Der Roman »Alice im Wunderland« von Lewis Caroll wird zitiert nach der Übersetzung von Harald Raykowski. München 1987.

E-Book-Ausgabe 2016

© 2016 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Jerónimo Alba/​Age/​F1online.

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ISBN: 978 3 8031 4191 0

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3275 8

www.wagenbach.de

»Wohin ich komme, ist nicht so wichtig …«, sagte Alice.

»Dann ist es auch gleich, wie du gehst«, meinte die Katze.

»… solange ich nur irgendwohin komme«, fügte Alice erklärend hinzu.

»Irgendwohin kommst du sicher«, sagte die Katze,

»wenn du nur lange genug weiterläufst.«

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

»Diese Räumlichkeiten wirken, als hätten sie nicht das Geringste mit dem Haus zu tun, in dem sie sich zufällig befinden, und wenn Clarissa eintritt und die schwere, knarrende Tür mit den vier Schlössern (zwei davon kaputt) hinter sich zuzieht, kommt sie sich jedesmal vor, als hätte sie einen Zeitsprung getan oder, genauer, als wäre sie durch Alices Spiegel gegangen; als befänden sich das Foyer, das Treppenhaus und der Flur da draußen in einer völlig anderen Welt, einer anderen Dimension.«

Michael Cunningham, Die Stunden

»Die Uhrzeiger waren im gegenwärtigen Augenblick

stehengeblieben. Es war das Jetzt. Wir selbst.«

Virginia Woolf, Zwischen den Akten

Juan

Juan deckte Rose mit dem geblümten Leintuch zu. Mehr war nicht nötig, und sobald frühmorgens die Sonne aufging, war sogar dieses leichte Laken zu warm, und Rose würde sich wie immer freistrampeln und sich in das sommerliche Trägernachthemd ihrer Mutter einwickeln. Sie bestand jeden Abend hartnäckig darauf, es anzuziehen, obwohl es ihr bis zu den Knöcheln reichte und viel zu weit war. Juan witzelte, das sei ja ein Zelt und kein Nachthemd, aber Rose ließ sich nicht beirren, sie liebte es, sich darin einzuhüllen. Gute Nacht, mein Schatz, sagte Juan, träum schön. Gute Nacht, Paps, sagte sie und schaute ihn forschend an. Bist du verliebt? Juan prustete entrüstet. Wie kommst du denn darauf? Ich finde sie sehr nett und finde es super, dass sie bei den Ausgrabungen mithilft und … Rose unterbrach ihn. Okay, du bist verknallt. Juan seufzte. Ich weiß nicht … Rose grinste höhnisch. Doch, bist du! Wetten, sie wird morgen beim Frühstück dasitzen? Juan knuffte sie ärgerlich. Mal sehen. So, und jetzt wird geschlafen! Rose drehte sich zur Wand und schmollte. Juan machte sachte die Tür zu, horchte noch nach und ging schließlich vorsichtig den dunklen Flur entlang. Seine Füße fanden den richtigen Weg fast von selbst, und seine Bewegungen bekamen etwas Traumtänzerisches, Leichtfüßiges. Er ging leise in den Salon, dort musste er nicht mehr aufpassen, das mächtige Ledersofa, auf das sich Marimar gesetzt hatte, und die schweren Sessel standen auf einem dicken, verblassten und etwas zerschlissenen Perserteppich, der die Fugen des Parkettbodens bedeckte, sodass Juan seinen Blick auf Marimar richten konnte und in einer direkten Luftlinie, ohne auf seine Füße zu achten, auf sie zugehen konnte. Marimar hatte ihre Sandaletten ausgezogen und die Beine auf dem Sofa ausgestreckt. Ihre schwarzen Au gen schauten ihn ernst und ruhig an. Sie fragte flüsternd, ob Rose eingeschlafen sei. Juan zögerte, er wusste es nicht, wahrscheinlich noch nicht. Er fragte, ob sie noch etwas trinken wolle, er würde gerne noch ein bisschen warten, bis Rose wirklich eingeschlafen war, bis … Ob das in Ordnung sei …? Marimars Augen lächelten, sie nickte. Es war ihm unangenehm, dass er das hatte sagen müssen, bis jetzt war alles in der Schwebe gewesen, sie hatten sich nicht einmal berührt, nur kurz hatte er ihre Schulter angefasst, als er sie beim Aufbruch in der Bar gefragt hatte, ob sie noch etwas trinken wolle, bei ihm zu Hause, für Rose sei es schon spät, er müsse sie ins Bett bringen, aber sie könnten bei ihm noch … Sie hatte seine Hand sanft abgeschüttelt und spontan Ja gesagt. Juan bemerkte, dass sie ihre schnelle Zusage bereute, und führte die Situation wieder auf neutralen Boden, sprach von Vaterpflichten und morgigen Terminen, erwähnte das merkwürdige Haus, das er vor Kurzem geerbt hätte, mit dem er immer noch fremdeln, das ihm aber viele Geschichten erzählen würde. Darauf war Marimar eingegangen, ja, einen Absacker würde sie gerne noch nehmen, und ein Haus mit vielen Geschichten finde sie spannend. Sie fotografiere leidenschaftlich gerne alte Häuser, vielleicht wäre es ja etwas für ihre Sammlung. Juan hatte gelacht, ich soll dir ein Haus für deine Sammlung zeigen? Und auch Marimar hatte lachen müssen, aber da war immer noch alles in der Schwebe geblieben. Und jetzt hatte er ausgesprochen, worauf die Situation hinauslaufen würde.

