cover

Dick Francis

Rufmord

Roman

Aus dem Englischen von
Peter Naujack

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1964 bei Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›Nerve‹

Copyright © 1964 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1964

unter dem Titel ›Die letzte Hürde‹

im Wilhelm Goldmann Verlag, München

Umschlagillustration von

Tomi Ungerer

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22988 2 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60655 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen
der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Es war eine laute und schmutzige Angelegenheit, als Art Mathews sich mitten im Führring der Rennbahn von Dunstable erschoß.

Ich stand keine zwei Meter von ihm entfernt, aber er tat es so rasch, daß ich ihn nicht hätte daran hindern können, auch wenn es weniger als zwanzig Zentimeter neben mir passiert wäre.

Er war vor mir aus dem Umkleideraum gegangen, mit schmalen, hochgezogenen Schultern unter der ärmellosen Khakijacke, die er über seinem Renndress trug, den Kopf auf die Brust gesenkt, als sei er tief in Gedanken versunken. Ich bemerkte, wie er auf den beiden Stufen vom Waageraum zum Weg hinunter leicht stolperte; und als jemand ihn auf der kurzen Strecke zum Führring ansprach, gab er mit keiner Regung zu verstehen, daß er ihn gehört hätte. Doch der Gang vom Waageraum zum Führring war wie immer, das Rennen wie hundert andere zuvor. Und als er davor zwei oder drei Minuten lang mit dem Eigentümer und Trainer des Pferdes gesprochen hatte, das er hätte reiten sollen, wies nichts darauf hin, daß er seine Khakijacke ausziehen und auf den Boden fallen lassen, darunter eine großkalibrige Automatikpistole hervorziehen, den Lauf an seine Schläfe pressen und abdrücken würde.

[6] Ohne ein Zögern. Ohne einen Moment der Besinnung. Ohne ein Abschiedswort. Die Beiläufigkeit seiner Tat war genauso schockierend wie ihre Wirkung.

Er hatte nicht einmal seine Augen geschlossen, und sie standen noch offen, als er vornüber zu Boden stürzte, sein Gesicht mit dumpfem Aufprall ins Gras schlug und sein Helm ihm vom Kopf rollte. Das Geschoß hatte seinen Schädel durchschlagen, und die Austrittswunde klaffte gen Himmel: ein klumpiges Durcheinander aus Blut, Haut, Haaren und Hirnmasse, aus dem vereinzelte Knochensplitter herausstachen.

Das laute Echo des Pistolenschusses rollte rund um den Sattelplatz, verstärkt von der hohen Rückwand der Tribüne. Köpfe drehten sich suchend um, und das lebhafte Stimmengewirr aus den drei Reihen der hinter der Abschrankung stehenden Rennbesucher wurde leiser und verstummte schließlich ganz, als man sich der entsetzlichen, unglaublichen und doch unzweifelhaften Tatsache bewußt wurde, daß das, was von Art Mathews übriggeblieben war, mit dem Gesicht nach unten auf dem hellgrünen Rasen lag.

Mr. John Brewar, ein Mann mittleren Alters und Eigentümer des Pferdes, das Art hätte reiten sollen, stand mit weit geöffnetem Mund in dem von Totenstille erfüllten Oval, die Augen glasig vor Überraschung. Seine pummelige, immer noch gut aussehende Frau sank so ungraziös zu Boden, wie das bei einer echten Ohnmacht nun mal der Fall ist, und Corin Kellar, der Trainer, für den Art und ich hätten ins Rennen gehen sollen, ging auf die Knie und rüttelte Art an der Schulter, als könne er jemanden wiedererwecken, dessen Kopf halb weggeblasen war.

[7] Die Sonne schien hell. Der blau- und orangefarbene Seidendress schimmerte auf Arts Rücken; seine weißen Rennhosen waren fleckenlos, seine Rennstiefel sauber und mattglänzend poliert. Ich dachte unvermittelt, daß er froh gewesen wäre, so tadellos wie immer auszusehen – wenigstens vom Nacken abwärts.

Die beiden Stewards, Mitglieder der Rennleitung, eilten herbei und standen dann stocksteif da, als sie Arts Kopf sahen. Entsetzen ließ ihre Augen schmal werden. Es gehörte zu ihren Aufgaben, bei einer Rennveranstaltung im Führring zu stehen, während die Pferde vor dem Rennen herumgeführt wurden, damit sie sowohl Zeugen als auch Schiedsrichter sein konnten, sollte etwas Regelwidriges geschehen. Es hatte wohl noch niemals etwas so Regelwidriges wie der öffentliche Selbstmord eines erstklassigen Steeplechase-Jockeys ihre Aufmerksamkeit gefordert.

Der ältere von beiden, Lord Tirrold, ein großer, hagerer Mann mit einem sachlichen Verstand, beugte sich über Art, um ihn genauer zu inspizieren. Ich sah, wie die Muskeln entlang seines Unterkiefers sich strafften; dann schaute er über Arts Leichnam zu mir hoch und sagte ruhig: »Finn… Holen Sie eine Decke.«

Ich ging zwanzig Schritte den Führring hinunter zu der Stelle, wo eines der Pferde stand, die für das Rennen gemeldet waren, umgeben von seinem Eigentümer, seinem Trainer und dem Jockey. Wortlos nahm der Trainer die Decke vom Pferd und hielt sie mir hin.

»Mathews?« fragte er ungläubig.

Ich nickte unglücklich, dankte ihm für die Decke und ging damit zurück.

[8] Der andere Steward, ein sauertöpfischer Riesenkerl namens Ballerton, verlor gerade – wie ich mit einer gewissen Genugtuung feststellte – sein betont würdevolles Auftreten, indem er sein Mittagessen wieder von sich gab.

Mr. Brewar zog den hochgerutschten Rock seiner bewußtlosen Frau hinunter und begann besorgt, ihren Puls zu fühlen. Corin Kellar strich ununterbrochen mit der Hand über sein Gesicht von der Stirn bis zum Kinn, während er immer noch auf einem Knie neben seinem Jockey kauerte. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, seine Hand zitterte. Er war ziemlich mitgenommen.

Ich gab Lord Tirrold das eine Ende der Decke in die Hand, und wir falteten sie auseinander und breiteten sie behutsam über den Toten. Lord Tirrold blieb einen Moment stehen und schaute auf den reglosen braunen Umriß hinunter, blickte dann in die Runde zu den kleinen, stummen Gruppen von Leuten, die ihre Pferde für das Rennen bereithielten. Er ging hinüber und redete mit dem einen oder anderen, worauf die Stallburschen sogleich alle Pferde aus dem Führring in die Sattelboxen zurückbrachten.

Ich blieb stehen und blickte hinunter auf Corin Kellar in seiner Qual, die er meines Erachtens gründlich verdiente. Ich fragte mich, was für ein Gefühl es wohl sein mochte zu wissen, daß man einen Mann in den Selbstmord getrieben hatte.

