Jörn Glasenapp

Realität, Kunst, Camp

Zu Luchino Viscontis Filmen

Listen üben seit jeher »einen unwiderstehlichen Zauber aus«, so behauptet es Umberto Eco, der in ihnen sogar nichts weniger als »ein(en) Ursprung der Kultur« zu erkennen glaubt.1 Auch, vielleicht sogar speziell im kinematografischen Feld spüren wir ihn, den Zauber, und er scheint ganz besonders mächtig zu sein, wenn es um eine ganz bestimmte Sorte von Listen geht – jene nämlich, die die Elemente, welche sie aufführt, nicht nur vom großen, ungenannt bleibenden Rest in positiv wertender Weise abgrenzt (und damit Kanon bildend wirkt), sondern darüber hinaus nach Güte hierarchisiert. Gemeint ist die Bestenliste, die, folgt man Paul Schraders Klage über den »bog of best-of polls (hundred best movie lines, hundred best movie songs, hundred best villains and heroes)«2, für die gegenwärtige Filmkritik eine Art Fetisch, zugleich aber auch einen Fluch darstellt, da sie die Qualität derselben, so Schrader, in bedenklicher Weise habe sinken lassen.

Vom Zauber der Bestenliste profitiert seit geraumer Zeit nicht zuletzt die renommierte britische Filmzeitschrift Sight & Sound, die bereits seit 1952 alle zehn Jahre eine Umfrage unter Hunderten von internationalen Filmkritikern durchführt, um aus ihr die – von Cineasten aus aller Welt stets mit größter Spannung erwartete – Liste der besten Filme aller Zeiten zu erstellen. In ihrem Initialjahr wurde Letztere von Vittorio De Sicas LADRI DI BICICLETTE (FAHRRADDIEBE, 1948) angeführt, was nicht weiter zu verwundern vermag, stellt man in Rechnung, dass der italienische Neorealismus, das heißt jene kinematografische Erneuerungsbewegung, als deren Haupt- und Kernwerk De Sicas Sozialdrama sogleich wahrgenommen wurde, zur damaligen Zeit (nicht nur) das westliche Nachkriegskino revolutionierte. 1962 – der Neorealismus hatte mittlerweile seine Distinktions- und Strahlkraft ein wenig eingebüßt beziehungsweise war bruchlos in die filmische Moderne übergegangen3 – stand LADRI DI BICICLETTE nur mehr auf dem siebten Rang, doch hatte es eine andere Inkunabel der Strömung in die Top Ten, und zwar auf den neunten Platz, geschafft: LA TERRA TREMA (DIE ERDE BEBT, 1948) von Luchino Visconti. André Bazin hatte dem über zweieinhalbstündigen, von »marxistische(r) Romantik«4 getragenen und ausschließlich mit Laienschauspielern besetzten Working-class-Epos seinerzeit einen hellsichtigen Essay gewidmet und Visconti in diesem Zusammenhang unter anderem zweierlei bescheinigt: erstens, »jene Entschlossenheit, den dramatischen Kategorien keinerlei Zugeständnisse zu machen«, und zweitens, »einen gefährlichen Hang zum Ästhetizismus«.5 »Dieser große Aristokrat«, der ob seiner kommunistischen Gesinnung später der »rote Graf« genannt werden sollte, sei, so der Kritiker weiter, ein »Künstler bis in die Fingerspitzen«6 oder aber, wie er es andernorts formuliert, »der größte ›Ästhet‹ unter den Neorealisten«7, was Bazin als der unangefochtene spiritus rector des Neorealismus, der er war, natürlich keineswegs als Lob verstanden wissen wollte.

