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Table of Contents

Titel

Impressum

Vorwort

1. Als Kind wohlbehütet, aber fürs Leben zu unselbstständig

2. Mit sechzehneinhalb die erste Liebe, die Weichen stellte

3. Die Neuapostolische Kirche und ihr Einfluss auf die Mitglieder

4. Endlich eine eigene Wohnung – doch unter jedem Dach ein Ach

5. Schwanger ohne Trauschein - von der NAK nicht erwünscht

6. Nach komplizierter Schwangerschaft und schmerzhafter Geburt endlich geschafft, aber …

7. Als Mutter überfordert, als Partnerin wenig geachtet – das Ergebnis eine postnatale Depression

8. „Befreiungsschlag“ – der Weg aus dem Tal der Tränen

9. Mein Leben nach der Scheidung

10. Ein verhängnisvoller Tag

11. Nach dem Brand physisch unverletzt, aber psychisch traumatisiert

12. Mein Leben heute

Nachbetrachtung

Literaturhinweise

Kontaktadressen

 

 

 

Corinna Böhme

Dr. Roland Winkler

 

 

 

 

 

Die Depression

stahl mir das Glück

 

 

 

 

 

 

 

 

Biografie

 

Copyright by Corinna Böhme und Dr. Roland Winkler

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

ISBN: 9783957534798

Zweite überarbeitete Auflage von „Es begann im Wochenbett“: 2018

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by Anastasiya

 

Vorwort

Der Mensch ist gesund, wenn sich Denken, Fühlen und Körper in Balance befinden. Ist diese Harmonie gestört, wird er krank. Diese Störung muss nicht nur vom Körper ausgehen. Es kann auch die Seele sein, die zuerst leidet. Körperliche Beschwerden können die Folge sein. Eine psychische Störung liegt dann vor, wenn das eigene Erleben oder Verhalten in den Bereichen des Denkens, Fühlens und Handelns erheblich von der gängigen Norm abweicht, worunter dann der Betroffene selbst leidet. Dieser Leidensdruck führt zu Selbstanklagen, zu Schuldgefühlen, zu Zweifeln am eigenen Wert. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es der „gesunden“ Umgebung oft an Verständnis für diese Krankheit fehlt. So gelten psychische Störungen auch heute noch oft als Makel, was das Leiden für den Betroffenen zusätzlich verschlimmert. Dabei ist nicht jede psychische Verstimmung gleich eine psychische Störung. Sie kann auch jahreszeitlich bedingt sein und verschwindet wieder, wenn die Tage heller werden. Von einer psychischen Störung spricht man erst dann, wenn das emotionale Tief längere Zeit anhält oder immer wiederkehrt. In dem Falle wird die Störung behandlungsbedürftig.

Im Zentrum psychischer Erkrankungen stehen Depressionen. Sie gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Schätzungen zufolge leiden weltweit inzwischen ca. 350 Mio. Menschen an einer Depression. Bis 2020 werden Depressionen oder affektive Störungen lt. Weltgesundheitsorganisation (WHO) die zweithäufigste Volkskrankheit sein. In Deutschland sind derzeit etwa 5,3 Mio. Menschen im Laufe eines Jahres von einer behandlungsbedürftigen unipolaren Depression betroffen, einer krankhaften Störung ihres Gefühls- und Gemütslebens.[1] Dabei erkranken nach Aussagen von Kathleen Becker, Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Frauen zwei- bis dreimal so häufig wie Männer an einer Depression. Auch eine wachsende Zahl Jugendlicher und junger Erwachsener ist von dieser Krankheit betroffen.

Markante Symptome für eine Depression sind neben gedrückter Stimmung Antriebsmangel, Interessen- und Freudlosigkeit, aber auch ein gestörtes Selbstbewusstsein, unangemessene Schuldgefühle, Konzentrationsschwächen, innere Unruhe, Ermüdungserscheinungen, begleitet von körperlichen Beschwerden wie Magenproblemen, Nervosität, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Eine sich aus all dem entwickelnde Hoffnungslosigkeit ist oft der Nährboden für Suizidgedanken. Und nicht nur das. Die große Mehrzahl der jährlich 10.000 Suizide und ca. 150.000 Suizidversuche in Deutschland erfolgt vor dem Hintergrund einer nicht optimal behandelten Depression. [2]