Es knackte in den Lautsprechern, und eine Stimme gab bekannt, daß die beiden letzten Rennen aufgrund eines schweren Unfalls im Führring ausfallen würden. Die morgige Veranstaltung würde wie geplant ablaufen, hieß es, und man möge jetzt bitte nach Hause gehen. Was die [9] wachsende Menge von Rennbesuchern rund um den Führring betraf, schienen diese Worte ungehört verhallt zu sein, denn sie verharrten wie angewachsen hinter der Abschrankung, die Augen auf die verhüllende Decke gerichtet. Nichts fesselt die Neugierde der Menschen so sehr wie eine blutige Katastrophe, dachte ich nachsichtig, während ich Arts Helm und Reitpeitsche vom Rasen aufhob.

Armer Art. Armer gehetzter, geplagter Art, der sein Elend mit einem Stückchen Blei ausgelöscht hatte.

Ich wandte mich ab und ging nachdenklich zum Waageraum zurück.

Während wir den Renndress gegen unsere normale Kleidung tauschten, gewann an unserem Ende des Umkleideraums eine pietätslose Stimmung die Oberhand, mit der wir den Schock überspielten. Art, der unter den Jockeys nach allgemeiner Übereinstimmung so etwas wie die Stellung des alten Hasen eingenommen hatte, obgleich er mit seinen fünfunddreißig Jahren keineswegs der älteste war, genoß von allen Seiten Verehrung und Respekt. Zurückhaltend in seiner Art, manchmal sogar in sich gekehrt, war er doch ein ehrlicher Mann und ein guter Jockey. Seine einzige bemerkenswerte Schwäche, über die wir gewöhnlich nachsichtig lächelten, war seine Überzeugung, daß der Grund für ein verlorenes Rennen stets bei seinem Pferd oder dessen Trainer, nie aber bei ihm selbst zu suchen sei. Wir alle wußten sehr genau, daß Art keine Ausnahme darstellte, daß jeder Jockey ab und zu die Dinge falsch beurteilt, aber er hätte niemals einen Fehler zugegeben und konnte jederzeit, wurde er zur Rechenschaft gezogen, eine überzeugende Rechtfertigung liefern.

[10] »Gott sei Dank«, sagte Tick-Tock Ingersoll, während er seine blau-schwarz karierte wollene Unterjacke auszog, »daß Art so rücksichtsvoll war, uns alle für das nächste Rennen auswiegen zu lassen, bevor er sich selbst abknallte.« Als Tick-Tocks Kopf aus der Wolljacke auftauchte, hatte er ein breites Grinsen im Gesicht, das sich mit komischem Effekt verflüchtigte, als niemand lachte.

»Na ja«, sagte er und ließ seine Jacke geistesabwesend zu einem Häufchen auf den Boden fallen. »Wenn er es eine Stunde zuvor getan hätte, würden wir alle zehn Pfund weniger in der Tasche haben.« Er hatte recht. Unsere Honorare für jedes Rennen waren praktisch schon verdient, sobald wir auf der Waage gesessen und das korrekte Gewicht bestätigt bekommen hatten; und wir wurden automatisch bezahlt, ob wir nun das Rennen ritten oder nicht.

»In diesem Fall«, meinte Peter Cloony, »sollten wir die Hälfte davon in einen Hilfsfonds für seine Witwe einzahlen.« Er war ein kleiner, ziemlich junger Mann, der leicht gefühlsmäßig überreagierte, oft aufbrauste und rasch ungeheures Mitleid für andere und für sich selbst empfand.

»Kommt überhaupt nicht in die Tüte«, entgegnete Tick-Tock, der es offen zeigte, daß er ihn nicht mochte. »Zehn Pfund sind zehn Pfund für mich, und Arts Frau schwimmt förmlich im Geld. Und protzt noch hochnäsig damit. Die würde ich nicht mal grüßen, wenn ich ihr auf der Straße begegnete.«

»Es ist ein Zeichen des Respekts«, erklärte Peter hartnäckig, während er mit ziemlich feuchten, großen Augen in die Runde sah und dabei sorgfältig vermied, den streitlustigen Blick des jungen Tick-Tock zu erwidern.

[11] Ich war der gleichen Ansicht wie Tick-Tock. Auch ich brauchte das Geld. Außerdem hatte Arts Frau mich wie all die anderen weniger bedeutenden Jockeys mit der ihr eigenen arktischen Unterkühltheit behandelt. Eine Fünfpfundnote als Erinnerung an Art würde sie nicht auftauen. Blaß, helläugig und mit strohblonden Haaren, war sie für mich der Inbegriff einer Eisjungfer.

»Arts Frau braucht unser Geld nicht«, sagte ich. »Erinnert ihr euch noch daran, wie sie sich im letzten Winter einen Nerzmantel gekauft und als eine Art Schutzwall gegen uns alle benutzt hat, die wir ihren Ansprüchen nicht genügten? Sie kennt kaum zwei von uns mit Namen. Laßt uns Art einfach einen Kranz kaufen und vielleicht ein praktisches Denkmal errichten, das er selbst gern gehabt hätte, wie beispielsweise ein paar heiße Duschen hier im Waschraum.«

Tick-Tocks junges, kantiges Gesicht leuchtete auf. Peter Cloony warf mir einen vorwurfsvoll traurigen Blick zu. Alle anderen nickten jedoch zustimmend.

Grant Oldfield sagte heftig: »Vermutlich hat er sich erschossen, weil dieses käsegesichtige Luder ihn betrogen hat.«

Ein kurzes, eigenartiges Schweigen setzte ein. Vor einem Jahr, dachte ich, hätten wir vielleicht darüber gelacht. Doch vor einem Jahr hätte Grant Oldfield dasselbe schmunzelnd und vielleicht vulgär gesagt, aber nicht mit dieser gemeinen, herzlosen Gehässigkeit.

Mir war klar, uns allen war klar, daß er das Liebesleben in Arts Ehe weder kannte, noch sich einen Deut darum kümmerte; aber in den vergangenen Monaten schien [12] Grant mehr und mehr von einer inneren Wut verzehrt zu werden, und in letzter Zeit konnte er kaum die alltäglichste Bemerkung machen, ohne dieser Wut irgendwie Luft zu machen. Der Grund dafür war, so glaubten wir, daß er sich bereits wieder auf dem Weg nach unten befand, ohne jemals das obere Ende der Leiter erreicht zu haben. Er war immer ehrgeizig und rücksichtslos gewesen und hatte einen entsprechenden Reitstil entwickelt. Doch auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er die Aufmerksamkeit des Publikums mit einer Reihe von Erfolgen erregt und regelmäßig für James Axminster, einen der allerbesten Trainer, zu reiten begonnen hatte, war etwas geschehen, das alles zunichte machte. Er hatte den Job bei Axminster verloren, und andere Trainer beschäftigten ihn immer seltener. Das Rennen, das wir nun nicht mehr reiten würden, war seine einzige Nennung an diesem Tag gewesen.

Grant war ein dunkler, dicht behaarter, untersetzter Mann von dreißig Jahren mit hohen Backenknochen und einer unförmigen Nase mit weiten Nasenlöchern. Ich mußte wesentlich mehr Zeit in seiner Gesellschaft verbringen, als mir lieb war; mein Kleiderhaken befand sich in den Umkleideräumen fast aller Rennplätze neben seinem, da unser beider Reitausrüstung vom selben Jockeydiener versorgt wurde. Grant lieh sich meine Sachen ungeniert aus, ohne vorher zu fragen oder sich danach zu bedanken, und wenn etwas kaputtging, stritt er ab, es benutzt zu haben. Als ich ihm zum erstenmal begegnete, hatte mich sein derber Humor noch amüsiert, aber zwei Jahre später, am Tag von Arts Tod, hingen mir seine polternde Art, seine Grobheit und seine Gehässigkeit zum Hals heraus.

