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CORDULA NATUSCH

Hamburg

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise zu den
unbekannten Ecken der Hansestadt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Textquellen: S. 57: Zitiert nach Ulrich Alexis Christiansen: Hamburgs dunkle Welten, Links Verlag 2008; S. 84: Gorch Fock: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von Jakob Kinau. Band 5, Seite 132. Hamburg: Verlag M. Glogau jr., 1937. S. 151: Zitiert nach Daniel Bartels: Der Grillenscheucher. Scherz und Ernst in hoch- und plattdeutscher Sprache mit Illustrationen von H. de Bruycker, 2. Teil, 11. Aufl., F. Dörling 1911; S. 175: Zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/matthias-claudius-gedichte-5209/18; S. 298: Zitiert nach Herman Anders Krüger: Der junge Eichendorff, Oppeln 1898

Coverfoto: © shutterstock / sweasy

Karte S. 6-7: MichaelBueker | wikimedia (CC BY-SA 3.0)

Karten S. 8, 44, 64, 126, 156, 184, 206, 224, 258, 280, 308:

openstreetmap.org | © OpenStreetMap-Mitwirkende (CC BY-SA 2.0)

Lektorat: Merle Rüdisser

ISBN 978-3-99100-260-4

eISBN 978-3-99100-261-1

Meinem Vater, dem ich meine Neugier
und meine Lust am Entdecken verdanke
.

Meiner Mutter, die gut gelaunt
jede noch so verrückte Idee mitmacht
.

Inhalt

Entdeckungen in der Innenstadt

Die Hammaburg: die Wurzeln von Stadt und Hafen

Hafencity Ost

Wundervolle Orgelpfeifen: ein Besuch in der Kirche St. Katharinen

Zeitreise in den Kalten Krieg: der Atombunker unter dem Hamburger Hauptbahnhof

Rothenburgsort: Hamburgs vergessener Stadtteil

Radeln de luxe: von der Innenstadt zur Wasserkunst Elbinsel Kaltehofe

Vom Tier im Hamburger Wasserrohr

Der Kindermord: Gedenkstätte Bullenhuser Damm

Die Elbinseln: Unbekanntes, fremdes Land

Von Finkenwerder zum Alten Elbtunnel: Mehr Gegensatz geht nicht!

Gorch Fock: Gedanken

Hafenrundfahrt mal anders: quer durch den Containerterminal

Wilhelmsburg: verkannte Schönheit

Der schlafende Drache: Energieberg Georgswerder

Barmbek: Arbeiterviertel mit Tradition

Von Ganoven, Genossen und Gummiwaren: ein Spaziergang durch Barmbek-Süd von der Mundsburg bis zum Museum der Arbeit

Barmbek-Nord: ein Stadtteil in Rot und Grün

Besuch beim Grillenscheucher: der Daniel-Bartels-Hof

Immer die Wandse entlang

Durch die Mitte Hamburgs: von der Schwanenwik bis zum Mühlenteich

Geschichtsträchtiges Wandsbek: auf den Spuren von Matthias Claudius

Matthias Claudius: Abendlied

Rahlstedts Kirchenschatz

Winterhude und Uhlenhorst

Geschichte in Hinterhöfen entdecken

Atmosphäre pur: Hamburgs schönster Wochenmarkt

Eppendorfs stille Ecken

Besuch im Krankenhaus: das UKE mal anders

Falkenriedterrassen: Hamburgs größtes erhaltenes Terrassenhausensemble

Ein Moor mitten in der Stadt

Alster: Das grüne Band durch die Stadt

Von Kayhude bis nach Poppenbüttel

Von Poppenbüttel bis in die Hamburger Innenstadt

Vierlande: Hamburgs weiter Osten

Wie Perlen auf der Schnur: die Vierländer Kirchen

Der tiefe Riss in der Idylle: die KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Harburgs romantische Ecken

Ein Spaziergang durch Harburgs Grün

Der Harburger Binnenhafen

Hamburgs grüner Westen

Auf dem Elbhöhenweg von Rissen nach Blankenese

Vom Loki-Schmidt-Garten in Klein Flottbek bis zum Jenischpark

Unterwegs in der Stadt

Was Sie in Hamburg besser nicht machen sollten

Zum Lesen, Anschauen und Erkunden

Danksagung

Schauplätze

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image Entdeckungen in der Innenstadt

image Rothenburgsort: Hamburgs vergessener Stadtteil

image Die Elbinseln: Unbekanntes, fremdes Land

image Barmbek: Arbeiterviertel mit Tradition

image Immer die Wandse entlang

image Winterhude und Uhlenhorst

image Eppendorfs stille Ecken

image Alster: Das grüne Band durch die Stadt

image Vierlande: Hamburgs weiter Osten

image Harburgs romantische Ecken

image Hamburgs grüner Westen

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1 „Domplatz“ Speersort

2 „Bischofsturm“

3 Zürichhaus

4 Hafencity View Point

5 Baakenpark

6 U-Bahnhof Hafencity Universität

7 Lohsepark mit Gedenkstätte Hannoverscher Bahnhof

8 Oberhafenquartier

9 Altes Zollhaus

10 Automuseum Prototyp

11 Ökumenisches Forum

12 Magdeburger Hafen

13 St. Katharinen

14 Tiefbunker unter dem Hauptbahnhof

Entdeckungen in der Innenstadt

Über sechs Millionen Menschen besuchen Hamburg jedes Jahr und bleiben durchschnittlich zwei Tage – Tendenz steigend. An sonnigen Tagen, wenn überall das Wasser glitzert, die Fassaden der alten Kontor- und Handelshäuser strahlen und sich die Stadt von ihrer schönsten Seite zeigt, strömen die Menschen in Massen an die Binnenalster, in Richtung Elbphilharmonie und an den Hafen. Es ist nicht einfach, im Trubel der Innenstadt ruhigere, weniger bekannte Ecken zu finden, aber es gibt sie.

Die Hammaburg: die Wurzeln von Stadt und Hafen

Ich stehe auf dem Platz zwischen Speersort und Schopenstehl, nur ein paar Meter von der Mönckebergstraße entfernt. Trotz der Nähe zum Rathaus verlaufen sich nur vergleichsweise wenige Touristen hierher, und wenn, dann sitzen sie meist vor dem Hofbräu Wirtshaus, in dem die Bedienung tatsächlich in Dirndl oder Lederhosen serviert. Der historischen Bedeutung dieses Orts, der inoffiziell Domplatz heißt, sind sich wohl die wenigsten bewusst. Dabei fing hier alles an. An dieser Stelle befinden sich die Wurzeln der heute zweitgrößten Stadt Deutschlands.

