Chantal Akerman stellt sich vor

Ein Vorwort

»Ich heiße Chantal Akerman. Ich bin in Brüssel geboren.« Schwarzbild. »Und das ist wahr. Das ist wahr.«1 Diese Sätze spricht die Regisseurin in frontaler Nahaufnahme, aus der sie uns mit ihren hellen grün-grauen Augen direkt anblickt. Es sind die letzten beiden Einstellungen des Selbstporträts CHANTAL AKERMAN PAR CHANTAL AKERMAN (1996) in der Reihe CINÉMA, DE NOTRE TEMPS, die Janine Bazin und André S. Labarthe damals gemeinsam verantworteten. Sie hatten Akerman, dem Format der Reihe folgend, für das Porträt eines Filmemachers oder einer Filmemacherin angefragt; daraus wurde ein Selbstporträt, produziert und ausgestrahlt von la Sept-Arte.2

Eigentlich hätte Chantal Akerman gerne ihre Filme »sprechen« lassen und einzig eine Montage von Filmbildern aus ihrem damaligen Œuvre präsentiert, so als wären es rushes, um aus ihnen einen neuen Film zu schaffen, der als ihr Selbstporträt gegolten hätte. Doch Bazin und Labarthe verlangten, dass man sie sehen und dass sie trotzdem auch über sich reden sollte: »Und da begannen die Schwierigkeiten«, denn: »Wie kann ich mit mir selbst das Interesse für mich wecken?«3 – so die Filmemacherin am Anfang der Sendung. Aber Vertrag ist Vertrag, und diesen wollte Akerman erfüllen.

Entstanden ist ein zweiteiliges Selbstporträt von 64 Minuten; im ersten Viertel spricht die Regisseurin von ihrem Zögern, ihren Zweifeln, ihren Ängsten und den Hindernissen, denen sie bei der Konzeption ausgesetzt war – oder besser: Sie liest Texte vor, die sie über diese Umstände verfasst hat; zuerst etwas zaghaft, dann zunehmend lebendiger, sich aber auch immer wieder selbst korrigierend. Mehrere längere Einstellungen zeigen sie vor einer Wand sitzend, rechts mit dem Ellbogen auf einen Tisch abgestützt, links ist im Mittelgrund ihr Computer, davor ein Stuhl und dahinter ein Fenster zu sehen, das auf das Nachbarhaus und einen Balkon mit roten Geranien blickt. Sie wendet sich an die Kamera, zuerst in halbnaher Aufnahme, dann in Nah- und zum Schluss in Großaufnahme. Meist ist sie allein im Bild, zu Beginn mit ihrem Hund. Dieser Teil wirkt wie ein stilisiertes »privates Interview«.4 Danach folgt eine Montage von ausgewählten Ausschnitten aus ihren Filmen, wie sie ihr vielleicht von Anfang an vorschwebte. Der erste Teil ist Fernsehen, der zweite Teil Kino; hier steht die Filmemacherin im Zentrum, dort sind es die Filme.

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CHANTAL AKERMAN PAR CHANTAL AKERMAN

Durch den persönlichen Stil sind die beiden Blöcke miteinander verbunden: lange, (beinahe) fixe Einstellungen, die sich in den Filmausschnitten zu langsamen, meist seitlichen Kamerabewegungen entwickeln können und dabei immer seltsam frontal bleiben. Dazu gehören auch die Unentschiedenheit zwischen Fiktion und Nichtfiktion und eine komplexe Spannung zwischen Nähe und Distanz, die von Blick und Standpunkt der Kamera nicht unabhängig sind und die ihr ganzes Werk durchziehen.