[13] Ein- oder zweimal in den sechs Wochen seit Beginn der neuen Saison hatte ich ihn dabei angetroffen, wie er mit vorgeschobenem Kopf völlig verwirrt um sich blickte wie ein Stier, den der Matador ausweglos in die Enge getrieben hatte. Wie ein vom Kampf gegen ein Stück Stoff erschöpfter Stier, ein verblüffter und gebrochener Stier, dessen gesamte gigantische Kraft verpufft war gegen etwas, das er nicht mit seinen Hörnern festnageln konnte. In solchen Momenten konnte ich Grant wohl bedauern, aber zu jeder anderen Zeit mied ich ihn, wo es nur ging.

Peter Cloony, der ihm wie gewöhnlich keine Aufmerksamkeit schenkte, deutete auf den Kleiderhaken, an dem Arts Sachen hingen, und fragte: »Was meint ihr, was wir damit machen sollen?«

Wir schauten alles an, den gut geschnittenen, ordentlich auf einen Bügel gehängten Tweedanzug und die kleine Reisetasche auf der Bank darunter, die sein Oberhemd und die Unterwäsche enthielt. Seine fast zwanghafte Ordnungsliebe war uns so vertraut, daß nie jemand eine Bemerkung darüber verlor; aber jetzt nach seinem Tod stach sie mir erneut ins Auge. Alle anderen hängten ihre Jacken einfach mit dem am Kragen angebrachten Aufhänger an den Haken, warfen ihre Hosenträger darüber und packten ihre übrigen Kleidungsstücke oben in ihre Hosen. Nur Art hatte auf einem Bügel bestanden, den ihm sein Diener mitbringen mußte.

Ehe wir weiter als bis zu einem obszönen Vorschlag von Grant gekommen waren, hatte sich jemand von der Rennleitung den Weg durch den Umkleideraum gebahnt und mir zugerufen: »Finn, die Stewards wollen Sie sprechen.«

[14] »Jetzt?« fragte ich in Hemd und Unterhose.

»Sofort«, erwiderte er grinsend.

»In Ordnung.« Ich zog mich rasch an, bürstete mir die Haare, ging durch den Waageraum und klopfte an die Tür der Stewards. Jemand rief: »Herein!«

Alle drei Stewards waren da, ebenso der Rennvereinssekretär und Corin Kellar. Sie saßen auf unbequem aussehenden Stühlen mit geraden Lehnen um einen großen, rechteckigen Tisch.

»Treten Sie näher und schließen Sie die Tür«, forderte Lord Tirrold mich auf.

Ich tat, was er sagte.

Er fuhr fort: »Ich weiß, daß Sie in der Nähe von Mathews waren, als er… äh… sich erschoß. Haben Sie wirklich gesehen, wie er es tat? Ich meine, haben Sie gesehen, wie er die Pistole hervorzog und an den Kopf setzte, oder haben Sie erst zu ihm hingeblickt, als Sie den Schuß hörten?«

»Ich sah, wie er die Pistole hervorzog und ansetzte, Sir«, antwortete ich.

»Sehr gut. In diesem Fall wird die Polizei vielleicht eine Aussage von Ihnen haben wollen; verlassen Sie den Waageraum nicht, bis man mit Ihnen gesprochen hat. Wir warten jetzt darauf, daß der Inspektor aus dem Erste-Hilfe-Raum zurückkommt.«

Er entließ mich mit einer Kopfbewegung, doch als ich die Hand schon auf dem Türknopf hatte, sagte er: »Finn… ist Ihnen ein Grund bekannt, weswegen Mathews sich hätte umbringen wollen?«

Ich zögerte einen Augenblick zu lange, bevor ich mich [15] umdrehte, so daß ein einfaches »Nein« nicht überzeugend geklungen hätte. Ich sah Corin Kellar an, der eifrig damit beschäftigt war, seine Fingernägel zu betrachten.

»Mister Kellar könnte vielleicht etwas wissen«, sagte ich unverbindlich.

Die Stewards tauschten Blicke aus. Mr. Ballerton, immer noch käsig im Gesicht nach seinem Übelkeitsanfall neben Arts Leiche, machte eine abwehrende Geste mit der Hand und sagte: »Sie wollen uns doch nicht glauben machen, daß Mathews sich nur umgebracht hat, weil Kellar mit ihm nicht zufrieden war?« Er wandte sich an die anderen Stewards: »Wirklich«, fügte er mit Nachdruck hinzu, »wenn diese Jockeys so größenwahnsinnig geworden sind, daß sie kein bißchen wohlverdiente Kritik mehr ertragen können, wird es Zeit, daß sie sich nach einer anderen Beschäftigung umsehen. Aber anzudeuten, Mathews hätte sich wegen ein paar harter Worte umgebracht, ist verantwortungsloser Unfug.«

Jetzt fiel mir wieder ein, daß Ballerton selbst ein Pferd gehörte, das Corin Kellar trainierte. »Unzufrieden«, diese farblose Floskel, die er benutzt hatte, um die in letzter Zeit abgelaufene Serie erbitterter Streitereien zwischen Art und dem Trainer nach jedem Rennen zu beschreiben, kam mir plötzlich wie der absichtliche Versuch vor, die Wogen zu glätten. Du weißt, warum Art sich umgebracht hat, dachte ich; du hast dazu beigetragen und willst es jetzt nicht zugeben.

Ich wandte meinen Blick Lord Tirrold zu und sah, wie er mich nachdenklich betrachtete.

»Das wäre alles, Finn«, sagte er.

[16] »Jawohl, Sir«, antwortete ich.

Ich ging hinaus, und diesmal riefen sie mich nicht zurück, doch ehe ich den Waageraum durchquert hatte, öffnete und schloß sich die Tür erneut, und ich hörte Corins Stimme hinter mir.

»Rob.«

Ich drehte mich um und wartete auf ihn.

»Herzlichen Dank dafür«, sagte er sarkastisch, »daß du mir diese kleine Bombe in den Schoß geworfen hast.«

»Sie hatten es ihnen schon gesagt«, erklärte ich.

»Ja, aber dennoch.«

Er sah immer noch erschüttert aus, sein hageres Gesicht war von tiefen Kummerfalten durchfurcht. Er war ein außergewöhnlich begabter Trainer, aber ein nervöser, unzuverlässiger Mensch, der einem heute lebenslange Freundschaft anbot und einen am nächsten Tag überhaupt nicht mehr kannte. Doch gerade jetzt schien er eine Rückversicherung zu brauchen.

»Bestimmt glaubst du wie die anderen Jockeys«, sagte er, »daß Art sich umgebracht hat, weil… äh… weil ich beschlossen hatte, ihn seltener zu beschäftigen. Er muß aber einen anderen Grund gehabt haben.«

»Heute sollte er jedenfalls zum letzten Mal als Jockey für Sie reiten, nicht wahr?« sagte ich.

