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IVA PROCHÁZKOVÁ

Der Mann
am Grund

Der erste Fall von Kommissar Holina

Aus dem Tschechischen
von Mirko Kraetsch

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Der Verlag dankt dem Ministerium für Kultur der Tschechischen
Republik für die Förderung dieser Übersetzung.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Muž na dně“, bei Paseka, Prag 2014. Übersetzung aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Lisa Kärcher

Coverfotomontage: © Shutterstock/NejronPhoto, © Shutterstock/PetrKopka, © Shutterstock/ImagePost; Umschlag innen: rechts © Shutterstock/DaLiu, links © Shutterstock/IvetaH

ISBN 978-3-99200-222-1
eISBN 978-3-99200-223-8

Inhalt

Zehn Jahre später

Der drittletzte Tag vor dem Regen

Der vorletzte Tag vor dem Regen

Der Tag vor dem Regen

Der Tag des angekündigten Regens

24 Stunden später

Bauchschmerzen weckten ihn auf. Wenn er irgendwas hasste, dann nachts aufs Klo zu gehen. Das war schlimmer als der Dackel von Frau Zapletalová. Bruno war immer an der Leine, also konnte man um seine gefletschten Zähne einen großen Bogen machen, aber einen Bogen ums Klo machen, das ging nicht. Man musste aufstehen und gehen, auch wenn es mitten in der Nacht war und im Haus Hunderte von Gefahren lauerten. Hinter jeder Ecke, hinter jeder Tür, wo er nicht hinsehen konnte.

Im Liegen tastete er nach dem Lichtschalter. Machte die Nachttischlampe an, stand auf und ging auf die Galerie hinaus. Nirgends ein Geräusch. Wahrscheinlich war es schon sehr spät. Er schaute übers Geländer in die Tiefe des Treppenlaufs und sein Magen krampfte sich zusammen. Ein gruseliges Haus! Schon oft hatte er Erwachsene gehört, die Papa für seinen Entwurf lobten. Sie sagten, dass er modern, intelligent, originell sei. Ein perfektes Gebäude. Für Marek war es viel zu groß. Das wurde ihm vor allem in der Nacht bewusst. Zum Klo musste er zum Glück nicht bis ins Erdgeschoss, eins der Bäder war im ersten Stock, aber auch dorthin schaffte er es im Dunkeln nicht, ohne sich zu fürchten. Zwischen dem Bad und seinem Zimmer lagen zwei Ecken, hinter jeder konnte sich etwas verborgen haben.

„Sei nicht so ’ne Memme! Du bist fast sechs. Im Herbst kommst du in die Schule“, sagte Papa immer. Er hatte recht. Marek war fünfeinhalb, im Januar war er zur Anmeldung gewesen, ab September würde er die erste Klasse besuchen. Aber was hatte das mit dem Weg zum Klo zu tun? In die Schule würde er schließlich nicht nachts gehen und auch nicht alleine, sondern zusammen mit Nina. Die war fast elf und hatte vor gar nichts Angst. Nicht einmal vor Bruno. Wenn der sie anbellte, schnappte sie ihn am Schlafittchen und bellte zurück. Sie war groß und mutig. Marek beschloss, seine Schwester zu wecken. Er könnte auch zu Yadira gehen, die würde ihn bestimmt zum Klo begleiten, aber er hatte Angst, dass Papa im Schlafzimmer war. Wenn der mitbekäme, dass die nächtlichen Ausflüge zur Toilette immer noch ein Problem waren, wäre er sauer. Er wollte einen Sohn, der sich nicht fürchtete, und Marek hätte ihm den Wunsch auch gern erfüllt. Er wusste bloß nicht, wie. Seine Angst ließ sich nicht durch Vernunft beherrschen.

Ninas Zimmer war direkt nebenan. Marek öffnete die Tür, ging leise bis zum Bett, berührte die Schulter seiner Schwester und rüttelte ganz leicht an ihr. Sie hatte einen leichten Schlaf. „Was ist?“

„Ich muss mal. Komm mit“, bat er ohne zu jammern, ohne überflüssige Bettelwörter. Er wusste, dass ihn seine Schwester noch am ehesten verstünde. Er war ihr Zwergi. Oft sprach sie so mit ihren Freundinnen über ihn und vergaß dabei nie, in ein süßliches Gesäusel überzugehen, was Marek überhaupt nicht störte, denn dahinter spürte er ihre beschützende Liebe. Nina veräppelte ihn zwar manchmal, aber sie war sein Obelix. Er konnte sich auf sie verlassen. Auch jetzt. Kommentarlos schlug sie die Decke zurück, stand auf und ging mit ihm zum Bad. Weder hinter der ersten noch der zweiten Ecke lauerte irgendwer.

Marek pullerte mit einem Glücksgefühl. Die Spannung im Unterleib ließ nach, und mit der Erleichterung kam auch seine gute Laune zurück. Nina stand in der Tür, sie kratzte sich am Rücken und gähnte. Als er fertig war, tauschten sie die Plätze, sie setzte sich aufs Klo und er stand an der Tür.

Dann gingen sie über die Galerie zu ihren Zimmern zurück, wortlos, Nina gähnte die ganze Zeit und kratzte sich am Rücken. Irgendetwas dort nervte sie. Sie versuchte es zuerst von unten, dann reckte sie den Arm über die Schulter, um von oben an die juckende Stelle zwischen den Schulterblättern heranzukommen. Marek bot ihr an, sie zu kratzen. Dankbar nahm sie das an. „Ein bisschen tiefer, weiter links“, navigierte sie ihn flüsternd. Mit der Hand auf ihrem Rücken überkam ihn auf einmal der Drang, sie zu kitzeln. Das war die einzige Situation, in der er sich seiner Schwester überlegen fühlte. Nina war ausgesprochen kitzlig und Marek kannte die empfindlichen Punkte an ihrem Körper, die man nur mit den Fingerspitzen berühren musste, um bei ihr Lachkrämpfe und unkontrollierbare Zuckungen auszulösen. In solchen Momenten erlebte er das einzigartige Gefühl, einmal obenauf zu sein.

Mit der linken Hand kratzte er Nina immer noch zwischen den Schulterblättern, aber die Rechte schob er auf ihre Achselhöhle zu. Noch hatte er sie nicht berührt, brachte nur seine Finger in Bereitschaft. Er wusste, dass er sie zwischen die Rippen pieken musste. Nicht zu tief, damit es nicht wehtat. Vor allem unerwartet. Jetzt! Mit der Linken zwischen die Rippen, die Rechte schnell in die Achselhöhle, und nicht wieder aufhören. Er hatte Nina kalt erwischt. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und Marek spürte, wie sie sich unter seinen Händen wand. Sie presste die Arme gegen den Körper, ihr rechter Ellbogen fuhr in einer Abwehrgeste nach hinten. Er sprang zur Seite. Sein Schlafanzug rutschte, die Hosenbeine verhedderten sich zwischen seinen Füßen, er trat darauf, stolperte, kam ins Wanken. Marek ließ seine Schwester los, griff nach dem Geländer, aber es war keins da, sie standen direkt vor der Treppe, unter ihnen zweiundzwanzig Stahlstufen, er hatte sie gezählt, Papa hatte sie für dieses perfekte Haus maßfertigen lassen. Marek stieß mit der Schulter an, dann mit der Hüfte, die scharfe Kante der nächsten Stufe erwischte ihn am Hals und setzte einen derartigen Schmerz frei, dass er die folgenden Schläge kaum noch wahrnahm. Vom Aufprall auf den Keramikfliesen der Halle bekam er nichts mehr mit.