»Und zweifellos liebe ich mein Kino, vor allem dann, wenn ein anderer darüber spricht.«5 Bevor Akerman dies sagt, erzählt sie einen jüdischen Witz, in dem ein Mann auf dem Markt seine magere Kuh verkaufen will, das einzige, was er hat. Er beginnt, leise zu rufen: »Seht mal meine Kuh, meine Kuh ist eine Kuh, ist eine Kuh, ist eine Kuh…«6 Während die anderen Männer auf dem Markt ihre Kühe lauthals anpreisen und leicht verkaufen, bleibt er mit seiner abgemagerten Kuh zurück. Er mache das nur nicht richtig, sagt darauf ein anderer zu ihm und beginnt, die magere Kuh auszurufen: »Seht mal diese Kuh, sie macht so wunderschöne Filme usw. (…). Aber der andere in dieser Geschichte weiß genau, dass meine Kuh mager ist, und doch schafft er es, dass ich sie liebe. Viel ist dazu nicht nötig: Liebe sie, auch wenn sie mager ist, vor allem mager.«7

Chantal Akermans Auffassung, dass ihre Arbeit und ihre Filme erst durch den Blick und die Wertschätzung der anderen wirklich existieren, möchten wir mit den neun Beiträgen in diesem Heft Rechnung tragen. Mit NO HOME MOVIE (2015) hat sie sich von uns und von dieser Welt verabschiedet, aber ihre Filme gehören zum Kino unserer Zeit und bleiben ihm erhalten; sie preisen das Kino auf ganz besondere und nur ihnen eigene Weise, als ein »mageres« Kino, das Akerman liebte: »Sie macht(e) Filme, weil sie Filme macht(e), weil sie Filme macht(e), weil sie Filme macht(e)…«8

Margrit Tröhler und Fabienne Liptay

März 2017

1 »Je m’appelle Chantal Akerman. Je suis née à Bruxelles. Et ça, c’est vrai. Ça, c’est vrai.« Alle Zitate stammen aus dem filmischen Selbstporträt. — 2 Zwischen 1964 und 1972 hieß die Sendung CINÉASTES DE NOTRE TEMPS. 1989 nahm Arte (damals la Sept) das Format unter dem neuen Titel CINÉMA, DE NOTRE TEMPS wieder auf. Die Reihe wird bis heute von André S. Labarthe bei Ciné+ weitergeführt. — 3 »Et c’est là que les problèmes ont commencé.« »(…) comment m’interesser avec moi-même.« — 4 Durch die Stilisierung der Lektüre und durch den mehrfachen Wechsel vom »ich« zum »sie« nimmt dieses »private Interview« Brecht’sche Züge an. Vgl. Marie-Françoise Grange, »Le face à face«, in: L’autoportrait en cinéma, Rennes 2008, S. 85–90, hier S. 87 und S. 89f. — 5 »Et sans doute, j’aime mon cinéma, surtout quand c’est l’autre qui en parle.« — 6 »Voyez ma vache, ma vache est une vache, est une vache, est une vache.« — 7 »Voyez cette vache, elle fait de si beaux films, etc. (…) Mais l’autre dans cette histoire sait bien que ma vache est maigre, et arrive pourtant à me la faire aimer. Il n’en faut pas beaucoup: aime-la, même maigre, surtout maigre.« — 8 »Elle fait du cinéma, parce qu’elle fait du cinéma, parce qu’elle fait du cinéma, parce qu’elle fait du cinéma…«

Eric de Kuyper

Leben lernen, das Leben lehren

Chantal Akerman zur Einführung1

Gelegentlich gab Chantal Akerman in Paris, Brüssel und den Vereinigten Staaten Unterricht für angehende Filmemacher. Ich fürchte, dass ihre Studenten nicht allzu viel von ihr gelernt haben. Schließlich hielt sie selbst es nur einige Monate auf einer Filmhochschule aus, und so konnte man von ihr kaum erwarten, den dortigen Anforderungen entsprechend Regie zu lehren.

Mehr als von wem auch immer lernte ich von ihrer Art zu filmen, bei ihr habe ich »Film gelernt«. Und das auf sehr intensive Weise, ja auf die »hinterhältigste« Art, die es gibt: ohne zu begreifen, dass mir etwas beigebracht wurde, weil ich meinerseits den Eindruck hatte und diesen von ihr vermittelt bekam, dass ich sie etwas lehrte (was nicht ausgeschlossen ist, doch das lag dann auf einer anderen Ebene; man könnte es einen didaktischen Tauschhandel nennen).