Im Boden unter mir haben Archäologen bei Ausgrabungen in den 1980er-Jahren Spuren von Befestigungsanlagen aus dem achten Jahrhundert nachgewiesen. Die Enttäuschung war groß; man war zuvor überzeugt gewesen, hier auf Hamburgs Ursprung zu stoßen. Aber die Funde waren zu alt, um von der Hammaburg, als deren Gründer Karl der Große galt, zu stammen. So dachte man jedenfalls damals. Doch nach jüngeren Untersuchungen sind sich die Archäologen mittlerweile sicher: Hier stand die legendäre Hammaburg! Oder vielmehr: Hier standen die Hammaburgen, denn insgesamt trugen drei nachgewiesene Befestigungen diesen Namen. Allerdings musste mit dieser Erkenntnis Hamburgs Gründungsmythos um Karl den Großen beerdigt werden …

Wie mag es damals wohl hier ausgesehen haben?

„Ham“, das ist altsächsisch und bedeutet so viel wie „Bucht“ oder „Wiese“. Die „Hammaburg“ ist also die „Bucht-“ oder „Wiesenburg“. Vermutlich war die Gegend den heutigen Elbauen flussaufwärts ähnlich, sehr grün und ziemlich matschig. Der Standort war gut gewählt, hier trafen im achten Jahrhundert Elbe, Bille und Alster zusammen. An dieser Stelle konnten Fuhrwerke dank einer Furt die Alster überqueren. Später wurde ein Stück des Ufers befestigt, die Urzelle des Hafens. Eine kleine Siedlung, ein befestigtes Flussufer, eine Furt für den Weitertransport – von Beginn an, so scheint es, war dieses Fleckchen für den Handel prädestiniert. Ich blicke mich um. Noch heute ist der Geestsporn – die Landzunge, auf der die Siedlung lag – zu erkennen: Das leicht erhöht liegende Land fällt zur Straße Schopenstehl hin deutlich ab. Einen Eindruck von der Höhe und der Ausdehnung der mittelalterlichen Befestigungen vermitteln mir die schwarzen Bauten, die „Wälle“, die auf dem Platz aufgestellt sind. Ich stelle mich in ihre Mitte und staune. Wie klein das alles ist! Wie überschaubar! Innerhalb der Wallanlage standen nur einige wenige Gebäude, außerhalb ein paar Hütten. Selbst die Kapelle des heiligen Ansgar, der von Hamburg aus Skandinavien missionierte, lag außerhalb. Heute wird sie unter der St.-Petri-Kirche vermutet. Und wie nah die Feinde waren! Gleich östlich dieses Platzes, dort, wo heute die Steinstraße entlangführt, lag das Land der Slawen.

Die Gefahr kam dann aber aus einer anderen Richtung. Im Jahr 845 überfielen Wikinger die Hammaburg, so vermelden mittelalterliche Quellen. Bischof Ansgar und der weltliche Herrscher, Graf Bernhard, flohen, die Befestigungsanlagen wurden geschleift (die verheerende Brandschatzung, von der die alten Quellen berichten, lässt sich allerdings im Boden nicht nachweisen). Andere Bewohner aber blieben, trieben weiter Handel und hielten so die Ansiedlung am Leben. Die Wende kam, als die kleine Stadt zum Erzbistum ernannt wurde; ein erster Hafen und die Hammaburg III entstanden. Später wurde auch diese größere Befestigungsanlage zerstört, danach wurde keine neue gebaut. Stattdessen errichtete man im Osten den sogenannten Heidenwall als Schutzwall – und Wachtürme.

Zeit für einen Besuch beim Bäcker Dat Backhus im Speersort 10, neben der St.-Petri-Kirche. Nicht etwa, weil es da besonders guten Kuchen gäbe, nein, ich will in den überaus sehenswerten Keller des Gebäudes. Also besorge ich mir einen Kaffee und steige die Treppe hinab ins Untergeschoss, in dem eine Außenstelle des Archäologischen Museums der Stadt untergebracht ist und eine der wichtigsten archäologischen Stätten der Stadt besucht werden kann. Hier sitze ich bei etwas schummerigem Licht in der Mitte eines der ältesten erhaltenen Bauwerke Hamburgs: dem Fundament eines Turms, neunzehn Meter im Außendurchmesser und kreisrund. Bei seiner Entdeckung 1962 hielt man diesen Steinturm aus riesigen Findlingen zunächst für den Sitz des Bischofs Bezelin Alebrand, und bis heute ist er in der Stadt als Bischofsturm bekannt. Allerdings stammt dieses Fundament aus dem zwölften Jahrhundert und ist damit zu jung für das in den mittelalterlichen Quellen erwähnte bischöfliche Gebäude. Es handelt sich wohl eher um die Überreste eines Stadttors, das die Stadt nach Osten hin sicherte, ein Stadttor, wie es bis heute das Stadtwappen Hamburgs ziert. Im Inneren des mächtigen Kreises sind neben Kaffeetischen und Stühlen auch Vitrinen mit archäologischen Funden sowie ein Modell des Turms, wie er wohl ausgesehen hat, aufgestellt. Wer um die Reste des Turms herumgeht, findet einen zweiten, kleineren Steinkreis, einen ehemaligen Brunnen, der schon innerhalb der Befestigung lag. In einem abgetrennten Raum ist die Nachbildung einer Glocke des Hamburger Domgeläuts ausgestellt; bei Ausgrabungsarbeiten wurde auch eine Glockengussgrube gefunden, deren Glocken dieselben Ausmaße hatten wie diese Nachbildung.

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Nachbildung einer Glocke im sogenannten Bischofsturm

Ein „Domplatz“, eine Glockengussgrube für den Dom und die Glocke eines Domgeläuts – aber wo ist der Dom? Ich gehe wieder nach draußen auf den freien Platz zwischen den Stahlwällen auf dem Speersort. Heute ist der Mariendom nur noch eine Erinnerung. Bis 1806 stand er direkt hier auf dem Speersort, ein Rest auch politischen katholischen Einflusses mitten in der schon lange protestantischen Hansestadt. Als das Gotteshaus mit der Zeit immer weiter verfiel, ließ es die Bürgerschaft, der es über Umwege nach der Säkularisierung zugefallen war, kurzerhand vollständig abreißen. Die weißen, ab der Dämmerung leuchtenden Quader aus Akryl auf dem Speersort deuten noch den Grundriss der Kirche an. Vom westlichen Ende, vom Alten Fischmarkt aus, sind die Ausmaße des breiteren Hauptschiffs, der beiden schmaleren Seitenschiffe und des Kreuzgangs gut zu erkennen. In einen der Quader in der linken äußeren Bahn ist eine durchsichtige Plexiglasscheibe eingelassen, durch die – wenn sie nicht gerade von innen beschlagen ist – noch Fundamentreste des Doms zu sehen sind.