Sie wollte sich vor Mareks Kitzeln in ihr Zimmer retten, als sie seinen Schrei hörte. Er war nicht laut, brachte sie aber dazu, sich umzudrehen. Sie sah den Körper ihres Bruders hinunterstürzen wie ein Gepäckstück, das jemandem aus der Hand gerutscht war. Er stieß gegen die Stufen, metallisches Dröhnen erfüllte das ganze Haus. Nina wartete nicht und rannte Marek nach, die Treppe hinunter. Im Laufen klammerte sie sich mit beiden Händen am Geländer fest, nicht aus Angst, dass ihr dasselbe passieren könnte, sondern in einer Art unkontrollierbarem Krampf. Er hatte Körper und Geist gepackt, ihr das Gesicht zu einer verschlossenen Grimasse verzerrt und das Gehirn verbrannt. Sie schaute Mareks reglosen Körper vor sich an, sah auch bereits das Blut, das irgendwo herausrann und über die hellen Fliesen kroch. Sie spürte nichts. Ihre eigenen Bewegungen machte sie sich von außen bewusst, wie eine Beobachterin. Ein Sprung von der letzten Stufe, hinhocken, Mareks Kopf herumdrehen, der Blick in sein Gesicht. Die Pupillen reglos, im Schädel ein Loch. Eher eine Einkerbung. Schmal, offensichtlich tief. Von dort quoll das Blut hervor. Auch aus der Hüfte. Es färbte die Schlafanzugjacke, leuchtend rot, strömend, lebendig. Mareks Blut lebte noch, aber er selbst war tot. Nina erkannte das nicht nur an seinem starren Blick, sondern auch auf eine andere, direktere Weise. Ohne Worte teilte er es ihr mit. Seine Seele sprach zu ihrer Seele. Er sagte ihr, sie solle hinaufgehen, sie könne ihm nicht mehr helfen. Niemand könne ihm mehr helfen. Er sagte, dass es ihm leidtue, was er getan habe. Sie antwortete ihm, auch auf direktem Weg, ohne Worte, dass es ihre Schuld gewesen sei, sie hätte nicht nach ihm ausholen sollen. Du kannst nichts dafür, bist halt kitzlig, antwortete er und Nina nickte, das stimmte, gegen das Kitzeln war sie machtlos. Geh rauf, empfahl er ihr, mach die Tür zu, leg dich ins Bett und tu so, als ob du schläfst. Damit sie dich nicht hier finden. Sie wären sauer auf dich. Alles, was du ihnen sagen würdest, würden sie als Ausrede ansehen. Weil du lebst und ich tot bin. Und ich kann ihnen nicht mehr erklären, wie’s gewesen ist. Geh!

Nina legte Mareks Kopf auf die Fliesen, griff nach dem Geländer und stieg eilig die Treppe hinauf. Zweiundzwanzig Stufen, sie hatte sie gezählt. Sie hatte es eilig, passte aber auf, keinen Lärm zu machen. Das Haus war still, die Erwachsenen waren durch Mareks Sturz nicht wach geworden, oder sie wachten erst langsam auf. Oben schaute sie zurück. Der Körper ihres Bruders sah winzig aus, Arme und Beine wirkten von hier oben aus unnatürlich klein. Bist mein Zwergi, sagte sie wortlos. Und du mein Obelix, antwortete er, als sie bereits ihre Tür schloss. Nina schaute an sich herab. Der Saum ihres Nachthemds war blutverschmiert. Sie zog es aus, knüllte es zusammen und steckte es unter den Kleiderschrank. Dann streifte sie ein sauberes über und stieg ins Bett. Hast du Schmerzen?, fragte sie ihren Bruder. Nein, versicherte er, alles in Ordnung. Und jetzt Schäfchen zählen.

Sie zog sich die Decke über den Kopf und presste ihre Hände zwischen die Knie, damit sie nicht zitterten. Ihr Bruder hatte keine Schmerzen. Das ging in Ordnung. Helfen konnte sie ihm nicht. Nina stellte sich die kleine Brücke über die stark befahrene Straße vor, die auf ihrem täglichen Schulweg lag. Über die Brücke gingen Schafe. Und sie fing an, sie zu zählen: eins, zwei, drei …

Das Haus stand am Ende einer Sackgasse, dahinter begann das Plateau von Břevnov. Dort, wo tagsüber die Kids auf ihren BMX-Rädern trainierten und in der Nacht der zu Staub zerfahrene Plänerkalkstein weiß ins Dunkel strahlte, erinnerte die Hochebene an die Bacuranao-Bucht. Sogar ein Rauschen war hier zu hören. Nicht von Meereswellen, sondern von Kiefern, die sich im frischen Frühlingswind wiegten. Bacuranao war einer der schönsten Strände, die Yadira in der Umgebung von Havanna kannte. In ihrer Pubertät hatte sie dort Stunde um Stunde verbracht. Hatte im weißen Sand gelegen, sich in der Sonne braten lassen und sich hinter den geschlossenen Lidern andere Welten vorgestellt. Voll mit Geschäften und schönen gemütlichen Häusern. Welten ohne Gefängnismauern, hinter denen Menschen für lange Jahre verschwanden. Sie hatte sich Welten hinter dem Ozean vorgestellt. Wenn sie jetzt die Augen schloss, stellte sie sich Havanna vor. Die Straße, in der sie einundzwanzig Jahre gewohnt hatte.

„Heimweh?“, fragte Kamil. Yadira nickte, auch wenn Heimweh nicht das richtige Wort war. Havanna fehlte ihr. Seit dem Tag, als sie in Prag-Ruzyně gelandet war und den Transitbereich hinter sich gelassen hatte, als die Tropfen des Prager Regens an den Glasscheiben herabliefen und irgendwo da draußen im Dunkeln die unsichtbare Stadt darauf wartete, dass sie sie betreten und in ihr zu leben beginnen würde, seit ihren ersten Schritten noch nicht einmal auf tschechischem Boden, sondern im Niemandsland, fehlte Havanna ihr.

„Wir wollen an den Ferien hin“, sagte sie.