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OSSESSIONE: Giovanna, umgeben von den Dingen

Bei LA TERRA TREMA handelt es sich um den zweiten Film Viscontis. Debütiert hatte er, der einstige Assistent keines Geringeren als Jean Renoir, 1943 mit OSSESSIONE (OSSESSIONEVON LIEBE BESESSEN), einer höchst eigenwilligen Adaption von James M. Cains Hard-boiled-Kriminalroman The Postman Always Rings Twice (1934). Bei deren Zuordnung gerät die Filmhistoriografie nach wie vor ins Schwanken: Ist der Regieerstling des Italieners nur Vorläufer oder bereits vollgültiger Repräsentant des Neorealismus? Dass Letzteres nicht selten bestritten wird, man es also dabei belässt, allein die Wegbereiterfunktion von OSSESSIONE zu würdigen, dürfte zu guten Teilen dem Wunsch geschuldet sein, eine strikte Grenze zwischen dem Neorealismus und dem Faschismus zu ziehen. Mit Roberto Rossellinis geraume Zeit nach dem Sturz Mussolinis entstandenen, den antinazistischen Widerstand feiernden ROMA, CITTÀ APERTA (ROM, OFFENE STADT, 1945) ist dies natürlich problemlos möglich, nicht aber mit einem Film, der noch im Italien des »Duce« entstand und dessen antifaschistische Haltung allein implizit formuliert wird.8 Und doch ist eine derartige Zurückhaltung bei der filmhistorischen Rubrizierung des Films völlig fehl am Platz, denn OSSESSIONE ist, wiewohl er durchaus konventionell im Sinne des Classical Cinema beziehungsweise Aktionsbilds einsetzt und gehörig auf Konventionen des Melodrams zurückgreift, letztlich neorealistisch durch und durch. Wer diesbezüglich Zweifel hegt, der schaue sich jene zu Recht viel gerühmte Szene an, die uns Giovanna (Clara Calamai), die Femme-fatale-Heldin des Films, präsentiert, wie sie völlig erschöpft inmitten von schmutzigem Geschirr und Essensresten einen Teller Suppe löffelt und dabei apathisch in eine Zeitung starrt. In erzählökonomischer Hinsicht ist die Szene nahezu vollständig befreit, da sie zum Handlungsfortgang nichts Nennenswertes beiträgt. Doch Viscontis Meisterschaft, über die Mise en Scène ein hochorganisches Beziehungsgefüge zwischen den Menschen und den sie umgebenden Räumen und Dingen zu schaffen, bei dem die Menschen nicht selten verloren zu gehen beziehungsweise zu Gefangenen zu werden drohen,9 wird hier bereits unmissverständlich angezeigt; von der später noch geradezu legendär werdenden Detailversessenheit des Regisseurs einmal ganz zu schweigen.

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Große Oper in SENSO

Zum Zeitpunkt, als die Sight & Sound-Bestenliste zum zweiten Mal erschien, im Jahr 1962, galt Visconti, der sich neben seiner Filmkarriere auch ausgiebig und erfolgreich als Opern-, Ballett- und Theaterregisseur betätigte,10 längst als Größe des italienischen Kinos, von der Reputation her irgendwo zwischen Federico Fellini, Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini und Roberto Rossellini stehend. Dies hatte er zumal ROCCO E I SUOI FRATELLI (ROCCO UND SEINE BRÜDER, 1960) zu verdanken, seinem zweiten großen, unter anderem in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichneten Arbeiterepos, dem immer wieder die Wucht einer griechischen Tragödie nachgesagt wird und das wie Pasolinis ACCATTONE (ACCATTONEWER NIE SEIN BROT MIT TRÄNEN ASS, 1961) die sozial engagierte Spielart des Spätneorealismus beispielhaft repräsentiert.11 Freilich war es nicht dieser Film, der wegweisend für Viscontis weiteren Werdegang werden sollte, sondern SENSO (SEHNSUCHT, 1954), ein in der Zeit des Risorgimento, dem Befreiungskampf Italiens, spielendes Supermelodram um mehrfachen (Liebes-)Verrat, das als radikaler Bruch mit dem Neorealismus wahrgenommen wurde. Als erster Farbfilm im Œuvre des Regisseurs, der dessen Begeisterung für die Oper sowohl im Sujet als auch in der Inszenierungsweise erstmals in großem Stil explizit macht,12 bietet SENSO, und zwar in Reinform, bereits all das auf, was wir heutzutage mit dem Namen Visconti verbinden: die überbordende visuelle Opulenz, die Dekorexzesse, das opernhaft Theatrale, die langen Einstellungen, die eleganten Kameraschwenks und -fahrten, die aufs Genaueste abgezirkelten, immer wieder ostentativ an der Malerei orientierten Kadragen sowie die von Melancholie getragene Fokussierung auf Epochenumbrüche beziehungsweise das Ende aristokratischer, der Dekadenz anheimgefallener Lebenswelten, die ihre berauschende Pracht im Vergehen, das heißt als »beauty that must die«13, nur umso spektakulärer entfalten. Und vor allem: Mit SENSO findet Visconti jenes Genre, das zu seiner Domäne werden sollte – den Historien- und Kostümfilm.14

