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Dick Francis

Zuschlag

Roman

Aus dem Englischen von
Ruth Keen

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1974 bei

Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe:

›Knock Down‹

Copyright © 1974 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1975

unter dem Titel ›Voll Blut‹

im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin

Umschlagfoto von Steve Boyle (Ausschnitt)

Copyright © Steve Boyle/NewSport/Corbis/Dukas

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23095 6 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60643 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Mrs. Kerry Sanders sah gar nicht wie ein Todesengel aus.

Sie erinnerte vielmehr an eine reiche, zornige amerikanische Lady, die gerade ihren durchsichtigen Schirm aufspannte, um sich vor einem kalten Regenschauer zu schützen.

»Das«, fragte sie ungläubig, »soll die gottverdammte Auktion von Ascot sein?«

Sie war klein und äußerst elegant in Wildleder mit Nerzbesätzen gehüllt. Ihre zarte Haut konnte Pfirsiche beschämen, und ihr Parfum hielt mühelos britischem Oktoberwetter und hundert Pferden in unmittelbarer Nähe stand. Mit ihren vierzig Jahren trug sie ihre Lebenserfahrung so selbstbewußt zur Schau wie Diamanten; und Diamanten trug sie an jedem einzelnen Finger wie einen groben Schlagring.

»Ascot?« wiederholte sie mit einer Herablassung, die an Seidenhüte, Champagner und königliche Rasenanlagen denken ließ. »Dieser jämmerliche Verhau?«

»Ich habe durchaus versucht, Sie vorzuwarnen«, entschuldigte ich mich sanft.

Sie warf mir einen scharfen, unfreundlichen Blick zu. »Sie haben mir nicht gesagt, daß es hier wie in einem Roman von Dickens aussieht.«

[6] Ich schaute zu dem primitiven Auktionsring hinüber: acht Meter im Durchmesser, den Unbilden des Himmels schutzlos ausgesetzt. In der Mitte ein Flecken wilden Ackergrases, drum herum ein Asphaltweg, auf dem die Pferde auf und ab geführt werden konnten. Dem Komfort der Kunden diente eine schlichte hölzerne Überdachung rund um den Asphaltweg, die ebenso wie die Rückwand aus Planken zusammengezimmert worden war.

Pläne für bessere Zeiten waren schon über das Reißbrettstadium hinaus gediehen, aber an jenem Tag schlummerte der geplante freundliche Ziegelbau mit bequemen Sesseln offenbar noch in der Ideenkiste des Architekten. Die einzige verfügbare Sitzgelegenheit war ein fünfzehn Zentimeter breites Holzbrett, das in Hüfthöhe an der hinteren Wand des Verschlags verlief. Allerdings ließ man sich selten für länger darauf nieder, da dies an einer bestimmten Stelle Betäubungsgefühle hervorrief.

Der Wind pfiff mit ganzer Kraft durch das hölzerne Rund des Auktionsrings, aber es war durchaus möglich, sich an Regentagen mit etwas Glück ein trockenes Plätzchen zu sichern, vorausgesetzt, man war als erster da.

»Früher war es noch schlimmer«, sagte ich.

»Unmöglich.«

»Früher gab es überhaupt keinen Unterstand.«

Sie registrierte den amüsierten Unterton, was sie endgültig gereizt stimmte.

»Sie haben gut lachen. Sie sind ein rauhes Leben gewohnt.«

»Ja… Also wie steht's«, sagte ich. »Wollen Sie sich das Pferd ansehen?«

[7] »Wo ich schon mal da bin«, sagte sie widerwillig.

Zur einen Seite des Auktionsrings befand sich eine herrliche Stallanlage aus der Jahrhundertwende mit gepflastertem Vorhof, ein Glanzstück verglichen mit der Bretterbude von einem Auktionsring. Die Boxen mit blitzsauberen Türen reihten sich in einem weiträumigen Viereck aneinander. Steinbögen mit feinziselierten Verzierungen überspannten die Eingänge zum Hof, entlang der Dächer saßen hübsche Entlüftungstürmchen, und Mrs. Kerry Sanders wurde dem ganzen Unternehmen gegenüber sichtlich gewogener.

Die Pferde, die in dieser noblen Behausung untergebracht waren, wurden in der Regel erst zum Schluß der Auktion angeboten. Leider gehörte das Pferd, das sie sich unbedingt ansehen wollte, bevor ich es für sie kaufte, nicht dazu, und so führte ich sie mit einem kleinen Seufzer in die entgegengesetzte Richtung.

Sofort zogen wieder Gewitterwolken in ihren blaugrünen Augen auf, und zwei scharfe senkrechte Linien wurden zwischen ihren Augenbrauen sichtbar. Vor uns erstreckte sich eine weite Fläche aus unkrautbewachsenem nassem Gras, an deren anderem Ende eine Reihe nüchterner, schwarzer Holzstallungen lag. Der Regen prasselte plötzlich mit vermehrter Kraft auf den glänzenden Schirm nieder, und das feinkörnige Ledermaterial ihrer Schuhe setzte an den Rändern dunkle, lehmige Flecken an.

»Das können Sie nicht von mir verlangen«, sagte sie.

Ich wartete ab. Sie war aus freien Stücken gekommen, ich hatte sie keineswegs dazu überredet.

»Ich kann es mir ja noch im Ring anschauen«, sagte sie, [8] was sicherlich nicht der richtige Weg war, ein Pferd zu kaufen. »Wie lange dauert es noch, bis es drankommt?«

»Ungefähr eine Stunde.«

»Dann lassen Sie uns aus diesem gottverdammten Regen ins Trockene gehen.«

Wenn man nicht im Freien bleiben wollte, konnte man sich nur in einen relativ neuen Holzbau flüchten, der an einem Ende Kaffeemaschinen und an dem anderen eine Bar beherbergte. Mrs. Sanders rümpfte beim Eintreten angesichts der dampfenden Menschenmassen unwillkürlich die Nase, und auch mir schien, wie es einem immer geht, wenn man die Dinge durch die Augen seiner Gäste betrachtet, der Boden mehr noch als sonst mit weggeworfenen Plastikbechern und Sandwichfolien übersät.

