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Gerd Wolfgang Sievers

la cucina veneziana

Küchengeheimnisse Venedigs vom Centro Storico bis in die Lagune

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2018
© 2018 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at

Fotos: Gerd Wolfgang Sievers

Druck: EuroPB, Dělostřelecká 344, CZ 261 01 Příbram
ISBN 978-3-99100-227-7
eISBN 978-3-99100-228-4

Für meine venezianischen Freundinnen und Freunde

INHALT

Zum Buch

ANTIPASTI, CICCHETI & CO

Baccalà mantecato

Carpaccio

Castraure al forno

Insalata dei Dogi

Bovoloni alla paesana

Ostriche alla veneziana

Pesce in saòr

Spezie dolci per molte preparazioni

PRIMI PIATTI

Acqua d’erbe

Bigoli con salsa

Frittata di San Marco

Minestra di pasta fina

Pasta e fagioli

Risotto alla sbirraglia

Risotto de gò

Risotto co le sécole

Risotto co’l safran

SECONDI PIATTI

Anguilla al Marsala

Bodoleti alla muranese

Fritto misto (di pesce o di verdure)

(Spaghetti con gli) Scampi in busara

Seppie col nero

Carne al sale

Castradina

Gallina alla canevera

Fagiano con salsa peverada

Fegato alla venexiana / Figà de vedelo

La Bondiola con lingua

Sguaseto

Tettine alla venexiana

Trippa in rosso

DOLCI & LIQUORI

Baicoli

Ciambelle per le monache

Crema fritta

Fave dei morti

Fritole veneziane

Liquore al caffé

Pan di San Marco / Marsapan

Sprumiglie

Testa di moro

Zabaion

Adressen

ZUM BUCH

Eines gleich vorweg: Dieses Buch ist kein Kochbuch im herkömmlichen Sinne und es ist auch kein Restaurantführer. Sicher, es geht um die venezianische Küche und ihre Rezepte samt deren Schauplätzen, jedoch nicht um eine Ansammlung von einzelnen Küchenanleitungen, sondern vielmehr um die Geschichten, welche sich dahinter verbergen. Es handelt sich hierbei also um ein Lesebuch, das nicht nur einen Einblick in die Töpfe der Serenissima geben will, sondern auch in das gesellschaftliche und gerichtliche Umfeld, in dem die großen Klassiker der venezianischen Küche entstanden sind.

Immer wieder ist davon zu hören und zu lesen, dass die Küche Venedigs nur mehr ein Fragment dessen sein soll, was zur Hochblüte der Serenissima aufgetischt worden ist. Nun, das mag in Einzelfällen stimmen, aber erstens wurde diese großartige Küche des Mittelalters nur von einigen wenigen Patrizierfamilien genossen, während das venezianische Volk in bitterer Armut lebte. Zweitens hat sich die Küche bei näherer Betrachtung gar nicht so sehr gewandelt wie man denken mag. Das, was die venezianische Küche berühmt gemacht hat, war zu keiner Zeit eine populäre Volksküche, wie es beispielsweise die böhmischösterreichische Küche war und ist, sondern schon immer ein politisches Mittel um Potenz, Macht und Einfluss zu dokumentieren.

In jenen Zeiten, als Venedig eine Kolonialmacht war, mit Monopolen auf Zucker, Gewürzen und anderen Luxusgütern, liegt das auf der Hand. Seit dem Verlust der Kolonialmacht um die Jahrhundertwende zum 15. Jahrhundert, verlegte sich die Serenissima mehr und mehr auf die Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft. Die Zurschaustellung von eigenem Reichtum wich mehr und mehr der gastronomischen Notwendigkeit, große Menschenmengen verköstigen zu können. Das Prahlen mit opulenten und verschwenderischen Tafeln mutierte dahingehend, dass das Essen mehr und mehr zur Einnahmequelle wurde und somit wirtschaftlichen Zwängen unterworfen war. Dies führte unabwendbar dazu, dass die Zutatenlisten der Rezepte immer weiter rationalisiert wurden – zumindest, was die allgemeine Küche betraf.

Wenn man sich das gastronomische Venedig der letzten dreißig Jahre ansieht, so könnte man auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, dass man es mit einer einzigen großen Massenkantine zu tun hat. Pizza, Pasta und Sandwiches wie Tramezzini und Panini bestimmen das gastronomische Bild, die kleinen Happen namens cicchetti gelten schon als „Spezialität“.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen trifft die traditionelle venezianische Küche, die weniger auf Fisch, sondern mehr auf Fleisch und vor allem auf Innereien basiert, nicht den Massengeschmack der Touristen und wäre somit nicht mehrheitsfähig. Zum anderen gibt es die Erwartungshaltung der Touristen, die auf der einen Seite nur möglichst wenig Geld für Essen ausgeben wollen, aber auf der anderen Seite – wenn es mal etwas Feineres sein darf – erwarten, guten Fisch und frische Meeresfrüchte zu bekommen. Diese Erwartungshaltung führte schließlich dazu, dass sich die Küchen der Serenissima dem internationalen Einheitsgeschmack unterordneten und die eigene Identität mit der Zeit aufgaben.

Die traditionelle Küche Venedigs wurde letztlich nur mehr in einigen wenigen Osterien gepflegt, in die sich kaum ein Ortsfremder verirrte, oder ist in einer Handvoll teurer Luxusrestaurants erhalten geblieben. In den 1980er- und 1990er-Jahren war das besonders schlimm, in den letzten zehn Jahren hat sich das kulinarische Bild gebessert und immer mehr Lokale trauen sich mittlerweile wieder, Innereien, Schnecken, Frösche und andere heimische Spezialitäten aufzutischen. Das Schöne daran ist, dass es nicht nur die berühmten Restaurants der Stadt sind, welche sich der Tradition verpflichtet fühlen, sondern auch die einfachen bacarì und Osterien.

Seit ich denken kann, faszinieren mich drei Städte aus kulinarischer Sichtweise ganz besonders und zwar Wien, Triest und Venedig. Dieses kulinarische Dreieck halte ich für eine der spannendsten kulinarischen Regionen der Welt, nicht nur aus genießerischer Sichtweise, sondern insbesondere aus geschichtlicher. Seit meiner Kindheit habe ich neben dem Kulinarischen ein Faible für Kunst, Kultur und Kurioses. Von journalistischer Neugier getrieben, tauchte ich immer wieder hinab in die zum Teil doch sehr skurrile gesellschaftliche Welt dieser Städte. Das dort Erlebte behielt ich nicht für mich, sondern erzählte es – zumeist in lockeren weinseligen Runden – Freunden und Bekannten. Und weil die Geschichten gefielen, war schnell die Idee geboren, diese in einem Buch zusammenzufassen, womit der Grundstein für dieses Buch gelegt war.