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IL GATTOPARDO: Der wind of change kündigt sich an

Um einen solchen handelt es sich auch bei jenem Werk, auf das SENSO so unübersehbar vorausweist und mit dem Visconti die, so Gilles Deleuze, »volle Meisterschaft«15 seiner Kunst erreichte: IL GATTOPARDO (DER LEOPARD, 1963). Basierend auf Giuseppe Tomasi di Lampedusas 1958 posthum erschienenen gleichnamigen Romanbestseller, stellt auch dieser den historischen, dem Adel und seiner aristokratischen Lebensform ein Ende bereitenden wind of change des Risorgimento ins Zentrum, wobei ihm der Regisseur bereits in der Eingangssequenz über die so ungemein bildwirksam wehenden Spitzenvorhänge einen ebenso subtilen wie sinnfälligen Ausdruck zu geben vermag.16 Am Schluss, in der virtuos choreografierten, nicht enden wollenden Ballsequenz, die vielen als größter Geniestreich des Regisseurs gilt, tanzt die sizilianische Aristokratie mit dem aufstrebenden Bürgertum – kritisch und zugleich wehmütig beobachtet von einem ihrer größten Repräsentanten, dem von Burt Lancaster trefflich verkörperten alternden Fürsten von Salina. Er, der titelgebende »Leopard«, der weiß, dass nach ihm nur mehr Schafe, Schakale und Hyänen kommen werden, macht sich hinsichtlich des unmittelbar bevorstehenden Abtretens seiner Klasse von der Bühne der Welt keine Illusionen. Entsprechend erkennt er, was er sieht: einen Danse macabre des Alten. Nur im Vorbeigehen sei angemerkt, dass in der nach wie vor jüngsten Sight & Sound-Bestenliste aus dem Jahr 2012 IL GATTOPARDO auf dem 57. Platz steht – als einziges Werk des Regisseurs, das unter den ersten hundert Filmen firmiert.17 Natürlich sollte man dies nicht überbewerten, doch ein Indiz dafür, dass Viscontis Schaffen bei der Kritik schon mal deutlich höher im Kurs stand, ist es allemal.

»Luchino Visconti (ist) der Poet des Zerfalls und des Todes, der filmische Visionär der Zerstörung und des Niedergangs von Menschen und Mentalitäten, von Gesellschaft, Klasse, Kultur.«18 Was Norbert Grob vermerkt, bestätigt IL GATTOPARDO, vor allem aber die sogenannte »Deutsche Trilogie«, bestehend aus LA CADUTA DEGLI DEI (DIE VERDAMMTEN, 1969), MORTE A VENEZIA (TOD IN VENEDIG, 1971) und LUDWIG (LUDWIG II, 1972). Kolportagenhaft erzählt und mit Anleihen unter anderem bei Thomas Mann, Aischylos und Shakespeare, behandelt ihr Auftakt den Untergang einer durch und durch dekadenten deutschen Großindustriellendynastie im Dritten Reich. Indigniert sprach Saul Friedländer von einem »›Grand Opera approach‹ an die Nazizeit«19 und Susan Sontag von einer – noch dazu langweiligen – »Erotisierung des Faschismus«20. Anders dagegen Rainer Werner Fassbinder: Der bekennende Visconti-Verehrer war begeistert von dem, wie er behauptete, »deutschesten aller Filme«21, hat ihn sich nicht weniger als 30 Mal angeschaut22 und versuchte, mit seiner Nabokov-Adaption DESPAIREINE REISE INS LICHT (1978) auf ihn zu antworten.