Nervös fragte er, was sie gerne trinken würde. Was hast du denn? Er zögerte, ging zur altmodischen schweren Holzanrichte, in der die Bar untergebracht war. Der Boden war mit rotem Samt beschlagen, die Innenwände mit Spiegeln bestückt, sodass die vielen staubigen Flaschen sich ins Endlose vermehrten. Juan zählte auf: Cognac, Wermut, Gin, Wodka, Cinzano … Aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, aus welchem Jahrhundert die sind. Marimar lachte. Und Bier? Ein schlichtes kühles Bier? Er nickte. Im Kühlschrank. Sie sprang auf. Ich gehe schon, wo ist der Kühlschrank? Juan beschrieb, wo die Küche war, und folgte ihr mit den Blicken, als sie auf nackten, maronenbraunen Füßen in der Dunkelheit des langen Flures verschwand. Er lehnte sich zurück und fühlte sich mit einem Schlag sehr alt. Und er hatte Rose gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er hätte nicht so weit gehen sollen, hätte Marimar diskreter einladen müssen. Von Roses Begeisterung für Marimar geblendet, hatte er nicht bedacht, dass die Trennung der Eltern für seine Tochter immer noch schwer zu akzeptieren war. Er fühlte sich elend. Rose würde ihn am nächsten Morgen bestrafen, wahrscheinlich Bauchschmerzen bekommen, oder akute schlechte Laune oder beides zusammen. Und er? Was hatte er nur dabei gedacht, eine junge Studentin zu sich einzuladen? Seit genau siebzehn Monaten und drei Wochen hatte er nicht mehr mit einer Frau geschlafen, und auch davor war er nicht gerade ein Don Juan gewesen. Er hatte eine ungefähre Ahnung, wie sich das anfühlte, die jetzt, angesichts der tatsächlichen Möglichkeit, immer diffuser wurde. Die letzten Male, die er mit Roses Mutter das Bett geteilt hatte, waren kurz und routiniert gewesen. Es waren keine großen Ereignisse gewesen, aber er war dankbar darüber, dass die großen Dramen mit Weinkrämpfen, Tobsuchtsanfällen und dreifachem Orgasmus am Ende der Versöhnung vorbei waren. Diese Kämpfe hatten ihn immer sehr angestrengt, und er war froh über die stillen, friedlichen Abschiedspaarungen, die die endgültige Trennung begleitet hatten. Sie waren freundschaftlich und melancholisch gewesen, beide hatten auf den anderen geachtet und das eigene Bedürfnis gebremst. Sie hatten sich wie ein vertrautes Geschwisterpaar verhalten, das sich im anderen spiegelt und Angst vor dem Unbekannten, das da draußen lauert, spürt. Das war ganz und gar nicht das, was er mit Marimar erleben wollte. Er horchte in den schwarzen Gang hinein. In der Ferne bellte ein Hund, ein anderer antwortete ihm. Dann war Stille. Vom anderen Ende des langen Flures waren gedämpfte Geräusche zu hören, wie Marimar den Kühlschrank aufmachte, wie Bierflaschen zusammenstießen, wie etwas zu Boden fiel, wie etwas über den Boden wischte. Ansonsten war es vollkommen still im Haus, Rose schien eingeschlafen zu sein.