Der Titel „La Cucina Veneziana – Küchengeheimnisse Venedigs vom Centro Storico bis in die Lagune“ war schnell gefunden, ebenso das Konzept: Anhand von Rezepten und deren Geschichten ermögliche ich eine neue Sichtweise auf die Serenissima und deren Einwohner. Es geht nicht darum, die Geschichte neu zu schreiben, sondern darum, das Leben in dieser einzigartigen Stadt aufzuzeigen. Im Falle der Serenissima ist das ganz besonders spannend, denn kaum eines der typischen Regionalrezepte ist rein „zufällig“ entstanden. Alle hatten ihre Legenden, ihre Ursprungsgeschichten und fast immer fand sich ein Grund dafür, warum genau dieses Rezept an exakt diesem Ort so gekocht wurde.

Es war schlichtweg faszinierend; je mehr ich mich mit der Küche der Serenissima befasste, desto mehr griff das eine in das andere, bis sich ein sehr homogenes sozialpolitisches Bild des Venedigs herauskristallisierte. Am meisten überrascht war ich über den Sachverhalt, dass sich – zumindest was den erlauchten Kreis der alten venezianischen Familien betrifft – in den letzten Jahrhunderten scheinbar relativ wenig verändert hat. Gänzlich anders sieht es aber bei der kulinarischen „Basis“ aus, denn das Volk und das Bürgertum essen heutzutage bedeutend besser als in vergangenen Zeiten. Und auch was die Hygiene der Stadt betrifft, hat sich einiges zum Guten gewandelt, denn niemand Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe lästerte über die Venezianer: „Wenn sie nur ein wenig sauberer wären …“

Die kulinarische Spurensuche, auf die ich mich begab, führte mich bis in die Römerzeit zurück – mit vielen Einblicken in ein geschmackliches Universum, das einen überwältigenden Bogen vom Orient in den Okzident spannt. Doch erst im 11. Jahrhundert entwickelte die Serenissima das, was wir heute als venezianische Küche bezeichnen. Angetrieben durch die hochentwickelte Küche von Byzanz, kreierte die Serenissima eine eigene Stilistik. Mit dem Handel kamen neue Zutaten in die Stadt und mit den Händlern neue Techniken und Zubereitungsformen. Das verhältnismäßig tolerante, weltoffene und liberal eingestellte Venedig nahm all diese Einflüsse auf, kopierte sie aber nicht, sondern kombinierte sie zu etwas Eigenem, etwas Neuartigem und Authentischem.

Das war kein Zufall, Venedig war seit jeher bestrebt, eigene Wege zu gehen – und mit dem Essen ließ sich das wunderbar nach Außen darstellen, ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren. Essen als diplomatisches Mittel einzusetzen, war nicht neu, aber die venezianische Art und Weise dies zu tun schon. Eine gehörige Portion Egoismus setzte der ganzen Sache den i-Punkt drauf, denn den engagierten und zielorientierten venezianischen Kaufleuten waren nahezu alle Mittel recht, um ihre Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Als es ihnen schließlich gelang, mit dem emilianischen Comacchio einen der wichtigsten Nebenbuhler in Sachen Salz und Handel aus dem Feld zu schlagen, führten die traditionellen Handelsrouten nunmehr allesamt durch die Serenissima. In kurzer Zeit stieg der einst so verschlafene byzantinische Vorposten zu einer der mächtigsten Handelsmetropolen aller Zeiten auf.

War es vor dem Emporkommen der Serenissima üblich, nur eine Karawane pro Jahr abzuwickeln, so durften in Venedig ab sofort vier Karawanen die Dogana am Canal passieren und ihre unvorstellbar wertvollen Güter aus dem vorderen Orient, aus Zentralasien, Indien und dem Fernen Osten abladen. Dazu kamen die Reichtümer der griechischen Kolonien, Afrika und dem westlichen Mittelmeerraum. Gewürze, Zucker, Salz, Wein, Seide, Gold, Silber und Edelsteine wurden umgeschlagen und mit zehnfachem Aufschlag nach Nord- und Westeuropa exportiert. Auf viele Güter hatte Venedig ein Monopol, insbesondere auf Zucker und exotische Gewürze, das bis in die Zeit der großen Entdecker (allen voran Vasco da Gama, der das Geheimnis um die Molukken, die sogenannten Gewürzinseln, von denen Muskatnuss und Nelke herstammen, lüftete) anhielt und für dauerhafte Einkünfte sorgte, die es der Serenissima ermöglichten, eine sehr teure und aufwendige Außen- und Innenpolitik zu finanzieren.

Eine der Leidenschaften der Serenissima wurde der Erlass von Gesetzen und Verordnungen, die zum Großteil erhalten geblieben sind. So können wir heute nachvollziehen, dass eine besondere Verordnung der Stadtverwaltung enormen Einfluss auf die Küche nehmen sollte: Diese erlaubte es den in der Stadt ansässigen Ausländern, jeweils einen Brauch und eine Eigenheit ihres Heimatlandes beizubehalten und auszuüben. Insbesondere die venezianischen Köche zeigten sich aufgeschlossen und erweiterten ihr Küchenrepertoire mit Nelken, Muskat, Zimt, Ingwer, Galgant oder exotischem Rosenwasser. Aber auch Spinat, Rosinen, Auberginen, Pinienkerne, Mandeln oder Dörrobst kamen aus der arabischen Welt in die Nordadria und ultimo, ma non per importanza die Artischocken, welche zum Wahrzeichen der Insel Sant’Erasmo werden sollten.

Auch der Wert von Festen zum Erhalt des sozialen Friedens war den Stadtvätern sehr wohl bekannt – gleichzeitig erlaubten derartige Anlässe, sich nach außen als liberal und weltoffen zu präsentieren (ohne es tatsächlich zu sein). Zeugnis davon geben die vier großen Stadtfeste, die der Doge jedes Jahr ausrichten ließ und die zum Großteil bis heute praktiziert werden: Es sind dies der 25. April (Tag des Stadtpatrons San Marco), der 15. Juni (San Vito e Modeste), der 30. September (San Gerolamo) und Christi Himmelfahrt, das eine besondere Bedeutung erlangen sollte. Der Doge lud nicht nur die Patrizier der Stadt ein, sondern auch Regierungsbeamte, Diplomaten und eine Hundertschaft von einfachen Arsenalarbeitern. Sorgsam nach sozialer Herkunft abgestuft, saßen die Geladenen in verschiedenen Sälen des Dogenpalastes und bekamen ein ihrem Rang entsprechendes Mahl vorgesetzt. Doch nicht allein die Speisen standen im Mittelpunkt des Geschehens, sondern auch das gemeinsame Tafeln in ausgelassener Runde – ein Brauch, der im heutigen Venedig zwar immer noch gerne praktiziert wird, aber dennoch leider immer mehr der neuzeitlichen Hektik zum Opfer fällt und daher mehr und mehr in Vergessenheit gerät.