„In den Ferien“, korrigierte er sie. Sie hatten vereinbart, dass er Yadira auf Fehler hinweisen würde, damit sie sich bei ihr nicht festsetzten. Sie wollte Tschechisch perfekt beherrschen. Und wusste, dass sie jetzt, nach drei Jahren, viel besser sprach als einige ihrer Landsleute, die schon seit Jahrzehnten in Böhmen lebten. Sie hatte ein Talent für Sprachen. Und ein Ziel: Jura zu studieren. Kamil studierte Biologie. Er war ein Jahr jünger als Yadira, sie verstanden sich gut. Mit ihm konnte sie frei von der Leber weg über alles reden, was sie belastete. Über den grauen Prager Winter, der ihr durch Mark und Bein kroch und sie mit Hoffnungslosigkeit erfüllte. Über die Gesichter, denen man nur so schwer ein Lächeln entlocken konnte. Über das Gestresstsein. Niemand hatte Zeit, in seiner alltäglichen Hetzerei für einen Schwatz innezuhalten, para chismear un poco. Vielleicht hatten sie auch Zeit, wussten aber nicht, worüber sie mit Yadira sprechen sollten. Offenbar unterhielten sie sich woanders, mit jemand anderem. In der Straße, in der sie wohnte, redete niemand mit ihr. Auch im Kindergarten, wo sie Marek täglich hinbrachte, begrenzte sich die Begegnung mit den anderen Müttern meist auf einen kurzen Gruß. Zuerst hatte sie gedacht, dass sie sie ablehnten. Wegen ihres Akzents, weil sie anders war, woanders herstammte. Aber allmählich begriff sie, dass es hier üblich war, Kontakte möglichst unpersönlich zu halten.

„Hat dir dein Mann inzwischen erlaubt zu studieren?“, fragte Kamil.

„Er hat mir nie etwas verboten. Er macht sich nur Sorgen, ob ich dann noch genug Zeit für die Kinder habe.“ Laut hätte sie es nie gesagt, aber sie wusste, dass es vor allem die Betreuung der Kinder war, weshalb Radim sie geheiratet hatte. Er schaffte es nicht, seinen Alltag als Vater und Witwer mit der Leitung seiner Firma unter einen Hut zu bringen. Schon als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, bei der Besichtigung der Festung La Cabaña, hatte sie gespürt, dass sein Blick nicht bewundernd, sondern prüfend war. Er lauschte ihren Erläuterungen, bei denen sie sorgfältig alle Bemerkungen zur jüngeren Vergangenheit von El Morro vermied, als hinter dessen dicken Steinmauern Feinde des Sozialismus gefangen gehalten wurden, zu denen auch ihr Großonkel Alberto gehört hatte … Sie sprach über die Einnahme der Bucht durch die Engländer und über Antonellis genialen Entwurf genau so, wie sie es ihr im Fremdenführerkurs beigebracht hatten, und die ganze Zeit war sie sich der Blicke von Radim bewusst. Die taxierten nicht ihre Figur und ihr Gesicht, sondern forschten danach, was dahinter stecken mochte. Es hatte sie nicht überrascht, dass er nach dem Rundgang fragte, ob sie ihm am Abend nicht die Stadt en privado zeigen würde. Sie hatte eingewilligt, private Führungen waren eine willkommene Nebeneinnahmequelle. Natürlich hing damit die Nachfrage nach weiteren Dienstleistungen zusammen, aún más privadas, aber denen ging Yadira geflissentlich aus dem Weg. Mit einem Lächeln erläuterte sie den Ausländern immer, einen Verlobten zu haben. Seinerzeit hatte das auch gestimmt, später nicht mehr. Die Beziehung zu Carlos, für ihren Geschmack allzu leidenschaftlich und ohne feste Basis, war zerbrochen, danach war sie frei, konnte tun und lassen, was sie wollte. Prostitution kam nicht in Frage. Sie ging mit Touristen auf einen Drink, zum Abendessen, Salsa tanzen. In der Hotelhalle verabschiedete sie sich dann immer von ihnen. Auch von Radim. Aber er hatte sie noch einmal aufgesucht.

„Ich will Rechtsanwältin werden, wie mein Großonkel. Der war sehr wichtig für mich“, vertraute sie Kamil an. Seine Zigarette hatte er bereits ausgedrückt – er rauchte heimlich, damit seine Eltern nichts merkten, obwohl er schon erwachsen war –, und langsam gingen sie zurück. Sie überlegte, warum sie eigentlich zum Plateau gingen. Sie hätte sich ohne Weiteres auch direkt vor dem Gartentor mit Kamil unterhalten und ihn problemlos auch hereinbitten können, sie hatte nichts zu verbergen. Nachbarn waren sie, mehr nicht. Sie redeten miteinander, lachten miteinander. Kamil sagte niemals: „So ein Stress!“ Er hetzte nicht so wie die anderen. Darin ähnelte er Yadiras Freunden aus Havanna. Vielleicht ging sie gerade deswegen gern mit ihm an den Ort, der sie an Bacuranao erinnerte.

„Lebt dein Großonkel nicht mehr?“

„Er ist vor drei Jahren gestorben. Auf meiner Hochzeit war Tío Alberto noch. Er tanzte wie ein junger Bursche“, lachte sie. „Und ein bisschen beschwipst war er.“

Radim und Yadira hatten in Havanna geheiratet, es war ein großes Fest, ihre ganze Familie war zusammengekommen. Inmitten der allgemeinen Heiterkeit benahm sich Radim etwas steif, sie hatte den Eindruck, dass er sie die ganze Zeit eindringlich musterte. Als würde er fragen, ob sie in der Lage wäre, sich um zwei Kinder zu kümmern. Sie war noch nicht ganz einundzwanzig gewesen. Radim fünfzehn Jahre älter. „Wenn du ihn halbwegs gern hast, dann geh mit ihm weg“, hatte Tío Alberto vor der Hochzeit geraten. „Dein Glück machst du hier nicht.“

„Mein Großonkel war im Gefängnis, aus politischen Gründen. Er kritisierte die Gesetze. Im Prinzip die …“ Wie immer, wenn ihr ein Wort nicht einfiel, sagte sie es auf Spanisch: „Constitución.“

„Er hat die Verfassung kritisiert? Hat ihn Fidel deswegen eingesperrt?“

„Hm. Er sperrte ihn ein, ließ ihn dann aber wieder frei. Danach kritisierte Tío Alberto nichts mehr. Danach war er brav. Geschüchtert.“

„Verschüchtert“, korrigierte Kamil sie. „Oder eingeschüchtert.“

„Sowohl verschüchtert als auch eingeschüchtert“, sagte Yadira. Inzwischen waren sie wieder am Gartentor angekommen. Die Straße war still, die Fenster der Einfamilienhäuser in der Nachbarschaft überwiegend dunkel. Radim war noch nicht wieder da. Als sie ihn nach dem Abendessen angerufen hatte, war seine Reaktion unwirsch gewesen, es war offensichtlich, dass sie ihn gestört hatte. Wie üblich saß er bis spät in die Nacht im Büro. Yadira konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal zusammen zu Abend gegessen hatten. Wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Er finalisierte gerade ein großes Bauprojekt, einen Auftrag aus öffentlicher Hand, er sagte, dass er den Termin halten müsse, sonst sei eine hohe Konventionalstrafe fällig. Besonders an den einsamen Abenden, wenn die Kinder schon schliefen, hatte Yadira Heimweh. Nach Havanna. Nach ihrer großen Familie. Ihren Freunden. Hier unterhielt sich nur ein einziger Mensch mit ihr. Umso wichtiger waren die Momente mit Kamil für sie. Sie gaben ihr Kraft. Es genügte, ein paar Worte zu wechseln, ein bisschen zu lachen, sich hinter einer Prager Hochebene für einen Moment den Ozean herbeizuzaubern.