Juan war durch das heftige Reifenquietschen eines Autos aufgeschreckt worden, das direkt vor ihm zum Stehen kam. Er hatte am Eingang seines Hotels in Berlin-Mitte auf Karla gewartet. Sie hatte ihn in der Nacht zuvor angerufen, betrunken und aufgedreht, und gesagt, sie finde es wichtig, dass er vor dem Abflug seine – ihre und seine – Mutter treffe. Und nun bremste sie vor ihm, schlecht gelaunt, bleich und hinter einer riesigen Sonnenbrille versteckt, und machte mit einem Schwung die Beifahrertür auf. Juan hatte bereits eine Stunde auf sie gewartet, war mit seinem Rollkoffer auf der Straße auf und ab gelaufen und hatte sich über die beiden uniformierten Hotelportiers geärgert, die ihn musterten und nicht recht wussten, was sie von ihm, seinem Hin und Her, den fiesen Geräuschen seiner Kofferrollen und seinem unrasierten Gesicht hinter der tschechischen Sonnenbrille halten sollten. Als Karla endlich vor dem Hotel hielt, war er hastig und entschlossen eingestiegen. Knapp, aber höflich hatte er sich bedankt. Karla hatte gnädig genickt und war rasant losgefahren. Sie hatten die ganze Fahrt über nicht gesprochen. Es hätte sie beide zu viel Kraft gekostet, und er wusste auch nicht, was er hätte sagen sollen. Sein ganzer Mut hatte ihn verlassen. Karla war offensichtlich verkatert und mit anderen Gedanken beschäftigt. Als sie anhielten, hatte Juan die Häuserzeile betrachtet und bemerkt, wie grässlich es war, dass man diese schönen klaren Stuckfassaden in Bonbontönen anpinselte. Sein Trigeminusnerv über dem rechten Auge hatte angefangen zu schmerzen und zu pochen, während Karla angespannt auf zwei vollbepackte Frauen starrte, die auf einen limettengrünen Hauseingang zusteuerten. Eine der beiden hatte einen Haustürschlüssel hervorgeholt und mit der anderen Frau gescherzt. Karla ließ sie nicht aus den Augen, nickte Juan cool zu und machte ihm mit einem ungeduldigen Zeichen deutlich, dass er aussteigen solle. Juan war aus dem Auto geklettert, hatte seinen kleinen Koffer geschnappt und war Karla gefolgt, die geradewegs auf die beiden Frauen zuging. Er war hinter ihr hergeschlichen und hatte den Eindruck gehabt, Karla würde ein Spiel spielen, er wusste nur nicht, mit wem. Plötzlich drehte sich die Frau mit dem Hausschlüssel um, starrte ihn an, wurde kreidebleich und hob sich scharf von der limettenfarbigen Wand ab. Sie nahm Karla gar nicht wahr, doch die andere Frau schloss Karla in die Arme. Karla, wie schön! Karla ließ sich steif umarmen, wandte sich dann aber vorwurfsvoll der Frau mit dem Schlüssel zu und zeigte auf Juan. Er hörte auf zu atmen, das war also seine Mutter, diese biedere, rundliche bleiche Frau, die ihn anstarrte, als ob sie einen Geist sähe. Juan versuchte, seine Atmung wieder in Gang zu setzen, nahm die tschechische Sonnenbrille ab und ging mit schwankenden Beinen auf sie zu. Er empfand nichts. Er registrierte nur, dass seine Beine, trotz Wellengang, einen Schritt nach dem anderen taten und vor dieser Frau mit den unheimlichen Augen anhielten. Dann ging sein Mund selbsttätig auf und setzte zwei Silben zusammen, die er in die Außenwelt losschickte. HO-LA … Auf einen Schlag erfasste die Frau, die seine Mutter sein sollte, die Situation. Sie schüttelte vehement den Kopf und drehte sich schroff um. Er schaute an seinen Beinen hinunter und wurde sich der Dimension der Katastrophe bewusst: Er stand mit beiden Füßen auf einer Fuge. Von da an nahm er nichts mehr wahr, er machte kehrt und marschierte mit seinem Rollkoffer stumpf in Richtung Flughafen los. Er hatte viel Zeit und einen guten Orientierungssinn. Er lief und lief, bis seine Beine nicht mehr schwankten, achtete dabei peinlich genau darauf, auf keine noch so winzige Rille zu treten. Immerzu sah er ein riesiges bleiches Gesicht vor einer limettenfarbigen Wand mit aufgerissenen dunklen Augen, die ihn verständnislos anstarrten und immer größer und größer wurden, bis sie explodierten. Wieder und wieder verscheuchte er dieses Gesicht und zwang sich, auf den Weg zu achten. Je länger er lief, desto mehr sehnte er sich nach seiner Exfrau. Er hätte ihr gerne erzählt, dass er seine Mutter getroffen hatte und wie sie ihn voller Panik angestarrt hatte. Er wusste nicht, warum, aber er fand, dass sie wissen sollte, dass er versucht hatte, sich seiner Mutter zu stellen, und dann doch nicht mit ihr hatte reden können, es aber nicht seine Schuld gewesen war. Er hätte ihr gerne ein Happy End erzählt, wie seine Mutter ihn lachend und schluchzend in die Arme schloss, wie er sie sofort erkannte, wie sie sich beide bei einem schönen Essen stundenlang ihre Leben nacherzählten … Aber all das war nicht passiert, und das hätte er eigentlich wissen müssen. Sein Vater hatte ihm kurz vor seinem Tod gesagt: Ich wünschte, ich könnte dir mehr erzählen, aber ich kann nicht. Das hatte Juan ihm nicht verziehen. Auch als er sich nach dem Tod seines Vaters durch dessen Aufzeichnungen, Gedichte und Tagebucheinträge gegraben hatte, auf der Suche nach Antworten, hatte er nur dürftige Hinweise gefunden. Geheimnisvolle einsame Sätze, wie: Ich stand damals an einer Wegkreuzung, die nur zwei Möglichkeiten für mich bereithielt: Mord oder Flucht. Ich wählte die Flucht. Was war zwischen seinen Eltern passiert, dass es so enden musste? Was hatte seine Mutter seinem Vater nur angetan, dass er sie derart verleugnen musste? Warum hatte er Juan mit dieser großen Schuld aufwachsen lassen, beladen mit selbstquälerischen Vorwürfen, immer in dem Glauben, er sei für den Tod seiner Mutter und für die Trauer seines Vaters verantwortlich. Nach anderthalb Stunden Marsch durch menschenleere Straßen mit riesigen Bürgersteigen hatte Juan bemerkt, dass er in der Nähe des Flughafens sein musste. Flugzeuge brausten über seinen Kopf hinweg, und die heulenden Motoren von startenden Maschinen waren immer deutlicher zu hören. Die Straßenlaternen waren angesprungen und rhythmisierten seinen Weg mit regelmäßigen hellen Kegeln. Während Juan abwechselnd in dunkle Schatten und blendende Lichtzonen trat, wünschte er sich, in dieser Nacht abzustürzen. Er stellte sich vor, wie Roses Mutter die Nachricht von seinem Tod erhalten und – trotz allem – um ihn weinen würde, wie sie Rose trösten und nur das Allerbeste über ihn erzählen würde. Juan schnaubte. Wie blöd. Natürlich wollte er nicht sterben. Während er stoisch auf die Eingangshalle des Flughafens zuging, beschloss er, gleich nach der Landung seine Exfrau anzurufen und sich bei ihr zu bedanken.