Natürlich wurden auch an anderen Stellen in der Innenstadt Spuren der früheren Bewohner gefunden. Im Zürichhaus, einem Gebäude der Architekten Gerkan, Marg und Partner, sind einige Stücke, die beim Bau des Gebäudes ausgegraben wurden, ausgestellt und während der Öffnungszeiten des Bürohauses frei zugänglich. (Die genaue Anschrift ist Domstraße 17–21, südlicher Eingang, in der Halle rechts.)

Es ist ein ungewöhnlicher Glücksfall, dass ausgerechnet der Domplatz, der Platz, der historisch so wichtig ist, heute freiliegt, während doch sonst nahezu jedes Quadratzentimeterchen in der Hamburger Innenstadt unter Häusern und Straßen begraben ist. Noch, möchte man sagen. Denn natürlich gab und gibt es Gedankenspiele, dieses Filetstück mitten in der Innenstadt zu bebauen. Bleibt zu hoffen, dass es angesichts der historischen Bedeutung dieses Orts bei Gedankenspielen bleibt.

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Blick auf den Speersort vom Turm der St.-Petri-Kirche aus

Seit Mai 2018 bietet das Archäologische Museum Hamburg Besuchern des Domplatzes eine digitale Führung per WhatsApp an; am Schaufenster der Bäckerei Dat Backhus ist ein großer Hinweis angebracht. Einfach mit dem Smartphone den QR-Code fotografieren, sich beim sogenannten Hammabot anmelden und sich von den Experten des Museums über das Gelände führen lassen.

Hafencity Ost

Von den ältesten Wurzeln Hamburgs bis zum jüngsten Stadtteil sind es nur ein paar Hundert Meter. Gleich südlich der Innenstadt wächst seit ein paar Jahren eines der spannendsten städtebaulichen Projekte Europas: die Hafencity. Spätestens seit der weltweit beachteten Eröffnung der Elbphilharmonie im Januar 2017 zieht sie mit moderner Architektur und maritimem Flair Besucher aus aller Welt in ihren Bann. Die Plaza der spektakulären Elphi, wie die Hamburger ihr architektonisches Schmuckstück liebevoll nennen, ist zu jeder Zeit gut besucht, über die Fußwege am Wasser flanieren Hunderte Menschen, und die zahlreichen Cafés und Restaurants der Hafencity sind gut besucht.

Übersehen wird in all dem touristischen Trubel allerdings oft, dass der neue Stadtteil noch lange nicht fertiggestellt ist und sich am Ende bis zu den Elbbrücken ziehen wird. Für die meisten Besucher ist am Magdeburger Hafen Schluss. Wer aber weiter in den Osten der Hafencity vordringt, kann erleben, wie die Stadt wächst und wie sich die Bewohner ein völlig neues Gebiet erschließen.

Mein Spaziergang durch die Hafencity Ost beginnt am südlichen Ende der Baakenhafenbrücke. Hier steht (derzeit) der leuchtend orangefarbene „Hafencity ViewPoint“, ein mobiler Aussichtsturm. In den letzten Jahren wanderte er quer durch die Mega-Baustelle und bot den Bewohnern von verschiedenen Standorten aus immer neue Einblicke in die sich gerade entwickelnden Quartiere. Nun also steht er hier in der Grandeswerderstraße. Klettere ich auf die Aussichtsplattform hinauf, kann ich tief in den jüngsten Abschnitt des Bauprojekts schauen. Im Osten liegen – jetzt erstaunlich nah – die Elbbrücken. Links vor dem Turm erstreckt sich der historische Baakenhafen, Namensgeber des neuen, sich gerade entwickelnden Quartiers. An seinen Ufern soll bis 2021 ein „urbanes Dorf“ entstehen, so verkünden die Verantwortlichen vollmundig. Noch muss ich meine Fantasie ziemlich anstrengen, um mir das neue Quartier vorzustellen. Zurzeit wühlen sich Bagger durch das gelbe Erdreich, heben Kräne Stahlträger in die Höhe und manövrieren schwere Baufahrzeuge lärmend über die behelfsmäßige Straße. Vom geplanten Marktplatz und den Kulturangeboten ist noch nichts zu sehen. Aber Sport und Freizeit, die gibt es schon: im 1,6 Hektar großen Baakenpark, der derzeit noch etwas verloren, aber dafür sehr grün aus dem Nirgendwo der Großbaustelle heraussticht.

Also klettere ich den Turm des ViewPoints wieder hinunter, gehe an den Gruben, Zäunen sowie Absperrungen vorbei und suche die Einfahrt, die von der Behelfsstraße in den Park hineinführt. Vor allem der „Himmelsberg“ genannte Aussichtshügel, den die Planer mitten in die künstlich aufgeschüttete Halbinsel hineingesetzt haben, lockt mich. Denn von seinem „Gipfel“ aus habe ich einen wundervollen Blick mitten hinein in das einen Kilometer lange Becken des Baakenhafens, das längste Hafenbecken in der Hafencity. Plötzlich spüre ich den besonderen Charme, den dieses neue Quartier mit den langen Promenaden am Wasser und viel Grün (hoffentlich) einmal besitzen wird. Der Park ist schon heute trotz seiner abseitigen Lage gut besucht, Kinder erobern den Spielplatz, Sportler nutzen das Basketballfeld und Spaziergänger schlendern an den mit Margeriten gesprenkelten Grünflächen entlang. Alle Wege am Wasser entlang werden – wie fast überall in der Hafencity – als Promenaden frei zugänglich sein. Es wird einen Marktplatz mit vielen Einkaufsmöglichkeiten, eine Schule und einen Kindergarten geben. Auf der Elbseite ist sogar ein neuer Fähranleger geplant, der den Baakenhafen mit der Landungsbrücke im Westen und der neuen, gläsernen S-Bahn-Station an den Elbbrücken im Osten verbinden soll. Der Westteil der Hafencity mit Elbphilharmonie, Traditionsschiffshafen und den Liegeplätzen für die Kreuzfahrtschiffe mag für die Touristen gebaut worden sein, dieser Teil aber soll den Bewohnern der Stadt gehören.