»Einen Gin«, verlangte Kerry Sanders angriffslustig, noch ehe sie nach ihren Wünschen gefragt wurde.

Ich bedachte sie mit einem kleinen Lächeln, das sie hoffentlich als aufmunternd empfand, und mischte mich in das Gedränge an der Bar. Irgend jemand schüttete Bier über meinen Ärmel, der Mann vor mir bestellte fünf verschiedene Drinks und stritt dann über das Wechselgeld: es gab sicher schönere Dinge, dachte ich resigniert, mit denen man einen Mittwochnachmittag verbringen konnte.

»Jonah«, sagte eine Stimme dicht an meinem Ohr. »Seit wann machst du dir was aus Schnaps?«

Ich wandte mich kurz zu Kerry Sanders um, die an einem kleinen Tisch saß und angewidert aussah. Das andere Augenpaar neben mir folgte meinem Blick in ihre Richtung, und die Stimme kicherte anzüglich: »Geile Puppe.«

»Diese Puppe«, sagte ich, »ist eine Kundin.«

[9] »Oh, na klar. Na klar.« Die hastige Zurücknahme der Beleidigung, das versöhnliche Grinsen, der kumpelhafte Schlag auf die Schulter, das ganze Gehabe ging mir gegen den Strich, aber ich war mir bewußt, daß es nur der verzweifelte Versuch war, mangelndes Selbstbewußtsein zu überspielen. Ich kannte Jiminy Bell seit Jahren, wir waren Seite an Seite über so manche Hürden gesprungen: ein ehemaliger Hindernisjockey, der mittlerweile im Pferdemilieu nur noch herumhing und auf Almosen hoffte. Es hätte ja auch mich treffen können…

»Einen Drink?« schlug ich vor und empfand Mitleid, als ich seine Augen aufleuchten sah.

»Brandy«, sagte er. »Einen großen, wenn's geht.«

Ich spendierte ihm einen dreifachen und gab ihm fünf Pfund. Er nahm beides mit der für ihn typischen Mischung aus Scham und gezwungener Nonchalance an; wahrscheinlich tröstete er sich damit, daß ich es mir leisten konnte.

»Was weißt du über das Ten-Trees-Gestüt?« fragte er, was ungefähr der Frage gleichkam, was man über die Bank of England wußte. »Man hat mir da einen Job angeboten.«

Wenn es ein guter Job gewesen wäre, hätte er sicher nicht meine Meinung eingeholt. »Als was?« fragte ich.

»Als Assistent.« Er nahm einen Schluck Brandy und verzog das Gesicht, nicht wegen des Geschmacks, sondern weil das Leben so hart war. »Pferdepflegerassistent.«

Ich zögerte. Viel war das nicht gerade.

»Besser als gar nichts, oder?«

»Meinst du?« fragte er ernst.

»Es zählt, was du bist«, sagte ich. »Nicht, was du tust.«

Er nickte düster, und ich fragte mich, ob er dasselbe [10] dachte wie ich: Wenn man mit der Zukunft konfrontiert wird, ist entscheidend, was man einmal gewesen ist. Hätte sein Name nicht zehn Jahre lang in den Sportseiten gestanden, hätte er sich gut mit dem zufriedengeben können, was ihm heute als Schande erschien.

Durch eine Lücke in der Menge bemerkte ich, wie Kerry Sanders ungehalten in meine Richtung sah und mit den Fingern auf den Tisch trommelte.

»Bis dann«, sagte ich zu Jiminy Bell. »Laß mich wissen, wie es dir ergeht.«

»Ja doch…«

Ich zwängte mich zu der Lady durch. Dank dem Gin und gutem Zureden verflüchtigte sich die erste Erschütterung über die Auktion, und nach und nach kehrte ein wenig von ihrem Elan zurück, mit dem sie in London in meinen Wagen gestiegen war. Wir waren hierhergekommen, um einen Steeplechaser als Geschenk für einen jungen Mann zu kaufen, und sie hatte zart durchblicken lassen, daß es ihr nicht so sehr um den jungen Mann ging, sondern um seinen Vater. Die ehelichen Vorverhandlungen befanden sich anscheinend schon im vorgerückten Stadium, aber über Namen hatte sie sich ausgeschwiegen. Sie war mir – und ich ihr – über einen gemeinsamen amerikanischen Bekannten empfohlen worden, einen Vollblutagenten namens Pauli Teksa, und bis vor zwei Tagen hatte ich noch nichts von ihrer Existenz gewußt. Doch seitdem war sie nicht mehr aus meiner Telefonleitung gewichen.

»Es wird ihm doch gefallen, glauben Sie nicht auch?« fragte sie jetzt zum siebten oder achten Mal, weniger aus echter Sorge als vielmehr Beifall heischend.

[11] »Es ist ein phantastisches Geschenk«, sagte ich geflissentlich und fragte mich, ob der junge Mann es mit Zynismus oder Begeisterung entgegennehmen würde. Ich hoffte um ihretwillen, er würde verstehen, daß sie ihm eher eine Freude machen als ihn bestechen wollte, selbst wenn beides hineinspielte.

»Ich sollte vielleicht einen kurzen Blick auf das Pferd werfen, bevor es in den Ring kommt«, sagte ich, »nur um mich zu vergewissern, daß es sich keine Sehnenentzündung zugezogen hat und ihm nicht womöglich Warzen gewachsen sind, seit ich es zum letztenmal gesehen habe.«

Sie schaute in den Regen hinaus. »Ich bleibe hier.«

»Gut.«

Ich stiefelte durch den Matsch zu den wenig ansprechenden alten Ställen und fand in Box Nr. 126 erwartungsgemäß das Pferd mit der Katalognummer 126, das sich auf seinem Stroh nach mir umdrehte und gelangweilt wirkte. Katalognummer 126 war ein fünfjähriges Hürdenpferd, das jemand mit einem makaberen Sinn für Humor Hearse Puller, ›Leichenwagenzieher‹, genannt hatte, und irgendwie konnte man auch verstehen, warum. Mit seinem rundum glänzenden dunkelbraunen Fell wirkte es ein wenig protzig, und es hielt sein Haupt so stolz gereckt, als bilde es sich etwas auf sein Aussehen ein. Fehlte nur noch der schwarze Federbusch, und man hätte es bedenkenlos vor einen Leichenwagen spannen und zu einem Friedhof aus viktorianischen Zeiten losschicken können.