Er zögerte und nickte dann, überrascht, daß ich wußte, was nicht offiziell war. Ich sagte ihm nicht, daß ich Art zufällig am Abend zuvor auf dem Parkplatz getroffen hatte, und daß er in bitterer Verzweiflung und mit dem schmerzlichen Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, seine übliche Zurückhaltung soweit aufgegeben hatte, [17] um mir zu verraten, daß seine Arbeit für Kellar beendet war.

Ich sagte nur: »Er hat sich umgebracht, weil Sie ihm den Stuhl vor die Tür gesetzt haben, und er tat es vor Ihren Augen, um Ihnen ein Höchstmaß an Gewissensbissen zu verursachen. So war das, wenn Sie meine Meinung hören wollen.«

»Aber niemand bringt sich um, weil er seinen Job verloren hat«, entgegnete er ein wenig aufgebracht.

»Nicht wenn er normal ist, nein«, stimmte ich zu.

»Jeder Jockey weiß, daß er einmal aufhören muß. Und Art wurde langsam zu alt… Er muß verrückt gewesen sein.«

»Ja, das nehme ich an«, sagte ich.

Damit ließ ich ihn stehen, während er sich selbst zu überzeugen versuchte, daß er in keiner Weise für Arts Tod verantwortlich sei.

Als ich wieder in den Ankleideraum kam, war die Diskussion um das Schicksal von Arts Kleidung durch seinen Jockeydiener beendet worden, der sie mitgenommen hatte, und ich sah mit Erleichterung, daß Grant sich inzwischen fertig angezogen hatte und nach Hause gegangen war. Die meisten übrigen Jockeys waren ebenfalls gegangen, und die Diener waren damit beschäftigt, das von ihnen hinterlassene Chaos aufzuräumen, schmutzige Reithosen in Wäschesäcke zu sortieren und Helme, Stiefel, Peitschen und andere Dinge in große Weidenkörbe zu packen. Der Tag war sonnig und trocken gewesen, weshalb diesmal kein Schmutz abgewaschen werden mußte.

Während ich ihnen zusah, wie sie rasch und ordentlich [18] die Sachen in die Körbe beförderten, um die schmutzigen nach Hause mitzunehmen, sie zu reinigen und gewaschen und poliert am nächsten Tag zurückzubringen, überlegte ich mir, daß sie die ziemlich hohen Löhne, die wir ihnen für ihre Dienste zahlten, vermutlich zu Recht bekamen. Ich selbst würde es verabscheuen, tagsüber herumzureisen und Jockeys anzukleiden und abends zu Hause vor diesen Wäschesäcken und Weidenkörben zu stehen und all die schmuddeligen Sachen herausnehmen und an die Arbeit gehen zu müssen. Puh!

Ich hatte oft zugesehen, wie Art seinen Diener bezahlte und dabei ein Bündel von Geldscheinen durchblätterte. In der Hochsaison kamen da über zwanzig Pfund pro Woche zusammen. Mein eigener Jockeydiener, Young Mike (ein Mittvierziger), schnappte sich meinen Helm von der Bank und lächelte mir im Vorbeigehen zu. Er verdiente mehr als die meisten der vielleicht ein Dutzend Jockeys, die er regelmäßig betreute, und entschieden mehr als ich. Aber dennoch… puh!

Tick-Tock pfiff zwischen den Zähnen den neuesten Hit, setzte sich auf die Bank und zog sich ein Paar sehr modische gelbe Socken an. Dann schlüpfte er in weiche, spitze, bis zu den Knöcheln reichende Schuhe. Er schüttelte die schmalen Beine seiner dunklen, aufschlaglosen Tweedhose nach unten, und da er meinen Blick spürte, schaute er auf und grinste zu mir herüber.

»Sieh dich nur satt an diesem Traumbild jeder Modezeitschrift, mein Junge«, sagte er.

»Mein Vater gehörte seinerzeit schon zu den ›Zwölf bestgekleideten Männern‹«, entgegnete ich kühl.

[19] »Mein Großvater hatte Vicuñafutter in seinen Regenmänteln.«

»Meine Mutter«, sagte ich betont ironisch, »besitzt ein Chanel-Kostüm.«

»Und meine«, erwiderte er bedächtig, »trägt ihres zum Kochen.«

Nach diesem kindischen Wortwechsel sahen wir uns in bester Laune an. Fünf Minuten in Tick-Tocks Gesellschaft waren so erquickend wie ein Rumpunsch in einem Schneesturm, und etwas von seinem unbekümmerten Lebensgefühl färbte stets auf sein Gegenüber ab. Mochte Art aus Scham sterben, mochte Grant Oldfields Seele sich verdüstern; sicherlich war alles völlig in Ordnung in der Welt des Pferderennens, dachte ich, solange der junge Ingersoll so fröhlich tickte.

Er winkte mir mit der Hand zu, rückte seinen Tirolerhut zurecht, sagte: »Bis morgen also« und war verschwunden.

Doch wie auch immer, etwas war nicht in Ordnung in der Welt des Pferderennens. Gar nicht in Ordnung. Ich wußte nicht was; ich konnte nur die Symptome sehen, und dies vielleicht um so klarer, als ich erst seit zwei Jahren in diesem Geschäft war. Unter Trainern und Jockeys schien eine allseitige Gereiztheit zu herrschen. Es gab plötzliche Haßausbrüche sowie unterschwellig mehr oder weniger starke Ressentiments und Mißtrauen. Das Ganze war mehr, dachte ich, als nur der übliche Dschungel unter der Oberfläche eines jeden Geschäfts mit starker Konkurrenz, mehr als nur das Gegenstück zu grauen Flanellanzügen, die sich in der Welt von Reithosen und Reitjacken [20] bewegten; aber Tick-Tock, der einzige, mit dem ich andeutungsweise über meine Zweifel gesprochen hatte, hatte die ganze Geschichte beiseite gewischt.

»Da liegst du falsch, Kumpel«, hatte er gesagt. »Schau dich um. Die Gesichter, die du siehst, sind freundlich, Junge. Freundlich. Für mich ist dieses Leben o. k.«

Die letzten Reitsachen verschwanden in den Weidenkörben, und bei einigen waren die Deckel schon geschlossen. Ich trank eine zweite Tasse Tee ohne Zucker, lauwarm, und beäugte den saftig aussehenden Obstkuchen. Wie gewöhnlich brauchte es eine ganze Menge Entschlußkraft, keinen zu essen. Ständig Hunger zu haben war das einzige, was mir am Rennreiten nicht gefiel, und September war immer eine ungünstige Jahreszeit, in der man die Reste des Sommerspecks abhungern mußte. Ich seufzte, wandte meine Augen vom Kuchen ab und versuchte mich damit zu trösten, daß mein Appetit schon im nächsten Monat auf sein Winterniveau zurückgegangen sein würde.

Young Mike rief von der Tür, durch die er sich gerade mit einem Korb gezwängt hatte, zu mir herüber: »Rob, da ist ein Cop, der Sie sprechen will.«

Ich stellte die Tasse ab und ging hinaus in den Waageraum. Ein durchschnittlich aussehender Polizist mittleren Alters mit einer Schirmmütze wartete auf mich, ein Notizbuch in der Hand.