„Gute Nacht“, sagte sie. „Wir sehen uns.“

Er umarmte sie zum Abschied. Freundschaftlich, warmherzig. Manchmal fragte sie sich, ob er ihr Verhältnis genauso sah, wie sie. Ob er sich vielleicht mehr erwartete. Er war zurückhaltend, vielleicht hätte er das niemals zugegeben, so wie er Angst hatte, seinen Eltern einzugestehen, dass er rauchte.

„Schlaf schön“, sagte er noch. Dann überquerte er die Straße und bog am Haus von Frau Zapletalová in die Seitenstraße ein, wo er mit Vater und Mutter wohnte. Yadira schloss das Gartentor und ging über den schmalen Weg zur Eingangstür. Eine Laterne im Garten beleuchtete die Seitenwand des Hauses. Sie nannte es in Gedanken palacio. Ein honiggelber Palast mit großen Fenstern und einer Halle, in die problemlos fünfzig Gäste passten. Ein Palast nach Radims Vorstellungen, von ihm selbst entworfen. Ein imposanter Bau, der es sogar in einen Katalog für moderne Architektur geschafft hatte. Yadira gefiel das Haus, aber es weckte in ihr ein schlechtes Gewissen. „Eine gute Wahl“, hatte anerkennend ihre Mutter gesagt, als sie zu Besuch gewesen war. Als hätte Yadira das Haus geheiratet. Die Wahrheit lag woanders: Sie hatte einen Menschen geheiratet, der ihr ein zufriedenes Leben bot. Sie waren die Ehe nicht aus leidenschaftlicher Liebe eingegangen, sondern wohlüberlegt. Beide.

Sie angelte nach dem Schlüssel und schloss auf. Das Licht in der Vorhalle brannte nach wie vor, in der Luft hing der Duft nach Bananenkuchen, den sie zuvor gebacken hatte und der nun in der Küche auskühlte. Nina und Marek liebten Bananenkuchen abgöttisch. Sie hatten Yadira versichert: Falls Kuba so war wie ihr Kuchen, dann wollten sie dort wohnen. „Es ist nicht wie ein Kuchen“, hatte sie ihnen gesagt. „In manchen Dingen ist Kuba großartig, magnífica, aber in manchen auch horrible.“ Wenn sie mit den Kindern redete, streute sie gern spanische Wörter ein. Den beiden gefiel das. Nina hatte für Spanisch ein besonderes Gefühl, sie konnte Yadira ganze lange Sätze fehlerlos nachsprechen und fragte nicht nach ihrer Bedeutung. Mit irgendeinem verborgenen Sinn nahm sie sie wahr. Al combate corred bayameses, brüllte sie durchs ganze Haus und zog dazu ein kämpferisches Gesicht.

Die Wanduhr zeigte halb zwölf. Yadira beschloss nachzuschauen, wie die Kinder schliefen, dann würde sie sich einen Tee machen und noch eine Weile lernen. Vielleicht wäre sie noch wach, wenn Radim käme. Vielleicht würden sie sich ein Weilchen bei einem Glas Wein zusammensetzen und sich unterhalten wie früher. Vielleicht wäre er wieder einmal zärtlich zu ihr.

Sie schlüpfte in ihre Hausschlappen und betrat die Halle. Auch hier brannte eine Lampe. Ihr Licht fiel schwach bis hinauf zur Galerie. Yadira bemerkte, dass Mareks Tür offen stand. Wahrscheinlich ist er auf Toilette, dachte sie. Dann sah sie ihn. Er lag am unteren Ende der Treppe in einer Blutlache. Yadira schrie auf. Sie rannte zu ihm, griff nach seiner Hand. Die war warm. Bestimmt lebt er, redete sie sich ein. Vergeblich versuchte sie, seinen Puls zu ertasten. Es kann doch nicht sein, dass er tot ist! Ihr Blick glitt nach oben und die Hoffnung verflüchtigte sich. Eine schreckliche Höhe. Sie nahm das Telefon, und während sie den Notruf wählte, dachte sie daran, dass sie lügen müsste. Sie würde nicht sagen können, dass sie nicht im Haus gewesen war. Obwohl sie nun wirklich nicht lange weg war, hatte sie einen unverzeihlichen Fehler begangen. Irresponsabilidad. Das dürfte sie auf keinen Fall zugeben. Radim war sich nicht ganz sicher, wie es so weit hatte kommen können. Er hatte sich am Automaten einen Kaffee geholt und dort Aneta getroffen. Es überraschte ihn, dass sie noch im Haus war. Sie sagte, dass sie noch am Monatsabschluss sitze. Eine Weile unterhielten sie sich mit dem Kaffee in der Hand. Natürlich über die Firma, ansonsten verband sie nichts. Aneta fragte ihn, ob er nicht noch irgendwelche Auslagenbelege hätte, und er versprach nachzusehen. Kaum war er zurück im Büro, vertiefte er sich wieder in die Arbeit. Kurz danach kam sie sich die Belege selber holen. Er wühlte in der Schublade, wo er sie immer hineinlegte, dort hatte sich ein Haufen sinnloses Zeug angesammelt, und Aneta half ihm, das Wichtige vom Unnützen zu trennen. Er alberte dabei herum, weil er sich für sein Chaos schämte. Sie sagte, dass jeder etwas anderes könne, seine Begabungen lägen halt woanders als bei der Buchhaltung. Lauthals zweifelte er an seinen Fähigkeiten. Er war gerade in einer kreativen Krise, die er sich aus Termingründen nicht leisten konnte, was seine Nervosität noch erhöhte. Aneta legte ihm die Hand auf die Schulter und verkündete, alles laufe wie am Schnürchen. Das Architekturstudio sei im Aufwind, Aufträge gebe es reichlich, sie könnten ruhig auch noch Leute einstellen. Radim wurde klar, dass sie recht hatte. Sein Unternehmen hatte sich verändert, aber er nicht seine Denkweise. Nach wie vor dachte er in kleinen Maßstäben.

„Du versuchst, unnötig viel alleine zu schaffen“, sagte Aneta. „Wenn du deinen Mitarbeiterkreis vergrößerst, nehmen sie dir Routinearbeit ab und du hast mehr Zeit für Projekte, die dich auch wirklich interessieren.“

Inzwischen hatte sie beide Hände auf seine Schultern gelegt und Radim ertappte sich dabei, dass er ihre Hüften umfasste. Anetas Gegenwart beruhigte und erregte ihn gleichermaßen. Er erinnerte sich daran, dass er ihr, als er die Stelle besetzt hatte, den Vorzug vor einer anderen Buchhalterin gegeben hatte, die zwar eine längere Berufspraxis, dafür aber kürzere und weniger hübsche Beine hatte. Das Aussehen war für ihn immer außerordentlich wichtig. Bei Gebäuden und bei Frauen. Es genügte nicht, dass sie zuverlässig funktionierten, sie mussten auch optisch einen Genuss bieten. Er stand auf und schloss die Tür.