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Der „Hafencity ViewPoint“ bietet einen tollen Blick auf das neue Quartier am Baakenhafen

Über die Fußgängerbrücke im Baakenpark wechsle ich auf die andere Seite des Hafenbeckens, auf das nördliche Ufer. Entlang meines Weges wieder zurück nach Westen komme ich an bereits bewohnten Häusern vorbei, die mir einen Eindruck vermitteln von der künftigen Architektur des Quartiers: große, mehrstöckige Häuser mit Balkonen Richtung Süden und Richtung Wasser. Sogar ein erstes Café hat am Ufer schon geöffnet.

Am Ende des Weges stehe ich vor der geschwungenen, eleganten Baakenhafenbrücke. Ihr Mittelteil kann angehoben werden, sodass das Hafenbecken dahinter von Schiffen befahren werden kann. Genau gegenüber liegt das lang gestreckte Gebäude der Hafencity Universität mit einer weiten Promenade in Richtung Magdeburger Hafen. Ich aber nehme für meinen Spaziergang einen anderen Weg, lasse die Uni links liegen und steige beim blauen Schild hinab zur U-Bahn. Die U-Bahn-Station Hafencity Universität gilt als eine der schönsten Hamburgs (das Reiseportal Travelcircus hat sie 2018 sogar zur viertschönsten U-Bahn-Station der Welt gekürt). Und sie ist eine Hommage an die Elbe und den Hafen. Schon in der Vorhalle erinnern mich das über die Lautsprecheranlage eingespielte Möwengeschrei und Tuten von Schiffen daran, dass ich in einer Stadt bin, die von Seefahrt und Seehandel lebt. Im Untergeschoss verstärkt sich der Eindruck noch: Im Halbdunkel schimmern die dunklen Metallplatten, mit denen die Wände verkleidet sind, wie alte, verölte Schiffsrümpfe. Das farbige Licht kommt von zwölf riesigen Leuchtkörpern, die unter der Decke schweben – die nicht nur wie Schiffscontainer unter der Containerbrücke aussehen, sondern auch exakt genauso groß sind wie ein Standardcontainer im Hafen. Blau, Rot, Pink – sanft wechseln die Farben der Container und tauchen den U-Bahnhof in ganz unterschiedliche Stimmungen. Dann, zur vollen Stunde, startet an den Wochenenden und an Feiertagen ganz plötzlich eine rauschende, berauschende Licht- und Musikshow. Aus dem Lautsprecher erklingen laut und machtvoll klassische Stücke von Bach, Verdi und anderen Komponisten. Das Licht in den Leuchtcontainern flammt hell auf und erlischt wieder, die Farben laufen durch sie hindurch, schnell oder langsam im Takt der Musik und in perfekter Harmonie miteinander. Die U-Bahn-Station verwandelt sich in einen ungewöhnlichen, unterirdischen Konzertsaal. Mehrere Minuten lang läuft diese Show, die stets neue Farb- und Klangeffekte zaubert, die mir den Atem rauben und den Pulsschlag erhöhen. Dann ist auf einmal alles wieder vorbei, und der Bahnhof kehrt zurück mit seinen Zügen, den sich öffnenden und schließenden Türen, den monoton piepsenden Warnsignalen vor der Abfahrt und den Fahrgästen, die das Spektakel vielleicht schon zu oft erlebt haben, um noch stehen zu bleiben und zu staunen.

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Die U-Bahn-Station Hafencity Universität gilt als eine der schönsten der Welt

Beeindruckt und etwas benommen kehre ich zurück ins Tageslicht – hinauf in den Lohsepark. Er bietet etwas, was in Großstädten heutzutage rar geworden ist: eine freie Sichtachse. Von der Ericusbrücke beim neuen Spiegelgebäude bis zur Elbe verläuft die Grünanlage – mit 4,4 Hektar die größte in der Hafencity – einmal von Nord nach Süd durch den neuen Stadtteil. Obstbäume säumen die Grünflächen, und ein Spielplatz mit einer Grotte zum Verstecken sowie in den Boden eingelassene Trampoline verführen zum Herumtoben. Die hohen, sehr hohen Schaukeln am Nordende des Parks begeistern nicht nur Kinder, sondern werden auch von Erwachsenen eifrig genutzt. Einige Männer fachsimpeln an der Boule-Bahn darüber, wie die nächste Kugel am besten zu schießen sei, und auf dem Parcours für Skateboarder wagen Jugendliche spektakuläre Sprünge und Drehungen. Anwohner spielen auf der großen Wiese Fußball, und die Studenten der nahe gelegenen Hafencity Universität genießen auf Picknickdecken die Sonne und lesen in ihren Unterlagen. Doch der Lohsepark ist mehr als nur eine Naherholungszone, er ist gleichzeitig Gedenkstätte für die Opfer von Gräueltaten der Nationalsozialisten. An seiner Stelle stand früher der Hannoversche Bahnhof, der die meiste Zeit seines Bestehens ein Umschlagplatz für Güter war. Zwischen 1940 und 1945 aber wurden von hier mindestens siebentausendsechshundertzweiundneunzig Juden, Sinti und Roma aus Hamburg und ganz Norddeutschland in die Gettos und Konzentrationslager im Osten verschleppt. Vom Bahnhof erhalten geblieben sind noch einige Bahnsteig- und Trassenüberreste, die mittlerweile unter Denkmalschutz stehen. Zu ihnen führt die sogenannte Fuge, die den Park als Denkmal durchschneidet. Ich betrete das Mahnmal an seiner nördlichen Seite und folge dem schluchtenartigen Weg. Hohe, kahle Betonwände zu beiden Seiten symbolisieren: Hier gab es keinen Ausweg, keine Fluchtmöglichkeit. Am Ende der Fuge auf dem ehemaligen Bahnsteig erinnern Tafeln mit den eingravierten Namen und Geburtsdaten an die Opfer. Im Norden des Parks ist ein Informationspavillon aufgestellt, der über die Geschichte der Deportationen informiert. Im Westen der Grünanlage soll ein Dokumentationszentrum in eines der noch zu errichtenden Gebäude einziehen.