Definiert man Camp mit Sontag als »Kunst, die sich ernst gibt, aber durchaus nicht ernst genommen werden kann, weil sie ›zuviel‹ ist«23, dann besteht kein Zweifel: LA CADUTA DEGLI DEI mit seinen Extravaganzen und grellen Manierismen ist Camp reinsten Wassers. Und auch Teil zwei und drei der »Deutschen Trilogie«, die behäbige, sich so offensiv gebildet gebende Verfilmung von Manns Tod in Venedig (1912) sowie das mit seinen vier Stunden Spielzeit wahrlich maßlose Biopic über Bayerns geheimnisumwitterten Märchenkönig, finden problemlos Platz unter diesem begrifflichen Dach, wobei LUDWIG mit seinem realitätsflüchtigen, ganz und gar lebensunfähigen Titelhelden (Helmut Berger), der die Ästhetisierung des Staates mithilfe der Kunst zu bewerkstelligen sucht, den, wenn man so will, Camp-Menschen par excellence ins Zentrum rückt. Keine Frage: Dass die Kritik dem späten Visconti mitunter attestierte, was dessen notorisch vereinsamte Protagonisten wie Ludwig und Gustav von Aschenbach zentral ausmacht, nämlich Weltabgewandtheit beziehungsweise -fremdheit, ist zwar durchaus nachvollziehbar, als ein gegen seine Filme in Stellung gebrachtes Argument aber natürlich nicht wirklich einschlägig.

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LUDWIG: Viscontis Ludwig II., der Camp-Mensch par excellence

Was die Abfolge der immer klaustrophobischer wirkenden, unaufhaltsam auf die Gefangensetzung und den anschließenden Tod seines Protagonisten zusteuernden fünf Teile von LUDWIG erkennen lässt, zeigt Viscontis Œuvre grosso modo als Ganzes: die zunehmende Verengung des Handlungsspielraums seiner Figuren, die mit einer Verengung des Handlungsraums einhergeht.24 Nicht zuletzt die weitgehende Tilgung des Außen, für das sich der Neorealismus, und auch jener Viscontis, noch so sehr interessiert zeigte, fällt hierbei ins Auge, in GRUPPO DI FAMIGLIA IN UN INTERNO (GEWALT UND LEIDENSCHAFT, 1974), aber auch in der letzten Arbeit des Regisseurs, L’INNOCENTE (DIE UNSCHULD, 1976), dessen überladenen Interieurs uns noch einmal einen mustergültigen Eindruck davon vermitteln, was die Forschung meint, wenn sie mit Blick auf Visconti vom »Gefängnis der ›Dinge‹«25 spricht. Wie fast alle Filme Viscontis basiert auch L’INNOCENTE auf einer literarischen Vorlage, und zwar dem gleichnamigen, 1892 erschienenen Roman des von den Faschisten gefeierten und geförderten Ästheten und décadents Gabriele D’Annunzio. Und wiewohl der Regisseur während des Drehs bereits im Rollstuhl saß, den Tod unmittelbar vor Augen, ist es, wie es Hans C. Blumenberg seinerzeit schrieb, »kein Film geworden, dem man mit Nachsicht begegnen muß«26. Im Gegenteil, es gelingt Visconti, was man nur von sehr wenigen Regisseuren behaupten kann: Er beschließt sein – mit 14 Spielfilmen im Übrigen vergleichsweise überschaubares – Filmschaffen mit einem gänzlich gelungenen Werk, bei dem er sich, anders als in seinen vorangegangenen Arbeiten, in erzählökonomischer Hinsicht strikte Disziplin auferlegte. Entsprechend fokussiert schreitet die Handlung ihrem fatalen Höhepunkt, dem Säuglingsmord, entgegen. Verübt wird dieser durch den Protagonisten, den Aristokraten Tullio Hermil (Giancarlo Giannini), der als moralischer Bankrotteur, wie ihn die Filmgeschichte nicht allzu zahlreich zu bieten hat, kurz darauf den Tod sucht und findet. Hierzu verlässt er den warmen Platz vor dem lodernden Kamin, öffnet die Flügeltüren zum Vorraum, tritt theatral in dessen Kälte und bezieht vor dem Fenster Stellung, um ins winterliche Weiß hinauszublicken. Aufs Sorgsamste gerahmt, richtet er schließlich den Revolver gegen die eigene Brust und drückt ab. L’INNOCENTE ist eine Feier des sinnlichen Reichtums und der maßlosen (äußerlichen) Schönheit der aristokratischen Welt, deren moralisch-ethische Leere und emotionale Kälte, vom Regisseur nachgerade unbarmherzig herausgestellt, uns staunen und schaudern machen. Als der Film, den man immer wieder zum Testament seines Schöpfers erklärt hat, seine Weltpremiere erlebte, am 15. Mai 1976 im Rahmen der internationalen Filmfestspiele von Cannes, war Visconti bereits knapp acht Wochen tot.