Bisher hatte er sein Büro ausschließlich zum Arbeiten benutzt, er hatte kein Sofa hier, Aneta und er mussten improvisieren. Wohl auch deshalb brachte ihm dieser Sex eine solche Befriedigung. Alles kam unvorbereitet, ungeplant, spontan. Auch die Minuten danach entwickelten sich ganz nach Radims Geschmack: Aneta zog schweigend ihren Rock an, schnappte sich die vorsortierten Belege vom Tisch, küsste Radim auf die Wange und ging. Sie wollte nicht reden. Einen Augenblick überlegte er, ob er ihr nicht nachgehen und das Ganze irgendwie kommentieren sollte, aber schließlich kam er zu dem Schluss, dass es besser gar nicht hätte laufen können.

Erneut vertiefte er sich in die Arbeit. Etwa eine halbe Stunde später klingelte sein Handy. Er sah aufs Display: Yadira. Das nervte ihn. Sie hatte ihn heute schon mal angerufen, nach dem Abendessen, und ihm Marek und Nina ans Telefon gegeben, er hatte gefragt, wie es ihnen ginge und was sie den Tag über gemacht hätten. Marek hatte von einem wackelnden Zahn berichtet und Nina von Bruno, dem Hund ihrer Nachbarin, mit dem sie eine Art Territorialclinch führte. Dann war Yadira wieder am Apparat gewesen. Sie hatte ihn gefragt, wann er käme. Er hatte geantwortet, dass er noch mindestens drei Stunden zu tun hätte. Dass er versuchen würde, früher Schluss zu machen, aber nichts versprechen könne. Anschließend hatte er das Gefühl gehabt, dass sie enttäuscht war. Sie erwartete von ihm mehr Aufmerksamkeit, wollte, dass er sich mehr Zeit für sie nahm. Er schaffte das nicht. Die Arbeit hatte in seinem Leben immer Vorrang. Das hatte er bereits Lisa, seiner ersten Frau, deutlich zu verstehen gegeben. Lisa hatte Kinder gewollt und Radim hatte nicht im Geringsten protestiert, sondern nur seine Bedingungen vorgegeben: Er würde mit den Kindern nicht zu Hause bleiben. Durch seine Arbeit sei er in der Lage, genug Geld für ein zufriedenes Familienleben zu verdienen. Für diese Arbeit müsse er allerdings Zeit und einen klaren Kopf haben. Lisa hatte dafür Verständnis gehabt und sich seinen Vorstellungen angepasst. Yadira war anders. Als würde ihr die eigene Persönlichkeit erst durch die Kommunikation mit ihrem Umfeld bewusst werden. Zu Hause in Kuba war sie umgeben gewesen von einem Haufen Bekannter und Verwandter, dauernd gab es etwas zu besprechen, zu klären, zu diskutieren. Unablässig war sie mit jemandem im Meinungsaustausch gewesen. Hier nun war sie auf sich selbst zurückgeworfen. Er war der Meinung, dass ihr das nicht schaden konnte. Sie war dreiundzwanzig, in dem Alter hatte sich Radim bereits heftig für seine Ziele ins Zeug gelegt. Er wusste, was er vom Leben wollte. Und dachte, dass auch Yadira das wusste. Dass sie ihn deswegen geheiratet hatte. Er hatte für ihre Ausreisegenehmigung, die Tarjeta blanca, gesorgt und war natürlich auch für alle Kosten aufgekommen.

Er ließ das Handy klingeln, bis es wieder verstummte. In Kuba war er als Mitglied einer Handelsdelegation gewesen, als er Yadira zum ersten Mal begegnet war. Für seine Firma hatte sich aus der Reise schließlich doch kein Geschäft ergeben. Aber schon als er Yadira zum ersten Mal sah, hatte er das Gefühl, in ihrem Gesicht Züge zu erkennen, die ihn an Lisa erinnerten, vor allem die ebene Stirn, die ein praktisches Naturell verriet. Yadira war sparsam, hatte einen natürlichen Sinn für Ordnung und Sauberkeit, aber im Unterschied zu Lisa war sie auch ehrgeizig. Sie wollte Jura studieren. Das fand er unklug. Er hatte ihr geraten, das Staatsexamen in Spanisch und Englisch zu machen, das würde sie ohne große Mühe schaffen und müsste nicht so viel Zeit opfern, bloß war Tío Alberto, ihr großes Vorbild, seinerzeit in Kuba ein berühmter Rechtsanwalt gewesen und Yadira hatte es sich in den Kopf gesetzt, in seine Fußstapfen zu treten. Hartnäckig hielt sie an dieser Vorstellung fest. Vielleicht sah sie schon ihre Visitenkarten vor sich: Dr. jur. Yadira Beranová. In Kuba hatten sie sie nicht studieren lassen, hier wollte sie nun etwas beweisen. Aber wem?

Das Handy machte erneut auf sich aufmerksam. Diesmal mit einer SMS. Melde dich! Radim wurde leicht unruhig. Yadira hatte offensichtlich ein Problem, das sie nicht alleine lösen konnte. Er wählte ihre Nummer und überlegte, was passiert sein mochte. Vielleicht war wieder der Alarm an der Eingangstür losgegangen. Letzte Woche hatte er sich selbst ausgelöst, früh am Morgen, Radim war noch zu Hause gewesen und hatte den Defekt schnell behoben. Falls die Anlage jetzt um Mitternacht angefangen haben sollte zu jaulen und Yadira nicht wusste, was zu tun war, musste sie ziemlich nervös sein.

„Ist was passiert?“, fragte er, kaum dass sie ans Telefon gegangen war.

„Marek …“ An ihrer Intonation merkte er, dass es weder um die Alarmanlage noch um eine sonstige Marginalie ging. Er erkannte es an ihrem Atem. Sogar ein Schluchzen glaubte er gehört zu haben.

„Was ist mit Marek?“

„Ein Sturz …“

Sie weinte. Jetzt hörte er es ganz deutlich.

„Ein Sturz? Von wo?“

Er wusste es, noch bevor sie antwortete. Sein Sohn war von der Galerie gestürzt. Er war aufs Klo gegangen, hatte sich wie üblich gegruselt, vielleicht war er sogar gerannt, um den verhassten Weg so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, war in seiner Panik gestolpert …

„Die … die … Treppe“, schluchzte Yadira. Und dann sagte sie das, was er ebenfalls schon ahnte: „Marek … ist tot.“

Radim erstarrte, merkte, dass er Gänsehaut hatte. Der Körper reagierte auf die Nachricht schneller als der Verstand. Erst einen Moment später zuckte ihm der Gedanke durch den Kopf, dass die Tragödie sich ereignet hatte, als er gerade am Überlegen war, ob er sich Aneta auf dem Schreibtisch oder auf dem Fußboden vornehmen sollte. Yadira am anderen Ende der Leitung hatte es längst aufgegeben, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie weinte laut und bitterlich. „Der Notarzt ist schon unterwegs und …“

„Ich bin gleich zu Hause“, sagte er. Überstürzt verließ er das Büro und rannte zum Fahrstuhl. Er spürte, dass alles, was er gerade tat und was er in den nächsten Augenblicken tun würde, ein schlechtes Timing hatte. Jetzt hektisch nach Hause zu rasen, hatte überhaupt keinen Sinn. Vor einer Stunde hätte er zu Hause sein müssen. Er hätte mit seiner Frau in seinem gemütlichen Haus sitzen sollen, sich von allem berichten lassen, was sie gerade beschäftigte, seinen Sohn zur Toilette begleiten oder zumindest die Gespenster, vor denen er solche Angst hatte, aus den Ecken verscheuchen, er hätte bei seiner Familie sein müssen. Er hatte einen Fehler begangen, den keine Eile der Welt wiedergutmachen konnte. Ihn durchdrang ein Gefühl der Schuld, so stark, dass es einem körperlichen Schmerz glich. Dessen Intensität würde mit der Zeit nachlassen, aber nicht verschwinden. Er wusste, dass er von nun an mit ihm rechnen musste, als untrennbarem Bestandteil seiner selbst.