Cornelia Böttcher, die Ich-Erzählerin, kennt das Tal der Tränen, denn sie musste es selbst durchschreiten. Sie hat mehr als eine depressive Episode durchlitten, bevor sie das Ende dieses tränenreichen Tals erreichte. Dabei spielte in ihrem Leben auch eine spezifische Form der Depression, die junge Mütter betrifft, eine besondere Rolle. Die Mutterschaft ist eine völlig neue Lebenssituation, der nicht alle gewachsen sind. Sie fallen in ein Stimmungstief, den sog. Babyblues. Während diese depressive durch eine Anpassungsreaktion auf die veränderte hormonelle Situation bedingte Verstimmung meist nach einigen Tagen vergeht, wächst sie sich bei 10 % der jungen Mütter zu einer postnatalen, also nachgeburtlichen Depression aus. So auch bei Cornelia Böttcher, die bereits vorher und später starke Depressionserscheinungen aufwies.

Dass es sich bei ihr um eine Krankheit handelte, zeigte sich darin, dass sie es aus eigener Kraft nicht vermochte, aus dem Tal der Tränen herauszufinden.

Mit psychologischer und psychotherapeutischer Hilfe, aber auch mit Unterstützung von Menschen aus ihrem Umfeld sowie einer Selbsthilfegruppe, der sie eine Zeit lang angehörte, hat sich ihr Leben weitgehend normalisiert, was sie aber aufgrund ihrer Veranlagung vor Rückschlägen nicht bewahrt.

Warum Corinna, die sich im Buch Cornelia Böttcher nennt, psychisch erkrankte, wie sich ihre Störungen entwickelten und was zur Wende beigetragen hat - all das wird in diesem Buch erzählt.

Es beruht auf Aufzeichnungen aus einem Tagebuch, in dem die Betroffene sich über einen längeren Zeitraum den Kummer von der Seele schrieb.

Vielleicht können ihre Erlebnisse Menschen in ähnlichen Lebenssituationen helfen, schneller wieder Licht am Ende des Tunnels zu erblicken und neuen Lebensmut zu schöpfen. Voller Dankbarkeit denkt sie aus heutiger Sicht an die Menschen, die ihr in schweren Stunden beistanden.

Dr. Roland Winkler

 

1. Als Kind wohlbehütet, aber fürs Leben zu unselbstständig

Wie nicht anders zu erwarten, begann mein Lebensweg mit der Geburt. Es war an einem Spätsommertag im September 1975, als ich in einer Kreisstadt des mittleren Erzgebirges das Licht der Welt erblickte. Aufgewachsen bin ich aber nicht dort, sondern in einem kleinen Erzgebirgsdorf in der Nähe meines Geburtsortes. Wir bewohnten ein geräumiges Einfamilienhaus mit Garten und grüner Umgebung. Mit anderen Worten: Ich wuchs auf an einem Ort, an dem sich ein Kind wohlfühlen kann. Auch an Fürsorge fehlte es nicht, denn immerhin kümmerten sich drei weibliche Wesen um mich. Neben meiner 39-jährigen Mutter gab es meine Schwestern Mareike und Ronja im Alter von 19 bzw. 15 Jahren. Der große Altersunterschied zu meinen Geschwistern verleitete mich dazu, als Kleinkind zu ihnen ebenfalls “Mama” zu sagen. Wem ist es schon vergönnt, drei Mütter zu haben? Später stellte sich heraus, dass ein solches Glück auch seine Schattenseiten hat. So wurde ich eben auch von drei “Müttern” erzogen und das in einem Stil, bei dem nicht allzu viel Freiraum für eine selbstständige Entwicklung, für das Sammeln eigener Erfahrungen blieb. Natürlich habe ich als Kind auch so manches falsch gemacht. Wer macht besonders in jungem Alter keine Fehler?

Doch mehr als bei anderen Kindern wurde jeder meiner „Fehltritte“ zu Hause registriert. Dies ganz einfach deshalb, weil ich weder Kinderkrippe noch Kindergarten kennenlernen durfte.

Meine Mutter war Heimarbeiterin. Sie häkelte Babywäsche. Mein Vater arbeitete als Zimmermann auf dem Bau. Nach altem Rollenverständnis war die Mutter für meine Erziehung zuständig, der Vater ging als Haupternährer der Familie auf Arbeit. Für meine Mutter war es eine Selbstverständlichkeit, dass auch ich bis zum Schulbeginn zu Hause blieb.