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L’INNOCENTE: Tullios theatraler Tod

1 Umberto Eco, »Unwiderstehlicher Zauber«, in: Der Spiegel (2009), H. 45, S. 164f., hier S. 164. — 2 Paul Schrader, »Canon Fodder«, in: Film Comment 42 (2006), H. 5, S. 33–49, hier S. 46. — 3 Vgl. hierzu Jörn Glasenapp, Abschied vom Aktionsbild. Der italienische Neorealismus und das Kino der Moderne, München 2013. — 4 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2 (1985), Frankfurt am Main 1991, S. 16. — 5 André Bazin, »LA TERRA TREMA« (1948), in: Ders., Was ist Film?, Berlin 2004, S. 327–334, hier S. 332. — 6 Ebd., S. 333. — 7 André Bazin, »Die Entwicklung der Filmsprache« (1955), in: Ders., Was ist Film?, Berlin 2004, S. 90–109, hier S. 106. — 8 Vgl. hierzu auch Henry Bacon, Visconti. Explorations of Beauty and Decay, Cambridge 1998, S. 26. — 9 Vgl. hierzu Mira Liehm, Passion and Defiance. Film in Italy from 1942 to the Present, Berkeley/Los Angeles/London 1984, S. 57; Bacon, Visconti (s. Anm. 9), S. 13 f. und S. 22; sowie Norbert Grob, »Vom Zauber ›vergegenwärtigter Vergangenheit‹. Luchino Viscontis ästhetischer Realismus in IL GATTOPARDO«, in: Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, hg. von Thomas Koebner und Irmbert Schenk, München 2008, S. 214–224, hier S. 223. — 10 Ein Verzeichnis der Inszenierungen bietet Geoffrey Nowell-Smith, Luchino Visconti (1967), 3. aktual. und erw. Aufl., London 2003, S. 243–246. — 11 Vgl. hierzu Glasenapp, Abschied vom Aktionsbild (s. Anm. 3), S. 54. — 12 Vgl. hierzu vor allem Hermann Kappelhoff, Realismus. Das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin 2008, S. 75–87; sowie ders., »Die Sinnlichkeit einer anderen Zeit. Zur Frage des Erinnerungsbildes in Viscontis Historien«, in: Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, hg. von Thomas Koebner und Irmbert Schenk, München 2008, S. 181–201, hier S. 187–194. — 13 John Keats, »Ode on Melancholy« (1820), in: Ders., The Poetical Works of Keats, Boston 1975, S. 126f., hier S. 127. — 14 Dass die Definition desselben notorisch schwer und es daher geraten ist, von einer Minimaldefinition auszugehen, die dem Genre »alle Filme (zurechnet), die eine Vergangenheit vergegenwärtigen, welche nicht der Zeitgeschichte angehört und nur noch über Medien der Gedächtnisbildung zugänglich ist«, wird betont in Matthias Bauer/Fabienne Liptay, »Einleitung«, in: Filmgenres. Historien- und Kostümfilm, hg. von dens., Stuttgart 2013, S. 9–31, hier S. 9. — 15 Deleuze, Das Zeit-Bild (s. Anm. 4), S. 131. — 16 Vgl. Marina May, »DER LEOPARD«, in: Filmgenres. Historien- und Kostümfilm, hg. von Matthias Bauer und Fabienne Liptay, Stuttgart 2013, S. 197–202, hier S. 198. — 17 Vgl. www.bfi.org.uk/films-tv-people/sightandsoundpoll2012/critics (letzter Zugriff am 29.05.2017). — 18 Grob, »Vom Zauber ›vergegenwärtigter Vergangenheit‹« (s. Anm. 10), S. 217. — 19 Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München 1986, S. 13. — 20 Susan Sontag, »Faszinierender Faschismus« (1974), in: Dies., Im Zeichen des Saturn. Essays, München 1981, S. 95–124, hier S. 119f. — 21 R. W. Fassbinder zit. nach Andreas Kilb, »Bestien sehen dich an. Eine Ausstellung über Luchino Viscontis ›deutsche‹ Trilogie«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.8.2003, www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/filmmuseum-berlin-bestien-sehen-dich-an-eine-ausstellung-ueber-luchino-viscontis-deutsche-trilogie-1113414.html (letzter Zugriff am 29.05.2017). In einem 1975 geführten Interview gab der Star des Neuen Deutschen Films Folgendes zu Viscontis Familienporträt zu Protokoll: »LA CADUTA DEGLI DEI ist vielleicht der größte Film überhaupt, ein Film, der meiner Ansicht nach für die Geschichte des Films ebenso bedeutend ist wie Shakespeare für das Theater.« Rainer Werner Fassbinder, »Ein neuer Realismus. Interview mit John Hughes und Brooks Riley«, in: Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, hg. von Robert Fischer, Frankfurt am Main 2004, S. 345–363, hier S. 358. — 22 Vgl. Rainer Werner Fassbinder, »Nur so entstehen bei uns Filme: indem man sie ohne Rücksicht auf Verluste macht. Ein Gespräch mit Wolfram Schütte« (1979), in: Ders., Die Anarchie der Phantasie. Gespräche und Interviews, Frankfurt am Main 1986, S. 129–140, hier S. 139. — 23 Susan Sontag, »Anmerkungen zu ›Camp‹« (1964), in: Dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt am Main 1995, S. 322–341, hier S. 331. — 24 Vgl. Bernd Kiefer, »Luchino Visconti«, in: Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien, hg. von Thomas Koebner, 3. aktual. und erw. Aufl., Stuttgart 2008, S. 788–795, hier S. 789. — 25 Ebd. — 26 Hans C. Blumenberg, »Viscontis UNSCHULD. Liebe, kälter als der Tod«, in: Die Zeit, 11.3.1977, www.zeit.de/1977/11/liebe-kaelter-als-der-tod (letzter Zugriff am 29.05.2017).