Kerry Sanders hatte sich ausbedungen, daß ihr Geschenk ein junges, gut aussehendes Pferd mit ersten Meriten und den allerbesten Aussichten auf eine kometengleiche [12] Karriere sein mußte. Ferner, daß es in früheren Rennen noch nie gestürzt war. Zudem sollte es von seiner Anlage her dem Vater gefallen, obwohl es für den Sohn gedacht war. Überdies sollte es interessant, von guter Abstammung, klug und mutig sein, vor Gesundheit nur so strotzen und ganz versessen darauf sein, Rennen zu laufen: mit einem Wort, ein perfekter Steepler. Darüber hinaus sollte der Kauf bis zum Freitag getätigt sein, da dies der Geburtstag des jungen Mannes war. Und last but not least durfte das Ganze nicht mehr als sechs- bis siebentausend Dollar kosten.

Das war im wesentlichen der Inhalt ihres ersten Anrufs am Montagnachmittag gewesen. Die Idee für das Geschenk war ihr um zwei Uhr gekommen, um zehn nach zwei hatte sie meinen Namen herausgefunden, und um zwanzig nach zwei hatte sie mich kontaktiert. Sie sah keine Veranlassung, warum ich nicht genauso eilig in die Startlöcher springen sollte wie sie, und war Feuer und Flamme, als ich die Auktion von Ascot vorschlug – bis wir tatsächlich dort waren.

Niemand bekommt für siebentausend Dollar einen perfekten Steepler, der zu Saisonbeginn noch sieglos ist. Ich hatte die meiste Zeit seit Montag damit verbracht, sie einerseits davon zu überzeugen, daß sie ihre Ansprüche auf die Hälfte herunterschrauben mußte, und andererseits im Katalog von Ascot eine Perle ausfindig zu machen versucht, die zum Schleuderpreis zu haben war. Schließlich hatte ich ihr Hearse Puller vorgeschlagen, in der Gewißheit, daß ihr der Name nicht passen würde. Das Tier besaß keine nennenswerte Abstammung, aber ich hatte es laufen sehen und wußte, daß es Mumm besaß, was schon der halbe Sieg war, [13] und daß es von einem nervösen Trainer ausgebildet wurde, was bedeuten konnte, daß es sich in einer entspannten Umgebung vielleicht noch steigerte.

Ich befühlte Hearse Pullers Beine und schaute ihm tief ins Maul, dann ging ich wieder zurück und teilte Kerry Sanders mit, daß sie ihr Geld schon mal bereithalten könne.

»Sie glauben also, daß wir ihn bekommen werden?« fragte sie.

»Solange ihn nicht jemand anders unbedingt haben will.«

»Könnte das passieren?«

»Kann man nie wissen«, sagte ich und fragte mich, wie oft ich solche Unterhaltungen jahrein, jahraus wohl führte. Die Dinge schienen den gewohnten Lauf zu nehmen.

Als wir dann zum Ring gingen, hatte der Regen nachgelassen und war in ein leichtes Nieseln übergegangen, dennoch war es schwierig, ein trockenes Fleckchen für Kerry Sanders zu finden. Kaum jemand in dieser Versammlung von Regenmänteln legte etwas anderes als schlechte Laune an den Tag. Die Menschen standen mit eingezogenen Schultern und hochgeschlagenen Kragen herum, die Hände in den Taschen vergraben – die übliche Ansammlung von Agenten, Trainern, Züchtern und hoffnungsvollen Käufern, die nichts als Sieger und die Beute im Kopf hatten, die diese eines Tages einfahren würden.

Katalognummer 122, ein traurig aussehender Fuchs, trottete schwerfällig den Asphaltweg entlang und konnte trotz der Überredungskünste des Auktionators nicht einmal das Mindestgebot erzielen. Ich sagte Kerry Sanders, daß ich gleich wiederkommen würde, und ging mir Nummer 126 anschauen, die gerade im Wartering herumgeführt wurde, [14] bevor sie aufgerufen werden sollte. Hearse Puller hielt sich eigentlich sehr gut, sah aber ein bißchen zu aufgeregt aus, und ich dachte, daß der Regen wahrscheinlich die Tatsache kaschierte, daß er schwitzte.

»Interessiert dich der schwarze Pfau da?« fragte eine Stimme neben mir, und wieder war es Jiminy Bell, der meinem Blick gefolgt war und mich mit dem Geruch seines dreifachen Brandys aus nächster Nähe beehrte.

»Nicht besonders«, sagte ich und wußte genau, daß er aus meinem Gesichtsausdruck keinerlei Schlüsse hatte ziehen können. Nichts ist besser als der Handel mit Vollblutpferden, um sich ein Mienenspiel anzueignen, gegen das selbst ein Pokerspieler indiskret wirkt.

Hearse Puller stolzierte vorbei, und ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Nummer 127, die als nächstes kam.

»Also in dem da«, sagte Jiminy Bell anerkennend, »steckt Klasse drin.«

Ich brummte etwas Unverbindliches und wandte mich ihm zu. Er machte mir mit einem halb aggressiven, halb einschmeichelnden Lächeln Platz. Ein kleiner Mann mit ergrauendem Haar, von tiefen Falten zerfurchter Haut und Zähnen, die zu makellos waren, um echt zu sein. In den vier oder fünf Jahren, die er nicht mehr im Sattel gesessen war, hatte er Gewicht angesetzt, das ihn wie ein gefütterter Mantel umhüllte. Seine Körperhaltung und die Art, wie er den Kopf trug, ließen nichts mehr von dem einstigen Stolz auf sein Können und seine Erfolge ahnen. Doch so leid er mir auch tun mochte, ich hatte nicht im geringsten die Absicht, ihm im voraus zu erzählen, an welchem Pferd ich interessiert war; er war schon zu tief gesunken und hätte keine [15] Sekunde gezögert, mit dieser Neuigkeit zum Verkäufer zu laufen und eine Provision dafür auszuhandeln, daß er durch Bieten den Preis in die Höhe trieb.