Die gesamte Hafencity entsteht auf einem ehemaligen Hafen- und Industriegelände, dem ehemaligen Freihafen der Stadt. Nirgendwo sonst ist das so sichtbar wie im nächsten Quartier, dem Oberhafenquartier. Der Oberhafen direkt gegenüber den Deichtorhallen war über lange Jahre der Hauptgüterbahnhof der Stadt, ein unspektakuläres, mit niedrigen, einfachen Schuppen bebautes und von Bahngleisen durchzogenes Gelände. Um dorthin zu gelangen, biege ich am nördlichen Ende des Lohseparks nach rechts ab in die Stockmeyerstraße. Sie führt vorbei an noch weitgehend unbebautem Land und unter der Oberhafenbrücke hindurch zu einem ebenso skurrilen wie berühmten Lokal: zur winzigen, neben eine Bahnüberführung gequetschten Oberhafen-Kantine. Windschief ist das Gebäude aus der Zeit des Expressionismus – von innen ebenso wie von außen –, und so manche Landratte gewöhnt sich in ihm einen schaukelnden Seemannsgang an, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Entstanden ist die Oberhafen-Kantine als Kaffeeklappe, also als Imbiss, angeblich für die Bauarbeiter am Chilehaus. Das berühmte, expressionistische Bürogebäude von Fritz Höger steht als Glanzstück und Höhepunkt des Weltkulturerbes Kontorhausviertel ganz in der Nähe des Oberhafenquartiers. In Hamburg geht die Legende um, dass die Klinkersteine, aus denen die Oberhafen-Kantine besteht, eigentlich beim Chilehaus hätten verbaut werden sollen. Wenn ich Glück habe, rollt genau in diesem Moment ein Zug über die Brücke über mir, mit deutlich gedrosselter Geschwindigkeit und so irrwitzig nahe an den Fenstern des ersten Stocks des winzigen Gebäudes vorbei, als könnte man die Waggons berühren, streckte man nur den Arm aus. Ein spektakuläres Fotomotiv, wenn man vom Vorplatz aus das denkmalgeschützte Häuschen und die Brücke im Sucher hat.

„Hier bin ich doch falsch, oder?“ Das ist häufig mein erster Eindruck, wenn ich auf das Gelände des Oberhafens hinter dem Gasthaus gehe. Ich stehe auf dem Vorplatz eines Lagerkomplexes, der offensichtlich ganz schön in die Jahre gekommen ist: vor mir lang gestreckte, niedrige Schuppen, unter meinen Füßen altes Kopfsteinpflaster auf der Straße. Ein Bauzaun grenzt einen Teil des Platzes ab, dahinter ein paar Maschinen und Lieferwagen. Tagsüber, während der Woche kann schon mal der Eindruck „Hier ist doch nichts los“ entstehen. Stimmt aber gar nicht. Tatsächlich ist im Oberhafenquartier schon eine ganze Menge los. Von überall ist Hämmern zu hören, eine Kreissäge kreischt durch die Halle, und ein Lastwagen mit neuem Baumaterial kommt um die Ecke. Und es wird noch viel mehr werden. Das Oberhafenquartier ist derzeit eine der spannendsten Gegenden in ganz Hamburg. Auf dem vormaligen Bahnhofsgelände entsteht ein neues Kreativquartier mit Galerien, Konzerthallen, Lokalen, Kultur- und Sportangeboten und vor allem mit jeder Menge Ideen und Inspiration. Wer sich als Besucher erst einmal über den Vorplatz bis zu den Hallen vorgewagt hat und in sie hineinschaut, spürt die kreative Energie, die diese Fläche weckt. Und wer zu den Sommerfesten kommt, trifft hier auf ein junges, lebendiges Publikum.

Mein Lieblingsort im neuen Oberhafen ist die Hanseatische Materialverwaltung, die in Halle 3 eingezogen ist. Die was? Die Hanseatische Materialverwaltung ist ein gemeinnütziger Theaterfundus, der jedem offensteht. Und in dem es wirklich alles gibt. Alte Telefone aus den 1980er-Jahren? Eine Sitzreihe aus einem Flugzeug? Ein riesiger, grüner Drache als Kulisse? Emma, die Lokomotive aus Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, oder das Fliewatüüt? Alles da! 2013 gründete eine Gruppe Enthusiasten die gemeinnützige Initiative mit dem Ziel, ausgediente Kulissen, Requisiten und Kostüme von Film- und Theaterproduktionen als Spenden anzunehmen und weiterzuverwerten. Aus dem riesigen Fundus, der sich mittlerweile angesammelt hat, können Schul- und Laientheater Material für ihre eigenen Produktionen ausleihen oder kaufen – gegen einen kleinen Obolus, der umso geringer ausfällt, je gemeinnütziger der Verwendungszweck ist. Aber auch Privatpersonen sind willkommen und können ungewöhnliche Deko-Stücke, ausgediente Kostüme und vor allem jede Menge Material für kreative Projekte mit nach Hause nehmen. Entdecken und Stöbern sind ausdrücklich erlaubt. Ein Streifzug durch die beiden insgesamt sechshundert Quadratmeter großen Hallen der Hanseatischen Materialverwaltung ist immer auch ein Abenteuer; ich weiß nie, was mich dort erwartet. Aber eines ist klar: Die Kamera ist bei jedem Besuch dabei! Besonders schön finde ich die überdachte Gleishalle zwischen den Hallen 2 und 3, an der entlang ich von der vorderen zur hinteren Halle der Hanseatischen Materialverwaltung komme. Noch ist die ehemalige Gleisanlage etwas verwildert, aber die Nutzer des Oberhafens haben große Pläne und wollen den eigentlich geplanten Abriss des Dachs unbedingt verhindern. Geht es nach ihnen, wird in der Gleishalle ein großer, grüner Garten entstehen. Schon jetzt ein Ort zum Träumen …

Ein Abenteuer ganz anderer Art wartet gegenüber in Halle 4 auf Besucher: Dieser ehemalige Schuppen wurde umfunktioniert zu einer Sporthalle, die aber ganz anders ist als die herkömmlichen Multifunktionshallen mit Basketballkorb und am Boden eingezeichnetem Handballfeld. Entstanden ist ein großes Indoor-Areal für den Parkour-Sport, für Tanz und Performing Arts mit dem sinnigen Namen „Die Halle“. Auf der großen Fläche sind verschiedene Hindernisse aufgebaut, die es beim Parkour zu überwinden gilt. Hölzerne Treppen und Mauern, Geländer aus Metall – alles gut mit Matten gepolstert – bieten vor allem Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich springend, kletternd und laufend durch den Parcours zu bewegen. Offene Trainings, Workshops, Kindergeburtstage: Immer sind Trainer dabei, die Tricks zeigen, wie sich die Hindernisse schneller, besser und eleganter überwinden lassen. „Die Halle“ ist übrigens Stützpunktverein des Deutschen Olympischen Sportbunds im Bereich Integration durch Sport und kümmert sich besonders um Menschen mit Fluchterfahrung und um sozial benachteiligte Kinder.