»Wenn man einen Film macht, sollte man niemals etwas tun, was man nicht wirklich gerne tut, was einen nicht wirklich beschäftigt.« Doch was einen beschäftigt, liegt manchmal so tief verborgen, ist manchmal so intim und dadurch auch unbedeutend und trivial, dass man es sich selbst nicht einzugestehen wagt und darüber schon gar nicht einen Film drehen mag.

Wagen, sich einzugestehen, dass man besessen ist, so wie man es von Akerman sagen könnte: von Küchen zum Beispiel, der Lebenswelt der Hausfrau. Vielleicht gerade weil sie selbst keine Hausfrau ist, ist Akerman von der Anrichte fasziniert, von der Flamme eines Gaskochers (in SAUTE MA VILLE, 1968, ihrem ersten, im Alter von 18 Jahren gedrehten Film), von den weißen Kacheln, deren Weiß sich vom Gelb-Weiß der Wand abhebt (JEANNE DIELMAN, 1975), vom Küchentisch …

Lassen sich darüber Filme machen? Ja, warum auch nicht, wie JEANNE DIELMAN zeigt (einer der Klassiker der 1970er Jahre). Viel mehr als einfach nur ein Spielfilm: eine rasiermesserscharfe Analyse, ein trauriges Loblied auf die Küche und die Person, die mit ihr verbunden ist: die (Haus-)Frau.

»Du darfst nur tun, wozu du wirklich Lust hast«, sagte sie mir. »Wenn du als Theaterregisseur nur Stücke von Tschechow inszenieren willst, weil sie für dich das Schönste sind, was je für die Bühne geschrieben wurde, dann tu es.« So einfach war es für sie und auch so kompliziert. Denn solche radikalen Entscheidungen erfordern unglaublich viel Mut, und das in einem Beruf, der von dieser Tugend ohnehin schon einiges verlangt: den Mut der Verzweiflung.

Alles, was einen als Filmemacher nicht wirklich fesselt, muss man einfach beiseiteschieben, eliminieren (man denke an Robert Bresson, der sich für seine Arbeitsweise jedoch eine Art Alibi ausdachte, oder an den japanischen Regisseur Yasujiro Ozu). Doch das Problem besteht in dem Wagnis, zu erkennen, was einen wirklich fesselt. Es ist Mut nötig, um zu beschließen, dass es einen nicht interessiert, Filme über große Ideen wie das Leben, den Tod, die Gesellschaft, das Individuum zu drehen, sondern zum Beispiel lieber über … Küchen. Oder wie Marguerite Duras vorschlug: grüne Augen.

Dazu gehört viel Mut, doch Akerman würde sagen, dass das gar nicht stimmt, weil sie sowieso nicht anders kann. Darum geht sie immer von einer sehr elementaren Feststellung aus, gemäß einer pragmatischen Ethik, einer ethischen Pragmatik: »Ich führe alles so einfach wie nur möglich aus, denn die komplizierte und komplexe Filmsprache beherrsche ich ja doch nicht.« Eine ebenso praktische wie pragmatische Haltung. Ein Beispiel: »Ich filme alles von einer niedrigen Kameraposition aus, weil ich selbst klein bin und nicht einsehe, dass ich auf einen Stuhl steigen soll, um durch den Sucher schauen zu können; dann muss die Kamera eben weiter nach unten.«

Es sind weder ästhetische Prinzipien, denen sie folgt, noch formale Regeln, die sie sich auferlegt. Ihre Bescheidenheit, ihr pragmatischer Umgang mit dem Material, ihr Gefühl für Ökonomie werden oft der Konzeptkunst zugeordnet. Doch nichts ist weniger intellektuell als dieses intelligente Kino. Filmen ist für Akerman eine einfache Angelegenheit, ja es muss so sein. Ein Geschehen, das so exakt wie möglich abzulaufen hat: Eine Kamera steht vor etwas und nimmt es auf, und dabei hört man auch etwas. Menschen erzählen eine Geschichte vor der Kamera (LES RENDEZ-VOUS D’ANNA/ANNAS BEGEGNUNGEN, 1978) oder aus dem Off (NEWS FROM HOME/BRIEFE VON ZU HAUS, 1977).