Mareike und Ronja gingen der Mutter im Haushalt zur Hand und halfen tüchtig bei meiner Erziehung. Doch diese Erziehungshilfe bestand nicht selten darin, mich mit Vorwürfen zu überhäufen. Manchmal fühlte ich mich nicht als willkommener Nachzügler, sondern als Familienproblem. So bekam ich von Mareike zu hören: “Erst seitdem es dich gibt, gehen wir jeden Tag in die gute Stube. Früher hielten wir uns nur in der Küche auf und konnten so die Stube schonen.”

Und Ronja hieb mit in dieselbe Kerbe: “Ja, ja, deinetwegen mussten unsere Eltern alles neu kaufen. Unsere Kindersachen hatten sie ja weggeben, denn mit dir hatte niemand mehr gerechnet. Nun geht alles wieder von vorn los.”

“So ist es”, setzte Mareike in solchen Situationen meist noch eins drauf, “erst seit du da bist, hat unsere Mutter weiße Haare. Sieh sie dir doch an!”

Solche Strafpredigten verletzten meine Seele, wenngleich möglicherweise alles gar nicht so ernst gemeint war. “Was kann ich denn dafür, dass es mich gibt?”, fragte ich mich und weinte nicht selten still vor mich hin. Auch hatte ich das Gefühl, meine Schwestern seien neidisch auf mich. Sie verglichen ihre Kindheit mit der meinen. So besaß ich eine tolle Puppenstube, die zu Weihnachten im hellen Lichterglanz erstrahlte. Auch ein kleiner Kaufmannsladen gehörte zu meinen Spielsachen ebenso wie ein luftbereifter Roller und eine gepolsterte Schaukel, auf der ich mich im Garten vergnügte. Im Unterschied zu mir besaßen meine Schwestern in ihrer eigenen Kindheit, die damals schon eine ganze Zeit zurücklag, nur einen Holzroller und eine Schaukel, die lediglich aus einem Holzbrett bestanden hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich müsse mich für meine besseren Spielsachen entschuldigen.

Möglicherweise lag es aber auch an meiner großen Sensibilität. Doch diese Schwäche wurde durch solche Bemerkungen nur noch verstärkt.

Natürlich gab es in meiner daheim verbrachten Vorschulzeit auch freudige Momente. Gern erinnere ich mich an die Stunden, in denen mir meine Mutter vorlas oder mein Vater Märchen erzählte. An Winterabenden spielten wir ab und zu Mensch ärgere dich nicht. Diese Stunden familiärer Gemeinsamkeit habe ich immer sehr genossen. Im Winter fuhr meine Mutter mit mir Ski, bis sie eines Tages stürzte und aus Angst vor einem neuen Sturz das Skifahren aufgab. Daraufhin stieg ich auf den Schlitten um. Im Sommer hatte ich auch meinen Spaß, wenn ich als Sozius auf dem Moped meines Vaters Platz nehmen durfte und er mit mir durch die Gegend fuhr. Im Garten betreute ich ein eigenes Beet, das ich mit Gartenkresse bepflanzte. All das hat mir schon gefallen.

Aber da waren immer wieder Momente, die mich kränkten. Meine Schwestern hatten bereits in jungen Jahren eine Vorliebe für Handarbeiten. Sie häkelten, strickten, stickten und nähten gern, womit ich mich überhaupt nicht anfreunden konnte. Ich zog es vor, im Sommer ins Schwimmbad zu gehen, wovon meine Geschwister wiederum gar nichts hielten. Meine Mutter wunderte sich nur, wie ich bei gleicher Erziehung doch so ganz andere Interessen haben konnte. Offensichtlich stellte ich mich bei den Handarbeiten auch recht ungeschickt an, sodass meine Mutter schließlich resigniert aufgab. Schon fühlte ich mich wieder schuldig, weil ich ihren Erwartungen in dieser Frage nicht entsprach.

Ich erwähnte bereits, dass mein Vater als Zimmermann auf dem Bau arbeitete. Als Hauptverdiener stellte er seine Arbeit über alles andere. Deshalb war er auch selten zuhause. Ich habe ihn als Kind sehr vermisst. War er einmal daheim, so kümmerte er sich weniger um mich als um sein Hobby. Das waren seine Haustiere. Ich fühlte mich von ihm vernachlässigt. In dem Zusammenhang erinnere ich mich an einen meiner Geburtstage. Es war der zwölfte. Von Herzen wünschte ich mir, er möge sich wenigstens an diesem Tag einmal für mich Zeit nehmen, so wie das in der Vergangenheit doch zumindest hin und wieder der Fall gewesen war. Aber was bekam ich von ihm zu hören? “Soll ich neben dir sitzen und etwa Händchen halten?”