»Ich warte auf Nummer eins-vier-zwo«, sagte ich, und sobald ich mich entfernte, schlug er das Pferd eifrig im Katalog nach. Als ich mich kurz umblickte, starrte er mir verblüfft hinterher, daher suchte ich aus Neugier die Nummer 142 heraus und stellte fest, daß es sich um ein Geländejagdpferd handelte, das im Alter von zehn Jahren noch sieglos war und als Krippenbeißer berüchtigt.

Schmunzelnd gesellte ich mich wieder zu Kerry Sanders und sah mit an, wie der entschlossene Auktionator aus der Britischen Vollblutagentur zwölfhundert Pfund für die Nummer 125, eine sehnige Fuchsmähre, herauspreßte. Dann wurde diese aus dem Ring hinausgeführt, und Kerry Sanders' Unruhe steigerte sich merklich, womit sie aller Welt ihre Kaufabsicht wie mit einem Fanfarenstoß verkündete. Unerfahrene Kunden verhielten sich bei Auktionen immer so, was sie eine gute Stange Geld kostete.

Hearse Puller wurde in den Ring geführt, und der Auktionator verglich die Nummer mit seinen Notizen.

»Bißchen langbeinig«, sagte verächtlich ein Mann hinter uns.

»Ist das denn schlecht?« fragte Kerry Sanders ängstlich, die mitgehört hatte.

»Es bedeutet, daß die Beine im Verhältnis zum Körper eher lang sind. Es ist nicht gerade ideal, aber einige gute Hindernispferde sind durchaus so gebaut.«

»Oh.«

Hearse Puller schüttelte seine Mähne und betrachtete die [16] Szene mit schreckerfüllten Augen, ein Zeichen von Widerspenstigkeit, was mich auf den Gedanken brachte, ob das nicht der eigentliche Grund für seinen Verkauf sei.

Kerry Sanders' Ängstlichkeit wuchs noch etwas mehr.

»Glauben Sie, daß er mit ihm fertig wird?«

»Wer?«

»Sein neuer Besitzer natürlich. Er sieht verdammt wild aus.«

Der Auktionator legte sich jetzt ins Zeug und rasselte die Abstammung und Geschichte des Wallachs herunter. »Wer bietet tausend zum Einsteigen? Tausend, irgend jemand? Kommt schon, Leute, ist doch fast geschenkt, oder? Tausend? Na schön, also fünfhundert. Wer bietet fünfhundert?…«

Ich sagte zu Kerry Sanders: »Wollen Sie damit sagen, daß der junge Mann ihn selbst reiten will? Bei Rennen?«

»Ja.«

»Das haben Sie mir nicht gesagt.«

»Nicht?« Sie wußte ganz genau, daß sie es mir verschwiegen hatte.

»Warum haben Sie mir das um Himmels willen nicht erzählt?«

»Fünfhundert«, sagte der Auktionator. »Danke, Sir. Fünfhundert sind geboten. Das ist noch nicht annähernd das, was er wert ist. Macht schon, Leute. Fünfhundert. Sechs. Danke, Sir. Sechs… sieben… acht… achthundert dagegen, Sir.«

»Ich dachte nur…« Sie zögerte und sagte dann: »Was macht das für einen Unterschied?«

»Ist er ein Amateur?«

[17] Sie nickte. »Aber er hat die besten Voraussetzungen.«

Hearse Puller war weiß Gott kein gemütlicher Schaukelhengst, und ich würde meinen Beruf nicht ernst nehmen, wenn ich ihn für einen jener Amateure erstand, die sich nur mit Mühe im Sattel hielten. Plötzlich dämmerte mir, warum meine Kundin darauf bestanden hatte, daß das Pferd noch nie gestürzt war.

»Zwölfhundert. Vierzehn. Gegen Sie dort hinten, Sir. Vierzehn. Bieten Sie, sonst wird er Ihnen weggeschnappt…«

»Sie müssen mir schon sagen, für wen er bestimmt ist«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn Sie es nicht sagen, kaufe ich ihn nicht für Sie«, sagte ich und versuchte, die Unhöflichkeit meiner Worte mit einem Lächeln abzumildern.

Sie starrte mich an. »Ich kann ihn selbst kaufen.«

»Natürlich.«

Der Auktionator war jetzt in seinem Element.

»Achtzehn… darf ich zweitausend sagen? Zweitausend, danke Sir. Zum Verkauf freigegeben. Zweitausend sind gegen Sie hier vorn geboten, Sir… darf ich zweitausendzweihundert sagen? Zweitausendeinhundert… danke, Sir. Zweitausendeinhundert… zweihundert… dreihundert…«

»Gleich ist es zu spät«, sagte ich.

Sie rang sich zu einer Entscheidung durch. »Also schön, es ist Nicol Brevett.«

»Herrje«, sagte ich.

»Nun kaufen Sie schon. Stehen Sie nicht nur so herum.«

»Bleibt's dabei?« fragte der Auktionator. »Zweitausendachthundert stehen. Zum ersten… kein weiteres Gebot?«

[18] Ich atmete tief durch und winkte mit meinem Katalog.

»Dreitausend… ein neuer Bieter. Danke, Sir. Gegen den Herrn hier vorn. Darf ich dreitausendzweihundert sagen?«

Wie so häufig, wenn in letzter Minute ein neuer Bewerber einsteigt, gaben die beiden streitenden Parteien bald auf, und der Hammer ging bei dreitausendvierhundert herunter.

»Verkauft an Jonah Dereham.«

Jiminy Bell starrte mich aus zusammengekniffenen Augen von der anderen Seite des Rings aus an.

»Wieviel ist das in Dollar?« fragte meine Kundin.

»Ungefähr siebentausendfünfhundert.«

Wir verließen den hölzernen Unterstand, und sie spannte wieder den Schirm auf, obwohl der Nieselregen fast gänzlich aufgehört hatte.