Akerman ist immer wieder erstaunt, dass Kamera und Montage auch erzählen können (sie bewundert Alfred Hitchcock sehr). Bei ihr nimmt die Kamera kleine, vorgegebene Geschichten auf, die Montage beschränkt sich auf das fachgerechte Aneinanderkleben der Teile des Films: Die Länge ist wichtig, doch dass Montage mehr sein kann als diese sehr elementare Handlung des »Aneinanderklebens«, erscheint ihr noch immer dubios.

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Chantal Akerman bei den Dreharbeiten zu LES RENDEZ-VOUS D’ANNA, Courtesy Cinémathèque Royale de Belgique – Royal Film Archive, Brüssel © Paradise films

Und das Drehbuch? Das besteht aus der minutiösen Beschreibung von Orten und Handlungen. »Dort« geschieht »das«. Die Handlungen sind solche, die sie selbst gut kennt. (Man könnte sagen, dass sie keine Fantasie hat; sie kann nur abrufen und in Bilder verwandeln, in Form und Sprache gießen, was sie aus ihrer eigenen Gefühlswelt kennt.) Bei Akerman stammen die Orte und Handlungen weder aus Romanen, die sie gelesen hat, noch aus Filmen, die sie gesehen hat (in dieser Hinsicht ist sie das genaue Gegenteil von Jean-Luc Godard, den sie ebenfalls bewundert). Orte und Handlungen sind bei ihr durchwirkt von Gerüchen, Gefühlen, Stimmungen, die eine Beziehung zu ihrer Mutter haben, zu ihrer Familie, ihren Freunden und Freundinnen und zu ihr selbst. Dieses Kino ist in so extremer Weise autobiografisch (viel mehr als bei Duras), dass es gar nicht mehr auffällt.

Auch die Orte sind solche, die sie kennt: New York, das Ruhrgebiet, Paris, Brüssel. Und wenn sie sie nicht gut genug kennt, fotografiert sie sie. Für LES RENDEZ-VOUS D’ANNA reisten wir tagelang von Köln nach Essen, von Essen nach Wuppertal über Bochum und Oberhausen, um Fotos zu machen, die, schon bevor wir zurück in Brüssel waren, irgendwo verloren gegangen sind und nie entwickelt wurden.

Als ich mit ihr an der Adaption von Isaac Bashevis Singers Romanen The Manor (1967) und The Estate (1969) arbeitete, verwunderte es mich immer wieder, wie sie alles auf die ihr bekannte Welt zurückbezog: So redete auch Tante Esther, das haben wir zuhause auch gegessen, das Bild dieser Straße kenne ich, so roch auch mein Opa… Wenn Singers Romane ihr »Fiktion« anboten, erklärte sie: »Das erinnert an Dostojewski, das ist nichts für mich – oder, hier irrt sich Singer.« Dann wurde das Kapitel unbarmherzig gestrichen. Merkwürdig war dabei, dass man mit der Zeit kaum noch einen Unterschied bemerkte zwischen der Schreibweise Singers und der ihren; es war, als ob Singer mit Akermans Worten sprach und umgekehrt …

(Als sie ihn anrief, antwortete Singer ihr: »Komm für ein paar Tage nach Miami und lass uns zusammen ausgehen und Kaffee trinken, als ›two old friends‹: I’ll be the old one, you’ll be the friend.«)

Man hat Chantal eine Hyper-Intellektuelle und Meisterin des Formalismus genannt, und nun soll sie eine Art naive Sonntagsmalerin sein? Was sie – gleichzeitig natürlich – zu einer Sonntagsmalerin des Films und einer wahren »Strukturalistin« des Mediums macht, ist ihre unerbittliche Radikalität: Kein einziges Bild, kein einziges Wort (und in ihren Texten kein Punkt und kein Komma) bleibt davon verschont. Auch keine Gefühlsregung (im Register des Sentimentalen, dem einzigen, das sie interessiert). Immer bewegt sie sich hin zum äußersten, elementarsten Punkt (um danach wieder ein wenig zurückzuweichen, denn Filme kann man schließlich nicht mit abstrakten Formeln machen; die dienen nur dazu, die Gefühle herauszufiltern).