Anfangs sollte dieses Buch rund achtzig Rezepte und ihre Geschichten vorstellen. Da die Serenissima allerdings sehr viel zu erzählen hat, wurde das Material derart umfangreich, dass nun insgesamt mehrere Bücher dazu erscheinen werden.

Im vorliegenden Buch La Cucina Veneziana liegt der Schwerpunkt auf dem gesellschaftlichen Venedig, auf dem, was ihr den Beinamen „Allerheiterste“ eingebracht hat. Es geht um die Geschichten und Legenden, um das Leben und Lieben in der Stadt und um die großen Protagonisten, die uns diesen Lebensstil dankenswerterweise literarisch überliefert haben. Aber auch der Stadtverwaltung muss ein Dank ausgesprochen werden, denn die Serenissima sammelt seit Jahrhunderten alles an Akten und Informationen, was irgendwie von Bedeutung sein könnte. Dabei ist es vollkommen egal, ob es sich um einen Kaufvertrag, eine Heiratsurkunde, ein Gerichtsurteil oder ein „einfaches“ Verhör handelte – alles wurde aufgezeichnet, denn die Venezianer hatten (und haben bis heute) zwei Leidenschaften: sammeln und zählen. Aus diesem Grund ist es nach wie vor möglich, einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen einer der traumhaftesten Fassaden der Welt zu erlangen. Selbstredend, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, aber spannend ist es allemal.

Im nächsten Buch über die Serenissima wird das politische und kaufmännische Venedig, welches das Essen auch immer als Teil einer (Macht-)Inszenierung angesehen hat im Mittelpunkt stehen. Denn in einem Punkt war die Serenissima (milde ausgedrückt) immer sehr konsequent: beim Durchsetzen eigener Interessen.

Und nun verbleibt mir nur mehr der geneigten Leserschaft viel Vergnügen zu wünschen – stellen Sie sich einfach vor, dass wir in einem gemütlichen bacaro stehen und bei ombra und Prosecco über „Gerichte mit Geschichte“ plaudern … und mit ein wenig Fantasie erwachen all die Figuren aus der Vergangenheit wieder zum Leben und geben das Erlebte und Geliebte preis.

Herzlichst,

Ihr – Euer Gerd Wolfgang Sievers

ANTIPASTI, CICCHETI & CO

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BACCALÀ MANTECATO

Der baccalà mantecato gehört zu den wichtigsten historischen Rezepten der Serenissima, wenn er nicht überhaupt das wichtigste Rezept schlechthin ist. Was soll man über ein Rezept schreiben, um dessen Originalität und „Schutz“ sich eine ganze Bruderschaft kümmert? Schwierig zu beantworten, wenn man als Autor selbst Mitglied der dogale confraternita del baccalà mantecato ist. Mein Freund Stefano von der Osteria Da Poggi war es, der mich vor vielen Jahren in diese kulinarische Loge brachte. Tolle Gourmetabende durfte ich seitdem erleben, egal ob in der Ristoteca Oniga mit ihrer traditionell geprägten Küche oder im Ristorante Wagner del Casinò di Venezia (benannt nach Richard Wagner, der hier im Palazzo Vendramin Calergi nach einem allzu wilden Liebesspiel mit seiner Geliebten Carrie Pringle an „Herzanfall aufgrund einer Ekstase“ verstarb, wie der Arzt später wörtlich diagnostizierte), es waren immer wunderschöne und stilvolle Abende, bei denen selbstverständlich der Stockfisch im Mittelpunkt stand – und natürlich durfte niemals besagter baccalà mantecato fehlen.

Lange war man der Ansicht, dass der Name mantecato vom spanischen Wort manteca (= Butter) abstammen würde, weil die Spanier in Gestalt der brandade eine ähnliche Stockfischcreme kennen – mehr noch, man vertrat die These, dass das Gericht überhaupt aus der spanischen Küche übernommen worden sei. Grund dafür war der unsägliche Umstand, dass die Venezianer seit einigen Jahrzehnten aus dem gewässerten und gekochten Stockfisch eine cremig weiße Masse herstellen, die sowohl der Mayonnaise als auch der spanischen brandade ähnlich ist. Das Unsägliche dabei ist, dass diese cremig-homogene Konsistenz weder original noch originell ist – nur optisch ist die schneeweiße Creme attraktiv! In Wahrheit wird der venezianische baccalà mantecato nicht mit dem Schneebesen und schon gar nicht mit dem Mixer zubereitet, sondern mit einem schlichten Holzlöffel geschlagen! Das Ergebnis ist dann ein ganz anderes; zwar wird die Masse grundsätzlich ebenso schön cremig, beinhaltet aber auch gröbere Stücke darin, die für den perfekten Geschmack sorgen – diese unregelmäßige Konsistenz bekommt man eben nur mit einem Holzlöffel zustande. Und deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die Bezeichnung mantecato von der spanischen manteca abstammt, zumal das Wort mantecato wörtlich übersetzt nichts anderes als „(glatt) verrührt“ bedeutet.

Der baccalà mantecato ist im heutigen Venedig omnipräsent und gehört somit zu den wenigen Traditionsgerichten, die tatsächlich noch in (halbwegs) ursprünglicher Form verkostet werden können. Jede Osteria, jede Taverne und jedes gute Restaurant (sowieso!), die etwas auf sich und ihre Küche halten, wird das Stockfischpüree im Angebot haben. Und jedes Lokal wird versichern, dass der Stockfisch selbstverständlich hausgemacht ist – und das trifft in den allermeisten Fällen sogar wirklich zu. Das bedeutet aber auch, dass die Creme überall ein wenig anders schmeckt. Daher sollte man wissen, welche Merkmale einen echten baccalà mantecato auszeichnen: 1. Das Püree darf nur mit der Hand und einem Löffel, niemals mit einer elektrischen Küchenmaschine verarbeitet werden. 2. Gewürzt wird das Püree ausschließlich mit Knoblauch, Salz und wenig weißem Pfeffer, allenfalls etwas Petersilie ist als Garnitur erlaubt. 3. Das Wichtigste: Nur ein leichtes, mildes und nur leicht aromatisches Olivenöl extra darf an den Fisch – vorzugsweise eines vom Gardasee (die schweren oder bitter-scharfen und daher zweifelsohne sehr hochwertigen Öle aus Istrien, dem Friaul oder gar der Toskana kommen für einen echten baccalà mantecato nicht infrage). Und ultimo, ma non per importanza wird das Püree 4. im Original ausschließlich mit Brotscheiben vom Vortag oder mit einem Stück weißer oder gelber Polenta genossen – in Tramezzini oder Ähnlichem hat der baccalà nicht wirklich etwas zu suchen.