Als er sie gefragt hatte, ob er Rose den Sommer über mit nach Spanien nehmen dürfte, da er nicht allzu viel zu tun haben würde und viel Zeit mit seiner Tochter verbringen könnte, hatte Roses Mutter erstaunlicherweise sofort zugestimmt und gesagt, es wäre für Rose wichtig zu sehen, woher ihr Vater kam. Er wollte ihr sagen, wie viel es ihm bedeutete, dass sie, wie immer rascher als er selbst, verstanden hatte, dass im Dorf seiner Eltern, auf dem Anwesen seines Großvaters, die Antworten zu finden waren, die er suchte. Aber bisher waren sie ausgeblieben. Ein paar Tage nachdem Juan mit seiner Tochter Rose in das riesige Gutshaus eingezogen war, stieß er auf einen Text seines Vaters, der ihn sehr aufwühlte. Es war eine merkwürdige Kurzgeschichte über eine junge Frau, die ihr Dorf verlässt und nie mehr zurückkehrt, und einen jungen Mann, der die ganze Welt bereist, um sie zu finden. Sein Vater hatte diese Kurzgeschichte, die ein holpriges, abruptes Ende hatte, als ob er nicht gewusst hätte, wie er sie zu Ende schreiben sollte, mit den Worten begonnen: Schreiben ist der Versuch, die Zeit an einem Punkt anzuhalten, der uns besonders kostbar oder schmerzhaft erscheint, es ist der anmaßende Versuch, die Zeit festzuhalten und uns einen in Worte eingefrorenen, unsterblichen Moment zu ergaunern. Und dann folgte die akribische Beschreibung einer Abschiedsszene an einem kleinen Dorfbahnhof, die Juan, während Rose längst schlief und nach anderthalb Rotweinflaschen, in jener Nacht auf dem brüchigen alten Ledersofa des Gutshofsalons gelesen und die ihm Tränen in die Augen getrieben hatte.

Was ist mit dir? Marimar stand mit zwei Bierflaschen in der Hand vor ihm. Was ist los? Juan setzte sich auf. Nichts, wieso? Marimar wurde misstrauisch. Du weinst. Juan wischte sich schnell die Tränen weg. Nein … Marimar stellte die Bierflaschen etwas zu heftig auf den Tisch, lächelte kurz und schaute ihn lauernd an. Juan nahm ein Bier und ließ sich zurückfallen. Okay, ja. Ich habe wohl geweint, trinkst du trotzdem ein Bier mit mir? Marimar nickte und setzte sich, aber nicht zu Juan auf das Sofa, sondern in einen Sessel. Juan setzte ein schiefes Lächeln auf, er fühlte sich hundeelend und abgrundtief müde. Dieses Haus mit seinen vielen Geschichten stimmt mich melancholisch, aber keine Sorge, es ist alles okay, ich bin nicht durchgeknallt oder so was. Marimar erwartete offensichtlich eine Erklärung. Doch er wusste auch nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Wir trinken jetzt ein Bier und dann … Er hob fragend die Schultern, nahm seine Bierflasche und hielt sie Marimar entgegen. Sie knallte ihre schwungvoll dagegen, neigte den Kopf ein wenig und fragte: Und dann …? Sie tranken beide gleichzeitig und ließen sich dabei nicht aus den Augen. Dann kannst du so viele Fotos von dem Haus machen, wie du willst, sagte er. Sie schaute sich um und grinste. Jetzt ist kein gutes Licht, um Fotos zu machen. Juan setzte ein bedauerndes Gesicht auf. Dann musst du wohl bis morgen hierbleiben, vielleicht ist dann besseres Licht; oder bist du eine verzauberte Prinzessin, die sich bei Anbruch der Dämmerung in Luft auflöst? Marimar lachte. Erzählst du mir die ganze Nacht Geschichten? Juan wurde schlagartig wach. Soll ich? Sie nickte ernst. Er klopfte einladend auf das Lederpolster an seiner Seite. Dann musst du näherkommen. Er war überrascht, dass es keiner weiteren Überredung bedurfte, Marimar setzte sich neben ihn. Juan begann, die Geschichte der Frau zu erzählen, die ihr Dorf verließ und nie wieder zurückkehrte. Marimar hörte aufmerksam zu. Juan erzählte gut in dieser Nacht und nahm den schwierigen Momenten das Dramatische, sodass Marimar, obgleich gebannt von der Geschichte, immer wieder aufatmen konnte. Kurz bevor er das unbefriedigende Ende erreichte, hielt er inne. Marimar wurde ungeduldig. Was ist? Wie geht es aus? Findet er sie? Er beugte sich zu ihr, willst du es wirklich wissen? Marimar nickte. Ohne zurückzuweichen, hielt sie seinem Blick stand. Juan wurde übermütig. Er entschloss sich, einen tollkühnen Angriff zu wagen. Hier und jetzt. Er rutschte auf dem Leder in ihre Richtung und sagte, die Fortsetzung gibt es erst bei Tagesanbruch. Marimar spielte die Empörte, beschwerte sich, das sei hinterlistig, sie wolle ihr Geld zurück, bis Juan sie lachend stillküsste. Er umfing sie und wollte sie zu sich ziehen, doch er hatte ihren Schwung unterschätzt und rutschte mitsamt Marimar vom Sofa auf den dichten Perserteppich. Sie landete auf ihm und wurde von zwei riesigen fransigen Sofakissen zugedeckt. Juan fühlte sich beraubt, jeglicher Übermut war verflogen. Er lugte vorsichtig zwischen die Kissen und sah direkt in Marimars schwarze Augen. Hast du dir wehgetan? prustete sie los. Juan verneinte und fragte zurück, ob sie sich wehgetan habe. Sie schüttelte den Kopf, konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Juan stieß die Kissen zur Seite, hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest. Marimar erkannte seine Angst und wurde still. Sie führte seine linke Hand an ihr Herz. Er spürte es schlagen, lauschte mit seiner Hand dem Pochen. Je schneller Marimars Herz schlug, desto ruhiger wurde Juan. Er begann sie zu erkunden. Sie schob sich ihm entgegen und legte eine Hand in seinen Schritt. Juan bremste sie, nach so vielen Monaten Enthaltsamkeit wollte er auf gar keinen Fall eine peinliche Überraschung. Er schob seine Hände in ihre Jeans und bahnte sich einen Weg. Als sich Marimars Oberschenkel um seinen Unterarm pressten und ihre Atmung schneller wurde, wusste er, dass er sich auf dem richtigen Weg befand.