In derselben Lagerreihe entdecke ich das Geschäft von Johanna Schultz, einen Antiquitätenhandel, der perfekt in die hohen, hell gestrichenen und durch die große Fensterfront lichten Hallen passt. Hier zeigt die Möbel-Expertin, wie viel Charme, Leben und Ausstrahlung in alten Dingen steckt, und verkauft charaktervolle antike Entdeckungen und ausgesuchte neue Designware. Zierliche Tischchen mit zartem Geschirr, Designersessel und schräge 1950er-Jahre-Schirmständer, in diesem Geschäft ist alles ebenso perfekt wie liebevoll ausgewählt und arrangiert. Aber es geht nicht nur um Möbel und Haushaltsgegenstände. Schultz’ Spezialität sind Buchstaben – moderne aus Holz, alte aus Metall mit Neonröhren, A bis Z geschrieben auf Emailleschildern, Großbuchstaben, Kleinbuchstaben, Schreibschrift oder Druckbuchstaben, Schriftzüge und noch vieles mehr für die Werbung oder zur Dekoration. Schultz setzt ihre großen und kleinen Fundstücke geschmackvoll in Szene, das Ganze ist ein Fest für Freunde der Typografie und der kunstvollen Inszenierung.

Das sind nur ein paar Beispiele für die vielen spannenden Projekte im Oberhafen-Quartier. Halle 2 beherbergt eine Eventfläche, in der innovative Ausstellungen etwa zur Virtual Reality stattfinden. Klassische und Jazz-Musik bietet Halle 424, beispielsweise mittwochabends gemeinsam mit dem Hamburger Kammerkunstverein beim Feierabendkonzert. Seit August 2018 ist in Halle 3 die Hobenköök (übersetzt: Hafenküche) eingezogen, eine Kombination aus Markthalle und Restaurant, in der es viele regionale Produkte gibt.

Im ehemaligen Zollamt gleich neben der Oberhafen-Kantine ist eine Galerie untergebracht, und so weiter und so fort. Die Entwicklung im Oberhafen ist noch lange nicht abgeschlossen, überall wird geschraubt, gesägt und gebaut. Dass das Kreativquartier heute überhaupt in dieser Form existiert, ist ein Verdienst der privaten Oberhafen-Initiative. Sie kämpft unter anderem für den Erhalt des Gleishallendachs zwischen den Hallen 2 und 3, bringt Nutzungsideen ein und versucht – teils erfolgreich, teils vergeblich –, den Abriss von Teilen der Schuppen zu verhindern. In der Hafencity überwiegen nüchterne Neubauten, umstrittene und manchmal sehr gesichtslose, kantige Bauten in Rotklinker, die von vielen Hamburgern spöttisch nur mit „Würfelhusten“ beschrieben werden. Da tun als Gegensatz die störrischen, widerspenstigen und herrlich antiquierten Schuppen im Oberhafen dem neuen Stadtteil und Hamburg als Ganzes mehr als gut. Weiter geht mein Spaziergang durch die Hafencity Ost in der Shanghaiallee. Um dorthin zu gelangen, nehme ich den gleichen Weg unter der Oberhafenbrücke hindurch wieder zurück, laufe aber dieses Mal am Lohsepark vorbei. Rechts von mir steht an der Ericusbrücke auf der anderen Seite des Ericusgrabens das Alte Zollhaus, ein vierstöckiges Backsteingebäude von 1910/11. Die Hafencity steht auf dem Gelände des ehemaligen Freihafens in Hamburg und war mit Zäunen und Kontrollposten vom Rest der Stadt abgetrennt. Bis 2006 nutzte der Zoll das alte Haus noch als „Personen- und Warenabfertigungsgebäude“, heute dient der denkmalgeschützte Bau als Bürogebäude und ist in seinem Inneren eine Hommage an den „Spiegel“ – die Wände des Besprechungsraums im Erdgeschoss sind mit alten Cover dekoriert. Direkt hinter dem Zollhaus türmen sich die beiden riesigen Glaspaläste an der Ericusspitze auf, neben denen das alte Gebäude fast schon eingeschüchtert aussieht. Im östlichen Gebäude in der Ericusspitze 2–4 hat seit 2011 der Spiegel-Verlag seinen Sitz – es war eines der ersten Gebäude in der Hafencity, das bezogen wurde.

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Junge Gastronomie in alten Hallen im Oberhafen

Ein Stück weiter die Stockmeyerstraße hinauf steht ein weiteres der wenigen alten Gebäude in der Hafencity: der sorgfältig restaurierte und unter Denkmalschutz stehende Hildebrandblock. In dem ehemaligen Fabrikgebäude der Gummi-Kamm-Compagnie ist seit 2008 das private Automuseum Prototyp untergebracht. Auf zweitausendfünfhundert Quadratmetern dreht sich darin alles um Sportwagen, um den Rennsport und um Geschichte und Geschichten drum herum. Den Museumsmachern Thomas König und Oliver Schmidt geht es aber nicht nur um die Technik der Rennwagen, auch wenn die vom Ur-Porsche Typ 64 von 1939 bis zum modernen Formel-1-Boliden quer durch die Entwicklungsgeschichte gründlich vorgestellt werden. Schmidt und König interessieren sich besonders für die Menschen in diesem Sport, für die Rennfahrer und die Konstrukteure der Autos. Vor allem berühmte Fahrer wie Otto Mathé und Wolfgang Berghe von Trips stellt die Ausstellung mit zahlreichen Exponaten vor. Außerdem zeigt das Haus mit Plakaten und frühen Ausgaben von Automobil- und Sportzeitungen, mit Spielzeugmodellen der Autos und Brettspielen rund um die Rennen, wie die Begeisterung für Autorennen in die Privathäuser und Kinderzimmer überschwappte. Obwohl sich mein persönlicher Enthusiasmus für den Automobilsport in ziemlich engen Grenzen hält, faszinieren mich die alten, perfekt restaurierten Autos mit ihren charaktervollen Silhouetten, dem glänzenden Lack und den liebevollen Details. Das liegt vor allem an der Präsentation der Fahrzeuge: Sie stehen frei und ohne Absperrungen im Raum, als Besucherin komme ich so nah an die Ausstellungsstücke heran wie nur selten in Museen. Oft stehen Türen und Motorhauben offen und gewähren mir Einblicke in das Innere, ein geteiltes Modell zeigt einen Querschnitt durch das Auto. „Unbequem“, stelle ich angesichts der Enge im Innenraum und der tief liegenden Sitze fest. Das bestätigt auch meine Fahrt mit dem Fahrsimulator auf einem Formel-1-Kurs – bei der ich mit einem riskanten Manöver relativ schnell aus der Kurve fliege. Aber gut, ich will ja auch nicht bei Rennen mitfahren.