»Das ist mehr, als ich Ihnen zugestanden habe«, sagte sie, ohne sonderlich vorwurfsvoll zu klingen. »Und Ihre Provision kommt noch dazu, schätze ich?«

Ich nickte. »Fünf Prozent.«

»Na schön… in den Staaten würden Sie für das Geld nicht mal ein dreibeiniges Polopony bekommen.« Sie schenkte mir ein kleines Lächeln, das sich wie ein großzügiges Trinkgeld ausnahm, und beschloß, vorauszugehen und in meinem Wagen auf mich zu warten, während ich den Papierkram erledigte und mich um den weiteren Transport von Hearse Puller kümmerte. Er sollte über Nacht in meinem eigenen Hof untergebracht und am Geburtstagsmorgen seinem neuen Eigentümer überstellt werden.

Nicol Brevett… So überraschend wie eine Wespe im Honig. Harmlos, solange man nicht versehentlich das Ende mit dem Stachel berührte.

[19] Er war ein halsstarriger, energiegeladener junger Mann, der beim Rennen offen seine Karten auf den Tisch legte und die Profis herausforderte. Sein zwanghafter Wunsch zu siegen hatte ihn rücksichtslos und ungehobelt gemacht, und häufig zettelte er Streitigkeiten an. Sein unberechenbares Temperament war feurig wie ein Flammenwerfer. Niemand konnte ihm sein Talent absprechen, aber während die meisten seiner Kollegen Freunde und Rennen gewannen, gewann Nicol Brevett nur Rennen.

Als Reiter war er Hearse Puller gewachsen, und wenn ich Glück hatte, würden sie gemeinsam eine gute Aufsaison bei den Jagdrennen erleben: und Glück würde ich allein schon wegen Brevett senior nötig haben, dessen Einfluß überall auf dem Turf gegenwärtig war.

Mein Respekt für Kerry Sanders wuchs erheblich. Eine Frau, die in der Lage war, das Interesse Constantine Brevetts bis hin zu Heiratsplänen zu wecken, mußte außerordentliche Qualitäten besitzen, die selbst die Fähigkeiten eines Fabergé übertrafen. Ich konnte daher nur zu gut verstehen, daß sie zögerte, seinen Namen ins Feld zu führen. Wenn irgendwelche Ankündigungen hinsichtlich seiner Person gemacht werden mußten, dann war er derjenige, der das tat.

Bei Constantine war jener steinharte Kern, der bei seinem Sohn ungeschliffen zutage trat, mit Samt umhüllt. Von einigen flüchtigen Begegnungen während der letzten paar Jahre auf der Rennbahn wußte ich, daß er seine gesellschaftlichen Kontakte hauptsächlich den Seilschaften aus seiner alten Public School verdankte. Seine Geschäfte hatten bezeichnenderweise eine ganze Reihe von [20] Kleinunternehmern, die im nachhinein wehmütig wünschten, doch nie mit seiner Aufmerksamkeit beehrt worden zu sein, in den Ruin getrieben. Ich wußte nicht, was er genau machte, nur daß er mit Immobilien handelte, in der Größenordnung von Millionen dachte und im Moment versuchte, sich die beste Pferdekollektion im ganzen Land anzueignen. Meiner Ansicht nach interessierte ihn die Überlegenheit, die ihm dies verlieh, weit mehr als die Pferde.

Als ich gerade die Auktion verlassen wollte, stand das Verkaufsereignis des Tages unmittelbar bevor, so daß die versammelte Menge zum Ring strömte, während ich mich in die andere Richtung zu den Autos begab. Ich sah Kerry Sanders im Auto warten, sie wandte mir hinter der regennassen Scheibe den Kopf zu. Zwei Männer lehnten an dem Wagen neben meinem und hielten schützend die Hände vor ihre Streichhölzer, um sich Zigaretten anzuzünden.

Als ich an ihnen vorbeigehen wollte, griff sich einer von ihnen eine Art Stange, die auf der Motorhaube lag, und versetzte mir damit einen dröhnenden Schlag auf den Kopf.

Betäubt und erstaunt strauchelte ich, sackte zusammen und sah all die vielen Sterne, die immer in den Comic-Heftchen abgebildet sind. Verschwommen nahm ich wahr, daß Kerry Sanders schrie und die Wagentür öffnete, aber als die Welt sich allmählich wieder langsamer drehte, sah ich, daß sie immer noch im Auto saß, bei geschlossener Tür und geöffnetem Fenster. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ebensoviel Empörung wie Angst.

Einer der Männer umklammerte meinen rechten Arm, was wahrscheinlich verhinderte, daß ich vornüber aufs Gesicht fiel. Der andere stand ruhig daneben und sah zu. Ich [21] suchte Halt an dem Auto, das neben meinem parkte, und unternahm einen schwachen Versuch, mir einen Reim auf das Ganze zu machen.

»Die sind auf Geld aus, diese Männer«, zischte Kerry Sanders abfällig. Ich dachte erst, sie hätte »Penner« gesagt, wobei ich ihr nur zustimmen konnte, verstand aber schließlich doch, was sie meinte.

»Vier Pfund«, sagte ich. »Ich hab nur vier Pfund dabei.« Es klang wie ein Murmeln. Fast unverständlich.

»Wir wollen dein Geld nicht. Wir wollen euer Pferd.«

Totenstille. Sie hätten mir nicht so heftig auf den Schädel hauen sollen, wenn sie etwas anderes als Begriffsstutzigkeit von mir erwarteten.

Kerry Sanders trug nicht gerade dazu bei, die Lage zu entspannen. »Ich habe Ihnen schon mal gesagt«, entgegnete sie kühl, »daß ich die Absicht habe, es zu behalten.«

»Das haben Sie gesagt, aber das glauben wir Ihnen nicht.«

Der Mann, der das Gespräch führte, war ein großer jovialer Kerl mit dem Bizeps eines Rausschmeißers und gekräuseltem, blaßbraunem Haar, das seinen Kopf wie ein Heiligenschein umrahmte.

»Ich hab Ihnen einen anständigen Gewinn angeboten«, sagte er zu Kerry. »Anständiger geht's gar nicht, mein Schatz.«

»Was zum Teufel«, sagte ich mit schwerer Zunge, »geht hier eigentlich vor?«

»Hören Sie mal«, fuhr er fort und ignorierte mich. »Dreitausendsechshundert. Anständiger geht's nicht.«

Kerry Sanders lehnte ab.

[22] Kräuselhaar wandte sich mit seinem wohlwollenden Lächeln an mich.