In Akermans Filmen findet sich nicht die mindeste Fiktion, in dem Sinn jedenfalls, dass jede Gebärde, jede Situation, jedes Detail sich auf etwas zurückführen lässt, was sie selbst erlebt hat. Das wäre für sich genommen allerdings kein Verdienst. Jedoch bleibt es bei ihr nicht beim Autobiografischen. Das ist lediglich der Anlass für die Gestaltung. Trivialste Dinge und Handlungen werden auf diese Weise bemerkenswert. Und damit wieder zu Fiktionen. Was bedeutungslos oder bedeutungsarm war – das Alltägliche – wird nun bedeutungsvoll. »Form« ist dann nicht mehr als das exakte Erfassen und Neuformulieren.

Angehende Filmemacher könnten von dieser Arbeitsweise tatsächlich viel lernen. Zum Beispiel, dass es keiner »Ideen« bedarf, um Filme zu drehen, sondern »Gefühle« (dann aber muss der Filmemacher umso intelligenter sein). Gefühle, die in filmischer Hinsicht nur interessant sind, wenn sie gefiltert werden, gereinigt, »abstrahiert«. Ihrer Allgemeingültigkeit entkleidet. Es geht nicht um Leben oder Tod, um Individuum oder Gesellschaft, um Kommunikation zwischen Individuen. Es geht um ein Stück Zucker im Kaffee, um eine Jacke, die ein wenig glattgezogen wird (JEANNE DIELMAN), es geht um die sanfte Schaukelbewegung der U-Bahn (NEWS FROM HOME), darum, einen banalen Flur mit dem Blick abzutasten (HOTEL MONTEREY, 1972), ein Zimmer – einfach nur ein Zimmer – eindringlich zu betrachten (LA CHAMBRE/DAS ZIMMER, 1972), um eine Träne, die über eine Wange rollt (LES RENDEZ-VOUS D’ANNA). Nie geht es um den Inhalt der Worte, auch nicht um die Worte selbst (wie bei Duras), sondern um die Melodie, die Melopoesie: Alle Dialoge in ihren Filmen sind auf diese Weise geschrieben; die immer wiederkehrende Anrede in den Briefen in NEWS FROM HOME (»Ma très chère petite fille«) – vor allem in der ursprünglichen französischen Fassung, in der Akerman die Briefe selbst vorliest – illustriert dies. Bei Akerman kann man lernen, dass die Intuition intelligent ist und die Intelligenz intuitiv.

In ihren Drehbüchern, an denen sie lange und mit Freude arbeitet, die sie wie eine Romanschriftstellerin schreibt und umschreibt, findet man im ersten Stadium dieselbe Detailbesessenheit in minutiösen Beschreibungen. Das Schreiben ist für Akerman eine unentbehrliche Phase, ein erstes Filtern. Danach fühlt sie sich freier im Umgang mit den Bildern. Erst das Wort, dann das Bild. Sie hat das Feld mit Worten eingehegt, jetzt können die Bilder erblühen. Da Trivialitäten sie faszinieren, verliert sie beim Schreiben manchmal die Perspektive aus den Augen. Die Sätze fließen unmerklich ineinander; oft sind sie kurz und bündig, bilden aber immer eine Art unaufhörliche Litanei. Die Unterbrechungen sind Atempausen, keine Interpunktionen. Es ist der Ton des Jiddischen, so sagt sie selbst, auch wenn sie auf Französisch schreibt und Jiddisch nicht (mehr) beherrscht. Ein Singsang, Melopoesie. Beim Schreiben bleibt sie nahe bei den Dingen, genau wie beim Filmen. Manchmal rutscht sie – ohne jeden Grund – ins Imperfekt oder ins Futurum. Als ob sie Distanz gewinnen müsste von der allzu klebrigen Direktheit des Jetzt. Auch die Kamera hält Distanz, sie bleibt nahe bei den Dingen, doch immer gibt es einen Zwischenraum. Sie zeigt nie mehr als das, was da ist. Sie arbeitet darum auch nie mit der Illusion, dass ein Gegenschuss mehr zeigen könnte, dass die Einstellung durch den Gegenschuss vervollständigt würde.