Zehn Jahre später

Kriminalrat Marián Holina saß an einem kleinen Tisch gegenüber dem Stadttheater in Baden bei Wien vor einem Apfelsaft gespritzt und schaute den Passanten nach. Überwiegend Kurgäste oder Touristen. Durchschnittsalter fünfzig plus. Alle Tische im Schatten waren besetzt, die Sonne brannte auf die Pflastersteine herab, das weiße Theatergebäude schloss den Platz auf der gegenüberliegenden Seite ab wie eine Wand aus Schnee. Es ging auf fünf zu, die Hitze des Junitages hatte ihren Höhepunkt bereits überschritten, die Luft nahm in angenehmer Weise die Feuchtigkeit des Wassers auf, das aus dem benachbarten Brunnen sprudelte.

Marián nippte an seinem verdünnten Saft – hätten nicht vier Stunden am Steuer vor ihm gelegen, hätte er sich dieses fragwürdige Vergnügen sicherlich erspart – und war in Gedanken bei dem Riesling, den sie am Vorabend im Dobelhoffpark getrunken hatten und der einen derartigen Eindruck auf ihn gemacht hatte, dass er noch eine Flasche zum Mitnehmen gekauft hatte. Der Wein aus Krems hatte geduftet wie eine blühende Wiese, Marián hatte darin Pfirsich geschmeckt und noch etwas, das er nicht benennen konnte, aber es hatte ihn gerührt. Ein Wein wie eine Liebesnacht, fiel ihm ein. Im Dobelhoffpark hatten sie zwei Flaschen getrunken. Sabina hatte bei der zweiten nicht mehr allzu sehr mitgehalten, sie wollte einen klaren Kopf haben. Der dritte Tag des Seminars war genauso vollgestopft mit Vorträgen wie die beiden vorausgegangenen. Sie wurden auf Englisch gehalten, und sich mit einem Fachthema in einer Fremdsprache auseinanderzusetzen, erschöpfte Sabina sehr. Marián musste sich nicht konzentrieren. Er war nicht wegen der Astrologie nach Baden gekommen, sondern bloß als Begleitung.

„Szervusz Marián!“, hörte er hinter sich.

„Szervusz Zoltán!“

Zoltán Györffy war Professor für Zeitgeschichte an der Budapester Eötvös-Loránd-Universität und im Hinblick auf Mariáns unzulängliches Fremdsprachenrepertoire der einzige Seminarteilnehmer, mit dem er sich unterhalten konnte. Die übrigen sprachen untereinander ausschließlich Englisch. Abgesehen von seinen begrenzten sprachlichen Fertigkeiten waren es auch Mariáns nicht vorhandene Erfahrungen mit der Astrologie, die ihn zum Schweigen verurteilten. Schon den dritten Tag begegnete er im Hotel Menschen, von denen er lediglich sagen konnte, dass er sie höchstwahrscheinlich nie getroffen hätte, wäre Sabina nicht gewesen.

„Darf ich?“, fragte Györffy auf Ungarisch, wartete gar nicht erst eine Antwort ab und nahm sich einen Stuhl. Im Unterschied zu Marián setzte er sich in die Sonne. Er war etwa fünfundsechzig, hatte dichtes weißes Haar und ein Gesicht wie ein wieder auseinandergefaltetes Origami.

„Ich bin früher vom Seminar weggegangen, ich wollte mir noch das Arnulf-Rainer-Museum ansehen. Sehr empfehlenswert!“ Györffy schmiss den Katalog auf den Tisch. Marián griff danach. Abstrakte Kunst. Er hatte es nie gelernt, diese Art von Bildern zu betrachten. Er verstand sie nicht. Aber auch wenn sie ihn interessiert hätten, wäre er nicht ins Museum gegangen. Er war hier nicht als Tourist. Nach Baden war er wegen nichts anderem als einer Frau gekommen. Besser gesagt: wegen einer fremden Frau. Noch genauer: wegen der Frau eines Kollegen. Györffy spürte Mariáns Desinteresse und machte keine weitere Reklame für den Museumsbesuch. Er bestellte sich einen Kaffee und knüpfte an das Gespräch an, das sie am Vortag geführt hatten.

„Ich habe über unsere Debatte gestern nachgedacht und ich finde, dass es definitiv einen Versuch wert wäre. Die Astrologie ist heutzutage näher an der Psychologie als an der Wahrsagerei. Und bei der Polizei wird auf Psychologie erheblicher Wert gelegt, glaube ich. Oder irre ich mich da?“ Er sprach langsam, mit sorgfältiger Artikulation. Marián hatte ihm gleich am ersten Abend erklärt, dass er zwar in seiner Jugend in der Slowakei Ungarisch gelernt hätte, es aber, abgesehen von gelegentlichen Besuchen in seinem Geburtsort, wo er sich regelmäßig auch mit dem ungarischen Familienzweig traf, heute eher passiv benutze. Sein Wortschatz war groß, aber bei einem Gespräch brauchte es etwas Zeit, ehe sein Gehirn diverse Ausdrücke und Wortverbindungen korrekt zugeordnet hatte.

„Wir haben Polizeipsychologen, aber sie kommen nicht so zum Einsatz, wie du das in Fernsehserien siehst. Dass uns ein Psychologe ein Täterprofil erstellt und wir anhand dessen die Fahndung ausrichten, das hab ich noch nie erlebt.“ Marián wurde bewusst, wie sehr es ihn störte, dass der Psychologie beim Ermitteln zu wenig Raum gegeben wurde. Im Verlauf seiner neunzehnjährigen Praxis als Kriminalpolizist hatte er unzählige Male Gelegenheit gehabt, sich davon zu überzeugen, dass die Charakterzüge eines Verbrechers nicht nur die Motivation einer Tat bestimmten, sondern auch ihre Durchführung. Oftmals bis ins kleinste Detail.