Diese Bemerkung hat mich zutiefst verletzt und zugleich verunsichert, denn ich kam in meiner kindlichen Naivität zu dem Schluss: Ein vertrautes Nebeneinandersitzen ist also ein Zeichen von Schwäche. Schwäche aber darf man nicht zeigen. Erst viel später habe ich erfahren, wie heilsam und wohltuend es sein kann, wenn jemand da ist, der in einer schwierigen Situation die Hand hält. Wer mir dafür die Augen öffnete, war ein Sanitäter, der mich in späteren Jahren nach einem verheerenden Wohnungsbrand betreute. Er zeigte mir, dass man getrost auch einmal schwach sein darf. Doch bis zu dieser Erkenntnis durchlebte ich noch so manch psychisches Tief.

Dass ich als Kind nicht auch einmal schwach sein sollte, hatte ich mir zum Teil selbst verordnet. Ich wollte pflegeleicht sein, keine Umstände machen. Darunter litt auch mein Verhältnis zu den Großeltern, die schon im fortgeschrittenen Alter waren, als mich meine Mutter gebar. Ich erlebte Oma und Opa nie als zweites Elternpaar wie meine beiden älteren Schwestern, die bei Oma und Opa auch mal in den Ferien weilten. Für mich hieß es immer nur schön leise und artig zu sein, wenn wir sie einmal besuchten.

Auch zu Hause hatte ich das Bedürfnis zu funktionieren, was nicht immer gelang. Meine Schwester Ronja drohte in solchen Situationen sogar mit den Worten: “Wenn du nicht machst, was unsere Mutter sagt, dann kommst du ins Heim. Für die Schule bekommst du dann einen alten Ranzen, den vor dir schon viele Kinder benutzt haben.” Die Angst, die mich bei ihren Worten beschlich, habe ich regelrecht verinnerlicht. Selbstvertrauen und Selbständigkeit blieben auf der Strecke, zumal ich keine Aufgaben, keine Verantwortung bekam, woran ich hätte wachsen können. Ich wurde ganz einfach nicht mit in die häusliche Verantwortung einbezogen. Kein Wunder, dass dann im Ernstfall auch manches danebenging. Als ich 15 war - meine Schwestern waren schon lange verheiratet und aus dem Haus - wurde meine Mutter eines Tages krank, sodass sie im Haushalt meine Hilfe brauchte. Wir hatten Wäsche und die musste auf die Leine, die zunächst zu spannen war. Dabei stellte ich mich offenbar sehr tollpatschig an. Warum? Ich stand vorher nie vor einer solchen Aufgabe. Weder war mir das Spannen einmal gezeigt noch das Wäscheaufhängen übertragen worden. Also ging es bei der ersten Bewährungsprobe schief, wofür mich meine Mutter in rauem Ton anherrschte. “Du bist aber auch zu allem zu dämlich”, sagte sie wörtlich.

Ich erinnere mich so genau an diese Situation, weil mir ihre schroffen Worte sehr wehgetan haben. Es war weniger ihre Kritik, die mich verletzt hatte, wohl aber ihre Wortwahl, denn dadurch fühlte ich mich für die häusliche Arbeit als unfähig abgestempelt.

Doch drehen wir die Zeit erst einmal wieder bis zur Einschulung zurück. Ich sagte schon, dass mir das Erlebnis Kindergarten versagt blieb. Dabei wäre ich zumindest das letzte Jahr vor Schulbeginn gern dorthin gegangen, um mit Gleichaltrigen zusammen zu sein. Aber meine Mutter wollte das nicht. So hatte ich es als de facto Einzelkind zunächst schwer, mich in den Schulalltag einzugewöhnen und allein in der Außenwelt zurechtzufinden. Als dann eines Tages die Werklehrerin auch noch sagte “Dass du nicht im Kindergarten warst, merkt man, denn du bringst nichts”, deprimierte mich das sehr. Glücklicherweise fand ich Trost bei Luise, einem freundlichen und aufgeschlossenen Mädchen, mit dem ich in der ersten Klasse zusammensaß. Unser Klassenleiter hatte das so veranlasst. Ich sollte durch Luise etwas lebhafter und sie durch mich etwas ruhiger werden. Das hat so gut funktioniert, dass wir bald Freundinnen wurden und uns auch gegenseitig zu Hause besuchten. Meinen Eltern und Schwestern gefiel das Mädchen mit seiner offenen Art ebenfalls gut, sodass sie unsere Freundschaft unterstützten. Gemeinsam lernten wir das Radfahren, was uns beiden viel Spaß machte. Ebenso das Federballspiel. In unseren gemeinsamen Stunden kam aber auch die Schule nicht zu kurz. So half mir Luise bei den Matheaufgaben, da mir dieses Fach nicht so sehr lag.