In den Drehbüchern bringt sie mit oft wiederholten Wendungen wie »es scheint, als ob« die Gewissheit in den Beschreibungen und Beobachtungen ins Wanken. Sie weckt Zweifel: Ist es denn auch so? Die Bilder dagegen sind robuster; es gibt keinen Zweifel an dem, was der Zuschauer sieht. Doch auch hier entsteht eine ähnliche Relativierung, und zwar durch die Überbetonung. Die Kadrierung ist oft unerbittlich streng, die Dauer der Einstellungen scheint endlos, die Unbeweglichkeit der Kamera wirkt so obsessiv, die Bildlichkeit so nackt und roh, dass die (unsichtbare) Anwesenheit der Person hinter der Kamera spürbar wird. Da gibt es etwas, jemanden, der dieses Bild aufgenommen hat.

Die Drehbücher sagen gleichzeitig viel und wenig über die Filme. Die Abfolge der Ereignisse im Film JEANNE DIELMAN weicht von der des Drehbuchs ab, das sich seinerseits von den ersten Entwürfen stark unterscheidet. Dennoch trifft man in den Fassungen auf immer neue Weise die Atmosphäre an, die später den Film beherrscht.

In einem Gespräch mit Akerman erklärte Godard, er verstehe nicht, warum Filmemacher ihre Filme erst aufschreiben; man müsse von den Bildern ausgehen. Akerman antwortete ihm, auch die Bilder seien schon geschrieben. Damit wollte sie sagen, dass man die Form der Dinge (der Bilder) immer aufs Neue finden muss, dass man die Spontaneität, vor allem die der Emotionen (und all dessen, was man »Leben« nennt), immer wieder neu formulieren muss. Irgendwann sagte sie: »Il faut mettre en scène la vie.« Das kann man auf zweierlei Weise verstehen. Man darf beim Filmen nicht der Illusion der spontanen Aufnahme und Wiedergabe der Wirklichkeit verfallen. Man muss also inszenieren und gestalten. Aber auch: Das Leben, so wie es ist, reicht nicht aus. Man muss versuchen, es umzugestalten, es umzuformulieren. Man muss das Leben inszenieren; man muss das Leben inszenieren.

Aus dem Niederländischen von Frank Kessler

1 Unter dem Titel »Leren leven, het leven leren. Een inleiding op Chantal Akerman« ursprünglich erschienen in Versus (1983), H. 1, S. 11–15, als Einleitung zu einem Chantal-Akerman-Schwerpunkt mit übersetzten Drehbuchentwürfen, -fragmenten und anderen Texten. Einige kurze Passagen, die sich auf die niederländischen Übersetzungen beziehen, wurden gestrichen.

Volker Pantenburg

Aufatmen

Chantal Akerman und die New Yorker Film-Avantgarde

I.

Zu Beginn von Marianne Lamberts Dokumentarfilm I DON’T BELONG ANYWHERE: THE CINEMA OF CHANTAL AKERMAN (2015) sieht man Chantal Akerman an Bord der Staten Island Ferry. Im Hintergrund ragt die Skyline Manhattans in den bewölkten Himmel. »Ich finde, das Wort ›Karriere‹ ist für mein Leben nicht zutreffend«, sagt die Filmemacherin im Off, »denn wenn du eine Karriere hast, hast du einen Plan.«1 Der Blick auf New York, aufgenommen 2014 oder 2015, greift verschiedene Zeitpunkte in Akermans Filmografie auf. Er verweist auf die erste Einstellung von HISTOIRES D’AMÉRIQUE: FOOD, FAMILY AND PHILOSOPHY (1989), in der unser Blick von der Fähre aus langsam an der Freiheitsstatue vorüberschweift, um schließlich bei den Hochhäusern in der Ferne innezuhalten. Vor allem aber schließt er an die letzten zehn Minuten von NEWS FROM HOME (BRIEFE VON ZU HAUS, 1977) an. Die Kamera verabschiedet sich (und zugleich verabschieden wir uns) aus den Straßenschluchten und Subway-Tunneln, in denen wir den Film verbracht haben. Keine Auto- und U-Bahnfahrten mehr, kein Verkehrslärm. Keine mütterlichen Briefe aus dem Brüsseler Off, die die Tochter vorliest. Nur noch ein sanftes, fast hypnotisches Schaukeln, dazu die Geräusche von Wasser und vereinzelten Möwen, während sich die oberen Stockwerke der Twin Towers – 1972 und 1973 fertiggestellt, als Akerman wenige Straßen weiter in Manhattan lebte – langsam entfernen und im Wolkendunst verschwimmen. Ein fast utopischer Moment: Abschied, Loslassen.

