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Dick Francis

Risiko

Roman

Aus dem Englischen von
Michaela Link

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1977 bei

Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›Risk‹

Copyright © 1977 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1978

unter dem Titel ›Ein Goldcup zur Entführung‹

im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin

Umschlagillustration von

Tomi Ungerer

 

 

Dem Andenken Lionel Vicks, amtlich bestellten

Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters – nach einer

Karriere als Berufsjockey in Jagdrennen

Dank auch seinem Kompagnon Michael Foote

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23117 5 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60642 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Donnerstag, 17. März. Morgens war ich in Sorge, nachmittags in Ekstase und abends bewußtlos.

Donnerstag nacht, irgendwann zwischen Abend- und Morgendämmerung, erwachte ich langsam in einem Alptraum, an dem nichts auszusetzen gewesen wäre, wenn ich geschlafen hätte.

Ich brauchte beträchtliche Zeit, um zu begreifen, daß ich wirklich wach war. Nun ja, zumindest halb wach.

Es war stockdunkel. Ich glaubte, die Augen geöffnet zu haben, aber die Finsternis war undurchdringlich.

Dafür hörte ich um so mehr Lärm. Verschiedene Geräusche, laut und verwirrend. Ein schwerer Motor. Rattern. Knirschen. Brausen. Ich lag benommen da und hatte das Gefühl, von einer wahren Flut von Geräuschen überrollt zu werden.

Ich lag… auf einer Art Matratze. Mir war kalt, mir war übel, und steif war ich auch. Ich hatte Schmerzen, und ich zitterte: Ich fühlte mich körperlich elend und geistig verwirrt.

Ich versuchte, mich zu bewegen. Konnte aus irgendeinem Grund weder die linke noch die rechte Hand ans Gesicht heben. Sie schienen beide an meinen Beinen zu kleben. Sehr seltsam.

[6] Endlos lange Zeit verstrich. Mir wurde immer kälter und übler, meine Glieder wurden immer steifer, und schließlich war ich hellwach.

Versuchte, mich aufzusetzen. Stieß mit dem Kopf gegen ein Hindernis dicht über mir. Legte mich wieder hin, kämpfte einen jähen Anfall von Panik nieder und zwang mich, die Sache Schritt für Schritt anzugehen.

Meine Hände. Warum konnte ich die Hände nicht bewegen? Weil meine Handgelenke an meiner Hose befestigt zu sein schienen. Es ergab keinen Sinn, aber genauso fühlte es sich an.

Der Ort. Was war das für ein Ort? Steif bewegte ich meine eiskalten Füße. Stellte fest, daß ich keine Schuhe anhatte. Nur Socken. Gleich links von mir eine Wand. Dicht über mir eine Decke. Rechts ein weicheres Hindernis. Möglicherweise Stoff.

Ich bewegte meinen ganzen Körper ein winziges Stück nach rechts und betastete das Hindernis mit den Fingern. Kein Stoff, sondern ein Netz. Wie ein Tennisnetz. Straff gespannt. Um mich festzuhalten. Ich schob die Finger durch die Maschen, konnte aber auf der anderen Seite nichts fühlen.

Meine Augen. Wenn ich nicht plötzlich blind geworden war – das kam mir nicht so vor –, dann lag ich irgendwo, wo kein Licht hingelangte. Brillante Schlußfolgerung. Überaus konstruktiv. Ha und noch mal ha.

Die Ohren. Das war fast das schlimmste Problem. Unablässiges Getöse betäubte sie, hielt mich unerbittlich in der engen, schwarzen Kiste gefangen, hinderte mich daran, irgend etwas anderes zu hören als die mächtige, dröhnende [7] Maschine dicht neben mir. Mich überkam das beängstigende Gefühl, daß niemand mich hören würde, wenn ich schrie. Und plötzlich stellte sich das noch beängstigendere Gefühl ein, daß ich schreien wollte. Um irgend jemanden zu zwingen herzukommen. Um jemanden zu zwingen, mir zu sagen, wo ich war, warum ich hier war und was um alles in der Welt hier vorging.

Ich öffnete den Mund und schrie.

Ich schrie: »He« und »Hierher« und »Komm her, du Scheißkerl, und laß mich raus«; ich trat in sinnlosem Zorn um mich, erreichte aber nur, daß meine Stimme und meine Angst von den Wänden des geschlossenen Raumes zurückgeworfen wurden und die Sache nur noch verschlimmerten. Kettenreaktion. Einbahnstraße in Richtung Erschöpfung.