Anders verhielt es sich mit Deutsch, einem Fach, dem ich zugetan war. So schrieb ich später gern Aufsätze, liebte Bücher und erfand sogar kleine Fantasiegeschichten. Auch Musik mochte ich. Eine Zeitlang gehörte ich dem Schulchor an. Insgesamt war ich keine schlechte Schülerin. Das bewies auch der erfolgreiche Abschluss der Mittelschule, die ich 1992 mit der Mittleren Reife verließ.

Probleme hatte ich allerdings mit dem Sport. Wenn ich eine Übung nicht so brachte wie die anderen, lachten mich die Jungen aus, was mich natürlich grämte, zumal ich nicht so schlank und hübsch war wie die übrigen Mädchen. Obendrein ließ es auch mein Sportlehrer unpädagogischerweise nicht an Sticheleien fehlen. Dass der Sport für jemanden wie mich gar nicht so ein Alptraum sein musste, erlebte ich später in der Berufsschule während meiner Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel. Zuerst war ich auch hier mit dem Sportlehrer so gar nicht glücklich, ja ich hasste ihn sogar, denn er ließ mich so lange über den Bock springen, bis mir der Sprung gelang. Als ich es dann geschafft hatte, machte das Gefühl des Hasses auf den Lehrer und das Sportgerät einem in diesem Unterricht bisher nicht gekannten Gefühl Platz: Ich war richtig stolz auf mich und meine Leistung und meinem Sportlehrer dankbar für seine Hartnäckigkeit, hatte er mir doch damit zu einem Stückchen Selbstvertrauen, das mir so sehr fehlte, verholfen. Herr Schön freute sich mit mir und sagte nur: “Na, jetzt ist die Angst weg und nun kann es nur noch besser werden.”

Bilanziere ich im Nachhinein meine Kindheit und das Heranwachsen zur Jugendlichen, so fällt das Ergebnis differenziert aus. Wenn ich davon berichtete, dass ich im Elternhaus und auch in den Augen meiner älteren Schwestern immer die Kleine war, der man zu wenig Eigenständigkeit zubilligte, was mich unsicher und auch zu nachgiebig gegenüber anderen machte, so war das ein Handicap, das mir im späteren Leben sehr zu schaffen machte. Dennoch wäre das als Kindheitsbilanz zu einseitig. Mir wurden wie meinen Schwestern durch die Eltern auch Werte vermittelt. Dazu zähle ich eine gehörige Portion Bescheidenheit und auch die Fähigkeit, einmal auf etwas verzichten zu können, ohne gleich unglücklich zu werden. Glücklich kann auch machen, für andere da zu sein, ihnen zu helfen. Gerade das praktizierten mir gegenüber meine Eltern, aber auch meine Geschwister, als ich in den Jahren 1998/99, die die schwersten meines Lebens waren, fast verzweifelt wäre. Doch davon später.

 

2. Mit sechzehneinhalb die erste Liebe, die Weichen stellte

Ich war 16 Jahre alt und besuchte die Klasse 10 der Mittelschule. In dem Alter denkt man natürlich nicht nur ans Lernen, sondern auch mal ans Vergnügen. Deshalb freute ich mich sehr, als mir meine Eltern erlaubten, im Nachbarort die Disko zu besuchen. Von meinem Vater bekam ich dafür sogar ein kleines Taschengeld. Natürlich fehlte es nicht an mahnenden Worten, mich vor dem Werben der großen Jungs in Acht zu nehmen. Dabei ging es mir wie meiner Freundin damals tatsächlich nur ums reine Tanzvergnügen. Deshalb tanzten wir oft auch nur miteinander. Doch Vati war wachsam und holte uns vorsichtshalber meist vor Mitternacht mit dem Auto vom Tanzsaal wieder ab, so wie er uns vorher dorthin chauffiert hatte.

