Peter Handke

Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße

Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten

Suhrkamp Verlag

»Go sleep and hear us«

William Shakespeare, The Tempest

»In ihrer Erdenzeit sehnt sich die Seele nach dem reinen Ruf.«

Ibn al-Fāriḍ, Das Muster der Wege

»Wir aber, auf der Allerweltslandstraße …«

J. ‌W. von Goethe an Marianne von Willemer, 13. Januar 1832

 
 
 
 
 

Personen

Ich, im Wechsel zwischen »Ich, Erzähler« und »Ich, der Dramatische« nicht immer unterschieden; zeitweise beide in einem

DIE UNSCHULDIGEN nicht wenige, unter ihnen mein Doppelgänger

DER WORTFÜHRER DER UNSCHULDIGEN oder: HÄUPTLING/CAPO DIE WORTFÜHRERIN DER UNSCHULDIGEN oder: HÄUPTLINGSFRAU/HÄUPTLINGIN/FRAU DIE UNBEKANNTE VON DER LANDSTRASSE

 
 
 
 
 

ICH, Erzähler

Kommen lassen. Anfliegen lassen. Träumen lassen. Hellträumen. Umfassend träumen. Verbindlich! Freiträumen. Wen? Mich? Uns? Traumtanzen lassen. Gestalten lassen. Umgestalten lassen. Aufeinandertreffen lassen. Wen mit wem aufeinandertreffen lassen? Wen gegen wen? Kommen lassen erst einmal die Szenerie: Und da kommt sie, da erscheint sie, da fliegt sie mich an, da erstreckt sie sich, die Landstraße, vorderhand leer. Und indem ich mir das laut vorerzähle, ist die Straße auch schon bevölkert mit mir, der ICH am Rand der Straße daherschlendere, mit ausgreifenden, epischen Schritten, vorderhand allein. Allein, bevölkernd? So sehe ich es, so erscheint es mir, in meinem Ausschreiten unter einem großen Himmel, welcher den Frühling ausstrahlt, wieder einen Frühling, noch einen Frühling, in meinem zeitweisen Mich-um-mich-selber-Drehen, Innehalten, Rückwärts- und Vorangehen. Und es geschieht jetzt, daß ICH mich am Rand der Landstraße, der Departementale, der Carretera, der Magistrala niederlasse. Da zeigt sich nämlich eine Sitzgelegenheit, ein Gestell aus Holz, Stein, Beton, eher ein Verschlag. Auch Schilfteile sind darunter. Es könnte sich um einen aus früheren Zeiten am Straßenrand übriggebliebenen, längst ausgedienten Milchstand handeln, oder auch um den dachlosen Rest einer seit langem aufgelassenen Bushaltestelle, einer Schafhürde oder die Überbleibsel einer Imbißbude? Eines vom Winde verwehten Zeitungskioskes? Einer all ihrer Sichtschutzplanken beraubten und nach sämtlichen Himmelsrichtungen offenen Bedürfnisanstalt? Oder ist das die Ruine der aus wieder einer anderen Vorzeit stammenden Rinderbesamungsanlage, von deren Geviert, darin festgezurrt die Kuh zum Besprungenwerden vom Stier, nur noch ein Trümmerhaufen am Straßenrand zeugt? So oder so, und welch Überbleibsel auch immer: ein Stapel, ein beträchtlicher, und als Sitzgelegenheit eine im Verhältnis zur Landstraße ziemlich erhöhte, eine, wo ICH mich, in dem Durcheinander der Bretter, Pfeiler, Schilfteile und Balken, unauffällig sitzen sehe, begünstigt durch das Grau in Grau des Stapels wie meines Gewands. Und ICH? Wer bin »ich«, wer ist »ich« hier? Und wer oder was bin ich? Ich kann es nicht sagen. Was ich sagen kann: Dieses »Ich« verwandelt sich nun unversehens, ohne daß ich weiß, wie mir geschieht, in einen anderen als der, welcher ich, so oder so, je gewesen bin oder der je mir vorgeschwebt hat. »Ich« dort am Rande der Landstraße nehme etwas Dramatisches an, springe auf, samt Schattenboxen gegen Phantome, und auch die Szenerie, in der ich mich auf dem Stapel hocken sehe, erscheint mir als eine dramatische, gar wüste, samt jähem Wind-, ja Sturmröhren. Szene und wüst? Und indem ich das, laut oder halblaut, denke, mit wie gegen meinen Willen dramatisierender Stimme, einer grundverschiedenen zu der erzählenden zuvor, heitert der Ort, der Platz, die Straße augenblicks auf, und ebenso »ich«, der andere, Düstere, gar Dräuende am Landstraßenrand. ICH, der wieder Epische, strahle übers ganze Gesicht, so als sei ein Zitronenfalter, der erste des noch jungen Jahres, über die Landstraße gegaukelt, und strecke einen Arm aus, öffne die Hand, wie um einem Vogel, einem gar kleinen, sagen wir einem Rotkehlchen, eine Art Lande- oder Futterplatz anzubieten, wobei ICH mich auch hören lasse, mit meiner anfänglichen Stimme, und einem zugleich gesungenen, herausgeschmetterten, oder auch bloß gekrächzten, als sei ich schon lange nicht mehr recht laut geworden:

Na so was! Grüß dich! Seid mir gegrüßt! Wie geht's dir, wie geht's euch? Frühling ist's wieder, also doch noch einer, doch noch einmal der Frühling auf Erden …