Der baccalà mantecato wird in Venedig zwar das gesamte Jahr über gerne genossen und daher angeboten, dennoch schmeckt er im Winter besonders gut – schließlich ist der getrocknete Kabeljau ein traditioneller Winterfisch. In Istrien, dessen Küche sehr von der venezianischen geprägt worden ist, sieht man das anders, denn hier ist das Stockfischpüree ein traditionelles Gericht für Weihnachten.

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Der geneigte Leser wird sich nun die ganze Zeit über gefragt haben, warum denn ausgerechnet ein konservierter Fisch und dann noch nicht einmal ein heimischer aus der Lagune zur kulinarischen Ikone der venezianischen Fischküche werden konnte. Da liegt das Meer mit all seinen Köstlichkeiten, im wahrsten Sinne des Wortes, direkt vor der Haustür und dennoch lieben die Venezianer einen Fisch, der aus Tausenden Kilometern Entfernung stammt. Denn nicht der nähergelegene portugiesische (stark eingesalzene) Klippfisch ist des Venezianers Leidenschaft, sondern der (eher ungesalzene) nordische Stockfisch – den liebt man hier im Nordosten Italiens so sehr, dass man nur in der Region Venetien heutzutage fast 80 Prozent der gesamten norwegischen Jahresproduktion verbraucht. Nun weiß man, dass die Norweger das Trocknen von Fischen bereits seit dem 8. Jahrhundert praktizieren und daher besonders gut beherrschen, doch das ist nur ein Grund, ein anderer – wesentlich wichtigerer– findet sich in der venezianischen Seefahrergeschichte:

In Venedig ist der baccalà seit Mitte des 15. Jahrhunderts bekannt. Er wurde von einem gewissen Pietro Querini, Patrizier und Kapitän der Löwenrepublik, in Norwegen entdeckt und über abenteuerliche Wege nach Venedig gebracht.

Querinis Reise zum baccalà – und damit unsere Geschichte – nahm am 25. April 1431 (also am Markustag) in Kreta ihren Anfang. Dort hatte Querini mit seiner Mannschaft edelste Güter gebunkert: aromatischen kretischen Wein, Pfeffer und andere duftende Gewürze, Kaffee, Baumwolle, Gobelins und Glas. Die Ware war für nordische Händler bestimmt, genauer für Händler der Hanse, der ersten Europa umspannenden Handelsorganisation, die als Grundlage der Europäischen Union angesehen werden kann. Es war eine waghalsige Reise, denn ein einsames, schwer beladenes Handelsschiff war nicht nur eine willkommene Beute für Piraten, sondern auch für Konkurrenten, insbesondere für kastilische oder englische Freibeuter.

Etwa auf der Höhe des heutigen Cádiz geriet das Schiff zwar nicht in die Hände von „Feinden“, aber in einen heftigen Sturm. Zuerst brach das Ruder, dann der Mastbaum und das Schiff geriet außer Kontrolle. Ohne die Möglichkeit, dem Unheil entgegenzusteuern, wurde es durch den Sturm nach Norden gedrängt. Mit Müh und Not gelang es der Besatzung, sich in die Beiboote zu retten. Doch der Sturm nahm kein Ende und als das größere der beiden Rettungsboote bei den Lofoten (!) kenterte, fanden 54 der anfänglich 68 Seeleute den Tod. Das kleinere Boot wurde gegen die Felsen der Lofoten geschleudert, wo es zerschmetterte, doch die Besatzung konnte sich retten. Hungernd und frierend saßen die Venezianer am Ufer und ernährten sich von Muscheln und Meeresschnecken, als der Sturm plötzlich auch einen riesigen Fisch – später wurde berichtet, dass er über 200 Pfund schwer gewesen sein soll – an Land spülte. Endlich gab es etwas zu essen, doch der Schein war trügerisch, da die Venezianer noch nicht wussten, wo sie waren – denn auf den Lofoten gab es nichts, absolut nichts, wovon man sich ernähren konnte. Schon gar nicht im Winter.

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Wie der Überlebende Pietro Querini später dem „Gericht“ erklärte, wurden er und seine restliche schiffsbrüchige Besatzung am 6. Januar 1432 von Fischern der nahe gelegenen Insel Røst gefunden und aus der Notsituation gerettet. Ganze 110 Tage verbrachten sie bei den Fischern, die sie ernährten und pflegten, bis ihre angeschlagene Gesundheit so weit wiederhergestellt war, dass sie die beschwerliche Heimreise antreten konnten. Vom Oktober 1432 bis zum Januar 1433 dauerte die Reise durch die deutschen Lande, bis sie schließlich Venedig erreichten. Hier verfasste Querini einen umfassenden Bericht, der auch viele Details über das damalige Leben der Fischer auf den Lofoten verrät. Es ist das erste venezianische Dokument, in dem der Stockfisch erwähnt wird.

Querini schreibt davon, dass sich die Bewohner hauptsächlich von Fisch ernährten, weil es keine Früchte gebe, und dass es drei Monate im Jahr (Juni, Juli, August) immer hell sei und die Sonne nicht untergehe dafür aber in den entgegengesetzten Monaten ständige Dunkelheit herrsche. Es ist von Unmengen an Fischen die Rede, welche bewundernswerte Größen erreichen würden. Die Fischer würden sie im Überfluss aus dem Meer holen und den stocfisi im Wind ohne Salz trocknen, wobei die Fische hart wie Holz werden würden. In große Fässer verpackt würden sie dann gehandelt, meist aber getauscht in Gegenstände, die die Fischer bräuchten – den großen Gewinn würden die Händler dann in England und Deutschland machen. Querini berichtet auch darüber, wie der Stockfisch ursprünglich gegessen wurde; man hat einfach mit einer Axt auf den getrockneten Fisch eingeschlagen und die dadurch entstandenen Splitter gegessen (vom Kochen ist in Querinis Bericht keine Rede).

Wie es damals üblich war, musste der Kapitän Rede und Antwort stehen – schließlich hatte er eine ganze Schiffsladung wertvoller Fracht verloren. Und all die Antworten wurden penibel aufgeschrieben und zusammen mit den Aussagen der anderen Überlebenden im Staatsarchiv eingelagert, weshalb wir die Geschichte heute ziemlich genau nachvollziehen können.