Am 7. März 1992 - wir vergnügten uns wieder einmal in der Disko - stellte das Schicksal seine Weichen. Plötzlich forderte mich ein junger, gut aussehender Mann zum Tanzen auf. Ich war ganz erstaunt darüber, was sicher meinem mangelnden Selbstbewusstsein geschuldet war. Meine Schüchternheit ging so weit, dass ich schon glaubte, für mich werde sich niemals ein Mann interessieren und mein Los sei es, allein durchs Leben zu gehen. Ich sah mich schon im Kloster. Diese Meinung war bei mir zur Fiktion geworden, hatten andere Mädchen doch bereits in der 8. oder 9. Klasse einen festen Freund. Nun gab mir sein Lächeln und die Aufforderung zum Tanzen geradezu ein bisher nicht gekanntes Lebensgefühl, zumal er um einiges älter war als ich. Junge Mädchen stehen ja bekanntlich auf ältere und damit reifere Männer. Später erfuhr ich, dass unser Altersunterschied immerhin acht Jahre betrug. Umgekehrt musste ich aber auch älter auf ihn gewirkt haben, als ich war, denn er wunderte sich, dass ich noch zur Schule ging. Nach einigen Tänzen lud er mich zu einer Cola mit Wodka ein. Bei mir hatte es gefunkt, bei ihm offenbar auch, denn wir verabredeten uns für das nächste Wochenende wieder am Ort unserer ersten Begegnung. Erstaunt waren wir beide, als sich herausstellte, dass wir im selben Ort wohnten. Begegnet waren wir uns aber vorher noch nie. Nun kannte ich seine Adresse und so konnte ich ihm auch schreiben, was ich gern tat, und auf diesem Wege Verabredungen arrangieren. Einmal verabredeten wir uns auf einem Feld, das zwischen unseren Wohnstätten auf halbem Wege lag. Später machten wir lange Spaziergänge. Wir unterhielten uns angeregt über alles Mögliche.

Jörg, der zurzeit unseres Kennenlernens gerade eine Umschulung zum Industriemechaniker absolvierte, begnügte sich zunächst auch damit. Ihm war ebenfalls eine gewisse Schüchternheit eigen. Nie hätte ich gedacht, dass ich für ihn mit seinen 24 Jahren das erste Mädchen sein könnte wie er für mich der erste Mann. Vielleicht wollte er aufgrund des Altersunterschieds auch nicht als Verführer minderjähriger Mädchen erscheinen. Jedenfalls gab es zunächst nicht einmal einen Kuss. Ja selbst das Händchenhalten geschah erst später.

Mitunter ging ich zu ihm in den Garten. Dort spielten wir Federball oder beschäftigten uns mit meinen bevorstehenden Prüfungen. Mehr passierte nicht. Dafür sorgte schon meine Mutter, die sehr auf meine Garderobe achtete, insbesondere darauf, dass nicht zu viel Bein zu sehen war. Die Nachbarn könnten ja gucken, zumal wenn seine Eltern wieder einmal verreist waren, was nicht selten geschah. Jörg hatte eine in Bayern wohnende neun Jahre ältere Schwester und einen 16 Jahre älteren Bruder mit Wohnsitz im Vogtland, also Geschwister mit ebenfalls großem Altersunterschied.

Am Himmelfahrtstag 1992 saßen wir wieder einmal im Garten über meinem Prüfungsstoff. Da ereignete sich etwas, was mich eigentlich hätte hellhörig machen müssen.

Plötzlich stand Jörgs Mutter vor uns, um ihrem Sohn die Wohnungsschlüssel zu übergeben. Sie wollte mit ihrem Mann spazieren gehen. Soweit so gut. Doch hatte ich mir die erste Begegnung mit seiner Mutter etwas anders vorgestellt. Für sie war ich gewissermaßen Luft, denn sie würdigte mich keines Blickes. Es bedurfte erst der Worte ihres Sohnes: „Darf ich euch bekanntmachen? Das ist meine Freundin …“, bevor sie überhaupt von mir Kenntnis nahm. Nach ihrer Rückkehr vom Spaziergang zeigte sie sich jedoch von einer anderen Seite. Am Kaffeetisch überbot sie sich an Freundlichkeit. „Ach, hätte ich gewusst, dass Sie heute kommen, hätte ich doch eine Fruchttorte gebacken. So aber kann ich Ihnen nur einen einfachen Rührkuchen vorsetzen.“ Echt war ihre Verhaltensänderung aber offenbar nicht, denn sie betonte sehr stark das förmliche „Sie“, so, als wolle sie zum Ausdruck bringen: „Wenn wir jetzt auch gemeinsam am Tisch sitzen, gehörst du damit noch lange nicht zu uns.“ Auch in Zukunft blieb diese Distanz mir gegenüber, gemischt mit einem Schuss Heuchelei, bestehen. Erst nach mehr als einem Jahr bot sie mir das Du an. Und das auch nur, um mit ihrer Tochter in dieser Frage gleichzuziehen. Trotzdem sprach sie mich auch danach noch wiederholt mit Sie an, was mich ihr gegenüber natürlich immer wieder hemmte.