„Hast du nur mit Morden zu tun?“

Marián nickte. Ein paar Jahre war er mit Kriminalität allgemein befasst gewesen, aber nachdem Zdeněk Karoch Leiter des Prager Dezernats für Tötungsdelikte geworden war, hatte er Marián zu sich geholt. Kurz vorm Ende des Kommunismus hatten sie noch gemeinsam ihren Wehrdienst in Kutná Hora abgerissen. Sie hatten ein ähnliches Verhältnis nicht nur zu Bonzen, sondern auch zur Wehrpflicht. Die Volksarmee hatten beide für überholt gehalten. Die Kriminalistik hatte sie gelockt. Zdeněk war ehrgeiziger. Nach dem Wehrdienst war er an die Polizeischule nach Pardubice gegangen, während Marián versucht hatte, die fixe Idee seiner Tante zu verwirklichen, dass aus ihm ein Lehrer werden könnte. Tante Jozefína war tot und nichts als das ihr gegebene Versprechen hatte ihn im Pädagogikstudium bei der Stange gehalten. Aber er war es gewohnt, Versprechen einzulösen. Erst als er das Diplom in der Hand hielt und seine erste Lehrerstelle antreten sollte, hatte er sich offen eingestanden, dass er nicht unterrichten wollte.

„Ich habe angefangen, mich mit Astrologie zu befassen, als ich meine Doktorarbeit über die Ungarn-Politik der Habsburger geschrieben habe“, sagte Györffy. „Ich bekam die Deutung eines Horoskops von Albrecht II. in die Hand. Mir ist klar geworden, dass die Psychologie von Herrschern in gewisser Weise mit den historischen Ereignissen korrespondiert, auf die sie im Lauf ihres Lebens reagieren mussten. Schon bald hatte ich verstanden, dass das nicht nur Regenten betraf. Was innerlich im Menschen vorgeht, spiegelt sich in dem, was ihm äußerlich begegnet. Die Habsburger haben mir die Richtung gezeigt, weiter gegangen bin ich dann alleine.“

„Und welche Richtung würdest du mir zeigen?“, fragte Marián. Gleich am ersten Tag hatten sie Brüderschaft getrunken, und obwohl Györffy mindestens fünfzehn Jahre älter war, sagte dieses informelle Verhältnis beiden zu.

„Falls du die Astropsychologie in der polizeilichen Praxis anwenden willst, musst du dir klarmachen, dass die Ausgangsbasis nicht das Ereignis ist, also die kriminelle Handlung, sondern das psychologische Problem, das ihr zugrunde liegt und sich durch Astrologie abbilden lässt. Mit diesem Problem hängt das konkrete persönliche Erleben zusammen. Das Verbrechen ist erst die Reaktion darauf.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel hast du Mars und Saturn in Opposition. Du bringst deinen Chef um, weil er dich schikaniert. Jemand anderes hätte einfach gekündigt, aber du reagierst mit Verspätung auf das Problem von Schikanen, das du seit deiner Kindheit mit dir rumschleppst, weil du’s als kleiner Junge nicht geschafft hast, das zu bewältigen. Oder aus einem anderen Blickwinkel: Deine Mutter war kühl und streng. Sie könnte eine gesellschaftliche Autorität gewesen sein, Politikerin oder Richterin. Astrologisch manifestieren würde sich das zum Beispiel an der Position des Mondes im Steinbock im zehnten Haus und außerdem durch einen angespannten Aspekt. Dieses psychologische Problem kann bei dir Komplikationen beim Sex auslösen, vielleicht sogar Impotenz. In deinem Bemühen, es nicht zu einem Fiasko kommen zu lassen, lehnst du Sex ab. Oder du verschaffst ihn dir so, dass du den erwarteten Schwierigkeiten aus dem Weg gehst. Du erzwingst dir Respekt bei deiner Partnerin durch Brutalität. Im Extremfall kann das bis zur Vergewaltigung oder zum Mord führen wie bei unserem Serienkiller Béla Kiss.“

Marián dachte einen Moment nach. Irgendwas hakte bei Györffys Überlegungen. „Dass der Mond im Steinbock im zehnten Haus steht, erfahre ich aber nicht aus dem Melderegister und auch nicht aus dem Führungszeugnis, sondern nur aus einem Horoskop. Um allerdings ein Horoskop anfertigen zu lassen, müsste ich bei den Verdächtigen nicht nur das Geburtsdatum wissen, sondern offensichtlich auch die Uhrzeit.“

Györffy nickte. „Für die Genauigkeit sind sogar Minuten wichtig.“

„Damit fällt die Astrologie als Hilfsmethode bei Ermittlungen praktisch flach.“

„Nicht ganz.“ Györffy schlug den Katalog des Rainer-Museums auf und zeichnete auf eine leere Seite einen Kreis. Mit leichter Hand teilte er ihn in zwölf Segmente ein. „Der Tierkreis hat zwölf Sonnenzeichen. Die Astrologie arbeitet mit zehn Planetenprinzipien, vier Elementen und drei Qualitäten, außerdem gibt es noch die Mondknoten und den Schwarzmond. Das alles liefert zusammen mit den Planetentransits, auch ohne dass man den genauen Geburtszeitpunkt weiß, eine ordentliche Menge an Informationen. Ein erfahrener Astrologe kann daraus ein Basisprofil erstellen. Eine Art Grundlage, natürlich ohne Nuancen. Vielleicht würde er einen Hang zur Gewalttätigkeit finden. Er könnte das emotionale Naturell dechiffrieren. Die Beziehung zu Geld. Die Familienstruktur. Das ist der Boden, in dem alles Handeln, positives und negatives, seine Wurzeln hat. Ich glaube, das Verbrechen ist im Prinzip ganz einfach. Es erwächst immer aus denselben Gesetzmäßigkeiten. Nur das, was sichtbar ist, diese obere Zivilisationsschicht, die verändert sich.“

Györffy hatte den Kaffee ausgetrunken. Er betrachtete seine Zeichnung. Dann schrieb er ein paar Namen darunter und riss die Seite aus dem Katalog heraus.

„Du hast gefragt, welche Richtung ich dir zeigen würde. Wenn du ein paar Bücher von den Autoren hier liest, wirst du wissen, wo es weitergeht.“ Er reichte Marián den Zettel, griff in seine Innentasche und legte noch seine Visitenkarte dazu. „Falls du bei irgendwas einen Rat brauchen solltest, melde dich.“

„Köszönöm, Zoltán“, bedankte Marián sich und revanchierte sich mit seiner Karte. „Köszi szépen!“

Gegenüber beim Theater entdeckte er Sabina. Sie kam über den Platz auf sie zu, ihr Bild waberte in der aufgeheizten Luft wie eine Fata Morgana. Györffy sah sie ebenfalls.

„Aber ich denke, das wird nicht nötig sein“, sagte er mit einem Lächeln. „Warum solltest du bei mir in Budapest anrufen, wo du in Prag deine Privatastrologin hast.“

Nach Prag zurück fuhren sie über Nebenstraßen. Sie hatten es nicht eilig. Die niederösterreichischen Weinberge wurden von den südmährischen abgelöst, ähnliche Landschaft, ähnliche Dörfer. Die langsam hereinbrechende Junidämmerung ließ ihre Umrisse noch lange nach Sonnenuntergang erkennen. Sabina sprach vom Seminar. Sie war mit einem mulmigen Gefühl hingefahren, jetzt war sie glücklich, dass sie teilgenommen hatte. Sie sagte, es habe ihr eine Menge neuer Themenfelder eröffnet. Die müsse sie nun erst mal sortieren, ehe sie mit ihnen arbeiten konnte, ob im Astrologiezentrum, wo sie Kurse gab, oder im Radio, wo man ihr angeboten hatte, eine regelmäßige psychologische Ratgebersendung zu moderieren. Sie fragte Marián, ob er sich in den drei Tagen, die sie bei den Vorträgen verbracht hatte, nicht gelangweilt hätte. Er berichtete von seinen Debatten mit Györffy und zeigte ihr den Zettel mit den Autorennamen, die der Professor ihm empfohlen hatte. Sabina war überrascht.