»Robert Finn?« fragte er.

»Ja«, antwortete ich.

»Ich habe von Lord Tirrold gehört, daß Sie gesehen hätten, wie Arthur Mathews die Pistole an seine Schläfe setzte und abdrückte?«

[21] »Ja«, stimmte ich zu.

Er machte eine Notiz und sagte dann: »Ein klarer Fall von Selbstmord. Bei der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache braucht außer dem Arzt nur ein weiterer Zeuge anwesend zu sein, und das wird wahrscheinlich Mr. Kellar sein. Ich glaube, wir werden Sie nicht weiter bemühen müssen.« Er lächelte kurz, klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Tasche.

»Ist das alles?« fragte ich verblüfft.

»Ja, das ist alles. Wenn jemand sich in aller Öffentlichkeit umbringt wie dieser Mann, kommen Unfall oder Mord nicht in Frage. Der Untersuchungsrichter muß lediglich über die Formulierung seines Urteilsspruchs entscheiden.«

»Geistesgestört oder so etwas?« fragte ich.

»Ja«, bestätigte er. »Danke, daß Sie gewartet haben, auch wenn es die Idee Ihres Stewards war, nicht meine. Guten Abend.« Er nickte mir zu, drehte sich um und ging hinüber zum Zimmer der Rennleitung.

Ich nahm meinen Hut und mein Fernglas und ging zur Rennbahnstation hinunter. Der Zug wartete bereits und war voll, und der einzige Sitzplatz, den ich finden konnte, befand sich in einem Abteil voller Buchmacher, die auf einem Koffer, den sie auf den Knien balancierten, Karten spielten. Sie luden mich zum Mitspielen ein, und ich sah mich gezwungen, ihre Freundlichkeit damit zu belohnen, daß ich ihnen zwischen Luton und St. Pancras meine Fahrtkosten abgewann.

[22] 2

Die Wohnung in Kensington war leer. Ein paar Briefe, die mit der zweiten Post gekommen waren, lagen in dem Drahtkorb an der Innenseite der Tür. Ich fischte sie heraus, und während ich ins Wohnzimmer ging, sortierte ich die beiden aus, die an mich adressiert waren.

Wie gewöhnlich sah es hier aus, als wäre das Zimmer kürzlich von einem kleinen Wirbelsturm heimgesucht worden. Stapel von Klavierpartituren, von denen etliche zu Boden gerutscht waren, bedeckten den Flügel meiner Mutter. Zwei Notenständer lehnten wie betrunken an der Wand, und an einem war ein Geigenbogen eingehakt. Die Geige selbst stand in einem Lehnstuhl, der zugehörige Geigenkasten lag offen daneben auf dem Boden. Ein Cello und ein weiterer Notenständer ruhten Seite an Seite wie zwei Liebende auf dem Sofa. Eine Oboe und zwei Klarinetten lagen auf einem Tisch neben einem weiteren unordentlichen Notenstapel, und rundum im Zimmer und auf allen Schlafzimmerstühlen, die den größten Teil des Raumes ausfüllten, befand sich ein Durcheinander von weißen Seidentaschentüchern, Kolophonium, Kaffeetassen und Taktstöcken.

Mein erfahrener Blick über das Chaos sagte mir, daß vor kurzem noch meine Eltern, zwei Onkel und ein Cousin [23] dagewesen sein mußten. Da sie sich nie weit von ihren Instrumenten entfernten, war mit Sicherheit anzunehmen, daß sie sich ganz in der Nähe aufhielten und sehr bald zurückkommen würden. Ich hatte, wie ich dankbar registrierte, gerade ihre Pause erwischt.

Ich bahnte mir einen Weg zum Fenster und schaute hinaus. Keine zurückkehrenden Finns im Anmarsch. Die Wohnung befand sich im obersten Geschoß eines zwei oder drei Straßen hinter dem Hyde Park gelegenen Hauses, und über die Dächer hinweg konnte ich das Abendsonnenlicht auf der grünen Kuppel der Albert Hall schimmern sehen. Das Royal Institute of Music, an dem einer meiner Onkel unterrichtete, ragte daneben als dunkler Klotz in die Höhe. Die große, luftige Wohnung, die das Hauptquartier der Familie darstellte, war von meinem Vater aus Sparsamkeitsgründen gemietet worden, da die Orte, wo so viele Finns von Zeit zu Zeit arbeiteten, von hier aus gut zu Fuß erreichbar waren.

Ich war der Außenseiter. Die Talente, mit denen die Familien meiner beiden Elternteile so verschwenderisch gesegnet waren, hatten nicht auf mich abgefärbt. Das war ihnen schmerzlich klargeworden, als ich im Alter von vier Jahren nicht die Töne einer Oboe von denen eines Englischhorns unterscheiden konnte. Für den Uneingeweihten mag zwischen beiden kein großer Unterschied bestehen, aber mein Vater war zufällig ein international berühmter Oboist, an dem andere Oboenspieler gemessen wurden. Außerdem erkennt man eine hohe musikalische Begabung, sofern sie vorhanden ist, in einem außergewöhnlich frühen Alter, eher als jede andere angeborene [24] Fähigkeit; aber mit drei Jahren (als Mozart zu komponieren begann) beeindruckten mich Solokonzerte und Symphonien weniger als der Lärm, den die Männer der Müllabfuhr beim Leeren der Kehrichteimer machten.

Als ich fünf wurde, fanden meine desillusionierten Eltern sich widerstrebend mit der Tatsache ab, daß das Kind, das sie versehentlich gezeugt hatten (meinetwegen hatten sie eine wichtige Konzertreise durch Amerika absagen müssen), unmusikalisch war. Unmusikalisch, gemessen an ihren hohen Ansprüchen. Denn ich besaß zwar musikalisches Gehör, und überschwengliche Melodienfolgen rührten mich zu kindlichen Tränen, aber ich hatte nie und habe auch heute nicht ihr vollkommenes intellektuelles, emotionales, technisches und geistiges Verständnis dessen, was es bewirkt, wenn man bestimmte Töne in eine bestimmte Reihenfolge bringt.

Da meine Mutter sich nie mit halben Sachen zufriedengibt, wurde ich von nun an zwischen den Schulzeiten mit schöner Regelmäßigkeit in lange Ferien auf Bauernhöfe geschickt, angeblich meiner Gesundheit zuliebe, in Wirklichkeit aber, wie mir später klar wurde, damit meine Eltern die aufwendigen und langen Konzertreisen machen konnten, zu denen sie sich vertraglich verpflichtet hatten. Ich wuchs in einer Art Waffenstillstand mit ihnen auf, in dem die stillschweigende Übereinkunft herrschte, daß – da sie erstens kein Kind hatten haben wollen, und da dieses ihnen zweitens musikalisch keine Ehre machen würde – es besser sei, wenn wir uns so wenig wie möglich sahen.

Sie mißbilligten meinen riskanten Einstieg in die Jockeylaufbahn aus keinem anderen Grund, als daß [25] Pferderennen nichts mit Musik zu tun hatten. Es hatte keinen Zweck, ihnen zu erklären, daß ich in den diversen Ferien auf Bauernhöfen nichts anderes als reiten gelernt hatte (denn da ich zu sehr der Sohn meines Vaters war, langweilte mich die Landwirtschaft an sich zu Tode), und daß meine gegenwärtige Beschäftigung die unmittelbare Folge ihres Verhaltens in der Vergangenheit war. Gegen das, was sie nicht hören wollten, war das absolute Gehör meiner Eltern vollkommen taub.