Die Venezianer hatten eine neue Handelsware, sie kannten nun den Stockfisch und seine Vorzüge als Konserve. Zudem wussten sie, dass er (damals) in schier unbegrenzten Mengen verfügbar war und als wertvolles Handelsgut durchaus einen beträchtlichen Wirtschaftsfaktor darstellte – da stellt sich doch die Frage, warum aßen sie ihn damals (zumindest noch) nicht? Salopp gesagt: Wer was auf sich hielt, aß keinen Fisch. Patrizier, hohe kirchliche Würdenträger sowie Beamte oder auch vermögende Bürger schlemmten Fleisch und Geflügel, aber kaum Meeresfrüchte und Fische. Der Grund ist das bekannte menschliche Phänomen des kulinarischen Snobismus: Was im Überfluss vorhanden ist, dient allenfalls als Grundnahrung für die Massen, aber wer es sich leisten kann, isst teure Importware. Das war damals so und ist bis heute nicht anders. Im Venedig des 15. Jahrhunderts gab es praktisch alles, was das gastronomische Herz verlangte – nur war Fleisch (obwohl auch in der Lagune Viehzucht betrieben wurde) eben nicht im Überfluss vorhanden und somit das teuerste Nahrungsmittel und ein Statussymbol.

Mit dieser Information stellt sich die nächste Frage: Was war ausschlaggebend dafür, dass dann ausgerechnet der baccalà zur Ikone werden konnte? Die naheliegende Antwort wäre auch in diesem Fall, dass der Stockfisch eine teure Importware gewesen ist. Doch dann wäre er ja relativ bald zum Kultstatus erhoben worden, nicht erst mehr als hundert Jahre nach seinem ersten Eintreffen in Venedig. Es war also etwas anderes, das den baccalà derart bedeutend werden ließ.

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Die Antwort auf die Frage finden wir im Jahre 1563. Während des Konzils von Trient im Dezember des Jahres, wurden einschneidende Neuerungen beschlossen. Die Kirchenväter waren der Ansicht, sie müssten sich mehr und mehr in das weltliche Leben und in die Bedürfnisse ihrer Schäfchen einmischen und beschlossen daher, dass umfangreiche Fastenzeiten gerade für jene gesundheitlich nützlich seien, welche die meiste Zeit des Jahres im Überfluss lebten. Es muss ein harter Schlag für die lebensfrohe Schlemmergemeinde Venedigs gewesen sein, als festgelegt wurde, die Einhaltung der Fastengebote – die zwischenzeitlich mehr oder weniger untergegangen sind und nicht mehr beherzigt wurden – strenger zu kontrollieren. Vierzig Tage vor Ostern und vierzig Tage vor Weihnachten musste nun auf das geliebte Fleisch verzichtet werden und weil man die Fische aus der Lagune sozusagen „über“ hatte, genauso wie die in den Sumpfgebieten im Überfluss vorhandenen „Wassertiere“ wie Schnecken oder Frösche, mussten Alternativen her – vor allem solche, mit denen man gleichzeitig reüssieren konnte: Somit wurde der teure Stockfisch plötzlich ein begehrtes Gut der Reichen und Schönen sowie des Klerus – frei nach dem Motto, wenn schon Fisch, dann kein preiswerter heimischer, sondern zumindest teure Importware.

Mit einem Schlag wurden Dutzende Rezepte für den aus Norwegen importierten Stockfisch entwickelt und einige von ihnen derart populär, dass sie bis heute nicht nur zur Fastenzeit, sondern das gesamte Jahr über genossen werden. Zu diesen Rezepten gehören allen voran der baccalà alla vicentina (hierfür wird gewässerter Stockfisch in einer cremigen Sauce aus Milch, Weißwein, Zwiebeln, Knoblauch, Sardellen, Zimt und Parmesan stundenlang im Ofen geschmort und mit fester Polenta serviert), der baccalà alla cappuccina (gewässerter Stockfisch wird in einer Pfanne mit Knoblauch, Petersilie und Milch gegart, bis er weich und zart ist, danach mit Pinienkernen und Rosinen verfeinert) und schließlich der baccalà mantecato, das legendäre Stockfischpüree Venedigs (bestehend aus gewässertem und mit Zitrone, Lorbeer und Knoblauch gekochtem Stockfisch, der mit feinem Olivenöl extra ursprünglich zu einem sehr groben Mus, heute einer feinen Creme zerstampft wird und mit etwas Pfeffer und eventuell etwas gehackter Petersilie verfeinert wird – baccalà mantecato isst man auf weißen Polentawürfeln oder mit altbackenem Weißbrot), sehr beliebt ist besonders der baccalà fritto (früher wurde hierfür gewässerter und leicht vorgekochter Stockfisch mehliert und in Fett gebacken, heute nimmt man meist frische Kabeljaufilets, salzt sie ein und taucht sie in einen Backteig, bevor sie in Olivenöl goldbraun frittiert werden).

Daneben gibt es noch einen weiteren Klassiker der venezianischen Küche, der mittlerweile aber vollkommen in Vergessenheit geraten ist, den baccalà in turbante; ein Rezept, das Elemente aus der Küche der sephardischen Juden mit der Küche Venedigs verbindet und gleichzeitig die Verbindung zum Orient darstellt, denn das Gericht kommt in der Form eines großen Turbans auf den Tisch. Die Zubereitung ist einfacher, als man denken mag: Den gewässerten Stockfisch kochen, dann etwas abkühlen lassen, sorgfältig entgräten, häuten und in Stücke schneiden. Das Fischfleisch mit ein wenig Mehl vermischt in reichlich Butter anrösten, dann so viel Milch zugießen, dass man eine feste Creme erhält. Nun blanchierten Spinat hinzufügen und die Mischung mit Eiern legieren; danach mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss würzen. Eine runde ofenfeste Tonform mit Butter einfetten, die Masse einfüllen und in ein Wasserbad stellen – im Ofen bei 160–180 Grad garen, wobei die Masse aufgehen wird und anschließend die Optik eines „Turbans“ hat.

Angesichts der Fülle an Stockfisch-Rezepten, die man in Venedig und Venetien kennt, verwundert es schon, dass gerade einmal zwei bis drei von ihnen kultiviert und gepflegt werden. Genau genommen ist im gastronomischen Venedig fast ausschließlich der baccalà mantecato existent – der aber dafür flächendeckend. Im großartigen Ristorante Quadri hat mein von mir sehr geschätzter Kollege Massimiliano Alajmo den baccalà mantecato in einer vielleicht vollendeten Variante aufgetischt – cremige Konsistenz mit kleinen aromatischen Fischstücken darin und das Püree mit einem Olivenöl angerührt, das schlicht zum Niederknien war! Es ist aber Obacht zu geben, denn neben Stockfischpüree werden im heutigen Venedig auch gerne Fischpürees aus (normalem) Kabeljau, Brassen (vor allem Zahnbrasse und Dorade), Branzino oder auch Makrelen angeboten – sie alle können durchaus formidabel schmecken, doch sie sind eines nicht: echter baccalà mantecato.