Am Ende stellte ich mein Geschrei ein und lag still da. Schluckte. Knirschte mit den Zähnen. Versuchte, mich zu zwingen, nicht den Verstand zu verlieren. Desorientierung lähmt das Denkvermögen.

Konzentrier dich, sagte ich mir. Denk nach.

Diese Maschine…

Ein großer Motor. Leistete ein mächtiges Stück Arbeit. Befand sich irgendwo in meiner Nähe, aber nicht genau an der Stelle, an der ich lag. Auf der anderen Seite einer Wand. Vielleicht hinter meinem Kopf.

Wenn er nur endlich stehenbliebe, dachte ich benommen, dann wäre mir nicht mehr so übel, fühlte ich mich nicht mehr so zerstoßen, wäre meine Panik geringer, verlöre sich das Gefühl der Bedrohung.

Der Motor dröhnte unverdrossen weiter, versetzte mich durch die Wände hindurch in dumpfe Vibrationen. Keine [8] Turbine: Es fehlte das weiche Sausen, das Heulen. Ein Kolbenmotor. Für Schwerlasten ausgelegt, wie bei einem Traktor… oder einem Lastwagen. Aber ich befand mich nicht auf einem Lastwagen. Ich konnte keinerlei Beschleunigung wahrnehmen, und die Drehzahl des Motors blieb konstant. Kein Bremsen und Wiederbeschleunigen. Keine Gangwechsel. Also kein Lastwagen.

Ein Generator. Es ist ein Generator, dachte ich. Der Elektrizität produziert.

Ich lag gefesselt in der Dunkelheit auf einer Art Vorsprung in der Nähe eines Elektrizitätsgenerators. Frierend, von Übelkeit geplagt und voller Angst. Aber wo?

Was die Frage betraf, wie ich hierhergekommen war… nun, das konnte ich, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt, sagen. An den Anfang erinnerte ich mich, o ja. Diesen Donnerstag, den 17. März, würde ich nie vergessen.

Die Fragen, die mir am meisten zu schaffen machten, waren die, auf die mir keinerlei Antwort einfallen wollte.

Warum? Zu welchem Zweck? Und was kam als nächstes?

[9] 2

An besagtem Donnerstag morgen hielt mich ein Klient, dessen Leben in Trümmern lag, über Gebühr lange in meinem Büro in Newbury fest. Ich hätte schon längst auf dem Weg zu den Rennen in Cheltenham sein sollen, aber es wäre mir ungehobelt erschienen zu sagen: »Ja, Mr. Wells, mir tut ja furchtbar leid, was Sie da durchmachen, aber ich kann mich jetzt nicht länger damit aufhalten, Ihnen zu helfen, weil ich los muß, um mich ein wenig zu vergnügen.« Mr. Wells, dessen starrer Blick Selbstmordbereitschaft signalisierte, mußte erst einmal aus seinem Treibsand herausgezogen werden.

Es kostete dreieinhalb Stunden Analyse, Mitleid, Brandy, Erörterung möglicher Mittel und Wege und ganz allgemeines, gutes Zureden, um auch nur den leisesten Funken Hoffnung an seinem Horizont aufschimmern zu lassen. Und dabei war ich weder sein Arzt noch sein Priester, weder sein Anwalt noch sonst ein berufener Händchenhalter, sondern nur der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, den er am Abend zuvor in einem Anfall von Verzweiflung engagiert hatte.

Mr. Wells war den Künsten eines betrügerischen Finanzberaters zum Opfer gefallen und auf Grund gelaufen. Und Mr. Wells hatte – schon halb verrückt vor Verzweiflung – [10] gehört, Roland Britten habe sich ungeachtet seiner jungen Jahre für einige Firmen als Rettungsanker erwiesen. Mr. Wells hatte am Telefon doppeltes Honorar, Tränen und lebenslange Dankbarkeit als Köder ausgeworfen. Und Mr. Wells war eine gräßliche Nervensäge.

Ich sollte an diesem Donnerstag zum ersten und wahrscheinlich einzigen Mal in meinem Leben im Cheltenham Gold Cup reiten, dem Rennen, das im Leben britischer Hindernisreiter gleich nach dem Grand National rangiert. Auch wenn die Tipster meinem Pferd kaum Chancen einräumten und die Buchmacher Vorwetten zum Kurs von vierzig zu eins anboten: Für einen Teilzeitamateur wie mich war das Angebot eines Ritts im Gold Cup das Nonplusultra schlechthin.