Esperanza

Die beiden Schwestern saßen da und lauschten in die Nacht. Sie hingen ihren Gedanken nach, waren satt und berauscht vom Orujo. Marta hatte Esperanza doch noch einmal nachgeschenkt und sich dann auch ein »vorletztes« Gläschen genehmigt. Sie hatten sich wortlos darauf geeinigt, von anderen Dingen zu sprechen. Esperanza begann, sich Sorgen um Karla zu machen. Als sie die Nachricht ihrer Tochter erhielt, seufzte sie ärgerlich, doch Marta nahm ihre Nichte in Schutz. Lass sie doch, sie ist noch jung, sie soll sich amüsieren. Esperanza setzte an zu sagen, dass Karla eigentlich nicht mehr so jung war, aber ihr fehlte die Kraft. Sie nickte nur. Sie sprachen von Nachbarn, von den Wohnungspreisen, von der Krise, von der Jugend, die wieder auswanderte, nach Mexiko, nach Buenos Aires, nach Berlin … Esperanza erzählte, auf den Berliner Straßen würde man jetzt viel Spanisch hören, junge Leute, die ganz anders wirkten und sich bewegten als sie damals … Sie verstummte abrupt, sie wollten ja nicht davon sprechen. Marta spürte die Befangenheit ihrer Schwester und missverstand den Grund. Sie fragte Esperanza, ob sie jetzt offiziell in Rente sei. Esperanza sagte, jein, sie habe ihre Abschiedsfeier zwar hinter sich, aber eine echte Rentnerin sei sie erst ab nächstem Monat. Sie erzählte, dankbar für dieses unverfängliche Thema, von ihrer Verrentungsfeier in Berlin. Wie ihre Freundin Renate ihr die Augen zugehalten und sie kichernd, an all den Kolleginnen vorbei, in einen Raum geführt, die Hand vor Esperanzas Augen weggenommen und übermütig gerufen hatte: So, jetzt! Auf einem Tisch, neben vielen Geschenken mit Grußkarten ihrer Kolleginnen, standen ein riesiger roter Blumenstrauß und ein vergrößertes Schwarzweißfoto von Esperanza als junger Frau mit dem jungen Carlotto, der jungen Renate und einem weiteren jungen Mann. Sie trugen ein selbstgemaltes Transparent und grinsten breit in die Kamera, Esperanza reckte die geballte Faust in die Höhe. Sie hatte lächeln müssen. Auf der Rückseite des Fotos stand in Renates vorwitziger, geschwungener Schrift: Septemberstreiks 1969. Vergiss nie die wilden Sechziger und uns. Alles Liebe zur Rente wünscht Dir Deine Renate. Esperanza war gerührt gewesen, Renate hatte sie angestrahlt und auf einen Umschlag gezeigt, der im Blumenstrauß steckte. Von allen Kolleginnen, für dich.

Was Esperanza ihrer Schwester jedoch nicht erzählte, war, dass sie diesen Umschlag aufgemacht und einen Überraschungsschrei ausgestoßen hatte. Ein Flug nach Madrid! Wie kommt ihr denn da drauf? Esperanza hatte nicht gewusst, was sie davon halten sollte, und dennoch begonnen, sich zu bedanken, als sie, zu ihrer großen Erleichterung, mitten im Satz unterbrochen wurde. Die Kolleginnen und der Betriebsrat, alle wollten auf Esperanza anstoßen. Selbst der Abteilungschef hatte sich ein Gläschen Sekt genommen, es erhoben und eine dieser austauschbaren Reden angestimmt, die Esperanza normalerweise hasste, die sie in diesem Moment aber davon befreite, weiter über die Möglichkeit nachzudenken, nach Spanien zu fliegen. Esperanza hatte einen großen Schluck Sekt genommen. Sie wusste noch genau, wie das Sektglas in ihrer Hand geglitzert hatte, wie dann plötzlich alle geklatscht hatten. Die Rede musste vorbei sein, und sie war wieder zu sich gekommen. Renate hatte schwungvoll mit ihr angestoßen. Also, meine Liebe: Auf die Freiheit! Auf die Freiheit …, hatte Esperanza nachdenklich wiederholt. Ja, dachte sie, es geht alles so schnell, und plötzlich ist die Rente da. Wo waren all die Jahre hin, die wilden Pläne? Die aufgeschobenen Wünsche? Sie fühlte sich alt und jung gleichzeitig, sie fand es merkwürdig, dass manches ihr vorkam, als wäre es erst vor ein paar Tagen geschehen, und anderes ihr so fremd war, als gehörte es zu einer anderen Person. Sie kannte sich nicht mehr aus. Seit dem Anruf ihrer Schwester waren die Erinnerungen durcheinandergekommen, hingen drohend über ihr und schlugen aus dem Hinterhalt zu. Sie und Renate hatten eine Weile geschwiegen, eine melancholische Pause war entstanden. Dann hatte Renate sich zusammengerissen und erneut ein Lachen aufgesetzt. Na komm, jetzt wird erstmal gefeiert! Sie hatte Esperanza zu den Kolleginnen geschoben, die sie sektfröhlich umringten. Alles Gute! Na, Frau Katzbach, was machste nun ohne uns? Na, mich langweilen! Alle lachten. Willste denn zurück nach Spanien? Esperanza schüttelte den Kopf und antwortete mechanisch. Nee, mein Mann hat, Gott sei Dank, noch Arbeit, die Kinder sind hier, und meine Enkel … Die Kolleginnen hatten sich weiter lautstark unterhalten. Ohne dass die anderen es hören konnten, hatte Esperanza zu Renate gesagt: Komisch, seit ich hier bin, fragen mich alle, wann ich wieder zurückwill. Seit zweiundvierzig Jahren werde ich das gefragt. Esperanza hatte ihren Sekt ein wenig zu hastig getrunken und abwesend die Blasen fixiert, die unruhig im Glas perlten.