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Alt und neu nebeneinander: das Alte Zollhaus und das Spiegel-Gebäude

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Im Museum Prototyp kommt der Besucher ganz nah ran an die edlen Ausstellungsstücke

Rund um den Hildebrandblock dominiert dann wieder die moderne, etwas monotone Hafencity-Architektur. Ein genauer Blick zeigt aber ein Gebäude in der Shanghaiallee, das aus der Reihe tanzt: schräg gegenüber dem Museum das Haus mit der Nummer 12, das das Ökumenische Forum beherbergt. Zwar ist auch dieses Gebäude ebenso wie alle in der Umgebung aus rotem Klinker gebaut – dieser Baustoff war eine Vorgabe der Stadt für die gesamte Hafencity, um eine optische Brücke zur gegenüberliegenden historischen Speicherstadt zu schaffen. Aber die Fassade des Ökumenischen Forums ist geschwungen, bildet eine lebendige Oberfläche aus vorspringenden und zurückgesetzten Steinen. An zwei Stellen wölbt sich das Mauerwerk nach innen – einmal, um einer kleinen, frei schwingenden Glocke über der Straße Raum zu geben, und ein zweites Mal, um den Eingang zur Kapelle des Forums zu kennzeichnen, über dem ein großes Kreuz aus dunklem Klinkerstein eingelassen ist. Die Hafencity hat keine eigene Kirche, sondern gehört zur Gemeinde der Katharinenkirche. Daher will das Ökumenische Forum, so das Selbstverständnis, als einziges sakrales Bauwerk auch hier „an Gottes Gegenwart“ erinnern. Hinter einem Vorraum mit dem Taufbecken und den hohen, verschiebbaren Flügeltüren betrete ich den runden Innenraum der Kapelle. Die goldgelbe Wand und die strahlende Decke tauchen den offenen Raum in goldenes Licht. Die Klinkersteine an den Wänden sind mit großen Lücken verbaut und von hinten beleuchtet, wodurch ein strahlender, warmer Glanz im gesamten Raum herrscht. Getragen und gemeinsam genutzt wird das Ökumenische Forum von einundzwanzig christlichen Gemeinden, darunter die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, die ÄthiopischOrthodoxe Kirche, das Erzbistum Hamburg, die Dänische Seemannskirche und die Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland. Diese Vielfalt der verschiedenen christlichen Konfessionen spiegelt sich in den Wänden des Ökumenischen Forums wider: In die Backsteine des Runds sind verschiedene Bibelsprüche und Zitate sowie eine Reliquie des heiligen Laurentius und zwei Ikonen eingebracht – protestantische, katholische und orthodoxe Zeichen des Glaubens. Das Haus beherbergt neben der Kapelle noch eine ökumenische Hausgemeinschaft und – für mich nach dem Spaziergang durch die Hafencity Ost besonders reizvoll – ein nettes, kleines Café mit fair gehandeltem Kaffee, selbst gebackenem Kuchen und einem stillen Hinterhof.

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Die geschwungene Fassade des Ökumenischen Forums gibt einer kleinen Glocke Raum

Hinter dem Ökumenischen Forum passiere ich in der Shanghaiallee noch ein Musikerhaus mit schallentkoppelten Räumen, bevor mich dahinter die Hongkongstraße in den stärker besuchten Teil der Hafencity zurückführt. Ich gehe vor zum Magdeburger Hafen, der mit dem Maritimen Museum, dem Störtebeker-Denkmal, etwas maritimer Folklore und durch die Nähe zum Überseeboulevard ein Magnet für Touristen ist. Von den Elbarkaden aus ist sie schon zu sehen: die Hauptkirche St. Katharinen, mein nächstes Ziel – leicht zu erkennen an ihrem goldenen Kranz auf dem Kirchturm.

Wundervolle Orgelpfeifen: ein Besuch in der Kirche St. Katharinen

Das kann man nur beste Lage nennen: Die EvangelischLutherische Hauptkirche St. Katharinen liegt am Katharinenkirchhof mitten im Zentrum gegenüber der Speicherstadt und der Hafencity, direkt an der Elbe, nur einen Steinwurf vom Kontorhausviertel entfernt. Dennoch kommen überraschend wenige Besucher hierher; vielmehr wird die Kirche meist in einem weiten Bogen umrundet. Die typische touristische Route führt von der Binnenalster über das Rathaus und die historische Deichstraße hinein in das Weltkulturerbe Speicherstadt, von dort in die Hafencity und weiter in Richtung Chilehaus oder Landungsbrücken. St. Katharinens charakteristischer, schön geschwungener Turmhelm mit dem Goldkranz ist dabei von den unterschiedlichsten Blickwinkeln aus zu sehen, liegt die Kirche doch in etwa im Mittelpunkt dieses Rundgangs. Doch den Weg zu ihr hin? Den finden nur wenige.

Dabei lohnt sich ein Besuch in diesem alten, ehrwürdigen Gotteshaus mit seiner runden, bauchigen, an ein Schiff erinnernden Form. Immerhin stammen Teile des Turmschafts aus dem 13. Jahrhundert und gehören damit zu den ältesten Mauern der Stadt. Urkundlich erwähnt wurde die Kirche das erste Mal 1250. Fertiggestellt wurde sie im 15. Jahrhundert und diente fortan vor allem als Kirche für die Schiffbauer und die Bierbrauer. Im Zweiten Weltkrieg wurde St. Katharinen schwer beschädigt, die Innenausstattung ging fast vollständig verloren. Aber sie wurde nach dem Krieg – anders als die Nachbarkirche St. Nikolai, die als Mahnmal dient – wieder aufgebaut sowie zwischen 2007 und 2013 umfassend saniert. Nun erstrahlt sie in neuem Glanz. Mit der Hafencity hat St. Katharinen eine neue Gemeinde erhalten. In der Vergangenheit war die Zahl der Gläubigen, die zu ihr gehörten, immer weiter geschrumpft. Schuld daran war zuerst der Bau der Speicherstadt, für den die Bewohner des dort liegenden sogenannten Gängeviertels vertrieben wurden, dann der Krieg in ebenso großem Maße wie die autofreundliche Stadtarchitektur.