Dank Mr. Wells blieb mir ein ruhiger, geordneter Rückzug aus dem Büro – nach schneller Durchsicht der Tagespost – verwehrt. Erst um Viertel nach eins konnte ich daran denken, mich von seiner blutegelartigen Anhänglichkeit zu lösen und ihn seiner Wege zu schicken, und das gelang mir auch nur, weil ich ihm ein weiteres langes Gespräch am folgenden Montag versprach. Er war schon halb durch die Tür, als er abermals wie angewurzelt stehenblieb. Ob ich auch sicher sei, daß wir die Sache aus jedem Blickwinkel betrachtet hätten. Ob ich ihm nicht noch den Nachmittag widmen könne? Montag, sagte ich entschlossen. Ob er dann nicht mit irgend jemand anderem sprechen könne?

»Tut mir leid«, sagte ich. »Mein Seniorpartner ist im Urlaub.«

»Mr. King?« fragte er und zeigte auf den säuberlichen Schriftzug »King & Britten« auf der offenen Tür.

[11] Ich nickte und überlegte düster, daß mein Seniorpartner, wäre er nicht gerade irgendwo in Spanien unterwegs gewesen, darauf bestanden hätte, daß ich zeitig nach Cheltenham aufbrach. Trevor King, groß, mit Silberfäden im Haar, gebieterisch und weltoffen, kannte meine Prioritäten.

Wir arbeiteten seit sechs Jahren zusammen, seit er mich aus der Sozietät in der City, wo ich auch ausgebildet worden war, mit dem einen Köder weggelockt hatte, dem ich nicht widerstehen konnte: flexible Arbeitszeiten, die mir die Teilnahme an Rennreiten möglich machten. Er hatte damals bereits fünf oder sechs Klienten aus der Welt des Rennsports, da viele der Rennställe entlang der Berkshire Downs im Einzugsgebiet von Newbury lagen. Und als er nach einem Ersatz für einen scheidenden Mitarbeiter suchte, überlegte er sich, daß er noch mehr Kundschaft aus diesem Bereich gewinnen könnte, wenn er mich engagierte. Nicht daß er jemals etwas Derartiges gesagt hätte, denn er war kein Mann, der zwei Worte machte, wo eines genügte; aber seine sichtbare Zufriedenheit, als sein Plan allmählich Früchte trug, ließ keinen Zweifel offen.

Um meine fachlichen Fähigkeiten – im Gegensatz zu denen als Amateurjockey – zu überprüfen, hatte er anscheinend lediglich meine damaligen Arbeitgeber gefragt, ob sie mir eine beträchtliche Gehaltserhöhung zubilligen würden, um mich zu halten. Sie sagten ja und taten es. Trevor war, wie es schien, mit einem Lächeln wie dem eines milde gestimmten Haifisches von dannen gezogen. Das Angebot, mit dem er daraufhin an mich herantrat, sah eine gleichberechtigte Partnerschaft und viel freie Zeit für meine Rennen vor; die Partnerschaft würde mich zehntausend Pfund [12] kosten, die ich ihm im Laufe mehrerer Jahre von meinen Einkünften abbezahlen konnte. Was ich zu diesem Angebot meinte?

Ich meinte, daß sich das als gute Sache erweisen könne; und das hatte es auch getan.

In gewisser Weise kannte ich Trevor heute nicht besser als an jenem ersten Tag. Unsere Beziehung begann und endete gewissermaßen an der Bürotür, und unsere gesellschaftlichen Kontakte beschränkten sich auf eine formelle Dinnerparty im Jahr, zu der seine Frau mich brieflich einlud. Sein Haus war aufwendig; sowohl der Bau als auch die Einrichtung stammten aus den Zwanzigern unseres Jahrhunderts; mit schwerem, passend zugeschnittenem Spiegelglas auf den Oberflächen der polierten Tische und einer mit allen Schikanen ausgestatteten Bar in Trevors »Schankstube«. Seine Freunde kamen aus den höchsten Etagen des Managements oder waren vielleicht Landräte, also verdiente und vermögende Bürger wie Trevor selbst.

In beruflicher Hinsicht kannte ich ihn gut. Bewährt bürgerliche Einstellung, nüchtern und konservativ. Patriarchalisch, aber nicht aufgeblasen. Gab die Art wertvoller Ratschläge, die immer noch vernünftig klang, selbst wenn sie sich im nachhinein als falsch erwies.