Auf der Straße war immer noch nichts von ihnen zu sehen, weder von meinen Eltern noch von meinem Onkel, der bei uns wohnte und Cello spielte, noch von dem zweiten Onkel und dem Cousin, den beiden Gästen, die Geige und Klarinette spielten.

Ich öffnete meine Briefe. Der erste informierte mich darüber, daß meine Einkommenssteuererklärung überfällig war. Den zweiten Umschlag schlitzte ich schmunzelnd und mit selbstgefälliger Vorfreude auf, was nur zeigt, wie oft das Leben sich gegen dich erheben und dir ins Gesicht schlagen kann, wenn du es am wenigsten erwartest. In einer vertrauten, kindlichen Handschrift stand da:

Liebster Rob,

ich fürchte, Du wirst überrascht sein, aber ich werde heiraten. Es ist Sir Morton Henge, von dem Du vielleicht schon gehört hast; er ist sehr lieb und freundlich, und ich möchte keine Sticheleien über ihn von Dir hören: daß er alt genug sein könnte, um mein Vater zu sein, etc. Ich sollte Dich wohl lieber nicht zu dem Empfang einladen, oder? Morton weiß nichts [26] von Dir, und Du bist bestimmt so lieb, keinem etwas von uns zu verraten, falls es Dir nichts ausmacht. Ich werde Dich nie vergessen, liebster Rob, und auch nicht die vielen süßen Stunden, die wir miteinander verbracht haben. Danke für alles und auf Wiedersehen,

Deine Dich liebende Paulina

Sir Morton Henge war ein Witwer mittleren Alters und ein schwerreicher Konservenmagnat. Schön, schön. Ich fragte mich sardonisch, wie seinem konservativen Sohn, den ich flüchtig kannte, die Aussicht auf ein knuddeliges, zwanzigjähriges Model als Stiefmutter gefallen würde. Aber gequält über Paulinas großen Fang lachen zu können machte den Tiefschlag nicht schmerzloser.

In den achtzehn Monaten, seit ich sie kennengelernt hatte, war sie von einer unscheinbaren grauen Maus zu einer strahlenden Blondine auf der Titelseite von mindestens einem Hochglanzmagazin pro Woche aufgeblüht. Im letzten Monat hatten ihre leuchtenden Augen mich (und acht Millionen anderer Männer) von einer Zigarettenreklame, in jeder U-Bahnstation Londons, angelächelt. Ich hatte es zwar als unvermeidlich vorausgesehen, daß sie mich eines Tages sitzenlassen würde, wenn sie in ihrem Beruf auf eine Goldader stieße, und unsere ganze Beziehung war von Anfang an auf dieser Annahme aufgebaut; aber eine Zukunft ohne ihre fröhliche Albernheit und ihre großzügigen Liebesdienste schien mir plötzlich freudloser, als ich erwartet hatte.

Ich ging in mein Schlafzimmer, und während ich [27] Paulinas Brief auf die Kommode legte, erblickte ich mich in dem ovalen Spiegel an der Wand darüber. Das ist also das Gesicht, dachte ich, das sie so gern neben sich auf ihrem Kopfkissen gesehen hat, das aber keine Chance gegen einen Titel und ein Konservenvermögen hatte. Während ich nüchtern mein Spiegelbild betrachtete, registrierte ich das schwarze Haar, schwarze Augenbrauen und Wimpern, die braunen Augen… kein bemerkenswertes oder besonders hübsches Gesicht – zu hager vielleicht. Nicht schlecht, nicht gut. Ein Gesicht eben.

Ich wandte mich ab und sah mich in dem kleinen Zimmer mit schräg abfallender Decke um, einer früheren Abstellkammer, die ich für mich umgebaut hatte, als ich von meinen Reisen zurückgekehrt war. Es stand nur sehr wenig darin: ein Bett, die Kommode, ein Sessel, ein Nachttisch mit einer Lampe darauf. Ein Bild, eine Kohlezeichnung von einem Pferderennen, hing an der Wand gegenüber von meinem Bett. Es gab keinen anderen Schmuck, wenige Bücher, keine Unordnung. In den sechs Jahren meiner Wanderschaft rund um die Welt hatte ich mich so daran gewöhnt, mit einem Minimum von Besitz zu leben, daß sich auch jetzt, obwohl ich diesen kleinen Raum mit Unterbrechungen seit zwei Jahren bewohnte, nichts zum Hineinstopfen angesammelt hatte.

An einem Ende des Raumes war ein Kleiderschrank für mich eingebaut worden. Ich öffnete die Tür und versuchte, den Inhalt so anzuschauen, wie Paulina das bei ihren zwei Besuchen getan haben mußte. Ein guter dunkelgrauer Anzug, ein Abendjackett mit passender schwarzer Hose, eine Reitjacke, zwei graue Freizeithosen und eine Reithose. Ich [28] zog den braunmelierten Tweedanzug aus, den ich gerade trug, und hängte ihn ans Ende der dürftigen Reihe. Mir genügte diese Kleidung. Es war für jede Gelegenheit etwas dabei. Sir Morton Henge zählte seine Anzüge vermutlich im Dutzend und hatte einen Diener, der sich um sie kümmerte. Ich zuckte mit den Schultern. Diese melancholische Bestandsaufnahme brachte nichts ein. Paulina war fort, und damit hatte es sich.

Ich nahm mir ein Paar leichte schwarze Turnschuhe heraus, schloß die Schranktür und zog Jeans und ein altes, kariertes Hemd an. Anschließend sinnierte ich über die trostlose Zeit zwischen heute und dem Rennen am nächsten Tag. Das Problem bei mir war, daß Hindernisrennen für mich zu einer Sucht geworden waren, so daß all die normalen Freuden des Lebens und sogar Paulina nur als Mittel dienten, die Stunden bis dahin so rasch wie möglich herumzubringen.

Mein Magen zog sich zusammen, was ich gern als Folge der romantischen Enttäuschung über mein verdammtes Liebesleben gedeutet hätte, doch ich wußte sehr wohl, daß es nur daran lag, daß ich seit dreiundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte. Indem ich mir gequält eingestand, daß diese Abfuhr mir nicht den Appetit verdorben hatte, machte ich mich auf den Weg in die Küche. Ehe ich sie jedoch erreichte, flog die Wohnungstür geräuschvoll auf, und meine Eltern, meine Onkel sowie mein Cousin stürmten herein.