Marta legte ihr eine Hand auf den Unterarm. Espe! Esperanza drückte die Hand ihrer Schwester. Espe, du machst mir Angst. Esperanza fragte erstaunt: Wo sind nur all die Jahre hin? Ihre Schwester seufzte verständnislos, ja, wir waren alle mal jung … Das Telefon klingelte. Marta sprang auf, schien froh, der merkwürdigen Stimmung ihrer Schwester zu entkommen. Esperanza konnte es ihr nicht verübeln, sie wusste selbst nicht, wohin mit sich. Kurz nachdem Marta in das dunkle Haus eingetaucht war, verstummte das Telefon, dann war Stille. Ein Licht wurde eingeschaltet. Esperanza spürte einen heftigen, schneidenden Schmerz im Bauchraum und horchte, doch Martas Stimme drang nicht bis nach draußen. Esperanza wurde unruhig. Dabei war es bestimmt ein ganz harmloser Anruf, eine Nachbarin oder eine Cousine in Plauderlaune, Esperanza stand auf und ging auf und ab. Immer noch Stille. In der Ferne war ein Motorrad zu hören, das aufheulte und knatternd davonfuhr. Dann wieder Stille. Sie würde es nicht verkraften, wenn Karla etwas zustieß, dann würde sie sterben oder Amok laufen oder sich ins Bett legen und nie wieder aufstehen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, ging ins Haus und rief: Marta, wer ist es? Ihre Schwester antwortete prompt. Es ist Carlotto! Esperanza lächelte erleichtert, da kam ihr Marta auch schon entgegen und flüsterte ernst. Er ist stinksauer, hattest du ihm wirklich nicht gesagt, dass du hier bist? Esperanza schüttelte nur aufmüpfig den Kopf, sie war so froh, dass Karla nichts passiert war. Martas vorwurfsvoller Blick konnte ihr nichts anhaben. Sie nahm den Hörer in die Hand und begann schuldbewusst eine Erklärung. Ihr Mann unterbrach sie mit einem wütenden Wortschwall. Esperanza verstand ihn so gut, wahrscheinlich war er wahnsinnig vor Sorgen gewesen, bis er soeben mit Marta gesprochen und erfahren hatte, dass sie hier bei ihr war. Esperanza tat es jetzt leid, dass sie nicht hinterlassen hatte, wohin sie wollte. Es war ein kindischer Impuls gewesen, der Wunsch, er solle leiden und sich Vorwürfe machen. Esperanza entschuldigte sich. Aufrichtig. Und mit unsicherer Stimme versuchte sie zu erklären, wie die ganze Geschichte sie so plötzlich überrollt hatte. Karl-Otto brauste wieder auf. Was heißt hier »plötzlich«? Dein Sohn ist schon dreiundvierzig. Dreiundvierzig! Du hättest mir das doch sagen können! Ich hätte doch nie … Esperanza erwiderte kleinlaut, sie habe es ja versucht. Dann schwieg sie wieder. Diesmal wartete Karl-Otto, Esperanza gab sich einen Ruck. Ich konnte nicht, ich hatte Angst, dass … Karl-Otto klang fassungslos. Wie, Angst? Nach allem, was wir zusammen … Nach all dem! Esperanza hielt inne, horchte in den Hörer hinein. Er redete sich in Rage. Ich kenne meine eigene Frau nicht! Wie konntest du nur all die Jahre mit mir lachen, reden, aufwachen … Wie geht das? Kannst du mir das mal verraten? Wie geht das? Ich weiß es nicht, gab Esperanza zu. Karl-Otto wurde noch lauter. Wieso hast du mir nie etwas erzählt? Darauf wurde auch Esperanza heftiger. Wieso hast du mich nie gefragt? Er brüllte in den Hörer. Du hast doch nie gerne über dein Dorf geredet. Was hätte ich denn fragen sollen? »Hast du eine dunkle Vergangenheit?« oder was?! Und nach deinem Selbstmo …, nach dem Putschversuch wolltest du erst recht nicht darüber reden. Das habe ich respektiert! Esperanza verstummte. Er hatte ja Recht, sie hätte ihm von Anfang an alles erzählen müssen. Aber als sie ihn kennenlernte, in ihrer Anfangszeit in Deutschland, war sie wie eingeschlossen in einem Eisblock. Erst dank Renate war sie aufgetaut.