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NEWS FROM HOME

In den mehr als 45 Jahren ihrer Arbeitsbiografie ist Chantal Akerman immer wieder auf (und nach) Amerika zurückgekommen, in dokumentarischen Arbeiten wie SUD (SÜDEN, 1999) und DE L’AUTRE CÔTÉ (JENSEITS VON SONORAMEXIKO, 2002) ebenso wie in Erzählfilmen mit Starbesetzung wie UN DIVAN À NEW YORK (EINE COUCH IN NEW YORK, 1996). Neben Brüssel/Paris und Israel stellen die USA ein drittes mentales und geografisches Gravitationszentrum im weitverzweigten Kosmos Akermans dar. Während der Lynchmord in Jasper, Texas (SUD) und die Gewaltverhältnisse an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko (DE L’AUTRE COTÉ) untergründig mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden kommunizieren, steht New York vor allem für den biografischen Moment, an dem die 21-Jährige Europa verlässt und dank Babette Mangolte die unabhängige New Yorker Film- und Kunstszene kennenlernt. Als »the determining factor in my cinematographic existence« beschreibt Akerman diese Phase ihres Lebens später.2 An die Vorführung von Michael Snows LA RÉGION CENTRALE (1970–1971), der im Kino der Anthology Film Archives einen ganzen Tag lang ohne Unterbrechung projiziert wurde, erinnert sich Akerman so: »Ich hatte eine ganz außergewöhnlich starke Sinneserfahrung, es war eine Offenbarung für mich: Man konnte einen Film machen, ohne eine Geschichte zu erzählen.«3 Ihren ersten langen Film HOTEL MONTEREY (1972) kommentiert sie rückblickend mit den Worten: »Ich atme auf, ich bin tatsächlich Filmemacherin geworden«, und über den am Tag nach der Fertigstellung von HOTEL MONTEREY gedrehten LA CHAMBRE (DAS ZIMMER, 1972) sagt sie: »Wieder atme ich auf. Diesmal liege ich aber im Bett.«4

II.

Auf den ersten Blick wirkt LA CHAMBRE wie eine direkte Hommage an Michael Snow. Dreimal tastet Babette Mangoltes Kamera das kleine Zimmer in der Spring Street, Lower Manhattan, in langsamen, behutsamen 360-Grad-Schwenks ab, registriert die Möbel, Küchenutensilien, die Reste einer Mahlzeit auf dem Tisch. Sie streift dabei auch die im Bett liegende Chantal Akerman. Nach der dritten Kreisbewegung ändert die Kamera ihre Richtung, schwenkt jetzt von links nach rechts, pendelt sich langsam auf das Bett und die dort Liegende ein. Der stumme Film, genau eine 16-mm-Filmrolle lang, lässt insbesondere an Snows Trilogie zur Kamerabewegung denken.5 Doch diese Charakterisierung greift zu kurz. Schon die Präsenz der Filmemacherin im Film – ein Element, das sich in unterschiedlichen Varianten von SAUTE MA VILLE (1968) bis NO HOME MOVIE (2015) durch Akermans Filme zieht – bildet ein starkes subjektives Gegengewicht zum eher mechanisch-objektivierenden Gestus des Kameraschwenks.6 Erst recht zeigt sich der Abstand zum strukturellen Film, wenn man die zweite Version von LA CHAMBRE berücksichtigt, in der der gleiche Vorgang im Bild sich mit einem intimen, subjektiven Voice-over-Kommentar, gesprochen von Akerman, konfrontiert sieht.7 Der Film selbst – LA CHAMBRE 2 – ist verschollen, aber den Text kann man seit kurzem nachlesen; er ist eine Folge von atemlosen Sätzen in Briefform, deren Stil schon die späteren Bücher Akermans, etwa Une famille à Bruxelles89