Baccalà mantecato

1 Stockfisch | 1 l leichtes Olivenöl extra vergine (vorzugsweise ein Öl vom Gardasee | 1 Lorbeerblatt | 1–2 Knoblauchzehen | ½–1 Zitrone | Pfeffer aus der Mühle | Salz | geröstete Weißbrotscheiben oder Scheiben von weißer Polenta

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Der sonnengetrocknete Fisch (meist Kabeljau oder Dorsch) kann zunächst mit einem Fleischklopfer bearbeitet werden und muss anschließend 2–3 Tage gewässert werden; dabei sollte man das Wasser immer wieder erneuern. (In Venedig kann man gewässerten Stockfisch bereits küchenfertig kaufen.)

Den gewässerten Stockfisch von Gräten und Haut befreien, danach nochmals waschen. In einem großen Topf mit kaltem Wasser, einem Lorbeerblatt, Knoblauch, etwas Salz und einer halbierten Zitrone aufsetzen. Zum Kochen bringen, die Hitze zurücknehmen und den Fisch 10 Minuten garen lassen. Den Fisch herausnehmen und von allen verbliebenen Unreinheiten, Gräten und Hautresten befreien. Das Kochwasser durch ein feines Sieb seihen.

Das sauber filetierte Fischfleisch in Stücke schneiden und in einer Schüssel mit einigen Esslöffeln Kochwasser und ein wenig Olivenöl verrühren (dafür einen Holzlöffel verwenden). Nach und nach (wie bei einer Mayonnaise) das Olivenöl einarbeiten und das Ganze mit einem Schneebesen zu einem cremigen Püree verarbeiten. Man wird mindestens die gleiche Menge Öl einarbeiten (manche Köche nehmen bis zu dem 1,5-fachen), als man an Fischgewicht hat.

Das fertige Fischpüree (es sollte cremig und weiß sein, aber auch kleine Fischfleischstücke beinhalten) mit Pfeffer aus der Mühle und Salz würzen – eventuell noch etwas Kochwasser einarbeiten. Auf gerösteten Weißbrotscheiben oder gegrillten Polentascheiben (aus weißer Polenta zubereitet) servieren.

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Tipp: Bei einem Festessen zu carnevale habe ich einmal eine Variante genossen, die zwar nicht authentisch sein mag, aber dennoch so ungemein gut gemundet hat, dass sie hier angegeben sein soll: Für dieses Rezept wurde ein Teil des Olivenöls durch süße Sahne ersetzt und das auf gerösteten Brotscheiben angerichtete Püree mit hauchfeinen Streifen von weißer Trüffel garniert.

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CARPACCIO

Eines gleich vorweg: Ich kenne – vom Wiener Schnitzel einmal abgesehen – kaum ein zweites Gericht auf der Welt, dem tagtäglich so viel Unrecht angetan wird wie dem Carpaccio. Was da alles als Carpaccio auf den Speisekarten rund um den Globus angeboten wird, würde Giuseppe Cipriani wohl die Tränen in die Augen treiben. Und selbst in seinem Heiligtum der Harry’s Bar, der Geburtsstätte des Carpaccio, wird alles unternommen, das kulinarische Erbe zu stürzen, weil auch hier ein Carpaccio di salmone (Carpaccio vom Lachs) angeboten wird.

Das Carpaccio hat seinen Namen einem berühmten Maler namens Vittore Carpaccio zu verdanken, weil Giuseppe Cipriani erstens das spezielle Rot des Rindfleisches an die berühmten Rottöne des Malers Carpaccio erinnerte und zweitens weil Cipriani alle seine Kreationen nach (venezianischen) Künstlern benannt hat – allen voran den vielleicht berühmtesten Cocktail aller Zeiten, den Bellini. Aber nur weil das Gericht seinen Namen dem roten Farbton verdankt, bedeutet das noch lange nicht, dass alles, was irgendwie rot (oder roh) ist, ein Carpaccio sein kann!

Was habe ich im Laufe meiner langen Genuss-Karriere nicht alles an Carpaccio vorgesetzt bekommen: Carpaccio vom Lachs (das ist ja immerhin noch rot), Carpaccio vom Wolfsbarsch oder Dorade, Carpaccio von der Jakobsmuschel oder von Hirsch, Reh, Lamm, Ziege, Gänseleber und was weiß ich nicht alles – zum Teil großartige Speisen, aber allesamt leider kein richtiges Carpaccio.

Giuseppe Cipriani war sich sicherlich nicht bewusst, dass er mit dieser einfachen Speise eines der wichtigsten Gerichte Venedigs auf den Teller gebracht hat. Mein großes Glück war, dass ich essensaffine Erziehungsberechtigte hatte, die zudem Venedig liebten. Aus diesem Grund kam ich schon als Kind mehrmals im Jahr in die Lagunenstadt und unter anderem in Harry’s Bar. Schon damals verspürte ich den Drang in mir, dass ich irgendwann einmal Koch werden möchte, und hatte aus diesem Grund die Angewohnheit entwickelt, kurzerhand in jedem Restaurant, Lokal oder jeder Kneipe zu fragen, ob ich mir wohl einmal die Küche ansehen dürfte – so natürlich auch in der Harry’s Bar. Der von mir befragte Kellner holte beflissen den Patron des Hauses und so wurde mir die Ehre zuteil, Giuseppe Cipriani höchstpersönlich kennenzulernen – er war damals nur mehr selten da, weil er 1957 das Hotel Cipriani übernommen und seinem Sohn Arrigo die Geschicke der Harry’s Bar übertragen hat. Nur ab und an war er noch in seinem Reich. Es war für mich ein unvergesslicher Moment, als mich der Patron an der Hand nahm, um mich in das Reich der Kulinarik zu führen. Giuseppe konnte perfekt Deutsch; er ging nämlich in Schwenningen am Neckar zur Schule, die Familie zog es allerdings mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Italien zurück. In der Küche übergab er mich einem seiner Köche, der Deutsch konnte und mir alles erklären sollte, was ich wissen wollte. Nun ja, ich wollte so viel wissen und kosten, dass meine Mutter nach dreißig Minuten kam und meinte, dass sie mich in zwei Stunden abholen würde – kein Problem, meinte ich, ich bleibe gerne auch länger da.

