Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz

Die italienische Originalausgabe erschien unter dem Titel Una storia semplice (1989) bei Adelphi edizioni in Mailand. Die deutsche Erstausgabe erschien 1990 beim Verlag Paul Zsolnay in Wien.

E-Book Ausgabe 2016

© 1988, 1989 Adelphi Edizioni S.p.A., Mailand

© 1990 der deutschsprachigen Ausgabe: Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien

© 1996, 2016 für diese Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emserstr. 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Photographie von Gianni Giansanti/Sygma/Corbis.

Reihenkonzept: Rainer Groothuis. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

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ISBN 978 3 8031 4208 5

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2763 1

www.wagenbach.de

»Ich will noch einmal gewissenhaft die Chancen ausloten, die der Justiz vielleicht doch noch bleiben.«

DÜRRENMATT,

Justiz

Der Telefonanruf kam um neun Uhr und siebenunddreißig am Abend des 18. März, dem Samstag vor dem übermütigen und lärmenden Fest, das die Stadt zu Ehren des Schreiners und Heiligen Josef veranstaltete.

Ihm waren auch die Scheiterhaufen aus alten Möbeln gewidmet, die an jenem Abend in den Armeleutevierteln entzündet wurden – als Versprechen gewissermaßen für die wenigen noch tätigen Schreiner, daß es ihnen an Arbeit nicht mangeln werde. Die Amtsstuben waren, mehr noch als an anderen Abenden um diese Uhrzeit, fast leer, jedoch beleuchtet: die abendliche und nächtliche Beleuchtung, die für die Büros der Polizei stillschweigend angeordnet war, um den Bürgern vorzugaukeln, daß man in diesen Büros stets über ihre Sicherheit wachte.

Der Telefonist notierte den Namen des Anrufers: Giorgio Roccella. Er besaß eine gepflegte, sanfte und überzeugende Stimme. Wie alle Verrückten, dachte der Telefonist, denn Signor Roccella verlangte den Questore. Eine Verrücktheit, vor allem um diese Uhrzeit und an diesem besonderen Abend.

Der Telefonist bemühte sich um den gleichen Tonfall, brachte jedoch nur eine Karikatur zuwege, die durch das Wortspiel, mit dem er antwortete, noch deutlicher wurde: »Ma il questore non è mai in questura a quest’ora«; ein fauler Witz über die häufigen Abwesenheiten des Polizeipräsidenten, der in den Büros die Runde machte und nur unzureichend durch den Satz übersetzt wird: »Aber der Polizeipräsident ist um diese Uhrzeit nie im Polizeipräsidium.« Er fügte hinzu: »Ich verbinde Sie mit dem Kommissariat«, und freute sich, daß er dem Kommissar eins auswischen konnte, der in diesem Augenblick wahrscheinlich gerade dabei war, das Büro zu verlassen.

Tatsächlich zog der Kommissar bereits seinen Mantel an. Der Brigadier, dessen Tisch mit dem des Kommissars einen rechten Winkel bildete, nahm ab. Er hörte zu, suchte auf dem Schreibtisch einen Bleistift und ein Stück Papier und antwortete, während er schrieb, ja, sie würden so bald wie möglich kommen, so bald wie möglich, wobei er das »möglich« betonte, damit man sich über das »bald« keine Illusionen machte.

»Wer war das?« fragte der Kommissar.

»Jemand, der behauptet, er müsse uns dringend eine Sache zeigen, die er bei sich zu Hause entdeckt habe.«

»Eine Leiche?« scherzte der Kommissar.

»Nein, er hat wörtlich gesagt ›eine Sache‹.«

»Eine Sache … Und wie heißt er, dieser Jemand?«

Der Brigadier nahm das Stück Papier, auf dem er Namen und Adresse notiert hatte, und las vor: »Giorgio Roccella, Contrada Cotugno, bei der Abzweigung nach Monterosso vier Kilometer auf der Straße, die rechts abgeht; fünfzehn Kilometer von hier.«

Der Kommissar kam von der Tür zurück zum Tisch des Brigadiers, nahm das Stück Papier und las es, so als hoffte er, etwas darauf zu finden, was der Brigadier nicht vorgelesen hatte. Er sagte: »Das ist nicht möglich.«

»Was?« fragte der Brigadier.

»Dieser Roccella«, sagte der Kommissar, »ist ein Diplomat, ein Konsul oder Botschafter, ich weiß nicht wo. Er kommt seit Jahren nicht mehr hierher. Das Haus in der Stadt ist verschlossen und das Landhaus, eben das in der Contrada Cotugno, steht leer und ist fast baufällig … Man sieht es von der Straße aus: Oben am Hang. Es wirkt wie eine kleine Festung …«

»Ein alter Gutshof«, sagte der Brigadier. »Ich bin oft dort vorbeigekommen.«

»Innerhalb der Einfriedung, durch die es wie ein Gutshof aussieht, liegt ein sehr zierliches Landhaus; oder lag jedenfalls … Große Familie, die Roccella, aber inzwischen reduziert auf diesen Konsul oder Botschafter oder was immer … Ich dachte nicht, daß er noch lebt, so lange habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Wenn Sie wollen«, sagte der Brigadier, »überprüfe ich das.«

»Aber nein, ich bin sicher, daß es sich um einen Scherz handelt … Morgen vielleicht, wenn du Zeit und Lust hast, fahr hin und schau nach … Was mich betrifft, braucht ihr morgen nicht nach mir zu suchen; egal was passiert. Ich fahre zu einem Freund aufs Land, um den heiligen Josef zu feiern.«

Anderntags fuhr der Brigadier mit zwei Beamten auf Streife in die Contrada Cotugno. Die beiden Beamten und er waren in Ausflugsstimmung, denn nach dem, was der Kommissar gesagt hatte, waren sie sicher, daß der Ort unbewohnt und der Anruf am Vorabend ein Scherz gewesen war. Das Flüßchen, das am Fuß des Hügels verlief, war nurmehr ein steiniges Bett voller knochenbleicher Kiesel, aber der Hügel mit dem Gutshof oben grünte. Sie hatten vor, nach beendetem Lokalaugenschein den Feiertag mit dem Sammeln von wildem Spargel und Zichorien zu begehen, da sie als ehemalige Bauern alle drei die guten wilden Gemüse zu schätzen wußten.