Auch mit meinen Eltern wollte sie selbst nach unserer Hochzeit am liebsten beim Sie bleiben. Alles in allem keine guten Voraussetzungen für ein harmonisches Familienleben. Doch die Kraft, rechtzeitig die Weichen zu stellen, hatte ich nicht, zumal die Liebe zu Jörg so manches verklärte, was dessen Eigenheiten betraf.

Wenn wir nicht zusammen sein konnten, schrieben wir uns, denn über ein Telefon verfügten wir damals noch nicht, ganz zu schweigen von Handys, die für junge Leute heute längst eine alltägliche Selbstverständlichkeit sind. Zuhause war ich für das Postholen zuständig. Das erlaubte mir, die Briefe meines Freundes abzufangen, bevor meine Eltern stutzig werden konnten. Sie wunderten sich nur, dass ich ständig Nachschub an Briefmarken brauchte. Schließlich erfuhren sie aber doch etwas mehr über meinen Freund, vor allem durch die Großmutter meiner Freundin. Meine Eltern beunruhigte, dass er schon 24 Jahre alt war. „Dass ihr mir ja nicht auf dumme Gedanken kommt! Du weißt schon, was ich meine“, sprach mir meine besorgte Mutter ins Gewissen. Doch so weit waren wir noch lange nicht. Wir waren uns einig, uns dafür Zeit zu lassen, zumal ich noch recht jung war.

Nach ungefähr acht Wochen tauschten wir den ersten Kuss. Für ihn war es der schönste Kuss, den er bisher erlebt hatte.

So seine Worte danach. Für mich kaum vorstellbar, dass er mit seinen 24 Jahren in der Liebe genauso wie ich noch recht unerfahren sein sollte. Dass dem so war, hatte etwas mit seiner religiösen Erziehung zu tun. Den Sommer verbrachten wir mit Spaziergängen und kleinen Ausflügen. Vorher hatte ich meine 10-jährige Schulzeit mit der Mittleren Reife beendet. Im Herbst 1992 begann ich eine Berufsausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel in der Fachrichtung Schuhe und Textil. Auch im privaten Bereich gab es für mich in diesem ersten Ausbildungsjahr eine Veränderung: Ein Jahr nach unserem Kennenlernen - der Kalender zeigte den 7. März 1993 - verlobten wir uns. Es war Jörgs Idee, der ich sofort zustimmte, sah ich darin doch ein bedeutendes Zeichen seiner Liebe zu mir. Erst später erkannte ich, dass er im Grunde genommen nur sein Gewissen beruhigen wollte, sich mir nun endlich auch körperlich ganz nähern zu können. Diese Denkweise hatte etwas mit dem Einfluss der Neuapostolischen Kirche zu tun, die auch in meinem Leben noch eine entscheidende und zugleich verhängnisvolle Rolle spielen sollte.

Im Juni 1995 schloss ich mit Erfolg meine Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel ab. Leider wurde ich von meinem Ausbildungsbetrieb nicht übernommen.

Ein Lehrling ist für einen Betrieb eben ein viel kleinerer Kostenfaktor als eine ausgebildete Fachkraft. Nun schrieb ich fleißig Bewerbungen. Im November 1995 klappte es endlich bei Schlecker, allerdings nur als Vertretungskraft für eine erkrankte Mitarbeiterin. Ich war aber erst einmal froh, einen richtigen Arbeitsplatz als Fachverkäuferin zu haben. Auch im Kreis der Kolleginnen und Kollegen fühlte ich mich wohl.