Wir hatten zwar schon „eine Kleinigkeit“ gespeist, dennoch war ich nicht abgeneigt, von allem zu kosten, was mir vorgeschlagen und empfohlen wurde – so schulte ich meinen Gaumen beispielsweise an endgültig flaumigen polpetti, unvergleichlichen Sandwiches (von Urzeiten an eine der Säulen der Harry’s Bar), Risotto, Carpaccio und noch ein paar dolci (insbesondere das Eis ist in der Harry’s Bar legendär). Ich erfuhr alles, was ich wissen wollte – nur keine Rezepte. Der Patron Giuseppe gab keine Rezepte heraus, ausnahmslos niemandem und daran hatte sich auch das Personal zu halten. Erst viel später erfuhr ich warum, denn es lag an einer schlechten Erfahrung: Giuseppe hatte einmal ein Scampi-Rezept hergegeben und das zutiefst bereut. In der Folge wurde es derart verunglimpft, dass die Leute – im Glauben, das unfassbar schlechte Rezept sei von hier – das Scampi-Gericht auch nicht mehr in der Harry’s Bar bestellten.

So habe auch ich zwar kein Rezept erhalten, konnte aber mit eigenen Augen und Ohren viel mitnehmen. Das Carpaccio beispielsweise wurde nicht von tiefgefrorenem Fleisch geschnitten, sondern von einem in ein Tuch gewickeltes Filet, das zwischen Eisblöcken gut gekühlt wurde und dann mit dem Messer – wie Schinken – aufgeschnitten wurde. Der Risotto wurde nicht jedes Mal frisch gemacht, sondern eine Basis aus Reis, Brühe und Butter angesetzt, die dann später in wenigen Minuten mit den jeweils gewünschten Ingredienzien weiterverarbeitet und vollendet wurde. „Risotto, Brodo, Burro“ wurden zu geflügelten Worten der Harry’s Bar. Ich bekam noch ein Buch geschenkt – L’angolo dell’Harry’s Bar – und wurde dann von meiner leicht erzürnten Mutter in Empfang genommen – der Sohnemann war nämlich aufgrund einiger alkoholhaltiger Eisgetränke leicht „angeschlagen“ und daher kaum im Stande zu folgen …

Seit dieser Zeit wurde die Harry’s Bar für mich zu einer Art Wohnzimmer, doch nur höchst selten zum Speisesaal. Ich trinke und plaudere hier gerne mit Leuten, ich arbeite hier an meinen Büchern (insbesondere jene über Venedig sind fast allesamt zu einem Großteil hier entstanden – intellektuell zumindest), ich flirte und manchmal auch mehr … Aber so richtig gegessen habe ich seit damals nur mehr einmal hier und es war nicht so wie seinerzeit. Daher habe ich für mich beschlossen, die Harry’s Bar das sein zu lassen, was der Name vorgibt: eine Bar nämlich und zwar eine der schönsten, traditionellsten und zurecht berühmtesten der Welt. Und ich bin sicher, dass es mir Giuseppe Cipriani nicht verübeln würde, denn er eröffnete die Harry’s Bar ja ursprünglich nur als Bar, das Essen kam erst später dazu; erst kochte seine Frau und dann – als der obere Saal nach Auszug der dortigen Anwaltskanzlei übernommen werden konnte – die Legende Enrico für mehr als fünfunddreißig Jahre. Leider konnte keiner der Nachfolger Enrico auch nur annähernd das Wasser reichen, was auch daran liegen wird, dass Enrico seinen Beruf liebte und lebte und jede Woche nicht weniger als achtzig Stunden in der Küche der Harry’s Bar verbrachte; ja nicht einmal in Pension wollte er gehen, sondern arbeitete weiter, als wäre es das Einzige, wozu er berufen war (und er war es wohl wirklich). Alles, was die Harry’s Bar bis heute kulinarisch auszeichnet, sind Kreationen von diesem einen Meister, den die Küchengeschichte viel zu wenig würdigt – anscheinend ist auch er letztlich der venezianischen Eigenheit, keinen Personenkult zu praktizieren, zum Opfer gefallen. Daher möchte ich an dieser Stelle den „schweigsamen“ Enrico posthum für seine Verdienste um die Küche würdigen.

In der Harry’s Bar ist man seit jeher der Ansicht, dass es keine unterschiedlichen italienischen Regionalküchen gäbe, sondern nur eine „italienische Art zu kochen“. Diese würde sich darauf beziehen, dass ausschließlich mit italienischen Produkten gekocht wird. Und in diesem Zusammenhang stünden die großen Protagonisten Pasta, Polenta, Riso, pane e fagioli (Pasta, Mais, Reis, Brot und Bohnen) für eine Ernährung ganzer Generationen von Italienern. Aus diesem Grund würde sich die heutige Harry’s Bar weder als venezianisches Restaurant bezeichnen, noch als reine American Bar sehen, wie das ursprünglich der Fall war, sondern als italienisches Restaurant mit besonderen Qualitätsansprüchen.

Ich möchte diese Ideologie gerne fast unkommentiert stehen lassen, weil ich die Ansicht nicht vollumfänglich teile, sondern auf ein politisches Statement zurückführe. Viele der Venezianer sind nämlich mit dem Risorgimento und dem daraus resultierenden Nationalstaat Italien nicht glücklich und wünschen sich eine unabhängige Republik Venedig zurück. In der Harry’s Bar denkt man seit jeher global, weltoffen und nur wenig regional – wie also könnte man seine proitalienische Gesinnung diplomatischer zum Ausdruck bringen als über das Essen, denn über den Geschmack lässt sich nicht streiten.

Der Begriff „Regionalküche“ ist genau genommen erst im Zuge der Globalisierung der Welt entstanden, in den 1960er-, 1970er- oder 1980er-Jahren hat das noch niemanden gekümmert. Da gab es nur eine französische Küche, die deutsche Küche, eine italienische Küche, aber keine österreichische Küche, seltsamerweise aber die Wiener Küche. Auf der Suche nach einem Wiedererkennungswert in der immer größer werdenden Welt suchten die Menschen nach einem kleinen gemeinsamen Nenner und was war da naheliegender als regionale Spezialitäten – diese waren politisch unantastbar und man konnte, ohne Repressalien fürchten zu müssen, wieder so etwas wie einen selbstbewussten Regionalstolz ausleben.