»Hör mal zu, mein Süßer, du und die Lady, ihr werdet uns das Pferd verkaufen. Wir können das genausogut friedlich regeln. Also gib ihr einen deiner teuren Ratschläge, und ihr seid uns los.«

»Kauft euch ein anderes Pferd«, sagte ich, immer noch undeutlich.

»Wir haben nicht den ganzen Nachmittag Zeit, Süßer. Dreitausendsechshundert. Mein allerletztes Angebot.«

»Fein, es reicht auch langsam«, sagte ich automatisch.

Kerry Sanders sah aus, als sei sie dem Lachen nahe.

Kräuselhaar kramte in seiner Jackentasche und zog mehrere Bündel Banknoten heraus. Er entfernte ein paar Scheine von einem Packen und warf den ganzen Rest durch das Autofenster auf Kerrys Schoß, gefolgt von drei weiteren intakten Bündeln samt Banderole, deren Inhalt er nicht nachzuzählen brauchte. Die Lady warf prompt die ganze Ladung wieder hinaus, wo sie im Schlamm des Parkplatzes liegenblieb, schmutziges Geld, genau dort, wo es hingehörte.

Der Nebel in meinem Kopf begann sich zu lichten, und meine wackligen Knie fühlten sich wieder etwas stabiler an. Kräuselhaar, der diese Veränderung sofort registrierte, schaltete von der freundlichen Überredungstour auf Erpressung ersten Grades um.

»Hören wir auf mit den Spielchen«, sagte er. »Ich will dieses Pferd, und ich werde es auch bekommen, klar?«

Er zog den Reißverschluß meiner Regenjacke auf.

Ich machte einen schwachen Versuch, mich aus der Umklammerung des anderen Mannes zu befreien, aber mein [23] Koordinationsvermögen funktionierte bei weitem noch nicht. Das Ergebnis meiner Bemühungen war lediglich, daß mein Schädel erneut brummte, und ich war in der Vergangenheit schon zu oft k. o. geschlagen worden, um nicht zu wissen, daß die Zeit für aussichtsreiche Gegenwehr frühestens in einer Viertelstunde kommen würde.

Unter meiner Jacke trug ich einen Pulli und darunter ein Hemd. Kräuselhaar ließ seine Hand unter diese beiden Schichten wandern, bis seine Finger mit der Bandage, die ich über der Brust trug, in Berührung kamen. Er feixte mit widerlicher Befriedigung, riß ruckartig den Pulli hoch, fand die Schnalle der Bandage und löste sie.

»Jetzt siehst du hoffentlich ein, mein Süßer«, sagte er, »daß ich das Pferd bekommen werde?«

[24] 2

Ich saß auf dem Fahrersitz meines Autos und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Neben mir saß Kerry Sanders, die dreckverschmierten Geldpacken auf dem Schoß ihres kostbaren Wildledermantels, und war sichtlich verzweifelt.

»Ich konnte doch nicht einfach dasitzen und zusehen, wie Sie durch die Mangel gedreht werden«, rechtfertigte sie sich ärgerlich. »Irgend jemand mußte Ihnen ja aus der Klemme helfen, oder?«

Ich sagte nichts. Sie war aus dem Wagen gestiegen, hatte das Geld aufgehoben und den Gaunern erklärt, daß sie mich in Ruhe lassen sollten. Sie könnten das gottverdammte Pferd haben, sie würden schon sehen, wohin sie das führe. Sie hatte weder versucht, um Hilfe zu rufen, noch wegzulaufen oder sonst irgend etwas Konstruktives zu tun, sondern sich an die grandiose Maxime unserer modernen Zeit gehalten, angesichts physischer Bedrohung klein beizugeben, um nicht krankenhausreif geschlagen zu werden.

»Sie waren weiß wie ein Laken«, sagte sie. »Was hätte ich denn tun sollen? Zuschauen und Beifall klatschen?«

Ich antwortete nicht.

»Was ist überhaupt mit Ihrem blöden Arm los?«

»Er renkt sich aus. Die Schulter renkt sich aus.«

[25] »Andauernd?«

»Aber nein. Nicht oft. Nur wenn sie in eine bestimmte Stellung gerät. Dann kugelt das Gelenk aus, was ausgesprochen lästig ist. Ich trage die Bandage, um das zu verhindern.«

»Jetzt ist die Schulter aber nicht ausgerenkt, oder?«

»Nein.« Ich mußte unwillkürlich lächeln. Normalerweise war ich nicht in der Lage, gemütlich in Autos herumzusitzen, wenn das geschah.

»Was ich Ihnen verdanke«, fügte ich hinzu.

»Schön, daß Ihnen das klar ist.«

»Mhm.«

Sie hatten mir die Verkaufsbescheinigung aus der Tasche gezogen und Kerry Sanders gezwungen, ihnen eine Quittung für das erhaltene Bargeld auszustellen. Dann waren sie wie selbstverständlich zum Verkaufszentrum gegangen, um ihre Ware entgegenzunehmen. Kerry Sanders hatte sich nicht bemüßigt gefühlt, sie aufzuhalten, und ich war nicht imstande gewesen, einen Fuß auch nur halbwegs sicher vor den anderen zu setzen; das einzige, worauf man an diesem ungewissen Nachmittag wetten konnte, war, daß Kräuselhaar und sein Kumpan keine Zeit verlieren und sich unverzüglich mit Hearse Puller aus dem Staub machen würden. Niemand konnte ihnen das Recht auf das Pferd streitig machen. Schnelle Verkäufe unmittelbar nach der Auktion waren an der Tagesordnung.

»Warum?« fragte sie zum zwanzigsten Mal. »Warum wollten die das gottverdammte Pferd haben? Warum gerade dieses?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

[26] Sie rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her.

»Sie haben doch gesagt, daß Sie um vier wieder fahren könnten.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Fünf nach.

»Gut.« Ich entfernte meinen Kopf von der Fensterscheibe und versuchte, ihn vorsichtig zu schütteln. In diesem Bereich schien wieder einigermaßen Ordnung zu herrschen, darum startete ich den Wagen und lenkte ihn auf die Straße, die nach London führte. Sie vergewisserte sich flüchtig meiner Fahrtüchtigkeit und entspannte sich ein wenig, nachdem wir eine halbe Meile hinter uns gebracht hatten, ohne einen Unfall zu bauen. An diesem Punkt ließ bei ihr der Schock nach, und Groll trat an seine Stelle.