Daniel Illger

Was sein wird, ist und niemals war

LA TERRA TREMA im Konflikt der Zeitlichkeiten

I. Ein Dorf erwacht – die Eröffnungssequenz

Leere, nächtliche Straßen. Das Geläut von Kirchenglocken. Schemenhaft erkennt man Gestalten. Jemand pfeift ein melancholisches Volkslied. Über den Dächern der Häuser zeigt sich das erste Dämmerlicht; hinter manchen Türen und Fenstern brennt bereits eine Lampe.

Während der Vorspann läuft, fährt die Kamera langsam von links nach rechts, verweilt dann bei einem scheinbar beliebigen Flecken Dunkelheit, nur um nach einer Überblendung einen Schwenk in die entgegengesetzte Richtung zu vollziehen. Schließlich zeigt sie uns die matt erleuchtete Fassade einer Kirche. Der Glockenklang wird von langgezogenen, in der Stille hallenden Rufen abgelöst. Ein Mann fordert den anderen auf, sich zu beeilen, jetzt da der Tag begonnen habe. Der Angesprochene gibt Antwort. Eine lautstarke Unterhaltung entspinnt sich, die die Schritte der Männer und Frauen übertönt, die zu früher Stunde die Kirche besuchen. Seltsam losgelöst von dem, was man sieht, erscheinen dabei die rufenden Stimmen; ganz sicher gehören sie nicht den Kirchgängern, aber auch sonst zu niemandem, den uns die Kamera zeigen würde.