In diesem Zusammenhang ist auch das Carpaccio zu sehen, denn das Essen von rohem Fleisch ist so unvenezianisch wie das Essen von gekochtem Rindfleisch in den USA. Und doch spannt das Gericht – ohne dass es wahrscheinlich gewollt wurde – einen Bogen über viele Kulturen hinweg; vom Tartar der Russen, Franzosen und Engländer kam die Inspiration, rohes Fleisch zu essen, und vereinigte sich in Venedig mit dem Purismus der italienischen Küche. Aus der französischen Küche stammt mit Sicherheit die Idee der Sauce, denn in Frankreich ist es üblich, das dortige Beefsteak à la Tartar mit einer separat gereichten Sauce à la Tartare zu servieren – bei genauerer Betrachtung ist das Carpaccio nicht wesentlich anders.

Giuseppe Cipriani schreibt in seinem Buch, dass er das Gericht 1950 für eine gewisse Contessa Nani Mocenigo kreiert habe, weil sie aufgrund eines ärztlichen Attestes mehr Fleisch essen sollte, aber kein gekochtes Fleisch mochte. Das Grillen von Fleisch war damals noch nicht so üblich wie heute, also musste es ein rohes Fleisch sein.

Giuseppe verweist als Erstes auf die Qualität, denn beim Carpaccio ist jeglicher Betrug verboten, ja genau genommen sei dieser sinnlos, weil man die Qualität des rohen Fleisches sofort erkennen würde. Er schreibt weiter, dass er die französische Küche nicht besonders liebe, weil sie die Zutaten zu sehr maskieren würde. Im gleichen Atemzug ist aber die Rede davon, dass er selbst das rohe Fleisch als ein wenig „geschmacklos“ empfunden habe und daher mit ein wenig von der Cipriani-Standardsauce übergoss (also im Grunde nichts anderes gemacht hat als die Franzosen, welche ebenfalls eine Sauce dazu servieren). Ein paar Blätter Rucola in der Mitte des Tellers dienten als einfache Dekoration und ein Welterfolg ward geboren, dabei war das letztlich doch nichts anderes als ein Tartar in neuem Gewande.

Wäre das Gericht nicht in der Harry’s Bar entstanden, wäre es dann auch ein derart großer Erfolg geworden? Ich weiß es nicht, wahrscheinlich aber schon. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich allein in der Harry’s Bar Dutzende unterschiedliche Versionen von Carpaccio gesehen und zum Teil verkostet – das lag daran, dass ein jeder mit dem ich hier war mindestens einmal ein Carpaccio kosten wollte. Darum kann ich sagen, dass es heute nicht mehr so schmeckt wie früher. Das hat viele Gründe: Das Fleisch wird nicht mehr vom Filet, sondern vom Contrefilet geschnitten, dann wird es nicht mehr per Hand sondern mit der Maschine aufgeschnitten und es wird nicht mehr nur gekühlt, sondern tiefgefroren und die Sauce wurde ebenfalls modernisiert – im Grunde genommen sind das alles Veränderungen, die dazu führten, dass man nicht einmal mehr in der Harry’s Bar selbst ein echtes Carpaccio bekommt. Aber wie sagte noch Arrigo Cipriani: Mein Vater hat immer nur so viel verändert, dass dem Stammpublikum nicht aufgefallen ist, was gerade verändert wurde. Würde man aber ein Foto der Bar von 1950 mit einem von 1980 vergleichen, könnte man sehen, wie viel tatsächlich verändert wurde.

Man kann es sich wünschen und einbilden, aber die Zeit ist auch in der Harry’s Bar nicht stehen geblieben. Sie hat nicht einmal vor der berühmten Uhr hinter der Bar haltgemacht – diese ist zwar immerhin seit Anbeginn der „Harry’s-Bar-Zeit“ unverändert an selbiger Stelle hängen geblieben, doch hat sie heute kein mechanisches Uhrwerk mehr, sondern ein elektrisches. Was für ein passendes Schlusswort das doch ist.

Carpaccio

800 g sauber pariertes Rinderfilet (am besten einer italienischen Rasse wie Piemonteser Rind) | feines Meersalz | Pfeffer aus der Mühle (heute nicht mehr, wurde aber früher gemacht)

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Mayonnaise: 2 Eigelb | 2 TL Essig | ¼ TL Senfpulver | 375 ml mildes Olivenöl (z. B. vom Gardasee) | Zitronensaft | Pfeffer aus der Mühle | Salz

Sauce: 200 ml Mayonnaise | etwas Milch | 2 TL Worcestershiresauce | Pfeffer, Salz und Zitronensaft zum Abschmecken

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Das Fleisch äußerst sauber parieren, dann in ein Tuch wickeln und gut kühlen – es darf unter gar keinen Umständen eingefroren werden.

Für die Mayonnaise müssen alle Zutaten die gleiche Raumtemperatur haben. Eine Rührschüssel heiß ausspülen und abtrocknen. Zuerst das Eigelb, Essig, das Senfpulver, etwas Salz und Pfeffer mit einem Schneebesen verquirlen (man kann auch ein Handrührgerät mittlere Stufe verwenden). Dann zunächst ein Drittel vom Olivenöl tropfenweise einarbeiten, wenn dies gut untergemischt ist, das restliche Öl in einem dünnen Strahl einfließen lassen und rühren, bis man eine Emulsion hat. Schließlich die Mayonnaise mit Zitronensaft, Salz und Pfeffer abschmecken und kaltstellen.

Das Fleisch mit einem scharfen Messer in dünne Scheiben schneiden und diese auf vier kalten Tellern anrichten. Leicht salzen und für einige Minuten in den Kühlschrank stellen. Die Mayonnaise mit Worcestershiresauce und Zitronensaft würzen, mit Milch zu einer sämigen Sauce verrühren und mit Salz und Pfeffer abschmecken. Früher hat man einfach einen Löffel voll Sauce kreisförmig über das Carpaccio gegossen, später hat sich dann das Carpaccio-Saucengitter entwickelt. Mit einigen Blättern Rucola garniert auftischen.

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Carlo von iSAPORI

CASTRAURE AL FORNO

Vieles ist über sie geschrieben worden, die castraure von Sant’Erasmo; doch nur die wenigsten Nicht-Venezianer sind jemals in den Genuss gekommen – der Grund: Sie sind leider extrem selten. Aber der Reihe nach.

Zunächst sei geklärt, dass es unterschiedliche Sorten von Artischocken gibt. Die auf Sant‘Erasmo angepflanzte Variante wird Violetto di Sant’Erasmo genannt, die violette Artischocke von Sant‘Erasmo, der Name ist auf die violette Färbung ihrer Früchte zurückzuführen. Castraure sind dabei keine weitere Sorte, sondern junge Triebe, welche von der Artischockenpflanze zwischen Ende März und Anfang April gebildet werden. Castraurecastraurebotolicarciofi