»Ich werde mich beschweren«, sagte sie mit Nachdruck.

»Gute Idee. Bei wem?«

»Bei wem?« Sie klang überrascht. »Bei den Veranstaltern natürlich.«

»Sie werden Ihnen ihr Bedauern aussprechen und nichts unternehmen.«

»Natürlich werden sie das. Sie müssen ja.«

Ich wußte, daß dies nicht der Fall war. Ich sagte es ihr.

Sie wandte sich mir zu und sah mich an. »Dann eben beim Jockey-Club. Dem Rennverein.«

»Sie haben keinerlei Einfluß… keine rechtliche Handhabe… was die Auktionen betrifft.«

»Und wer hat die?«

»Niemand.«

Die Enttäuschung ließ ihre Stimme schroffer klingen. »Dann gehen wir eben zur Polizei.«

[27] »Wenn Sie wollen.«

»Zur Polizei von Ascot?«

»Von mir aus.«

Also hielt ich vor dem Polizeirevier in Ascot, wo wir unsere Geschichte erzählten. Die Aussagen wurden protokolliert und unterschrieben und zweifellos zu den Akten gelegt, sobald wir gegangen waren, weil wir, wie uns ein überarbeiteter Sergeant müde belehrte, nicht beraubt worden seien. Ein Schlag auf den Kopf, böse Sache, sehr verwerflich, wenn Sie wüßten, wie das zur Zeit grassiert. Aber meine Brieftasche hatten sie mir nicht gestohlen, nicht wahr? Nicht einmal meine Uhr? Und diese harten Burschen hatten Mrs. Sanders sogar einen Gewinn von zweihundert Pfund ausgezahlt. Was war daran so kriminell, wenn man mal fragen durfte?

Wir fuhren davon, ich resigniert und Kerry Sanders schäumend vor Wut.

»Das lasse ich mir nicht gefallen«, brach es aus ihr hervor. »Jemand… irgend jemand muß doch was unternehmen.«

»Mr. Brevett?« schlug ich vor.

Sie warf mir einen ihrer scharfen Blicke zu und kühlte merklich ab.

»Ich möchte nicht, daß er mit dieser Sache behelligt wird.«

»In Ordnung«, sagte ich.

Die nächsten zehn Meilen vergingen in nachdenklichem Schweigen. Schließlich sagte sie: »Können Sie mir bis Freitag ein neues Pferd besorgen?«

»Ich könnte es versuchen.«

[28] »Dann versuchen Sie es.«

»Wenn es mir gelingt, können Sie mir auch garantieren, daß nicht wieder jemand daherkommt, mir einen Schlag versetzt und das Pferd klaut?«

»Für einen Mann, der angeblich so zäh ist«, sagte sie, »sind Sie ganz schön zart besaitet.«

Diese ernüchternde Äußerung führte zu weiteren fünf Meilen Schweigen. Dann fragte sie: »Sie haben die beiden Männer doch nicht gekannt, oder?«

»Nein.«

»Aber die kannten Sie. Sie wußten über Ihre Schulter Bescheid.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Daran haben Sie auch schon gedacht, was?« Sie klang enttäuscht.

»Mhm«, sagte ich.

Ich lenkte den Wagen vorsichtig durch den Londoner Verkehr und hielt vor dem Berkeley Hotel, wo sie abgestiegen war.

»Kommen Sie auf einen Drink mit rein«, sagte sie. »Sie sehen aus, als ob Sie einen gebrauchen könnten.«

»Ähm…«

»Ach, kommen Sie schon«, sagte sie. »Ich werde Sie nicht gleich auffressen.«

Ich lächelte. »Na schön.«

Von ihrer Suite aus hatte man einen Blick auf den Hyde Park, wo Gruppen von Reitschulponys die Promenade entlangtrabten und Formationen der berittenen Königlichen Leibgarde für Staatsempfänge probten. Die Sonnenstrahlen des Spätnachmittags fielen schräg in den lila und blau [29] getönten Salon ein und verwandelten die Eiswürfel in unseren Gläsern in kleine Farbprismen.

Sie mokierte sich über die Wahl meines Getränks.

»Sind Sie sicher, daß Sie Perrier wollen?« fragte sie.

»Ich mag es.«

»Als ich Sie auf einen Drink einlud, meinte ich… einen richtigen Drink.«

»Ich habe Durst«, sagte ich sachlich. »Und eine leichte Gehirnerschütterung. Außerdem muß ich noch fahren.«

»Oh.« Sie wurde ernst. »Ich verstehe«, sagte sie.

Ich nahm unaufgefordert Platz. Langjährige Erfahrungen mit Schlägen auf den Kopf waren zwar sicher von Vorteil, aber der letzte war drei Jahre her, und die lange Pause trug nicht gerade dazu bei, den aktuellen Heilungsprozeß zu beschleunigen.

Sie sah mich enttäuscht an und legte ihren wunderschönen, schlammbespritzten Mantel ab. Darunter trug sie etwas, das sich in seiner Schlichtheit nur die ganz Reichen leisten können und das eine Figur kleidete, die nicht mit Geld zu bezahlen war. Kommentarlos genoß sie meine stille Bewunderung und nahm sie so selbstverständlich hin wie eine alltägliche Höflichkeitsfloskel.

»Also«, sagte sie. »Sie haben nicht ein einziges gottverdammtes Wort darüber verloren, was heute nachmittag passiert ist. Vielleicht wären Sie so freundlich, mir zu verraten, was die Männer da vorhin Ihrer Meinung nach im Schilde führten?«

Ich nahm einen Schluck von dem sprudelnden Wasser und schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Ich weiß es nicht.«

[30] »Aber Sie müssen doch wenigstens einen Verdacht haben«, protestierte sie.