Dann, nachdem in großen Buchstaben der Name des Regisseurs eingeblendet wurde, erscheint ein Text, der die Zuschauer darüber unterrichtet, dass sich die Handlung des Films – oder vielmehr: die »fatti rappresentati«, die dargestellten Tatsachen – in dem sizilianischen Dorf Acitrezza (oder: Aci Trezza) zugetragen habe. Die Geschichte, die im Folgenden erzählt werde, sei eine Geschichte, die sich seit vielen Jahren überall auf der Welt ereigne, wo Menschen von anderen Menschen ausgebeutet werden. Des Weiteren erfährt man, dass die Darsteller des Films unter den Einwohnern von Acitrezza ausgewählt worden seien – Fischer, Mädchen, Hilfsarbeiter, Maurer, Fischgroßhändler –, die über keine andere Sprache als das Sizilianische verfügten, um ihrer Empörung, ihrem Schmerz, ihrer Hoffnung Ausdruck zu verleihen. Denn auf Sizilien sei das Italienische nicht die Sprache der Armen.

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Hafenszene in LA TERRA TREMA

Mit diesen Worten endet die Einblendung. Ein Schnitt erfolgt, und man sieht eine Uferstraße: die Fassade einer Kirche, nun deutlich erkennbar im Licht der aufgehenden Sonne; ein paar Platanen; eine Gruppe von Männern, die, wiederum von langgezogenen Rufen begleitet, über eine Steintreppe zum Strand hinabgehen. Die Männer kommen an Booten vorbei, die dort im Sand liegen und ihres Einsatzes harren. Dann öffnet ein Kameraschwenk den Blick auf das Meer: Aus dem stillen Wasser ragen die Felsen, die der Zyklop Polyphem dereinst auf Odysseus geschleudert haben soll, nachdem er von diesem geblendet wurde; in Ufernähe schaukelt eine Reihe von Booten auf den kaum merklichen Wellen; in ihnen sind Lampen entzündet, die den Fischern bei ihrer nächtlichen Arbeit leuchten.

Nun erklingt zum ersten Mal die Stimme des Erzählers, der die Zuschauer während der kommenden zweieinhalb Stunden begleiten wird: Wie immer sind die Fischhändler die ersten, die in Trezza ihr Tagwerk beginnen, so erklärt er mit sanftem Timbre und in makellosem Italienisch. Sie gehen schon zum Meer hinunter, wenn die Sonne noch nicht über das Capo Mulini gestiegen ist. Denn die Boote, die des Nachts hinausgefahren sind, kehren nun zurück und bringen die wenigen Fische, die man fangen konnte. Hier im Dorf, heißt es weiter, leben die Leute vom Fisch. Das war schon zu Großvaters Zeiten so. Desgleichen beim Vater; desgleichen bei den Enkeln.

So beginnt LA TERRA TREMA (DIE ERDE BEBT, 1948). Noch ehe die Mitglieder der Familie Valastro, die im Mittelpunkt der Handlung steht, vorgestellt werden, inszeniert Luchino Visconti das Erwachen des Dorfes, das – zusammen mit dem Strand und der Küste und den Felsen, die es umgeben – der einzige Handlungsort seines Films ist. Die geschilderte Eröffnungssequenz mag recht unscheinbar daherkommen. Dennoch lohnt es sich, bei ihr zu verweilen. Tatsächlich verweist jedes der beschriebenen Elemente auf einen Aspekt der komplexen und durchaus widersprüchlichen Poetik von LA TERRA TREMA. Das gilt für die Bilder des dämmrigen, von Glockengeläut und Rufen durchdrungenen Dorfes ebenso wie für den eingeblendeten Text, die Stimme und die Worte des Erzählers und die wehmütige Poesie der Inszenierung, die uns die erleuchteten Boote zeigt, wie sie im Zwielicht zwischen den uralten Felsen schwimmen.