„Du hast nie erwähnt, dass du dich für Astrologie interessierst.“

„Ich wusste es auch nicht“, sagte er. „Und ich weiß es bis heute nicht. Ich werde versuchen, etwas zu lesen.“

Ihm fiel auf, dass sie bis jetzt nicht viel Zeit gehabt hatten, über ihre Interessen zu sprechen. Sie kannten sich ein paar Monate. Zum ersten Mal waren sie sich auf der Geburtstagsfeier von Sabinas Mann begegnet. Hauptkommissar Rostislav Bor arbeitete beim Dezernat für Tötungsdelikte wie Marián, ein paar Mal waren sie Teampartner gewesen, bei der Arbeit verstanden sie sich gut. Rosťa, wie ihn alle nannten, war temperamentvoll, clever, ein athletischer Typ, den Frauen gefiel er. Sie schenkten ihm ihre Aufmerksamkeit, die er erwiderte. Marián traf ihn oft im vertraulichen Gespräch mit Praktikantinnen an, die Körpersprache legte nahe, dass hier gerade keine dienstlichen Angelegenheiten verhandelt wurden. Als Rosťa ihm bei der Party seine Frau vorgestellt hatte, war Marián verblüfft gewesen. Sabina war außergewöhnlich gutaussehend. Da war nichts von der anbiedernden Niedlichkeit der blutjungen Praktikantinnen, sie trug ein Geheimnis in sich. Marián hatte gespürt, dass er es unter gewissen Umständen mit ihr teilen könnte. Er wusste nicht, unter welchen, hatte aber beschlossen, dem auf den Grund zu gehen. Er hatte sie zu einer degustácia eingeladen, einer Verkostung slowakischer Weine, zu der er ursprünglich alleine gehen wollte. Sie sagte, dass ihr das ungelegen käme. Als er die Party verließ, bat sie ihn aber doch um seine Nummer. Zwei Tage später hatte sie ihn angerufen, dass sie nun doch mitkommen würde. Schnell sollte er erkennen, dass das ein typischer Zug von ihr war: eine zögerliche, sich langsam entfaltende Neugier.

„Von Jung hast du schon was gelesen, oder?“, fragte sie, während sie auf die Namensliste schaute, die Györffy mit der Hand hingekliert hatte. Marián schüttelte leicht beschämt den Kopf. Das Einzige, was er über Jung wusste, war, dass er Medizin studiert und sich auf Psychiatrie spezialisiert hatte. Dass er mit Freud befreundet gewesen war. Oder waren sie Opponenten gewesen? Beide hatten, statt psychische Krankheiten auf traditionelle Weise zu erforschen, in ihrem Fachgebiet Experimente gemacht, nur jeder anders. Jung betonte die Wichtigkeit der Intuition. Das lag Marián nahe. Beim Ermitteln experimentierte auch er gern, und Intuition spielte in seiner Arbeit eine bedeutsame Rolle. Die meisten seiner Kollegen lachten ihn wegen seiner Gefühligkeit aus. Anfangs hatte er versucht, seine mentalen Prozesse zu erläutern. Mit der Zeit begriff er, dass sich Intuition nicht erklären ließ. Das schien gegen sie zu sprechen. Andererseits war es Marián noch nie passiert, dass sie ihn im Stich gelassen hätte.

Sie fuhren an den langgestreckten Höhenzügen des Böhmisch-Mährischen Berglands vorbei und Marián kam ins Plaudern über seine Arbeit. Wodurch ihn die Kriminalistik immer angezogen hatte, wie er zur Polizei gekommen war, was er erwartet hatte und was ihm in der Praxis am meisten fehlte. Er sprach von der mörderischen Bürokratie, die er hasste, und von Momenten der Freude und der Erregung, wenn sich die alltägliche Routine für kurze Zeit in kreative Arbeit verwandelte. Es war das erste Mal, dass er sich gegenüber Sabina wirklich öffnete. Schweigend hörte sie zu und er überlegte, ob Rosťa sich ihr auch auf solche Weise anvertraute.

„Ich hatte die Idee, dass uns die psychologische Astrologie beim Erstellen von Täterprofilen helfen könnte“, sagte er schließlich. „Györffy ist auch meiner Meinung. Er hat gesagt, dass du mir bestimmt gern hilfst.“

Sie lachte. „Wenn Györffy das gesagt hat, dann kannst du dich auch drauf verlassen.“

Dann legte sie ihm den Kopf auf die Schulter und schaute auf die allmählich dunkler werdende Landschaft. Je näher sie Prag kamen, desto schweigsamer wurden sie. Marián dachte an Sabinas Ehe. Sie war sich sicher, dass Rosťa sie betrog. Auch Marián glaubte das, scheute sich aber, ihr einen radikalen Schritt vorzuschlagen. Er wollte nichts unternehmen, was das Auseinanderbrechen ihrer Ehe befördern würde. Wenn es passieren sollte, dann würde es auch passieren. Beziehungen hatten ihre Eigendynamik und ihre Länge war nicht direkt abhängig vom Glück der Partner. Er wusste das aus eigener Erfahrung. Verheiratet war er nie gewesen, aber er hatte sieben Jahre Beziehung mit einer Frau hinter sich, mit der er eigentlich für den Rest des Lebens zusammenbleiben wollte. Allerdings war Darja unheilbar krank gewesen, und obwohl beide sich geweigert hatten, an das unausweichliche Schicksal zu glauben, bewahrheiteten sich die ärztlichen Prognosen letzten Endes. Seit ihrem Tod lebte er allein und war davon ausgegangen, dass das auch so bleiben würde. Jetzt hatte er sich aus heiterem Himmel wieder verliebt. Nach langer Zeit war er erneut in einem Zustand, von dem er gedacht hatte, dass er nie wieder eintreten würde. Aber das war er, erregend und intensiv, und Marián hatte Angst, ihn durch Grübeleien über konkrete Schritte und Maßnahmen, die das Flussbett der Gefühle regulieren sollten, zu Staub zu zermahlen. Er wollte es nicht regulieren, er wollte darin schwimmen. Solange es ginge.

Jáchym hatte so eine Ahnung, dass das Dreckschwein kommen würde. Auch wenn das an Sonntagnachmittagen normalerweise nicht geschah. Hanftag war traditionell der Samstag, manchmal auch der Freitag, und natürlich die Feiertage. Interesse an Gras bestand nicht nur zu Silvester, sondern auch zu Ostern oder zum 1. Mai. Jáchym kümmerte sich im Landkreis Kladno um gute Laune zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter, und Eingeweihte wussten das. Leider auch das Dreckschwein.