»Nein…« Ich hielt inne. »Haben Sie irgend jemandem erzählt, daß Sie zur Auktion nach Ascot fahren wollten? Haben Sie mich erwähnt? Haben Sie Hearse Puller erwähnt?«

»Moment mal«, sagte sie, »die waren hinter Ihnen her, nicht hinter mir.«

»Woher wissen wir das?«

»Na ja… Ihre Schulter.«

»Aber Ihr Pferd.«

Sie durchquerte nervös den Raum, warf den Mantel über einen Stuhl und kam wieder zurück. An den Rändern des Oberleders ihrer schlanken Stiefel zeigten sich schmutzige Wasserflecken, was einen häßlichen Kontrast zu dem blaßvioletten Teppich abgab.

»Ich habe es vielleicht drei Leuten erzählt«, sagte sie. »Pauli Teksa war der erste.«

Ich nickte. Pauli Teksa war der Amerikaner, der Kerry Sanders meinen Namen genannt hatte.

»Pauli sagte, Sie seien ein seriöser Vollblutagent und daher so schwer zu finden wie eine Stecknadel im Heuhaufen.«

»Danke.«

»Dann«, sagte sie nachdenklich, »hab ich es dem Typen erzählt, der mir die Haare macht.«

»Der was?«

»Dem Friseur«, sagte sie. »Gleich hier unten im Hotel.«

»Oh.«

»Und gestern war ich mit Madge zum Lunch aus… Lady Roscommon. Nur eine Freundin.«

[31] Sie ließ sich abrupt in einen Sessel gegenüber fallen, der mit blauem und weißem Chintz bezogen war. Ein großer Gin mit Vermouth hatte hektische Flecken auf ihre Wangen gezaubert und ihre leicht diktatorische Art ein wenig gemildert. Ich hatte den Eindruck, daß sie mich zum erstenmal als Mann und nicht als einen Angestellten betrachtete, der fast buchstäblich bei seiner Aufgabe gestrauchelt war.

»Möchten Sie Ihren Mantel ablegen?« fragte sie.

»Ich kann nicht lange bleiben«, sagte ich.

»Na gut… wollen Sie noch was von dem gottverdammten Wasser?«

»Bitte.«

Sie füllte mein Glas auf, brachte es mir und setzte sich wieder.

»Trinken Sie nie?« fragte sie.

»Nicht oft.«

»Alkoholiker?« fragte sie mitfühlend.

Ich fand es seltsam, daß sie mir eine derart persönliche Frage stellte, aber ich lächelte und antwortete: »Nein.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Fast alle Nichttrinker, die ich kenne, sind ehemalige Alkoholiker.«

»Ich bewundere sie«, sagte ich. »Aber nein. Ich war schon als Sechsjähriger süchtig nach Cola. Und bin nie auf härtere Sachen umgestiegen.«

»Oh.« Ihr Interesse an mir schien wieder zu schwinden. Sie sagte: »Ich bin Vorstandsmitglied einer Privatklinik drüben in den Staaten.«

»Wo Trinker trockengelegt werden?«

Meine ungeschliffene Frage schien ihr nichts auszumachen. »Wir behandeln Leute, die ein Problem haben. Ja.«

[32] »Erfolgreich?«

Sie seufzte. »Manchmal.«

Ich stand auf. »Man kann nicht bei allen erfolgreich sein.« Ich setzte mein leeres Glas auf einem Beistelltischchen ab und ging vor ihr zur Tür.

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie ein anderes Pferd gefunden haben?« sagte sie.

Ich nickte.

»Und wenn Ihnen irgend etwas zu den beiden Männern einfällt?«

»Ja.«

Ich fuhr langsam nach Hause und stellte den Wagen in der Garage im Hof ab. Die drei Rennpferde, die sich dort in den Stallungen befanden, stampften unruhig in ihren Boxen hin und her, in dem stillen Vorwurf, daß ich mich um zwei Stunden für ihre abendliche Fütterung verspätet hatte. Sie waren Pferde auf der Durchreise, die darauf warteten, per Luftfracht an ausländische Käufer verladen zu werden; nicht meine Pferde, aber ganz bestimmt meine Verantwortung.

Ich sprach mit ihnen und streichelte ihre Nüstern, mistete ihre Boxen aus und gab ihnen Futter, Wasser und Decken zum Schutz vor der kühlen Oktobernacht, und schließlich schleppte ich mich müde und mit einem pochenden Kopf ins Haus.

Dort wartete keine Ehefrau mit einem lächelnden Gesicht und einem verlockenden heißen Abendessen auf mich. Statt dessen wartete dort mein Bruder.

Sein Auto stand neben meinem in der Garage, aber [33] nirgendwo im Haus brannte Licht. Ich ging in die Küche, knipste den Schalter an, wusch mir am Spülbecken unter heißem Wasser die Hände und wünschte von ganzem Herzen, ich könnte mein Alkoholproblem auf den Schultern von Kerry Sanders und ihrer barmherzigen Klinik abladen.

Er war im dunklen Wohnzimmer und schnarchte. Als ich Licht gemacht hatte, sah ich, daß er mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa lag, neben sich auf dem Teppich, in der Nähe seiner baumelnden Hand, die geleerte Scotchflasche.

Er trank nicht oft. Er gab sich große Mühe, die Finger davon zu lassen, was im wesentlichen der Grund dafür war, daß ich es auch tat, denn wenn ich mit einer leichten Alkoholfahne nach Hause käme, würde er sie durch das ganze Zimmer wittern, und es würde ihn unruhig machen. Es war kein großes Opfer für mich, nur ein wenig lästig, wenn ich mich in Gesellschaft befand, denn Kerry Sanders stand durchaus nicht allein mit ihrer Schlußfolgerung, daß alle Nichttrinker ehemalige Alkoholiker seien. Man mußte trinken, um zu beweisen, daß man keiner war, so wie sich eingefleischte Junggesellen immer wieder Mühe geben, als Frauenhelden dazustehen.

Wir waren keine Zwillinge, sahen einander aber sehr ähnlich. Er war ein Jahr älter als ich, drei Zentimeter kleiner, sah besser aus und hatte helleres Haar. Als wir noch klein waren, hatte man uns ständig verwechselt, doch jetzt, im Alter von vierunddreißig und fünfunddreißig, geschah das nicht mehr ganz so häufig.

Ich hob die leere Flasche auf und trug sie zum Mülleimer hinaus. Dann machte ich mir ein paar Rühreier und setzte [34]