Ich will nun versuchen, mich LA TERRA TREMA in einer filmanalytischen Perspektive anzunähern. Aus der Eröffnungssequenz lassen sich, wie angedeutet, verschiedene inszenatorische Prinzipien ableiten, die ich im Folgenden mit den Schlagworten Neorealismus, Agitprop und Mythos verbinde. Eine eingehende Betrachtung dieser inszenatorischen Prinzipien soll es mir wiederum erlauben, die Ästhetik konfligierender Zeitlichkeiten aufzuschlüsseln, die, so meine These, den Kern der Poetik von LA TERRA TREMA bildet.

Zunächst aber möchte ich kurz die Handlung des Films ins Gedächtnis rufen: Die Hauptfigur ist der junge Fischer Ntoni Valastro (Antonio Arcidiacono). Die Valastros unterscheiden sich in nichts von den übrigen Fischerfamilien des Dorfes: Sie verkaufen ihre Ware an die Großhändler, die die eigentlichen Nutznießer der allnächtlichen Ausfahrten sind. Im Gegensatz zu den anderen Männern Trezzas sieht Ntoni die Ungerechtigkeit dieses Systems nicht nur; er beginnt auch, es zu hinterfragen. Schließlich vollzieht er den offenen Bruch mit den Großhändlern.

Bei einer ersten Konfrontation wirft er – gemeinsam mit anderen Männern, die er von seiner Haltung überzeugen konnte – eine Waage und Fische ins Meer. Daraufhin kommt er ins Gefängnis. Doch auf Betreiben der Großhändler selbst werden Ntoni und die restlichen Aufrührer bald wieder freigelassen: Man braucht die Fischer, um Profite zu machen. Ntoni erkennt nun, dass er und seine Kollegen nicht machtlos sind. Er zieht die Schlussfolgerung, dass seine Familie zukünftig bestrebt sein sollte, die Früchte der eigenen harten Arbeit zu ernten. Zunächst scheint sein Plan zu funktionieren: Er nimmt eine Hypothek auf, um gewissermaßen ein eigenes Fischereiunternehmen gründen zu können. Schon nach kurzer Zeit gehören die Valastros zu den Reichen im Dorf. Doch dann gerät das Boot der Familie in einen Sturm und wird zerstört. Ntoni und den Seinen fehlt das Geld, um das Boot reparieren zu lassen oder ein Neues zu kaufen.

Nun beginnt der steile Abstieg der Valastros: Niemand will den Mitgliedern der Familie Arbeit geben. Das Geld wird knapp und knapper. Cola (Giuseppe Arcidiacono), Ntonis jüngerer Bruder, folgt den Versprechungen eines zwielichtigen Fremden und verlässt heimlich das Dorf. Der Großvater erkrankt und muss ins Hospital eingeliefert werden. Lucia (Agnese Giammona), eine der Schwestern Ntonis, wird die Geliebte des Dorfpolizisten und steht bald im Ruf einer Prostituierten. Nedda (Rosa Costanzo), die Ntoni eigentlich heiraten wollte, verlässt ihn, nachdem er ins Unglück gestürzt ist, und tut sich mit dem Sohn eines Großhändlers zusammen. Schließlich verliert die Familie ihr Haus, und am Ende ist Ntoni gezwungen, erneut als Fischer anzuheuern – unter Spott und Hohngelächter erklären sich die Großhändler bereit, ihm Arbeit zu geben.

II. Zwischen Neorealismus, Agitprop und Mythos

Bekanntlich ist LA TERRA TREMA einer der Filme, »an denen die Programmatik des Neorealismus durchbuchstabiert wurde«1. Nun hat der Neorealismus, wie andere filmhistorische Großerzählungen, seine Tücken. Mal erscheint er als Filmzyklus,2 mal als eine Bewegung,3 mal als »Teil einer ganz grundsätzlichen Hinwendung zum Realismus im Kino dieser Zeit, die eine Art und Weise lieferte, auf die Wirklichkeit des vom Krieg zerrissenen Italien und des Widerstands zu blicken und sie darzustellen«4, mal als »Ethik der Ästhetik«5, die sich durch die Weigerung auszeichnet, die Augen zu verschließen vor dem elenden Zustand der Welt.

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