakante Rolle der Verteidiger der freien Welt übernehmen, dabei aber die zu verteidigenden Werte der Aufklärung, die unsere Gesellschaften im Lauf der letzten Jahrhunderte humanisiert haben, durch Fremdenhass und das Schüren von Ängsten untergraben.

Am 7. Januar 2015 stürmten Chérif und Saïd Kouachi in die Räume des Satiremagazins Charlie Hebdo und erschossen dort elf Menschen: Karikaturisten, Redakteure, Kolumnisten und einen Personenschützer. Auf der Flucht töteten sie zudem den Polizisten Ahmed Merabet. Zwei Tage später erschoss Amedy Coulibaly bei einer Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt vier weitere Menschen. Zu diesem Zeitpunkt war die Arbeit am Text des Essays schon sehr weit fortgeschritten, und genau wie meine Ansprechpartner im Verlag hatte ich das Gefühl, Zivilisierte Verachtung sei für solche Ernstfälle geschrieben worden: für Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit, aber auch für die schamlosen Versuche rechtsnationaler Politiker wie Marine le Pen und islamophober Gruppierungen wie Pegida, Tragödien wie das Charlie-Hebdo-Massaker für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Von den vielen Solidaritätskundgebungen, die in jenen Januartagen in Frankreich und anderen Teilen der Welt zu sehen waren, berührte mich am tiefsten ein Plakat mit folgender Aufschrift:

 

JesuisCharlie

JesuisAhmed

JesuisJuif

 

Diese Worte machen klar, dass die Freiheit sowie das Recht zur Kritik und zur Satire keiner Ethnie, keiner Nation und keiner Religion gehören, sondern der Menschheit als Ganzer.

Dieser Essay ist dem Andenken der Opfer der Anschläge von Paris gewidmet.