»Hallo, Liebling«, sagte meine Mutter und hielt mir ihre glatte, duftende Wange zum Kuß hin. Es war ihre übliche Begrüßung für jedermann, vom Impresario bis zu den [29] Chorsängern in der letzten Reihe, und mir gegenüber fehlte ihr immer noch jeder mütterliche Zug. Sie entsprach in keiner Hinsicht einem mütterlichen Wesen. Groß, schlank und ungeheuer schick auf eine Art, die selbstverständlich wirkte, aber das Resultat von viel Überlegung und finanziellem Aufwand war, wurde sie mehr und mehr eine ›Persönlichkeit‹, je näher sie den Fünfzigern rückte. Als Frau war sie leidenschaftlich und temperamentvoll; als Künstlerin eine erstklassige Interpretin von Haydn, dessen Klavierkonzerte sie mit magischer, akribischer, begeisternder Präzision spielte. Ich hatte gesehen, wie hartgesottene Musikkritiker ihre Konzerte mit Tränen in den Augen verließen. Deshalb hatte ich auch nie erwartet, an einem weiten, mütterlichen Busen Trost für meinen kindlichen Kummer zu finden oder zu einer sockenstopfenden, kuchenbackenden Mama nach Hause kommen zu können.

Mein Vater, der mich stets mit höflicher Freundlichkeit behandelte, sagte zur Begrüßung: »Hattest du einen guten Tag?« Das fragte er immer. Gewöhnlich antwortete ich mit ja oder nein, wohl wissend, daß es ihn nicht wirklich interessierte.

Diesmal sagte ich: »Ich habe gesehen, wie ein Mann sich umgebracht hat. Nein, ich hatte keinen guten Tag.«

Fünf Köpfe drehten sich zu mir um.

Meine Mutter fragte: »Liebling, was meinst du damit?«

»Ein Jockey hat sich beim Rennen erschossen. Er stand knapp zwei Meter von mir entfernt. Es war scheußlich.«

Alle fünf standen da und sahen mich mit offenem Mund an. Ich wünschte, ich hätte ihnen nichts erzählt, denn in [30] der Erinnerung kam mir die Sache noch schrecklicher vor als das wirkliche Geschehen.

Sie waren jedoch nicht betroffen. Der Cello-Onkel klappte hörbar seinen Mund zu, ging mit einem Achselzucken weiter ins Wohnzimmer und sagte über die Schulter zu mir: »Nun ja, wenn du dich auch einer so merkwürdigen Beschäftigung hingeben mußt…«

Meine Mutter folgte ihm mit den Augen. Ein dunkler Baßton schwang herüber, als er sein Instrument vom Sofa nahm, und wie von einem Magneten angezogen, folgten ihm die anderen. Nur mein Cousin blieb noch einen Moment, um einen Gedanken an Art zu verschwenden, dann ging auch er zu seiner Klarinette.

Ich hörte, wie sie ihre Instrumente stimmten und die Notenständer aufstellten. Sie begannen ein Tanzstück für Saiten- und Holzblasinstrumente zu spielen, das mir besonders mißfiel. Die Wohnung war mir plötzlich unerträglich geworden. Ich ging hinaus, hinunter auf die Straße und marschierte los.

Es gab nur einen Ort für mich, an den ich gehen konnte, wenn ich eine bestimmte Art Frieden suchte, und ich ging bewußt nicht zu oft dorthin, um mein Willkommensein nicht aufs Spiel zu setzen. Doch es war jetzt einen vollen Monat her, seit ich meine Cousine Joanna gesehen hatte, und ich verspürte ein dringendes Bedürfnis nach ihrer Gesellschaft. ›Dringendes Bedürfnis‹ – das war die richtige Bezeichnung dafür.

Sie öffnete die Tür, wie üblich gut gelaunt und mit einer einladenden Handbewegung.

»Hallo, wie schön«, sagte sie lächelnd. Ich folgte ihr in [31] die ›Mews‹, eine umgebaute ehemalige Stallung, die ihr als Wohnzimmer, Schlafzimmer und Proberaum zugleich diente. Die Hälfte des Daches bestand aus einem schrägen Fenster, durch das die letzten Strahlen der Abendsonne noch hereinschienen. Die Form und verhältnismäßige Kahlheit des Raumes verliehen ihm ungewöhnliche akustische Eigenschaften; wenn man sprach, klang es wie in jedem anderen Raum; wenn aber jemand sang wie Joanna, hatte man die wohltuende Illusion von Weite und eine ungewöhnliche Schallverstärkung durch die Betonwände.

Joannas Stimme war tief, klar und volltönend. Wenn sie wollte, konnte sie ihr beim Singen dramatischer Passagen eine Spur von Sprödigkeit verleihen, die sehr effektvolle Andeutung eines Sprungs in einer Glocke. Als Blues-Sängerin hätte sie ein Vermögen verdienen können; doch da sie nun mal eine waschechte Finn war, kam für sie eine derart kommerzielle Nutzung ihres Talents nicht in Frage. Statt dessen bevorzugte sie Lieder, die mir unmelodisch und unlukrativ erschienen, obwohl sie damit bei bestimmten Leuten eine beachtliche Reputation genoß.

Sie hatte mich in einer Jeans begrüßt, die so alt wie meine eigene war, und in einem stellenweise mit Farbe beklecksten schwarzen Pullover. Auf einer Staffelei stand das halbfertige Porträt eines Mannes, und auf einem Tisch daneben befanden sich Pinsel und Farben.

»Ich versuche es mal mit Ölfarben«, sagte sie, während sie einen Pinsel nahm und damit vorsichtig auf das Bild tupfte, »aber es klappt noch nicht besonders gut, verflixt noch mal.«

»Dann bleib doch beim Kohlezeichnen«, sagte ich. Mit [32] fließenden Linien hatte sie die Rennpferde gezeichnet, die in meinem Schlafzimmer hingen, anatomisch nicht ganz genau, aber voller Leben und Bewegung.

»Dies will ich aber wenigstens fertigmachen«, sagte sie.

Ich stand da und sah ihr zu. Sie drückte etwas Karminrot aus der Tube.

Ohne mich anzusehen, fragte sie: »Was ist los?«

Ich antwortete nicht. Sie unterbrach ihren Pinselstrich mitten in der Luft, drehte sich um und musterte mich ein paar Sekunden lang ruhig.

»In der Küche ist ein Steak«, sagte sie.

Eine Gedankenleserin, meine Cousine Joanna. Ich grinste sie an und ging hinaus in den langen, schmalen Anbau, in dem sie zu baden und zu kochen pflegte. Es war Rumpsteak, dick und dunkelrot. Ich grillte es mit zwei Tomaten und machte etwas French Dressing für einen Salat, den ich schon vorbereitet in einer Holzschale vorfand. Als das Steak durch war, verteilte ich es auf zwei Teller und trug alles zu Joanna hinein. Es duftete wunderbar.

Sie legte ihren Pinsel hin, wischte sich die Hände am Hosenboden ab und kam zum Essen.

»Eins kann ich dir sagen, Rob«, meinte sie nach dem ersten Bissen. »Du machst ein irre gutes Steak.«

»Oh, danke für die Blumen«, sagte ich mit vollem Mund.

Wir aßen alles restlos auf. Ich war zuerst fertig, lehnte mich zurück und sah ihr zu. Sie besaß ein faszinierendes Gesicht, voller Kraft und Charakter, mit geraden, dunklen Augenbrauen und, heute abend, ohne Lippenstift. Sie hatte ihr kurzes, lockiges Haar sachlich hinter die Ohren [33] gesteckt, aber oben kräuselte es sich und fiel ihr wuschelig in die Stirn.