Im August besagten Jahres verbrachten wir den ersten gemeinsamen Urlaub an der Ostsee. Ich freute mich riesig darauf und hoffte, dass auch mein Verlobter die Zweisamkeit so richtig genießen werde. „Genießen könnt ihr alles, aber passt auf, dass ihr nicht zu dritt aus dem Urlaub zurückkommt“, warnte meine Schwester Mareike vor Antritt unserer Reise. Doch diese Warnung war eigentlich überflüssig, denn im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit meines Freundes stand weniger ich, dafür umso mehr seine Kirche. Die Hausregeln schrieben ihm vor, sich zu Hause von seinem Kirchenort abzumelden und sich gegen Vorlage eines Ausweises am Urlaubsort anzumelden. Bei diesen Formalitäten blieb es aber nicht. Seine Mutter hatte schon vorgesorgt und beim Packen seines Koffers natürlich auch an den schwarzen Anzug für die Kirchgänge gedacht. So richteten sich unsere Aktivitäten im Urlaub streng nach den Gottesdienstzeiten. Ich begleitete ihn regelmäßig in die Kirche. Was sollte ich allein in einer fremden Umgebung auch tun?

Wie romantisch hatte ich mir unsere traute Zweisamkeit ohne Else, meine potentielle Schwiegermutter, im Rücken vorgestellt! Doch er wollte von körperlicher Nähe nichts wissen - wegen der fremden Umgebung, wie er vorgab. Es entsprach jedoch ganz den Vorstellungen seiner Kirche, die voreheliche Beziehungen ablehnt. So blieben die von mir erhofften Schäferstündchen leider ein unerfüllter Wunsch.

Kurz nach unserem Urlaub verstarb sein Vater Gerd. In dem Zusammenhang ließ mich Mutter Else wieder einmal fühlen, dass ich in der Familie mehr oder weniger nur geduldet war. Obwohl ich bei ihr regelmäßig ein und aus ging, wurde ich in der Todesanzeige mit keinem Wort erwähnt. An diesem Grundverhältnis hat sich auch später nichts geändert, selbst dann nicht, als ich Mitglied ihrer Kirche geworden war.

Meine Krankheitsvertretung bei Schlecker endete im Januar 1996, was ich sehr bedauerte. Verabschiedet wurde ich mit einer ausgezeichneten Beurteilung, die ich den nun wieder notwendig gewordenen neuen Bewerbungen als Empfehlung beilegte.

Das bewahrte mich aber dennoch nicht vor wiederholter Arbeitslosigkeit. In dieser Situation und der dadurch bedingten Leere begann ich, mich allmählich für die NAK zu interessieren. Dabei half seine Mutter Else auf geschickte Weise nach. So ließ sie von Zeit zu Zeit immer mal ihre Kirchenzeitschriften auf dem Tisch liegen, sodass ich schließlich anfing, darin zu blättern. Die dargelegten Glaubenserfahrungen beeindruckten mich. Sicher spielte dabei auch meine Arbeitslosigkeit eine Rolle, suchte ich doch nach Halt, nach einer neuen Orientierung für mein Leben. Außerdem hoffte ich, die gemeinsamen Kirchgänge mit Jörg würden unsere Beziehung festigen. Dass dem allen später ein böses Erwachen folgen sollte, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

 

3. Die Neuapostolische Kirche und ihr Einfluss auf die Mitglieder

Die Neuapostolische Kirche (NAK) versteht sich als „eine international verbreitete christliche Glaubensgemeinschaft… Sie bietet eine ansprechende, zeitgerechte Seelsorge für ihre Mitglieder auf der Grundlage des Evangeliums Jesu Christi.“ So nachzulesen auf ihrer Homepage[3].

In Deutschland zählt sie nach eigenen Angaben knapp 340.000 Mitglieder in 1.700 Gemeinden. Nach der evangelischen und katholischen Kirche sowie der islamischen Bewegung ist sie die viertgrößte Religionsgemeinschaft in der Bundesrepublik. Weltweit, so heißt es auf dieser Homepage, bekennen sich über neun Millionen zu ihr. Ihr Vorläufer war die Katholisch-Apostolische Kirche, die als Bewegung Ende der 20er Jahre des 19. Jh. in England entstand und sich später in Gestalt eigenständiger Gemeinden mit Aposteln an der Spitze nicht nur auf der britischen Insel, sondern auch in Deutschland, Holland und Russland etablierte. Damals gerieten viele Menschen durch die fortschreitende Industrialisierung mit all ihren Folgen für ihr Leben und eine durch den Siegeszug der Naturwissenschaften bedingte nüchterne Weltbetrachtung in eine Sinnkrise. Das führte zu Weltuntergangsstimmungen. So hatten es zahlreiche selbsternannte Propheten leicht mit Endzeitvisionen eine stattliche Klientel hinter sich zu scharen, denn sie versprachen Orientierung und Halt in einer „Gemeinschaft der Heiligen und Auserwählten“ gegen die feindselige „Welt da draußen“.[4]