Die neue Freundin hatte sie an einem trüben Freitagabend im Oktober nach vielem Zureden zu einer Gewerkschaftsfete mitgeschleppt. Esperanza war unsicher und auch ein wenig aufgeregt, untergehakt bei der forschen, hübschen Renate in das Lokal gegangen und hatte alles aufgesogen. Die Gerüche der leicht vernachlässigten, weitläufigen Fabriketage und der staubigen, mit Flugblättern, Plakaten und Ordnern vollgestopften Regale. Die Gesichter der vielen fremden Leute, die herumstanden und redeten, lachten und sich freudig begrüßten. Die laute Musik, die Sprache, die für sie noch aus einigen wiedererkennbaren Brocken und vielen fremden Worten bestand und ihr große Anstrengungen abverlangte. Esperanza war es ganz schwindelig geworden. Gleich am Anfang war ihnen auf dem Gang ein junger Mann entgegengekommen. Er stürmte freudestrahlend auf Renate zu und küsste sie. Renate kürzte die Begrüßung ab und stellte die beiden einander vor. Esperanza, das ist Heinz. Und zu ihm gewandt. Das ist meine Freundin Esperanza. Nachdem Heinz Ich-hol-uns-was-zu-trinken posaunt hatte und verschwunden war, fragte Renate Esperanza aufgeregt, wie sie ihren Freund finde. Esperanza zuckte verlegen mit den Schultern. Ich weiß nix … er sehr blond. Renate lachte. Und im Bett erst, da ist er vielleicht blond. Strahlend blond! Esperanza war es peinlich, aber sie war auch neugierig. Du hast … mit ihm? Renate schaute sich um, bevor sie es zugab. Ja. Und du? Zum Glück musste Esperanza nicht antworten, denn auf einmal stand ein anderer Mann vor ihnen und hielt ihnen ein paar Flugblätter unter die Nase. Kolleginnen, schließt euch einer guten Sache an, wir brauchen jede Stimme. Es geht um unsere, um eure Mitbestimmung in den Betrieben. Esperanza schaute in bernsteinfarbene Augen, die sie durch dunkelbraune, leicht wellige Haarfransen hindurch schelmisch anblinzelten. Renate reagierte schlagfertig. Ja, claro, und das willst du mit uns auf der Couch diskutieren?! Esperanza hatte über ihre freche Freundin grinsen müssen, doch der Kerl war nicht aus der Ruhe zu bringen und ging auf Renates zweideutigen Ton ein. Ja, das wäre dufte, wir könnten eine Intensivschulung machen! Renate lachte kokett. In diesem Moment tauchte Heinz mit zwei großen Gläsern Berliner Weiße mit Schuss auf, die er Renate und Esperanza überreichte, und pflaumte den jungen Mann an. Mensch, Karl-Otto, lass die Mädels in Ruhe mit deiner Agitation, die wollen sich amüsieren. Karl-Otto ruderte zurück, nicht ohne Esperanza zuzuzwinkern und frech zu lächeln, nahm Heinz etwas zur Seite und redete auf ihn ein. Esperanza beobachtete neugierig, wie er ein paar Mal auf seine Flugblätter zeigte und eindringlich mit seinem Kumpel sprach und wie Heinz aufmerksam zuhörte und nickte. Renate ihrerseits redete auf Esperanza ein. Du musst mehr ausgehen, Espe, du bist schon zu lange allein. Das ist doch nicht gut, so viele Wochenenden allein, das macht hässlich. Esperanza schlürfte verlegen an ihrem Glas. Du musst dir einen »Kartoffel« angeln, dann lernst du schneller Deutsch. So hab ich Spanisch gelernt, die schnellste Sprachschule, sag ich dir! Renate lachte vergnügt, während Esperanza beobachtete, wie Karl-Otto mit seinem Flugblattstapel weiterzog. Heinz steckte ein Flugblatt in die Hosentasche, kam zu ihnen zurück, fasste Renate besitzergreifend um die Taille und drückte sie an sich. Renate reichte ihr Glas an Esperanza weiter und zog Heinz auf die Tanzfläche. Verstohlen verfolgte Esperanza, wie Karl-Otto, trotz Musik und Trubel, unermüdlich seine Flugblätter unter die Leute brachte. Als er nur noch ein einziges in der Hand hielt, kam er zielstrebig auf sie zu. Hier, mein letztes, wenn ich das nicht loswerde, hab ich mein Soll nicht erfüllt. Esperanza zögerte, sie hatte ihn nicht verstanden. Karl-Otto setzte einen flehenden Hundeblick auf und streckte ihr das Papier entgegen. Bitte. Esperanza musste über seinen Ausdruck lachen und nahm ihm das Flugblatt ab. Karl-Otto betrachtete sie begeistert. Woher kommst du? Griechenland? Esperanza verneinte. Italien? Nein, warte: Jugoslawien? Esperanza lachte. Noo, Spanien. Karl-Otto machte eine alberne Bewegung. Ah, España, olé. Esperanza nickte knapp. Karl-Otto ließ nicht locker. Willste tanzen? Kann nix, sagte sie trocken. Du kannst nicht tanzen? Glaube ich dir nicht, das kann doch jeder, tanzen. Karl-Otto nahm ihr die Gläser ab, stellte sie auf den Boden und zog Esperanza an einer Hand zur Tanzfläche. Sie ließ sich mitziehen. Renate, die immer noch mit Heinz tanzte, nickte ihr aufmunternd zu. Während sie sich im Rhythmus der Musik drehten, fragte sie ihn, ob er wirklich so hieß, und verwandelte dabei seinen Namen in ein »Carrlotto« mit rollendem Klang. Er bestätigte: Ja, Karl-Otto, scheußlich, nich? Und du? Sie nannte ihm ihren Namen. Es-pe-ran-sa, sprach er nach. Ja, sagte sie, ist: Offnung. Ach so, Hoffnung, schöner Name, erwiderte Karl-Otto. In diesem Moment ging die Musik in einen Cha-Cha-Cha-Schlager über. Sofort nahm Carlotto die klassische Paartanzstellung ein, packte Esperanza forsch um die Taille und legte mit den ersten, gut gelaunten Cha-Cha-Cha-Schritten los. Mit einer Heftigkeit, die sie selbst erstaunte, riss sie sich los und ging schnell von der Tanzfläche. Carlotto war völlig verdutzt. Esperanza setzte sich verkrampft auf einen Stuhl und suchte Renate mit dem Blick, doch die Freundin war nirgends zu sehen. Carlotto kam näher, zögerte, setzte sich dann aber doch neben sie. Esperanza, entschuldige. War ich zu grob? Es war nicht meine Absicht …, sagte er unsicher, weißt du, ich tanze so gerne. Tanzen. Nur tanzen. Ich wollte nicht … Esperanza beruhigte sich langsam. Nicht du … ich …, versuchte sie zu erklären. Das macht doch nichts, wenn du nicht tanzen kannst. War eh ein grauenvoller Schlager, von vorgestern, sagte er schnell. Esperanza schaute ihn fragend an. Der Mief von vorgestern. Er machte eine Grimasse dazu. Sie äffte ihn belustigt nach. Derr-miefon-vor-ges-terrn? Da hatte er grinsen müssen. Ja, der Mief, Muff. Er hatte sich an die Nase gefasst, sie gerümpft und dabei einen Satz gesagt, der Esperanzas Erinnerung wie ein Stempel aufgedrückt worden war, obwohl sie erst viel später erfahren hatte, was es mit diesem Satz auf sich hatte: »Muff von tausend Jahren.« Damals hatte sie ihm amüsiert nachgesprochen, ohne ein Wort zu verstehen: Muffon-tausend-jarren? Carlotto hatte aufgelacht und sie korrigiert. Muff, nicht Muffon, »Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«. Und Esperanza hatte ihr Bestes gegeben: Derr-muff-von-tausend-jarren.