Meine Cousine Joanna war der Grund, warum ich immer noch Junggeselle war, falls man mit sechsundzwanzig überhaupt einen Grund dafür haben muß. Sie war drei Monate älter als ich, wodurch sie mir gegenüber unser ganzes Leben lang einen Vorteil hatte, und das war sehr schade, denn ich liebte sie schon seit meiner Kindheit. Ich hatte sie oft gebeten, mich zu heiraten, doch sie hatte stets nein gesagt. Cousin und Cousine ersten Grades, hatte sie nachdrücklich erklärt, wären zu nahe verwandt. Außerdem, hatte sie hinzugefügt, brächte ich ihr Blut nicht in Wallung.

Zwei andere Männer hatten dies jedoch geschafft. Beide waren Musiker. Und beide hatten mir jeweils auf freundlichste Art erklärt, wie gewaltig Joanna als Geliebte ihre Wertschätzung des Lebens vertieft, ihrer musikalischen Inspiration neuen Schwung verliehen, ihnen neue Perspektiven eröffnet hätte und so weiter und so fort. Beide waren betont grüblerische, unbestreitbar gutaussehende Männer, und ich hörte gar nicht gern, was sie mir zu sagen hatten. Beim ersten Mal, ich war damals achtzehn, reiste ich eilig und voller Schmerz ins Ausland und kehrte erst sechs Jahre später zurück. Beim zweiten Mal ging ich schnurstracks auf eine wilde Party, betrank mich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben bis zum Umfallen und wachte in Paulinas Bett auf. Beide Erlebnisse hatten sich als befriedigend und lehrreich erwiesen. Doch sie hatten mich nicht von Joanna geheilt.

Sie schob ihren leeren Teller zurück und fragte: »Also, was ist los?«

[34] Ich erzählte ihr von Art. Sie hörte mit ernster Miene zu, und als ich geendet hatte, sagte sie: »Der arme Mann. Und seine arme Frau… Weißt du, warum er es getan hat?«

»Ich glaube, weil er seinen Job verloren hat«, antwortete ich. »Art war in allem ein Perfektionist. Er war zu stolz… Er hätte nie zugegeben, daß er etwas in einem Rennen falsch gemacht hat… Und ich glaube, daß er es einfach nicht fertiggebracht hat, all den Leuten ins Gesicht zu sehen, die wußten, daß man ihn gefeuert hat. Aber das Merkwürdige daran ist, Joanna, daß er auf mich so gut wie immer wirkte. Ich weiß, daß er fünfunddreißig war, aber das ist wirklich noch kein Alter für einen Jockey, und obwohl es offenkundig war, daß er und Corin Kellar – der Trainer, der ihn engagiert hatte – ständig Streit hatten, wenn ihre Pferde nicht gewannen, hatte er nichts von seiner Technik eingebüßt. Er hätte eine andere Anstellung bekommen, wenn auch vielleicht nicht bei einem der Spitzenrennställe wie dem von Corin.«

»Und da liegt der Hase im Pfeffer, glaube ich«, sagte sie. »Der Tod schien ihm weniger schlimm als der Abstieg.«

»Ja, so sieht es aus.«

»Ich hoffe, wenn deine Zeit zum Abdanken kommt, wirst du es weniger dramatisch machen«, sagte sie. Ich lächelte, und sie fügte hinzu: »Und was wirst du dann tun, wenn du einmal aufhörst?«

»Aufhören? Ich habe gerade erst angefangen«, entgegnete ich.

»Und in vierzehn Jahren wirst du ein zweitklassiger, angeschlagener, verbitterter Vierziger sein, zu alt, um noch etwas aus deinem Leben zu machen, und mit nichts als [35] Erinnerungen an Pferde, für die sich niemand interessiert.« Dem Ton nach schien sie ziemlich ärgerlich über diese Aussicht zu sein.

»Du dagegen«, erwiderte ich, »wirst die dicke alternde Zweitbesetzung einer Altistin sein, von Angst zerfressen, daß du dein gutes Aussehen verlieren könntest und deine kostbaren Stimmbänder von Jahr zu Jahr schwächer werden könnten.«

Sie lachte. »Wie gräßlich. Aber ich verstehe, was du sagen willst. Von jetzt an werde ich versuchen, nichts gegen deinen Job zu haben, weil er keine Zukunft hat.«

»Aber du wirst ihn aus anderen Gründen weiter mißbilligen?«

»Sicher. Er ist von Grund auf leichtfertig, unproduktiv, wirklichkeitsfremd und ermutigt die Leute, Zeit und Geld für nutzlose Dinge zu verschwenden.«

»Wie die Musik«, entgegnete ich.

Sie funkelte mich an. »Dafür wirst du jetzt abwaschen«, erklärte sie, stand auf und stellte die Teller zusammen.

Während ich meine Strafe für die schlimmste Häresie, die in der Familie Finn begangen werden konnte, abbüßte, machte sie sich wieder an ihr Porträt, doch da es langsam dämmerte, legte sie den Pinsel für diesen Tag fort, als ich ein Friedensangebot in Form von frischem Kaffee hereinbrachte.

»Funktioniert dein Fernsehgerät?« fragte ich, während ich ihr eine Tasse hinstellte.

»Ja, ich glaube schon.«

»Hast du etwas dagegen, wenn ich es für eine Viertelstunde anstelle?«

[36] »Wer spielt denn?« fragte sie automatisch.

Ich seufzte. »Niemand. Es ist eine Sendung über Pferderennen.«

»Oh. Na schön. Wenn du mußt.« Aber sie lächelte.

Ich schaltete ein, und wir sahen das Ende einer Varietésendung. Mir gefielen die Lieder der letzten Interpretin, einer munteren Blondine, aber Joanna meinte, ihre Atemtechnik ließe zu wünschen übrig. Eine Reihe Werbespots folgte, und danach kündigten die erregenden, aufdringlichen Eröffnungstakte des Galloping Major, begleitet von eingeblendeten Zeitrafferaufnahmen galoppierender Pferde, die wöchentlichen fünfzehn Minuten von Turf Talk an.

Das wohlbekannte, gutaussehende Gesicht von Maurice Kemp-Lore erschien lächelnd und entspannt auf dem Bildschirm. Er begann auf seine lockere, charmante Art seinen Gast und das Thema des Abends vorzustellen, einen prominenten Buchmacher und die mathematischen Voraussetzungen beim Zustandekommen einer Wette.

»Doch zunächst«, sagte er, »möchte ich dem hervorragenden Steeplechase-Jockey Art Mathews, der heute durch eigene Hand auf der Rennbahn von Dunstable zu Tode gekommen ist, meine Hochachtung bezeigen. Viele von Ihnen haben ihn reiten sehen… ich nehme an, fast alle von Ihnen haben Fernsehübertragungen von Rennen gesehen, in denen er geritten ist… und Sie alle werden mit mir sehr erschüttert darüber sein, daß eine so erfolgreiche Karriere in einer solchen Tragödie enden mußte. Wenngleich nie ein wirklicher Champion-Jockey, galt Art dennoch als einer der sechs besten Steeplechase-Reiter in diesem Land, [37] und sein aufrechter, unbestechlicher Charakter war ein glänzendes Vorbild für junge Jockeys, die am Beginn ihrer Laufbahn standen…«