Mich bezaubert immer wieder die ebenso schlichte wie eindrucksvolle Eleganz dieser Kirche. Wer heute den Innenraum betritt, steht in einem hohen, schmalen, weitgehend ungeschmückten Kirchenraum. Klar, hell, aufstrebend wölbt sich das Kirchenschiff über Rundpfeilern vor mir auf, oben funkeln ein paar Sterne an der Decke. Das älteste erhaltene Kunstwerk ist das Kruzifix mit einem um 1300 entstandenen Corpus gleich beim Eingang. Direkt dahinter entdecke ich die in den Pfeiler eingelassene Flutmarke der Sturmflut von 1962. Gegenüber hängen zwei Gemälde aus dem frühen 16. Jahrhundert, die eine Reihe von Kunstwerken aus dem 16. und 17. Jahrhundert eröffnen. Mindestens ebenso sehenswert finde ich, was St. Katharinen an moderner Kunst zu bieten hat: Fenster von Hans Gottfried von Stockhausen oder die große Bronzetür am Südportal von Fritz Fleer, von dem auch der Osterleuchter stammt. Das berührendste Kunstwerk hängt in der Turmhalle (Eingang vom Grimm aus): eine Gedenktafel, angebracht für die achtzig Jungen und Männer, die beim Untergang der Pamir im Jahr 1957 ums Leben kamen. Über der Tafel schwebt ein Albatros, Symbol für die Seelen ertrunkener Seeleute. Die meisten Opfer waren noch Kadetten, zwischen sechzehn und achtzehn Jahren alt. Diese Katastrophe des Segelschulschiffs machte und macht die Seefahrerstadt Hamburg besonders betroffen. Bekannt ist die Kirche aber vor allem durch ein Schmuckstück, das nur von außen zu sehen ist: die goldene Krone am Turmhelm, die angeblich aus dem Schatz des Piraten Klaus Störtebeker hergestellt wurde. Eine Legende, an der nichts dran ist. Das macht aber nichts, die Hamburger erzählen sie trotzdem gern weiter. Sie lieben ihn einfach, den alten Freibeuter.

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Altehrwürdige Kirche: St. Katharinen, im Hintergrund das Mahnmal St. Nikolai

In der Geistesgeschichte Hamburgs spielte St. Katharinen immer wieder eine bedeutende Rolle. Hier wurde 1521 zum ersten Mal eine reformatorische Predigt in der Stadt gehalten, hier war ab 1755 Johann Melchior Goeze, der die Aufklärung vehement ablehnte, als Hauptpastor tätig. Ab 1774 geriet er in eine heftige religiöse Auseinandersetzung mit Gotthold Ephraim Lessing über die Auslegung der Bibel, Fragmentenstreit genannt. Die beiden kannten sich aus der Zeit, als Lessing als Dramaturg am Hamburger Nationaltheater tätig gewesen war. Goeze war später Vorbild für den Patriarchen in Lessings Drama Nathan der Weise.

St. Katharinen ist nicht nur eine geschichtsträchtige und sehenswerte, sondern vor allem eine sehr hörenswerte Kirche. Seit 2013 wird sie während der Gottesdienste und bei Konzerten vom vollen Klang der Rekonstruktion einer berühmten Orgel, der sogenannten Großen Bachorgel, erfüllt.

Bereits im frühen 15. Jahrhundert gab es einen Vorläufer des Instruments, das im Laufe der Zeit immer wieder erweitert und umgebaut wurde. Im Barock galt die Orgel als schönste in ganz Norddeutschland. Hamburg hatte sich allmählich zum Mittelpunkt der Kirchenmusik entwickelt, bedeutende Komponisten wie Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach (denen beiden ein Museum in der Peterstraße gewidmet ist) waren als Musikdirektoren in der Stadt tätig. Berühmt ist ein Orgelkonzert, das Johann Sebastian Bach 1720 in der Katharinenkirche vor Honoratioren der Stadt gab. Bach konnte „die Schönheit und Verschiedenheit des Klanges dieser Rohrwerke nicht genug rühmen“, überlieferte sein Zeitgenosse Johann Friedrich Agricola. Die Orgel, die über so viele Jahrhunderte hinweg den Klang in St. Katharinen bestimmt hatte, ging im Juli 1943 im Bombenhagel verloren, nur ein Teil der Pfeifen konnte gerettet werden. Nach einigen unbefriedigenden Zwischenlösungen beschloss man, die Orgel mit den noch erhaltenen Pfeifen und anhand von Skizzen und Beschreibungen klanglich und optisch zu rekonstruieren. Eine nicht unumstrittene (und teure) Aufgabe, die inklusive Planung und Wiederaufbau fast zwanzig Jahre dauerte. Am 9. Juni 2013 wurde die Bachorgel eingeweiht, Fachleute loben ihren charaktervollen, satten Klang. In den Sommermonaten finden seither zahlreiche Konzerte des Hamburger Orgelsommers in St. Katharinen statt; einige Konzerte, die hier aufgenommen wurden, sind auch auf CD erhältlich.

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Rekonstruktion einer berühmten Orgel: die Große Bachorgel in der St.-Katharinen-Kirche

Zeitreise in den Kalten Krieg: der Atombunker unter dem Hamburger Hauptbahnhof

„Sie setzen sich bitte hierhin!“ René Rühmann, Mitarbeiter des Vereins Hamburger Unterwelten, weist mir einen Platz in einer Sechsersitzreihe zu. Ich setze mich auf den harten, schmalen Sitz und lehne meinen Kopf an das Schaumstoffpolster darüber. Neben mir nehmen auf Anweisung weitere Besucher Platz, eng an eng. „Und jetzt“, beginnt unser Guide, „stellen Sie sich vor, dass dies für die nächsten vierzehn Tage Ihr Zuhause ist. Sie werden sechzehn Stunden am Tag sitzen und im Drei-Schichten-System acht Stunden auf Pritschen liegen.“