Esperanza, bist du noch dran? fragte Karl-Otto am anderen Ende der Leitung. Esperanza tauchte wieder auf und murmelte in den Telefonhörer hinein, ja, tschuldige, ja, ich höre. Karl-Otto schien unsicher. Und, wieso antwortest du nicht? Esperanza versuchte, ruhig zu bleiben, sich zu konzentrieren. Was hatte er sie gefragt? Dann hörte sie ihre eigene Stimme: Dieser Mörder, dieses Dreckschwein, das immer dasaß, in seinem Korbsessel vor dem Haus, der in der Kneipe unbekümmert Karten spielen konnte und Wermut trinken, ohne dass ihm jemand auch nur ein Härchen krümmte. Er saß da, machte Späße und hörte Cha-Cha-Cha … Sie sprach leise weiter, während sie ihre Schwester in der Küche hantieren hörte. Ich hatte immer gedacht, wenn Franco endlich stirbt … Aber dann passierte nichts, einfach nichts! Das Schwein starb friedlich zu Hause, in seinem Bett, dieses verfluchte Bett! Ich konnte es einfach nicht ertragen, ich wollte nicht mehr daran denken. Karl-Otto horchte auf, setzte an, verstummte wieder. Esperanza schaute aus dem Wohnzimmerfenster in die Nacht. Zum ersten Mal nach langer Zeit sprach sie wirklich mit ihm, mit ihrem alten Carlotto. Vielleicht war es am Telefon einfacher, ihm zu sagen, was sie ihm schon vor langer Zeit hätte sagen müssen. Ich hatte Angst, dich zu verlieren, alles, was ich in Berlin hatte … Du warst mein Leben, meine neue Heimat. Karl-Otto schwieg überrumpelt. Dann sagte er, er habe so eine Schweineangst gehabt, dass sie eine Dummheit macht. Er sei froh, dass sie bei ihrer Schwester sei. Esperanza lächelte, ja, es war dumm von mir, dir nicht zu sagen, wo ich bin. Mach dir keine Sorgen, ich komme bald zurück, ich weiß noch nicht genau, wie lange ich bleiben muss, aber bald sind wir wieder da. Sie wollte noch hinzufügen, dass sie ihm dann, zu Hause, alles erzählen würde, aber sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich einlösen könnte. Stattdessen sagte sie, sie sei froh, dass Karla bei ihr sei. Karl-Otto lachte auf, ja, das sei ungemein beruhigend, er wüsste nicht, um wen er sich mehr Sorgen machen müsse und wer verrückter sei, die Mutter oder die Tochter. Esperanza tat empört und wies ihn zurecht, aber er neckte sie so lange weiter, bis sie lachen musste. Plötzlich wusste sie wieder, warum sie ihn liebte, noch immer und nach all den Jahren. Warum nur fiel es ihr so schwer, es ihm zu sagen? Es war doch nicht kompliziert, drei Worte auszusprechen, in jedem zweiten Film sagen die Figuren irgendwann diese drei Worte und fallen sich schluchzend oder selig in die Arme. Sie konnte ungemein gut mit Carlotto streiten, ihn bei der Arbeit unterstützen, ihn bekochen, mit ihm tanzen, lachen, sie hatte bei ihrer Hochzeit laut, mit ihrem starken spanischen Akzent und voller Überzeugung »Ja, ich will« gesagt, aber sie hatte eine tiefe, verwinkelte Scheu davor, ihm ihre Liebe zu gestehen. Karl-Otto fragte versöhnlich, Espe, kannst du mir noch kurz Karla geben? Esperanza war es etwas unangenehm. Nein, Karla ist nicht da, sie ist noch tanzen gegangen, aber ich sage ihr, dass sie dich morgen anrufen soll. Karl-Otto grummelte. Tanzen gegangen, natürlich, was denn sonst! Sie ging nicht darauf ein und sagte unvermittelt, Carlotto, weißt du, ich war wie ein wurzelloser Baum, bevor ich dich kennenlernte. Karl-Otto wurde ganz still. Esperanza lauschte in den Telefonhörer hinein. Sie hörte ihn atmen, atmete im selben Rhythmus, liebte ihn sehr, dann sagte er, nein, Espe, du hattest ganz tiefe, starke Wurzeln, deswegen bist du nie umgefallen. Esperanza fröstelte, die angenehme Wirkung des Orujo hatte schlagartig nachgelassen. Ich weiß nicht, sagte sie, vielleicht, aber ohne dich wäre ich ein Baum ohne Triebe und ohne Früchte geblieben.