Vielleicht auch eine Neigung zum Strafen. Mir schien, daß es ihm manchmal regelrecht Vergnügen bereitete, einem Klienten das Ausmaß seiner Steuerschulden vorzurechnen und zuzusehen, wie dieser in sich zusammensank.

Klarer Verstand, präzise Methoden, zurückhaltender Ehrgeiz, Freude an der Tatsache, eine bekannte lokale Größe zu sein, und von nicht zu überbietendem Charme [13] reichen, alten Damen gegenüber. Seine Lieblingsklienten waren gutgehende Firmen; die, die er am wenigsten mochte, waren inkompetente Privatpersonen in unüberschaubaren Schwierigkeiten.

Endlich wurde ich den inkompetenten Mr. Wells los und begleitete meine Nervosität hinunter auf unseren Firmenparkplatz. Es waren knapp hundert Kilometer von Newbury nach Cheltenham, und nägelkauend quälte ich mich durch zwei Straßenbaustellen und an einem Armeekonvoi vorbei; außerdem wußte ich, daß ich für die letzten Kilometer bis zur Rennbahn im Gewimmel und Gedränge der Rennbesucher eine halbe Stunde brauchen würde. Es war bereits genug über das Risiko gesagt worden, gegen die Crème de la crème der Berufsjockeys auf den besten Pferden des Landes im wichtigsten Rennen der angesehensten Veranstaltung der Saison einen Amateur aufzustellen (»wie gut er auch sein mag«, hatte irgendein Kolumnist geschrieben); »Roland Britten hat schon viel erreicht, wenn er mit Tapestry keine anderen Teilnehmer behindert«, war die Meinung eines weniger freundlichen Schreibers, und obwohl ich ihm mehr oder weniger beipflichtete, hatte ich dieses Ziel doch nicht erreichen wollen, indem ich nicht rechtzeitig antrat. Von allen denkbaren unprofessionellen Verhaltensweisen würde dies die schlimmste sein.

Die mögliche Verspätung war durchaus nicht das einzige, das mir zu schaffen machte, sondern nur der letzte und zweifellos akuteste Punkt einer ganzen Liste. Ich hatte seit meinem sechzehnten Geburtstag als Amateur Hindernisrennen geritten, fand es aber inzwischen, da ich stramm auf die zweiunddreißig zuging, zunehmend schwierig, mich fit [14] zu halten. Alter und Schreibtischarbeit nagten an meiner Kondition, die ich immer für selbstverständlich genommen hatte. Was ich früher getan hatte, ohne einen einzigen Gedanken darauf zu verschwenden, kostete mich jetzt große Anstrengung. Die anderthalb Stunden jeden Morgen, die ich für einen Trainer am Ort ritt, waren nicht mehr ausreichend. Mehrmals hatte ich in jüngster Zeit während eines knappen Finish gespürt, wie meine schmerzenden Muskeln mich plötzlich im Stich ließen, und mindestens ein Rennen hatte ich deswegen verloren. Ich hätte nicht beschwören können, daß ich für den Gold Cup ausreichend vorbereitet war.

Die Arbeit im Büro hatte derartig zugenommen, daß sie allein kaum noch korrekt zu bewältigen war. Mit meinen freien halben Tagen fürs Rennen kam ich mir langsam wie ein Verräter vor. Die Samstage gingen in Ordnung, aber ein Donnerstag in Stratford upon Avon oder ein Mittwoch in Ascot konnte bei ungeduldigen Klienten zu einer gewissen Gereiztheit führen. Daß ich die Arbeit abends zu Hause nachholte, stellte Trevor zufrieden, aber sonst niemanden. Eine wahre Klientenschwemme, wie es im Jargon hieß, schien mich unter sich zu begraben.

Ich hätte mich an diesem Vormittag außer um Mr. Wells noch um andere Dinge kümmern müssen. Gegen den Steuerbescheid eines Jockeys der Spitzenklasse war Widerspruch einzulegen, ein Gutachten für einen Anwalt mußte unterzeichnet werden, und in der Sache zweier Klienten, die eine Vorladung der Steuerbehörde erhalten hatten, bestand dringender Handlungsbedarf, wenn auch nur als Ausweichmanöver.

[15] »Ich werde um Aufschub nachsuchen«, sagte ich zu Peter, einem unserer beiden Assistenten. »Rufen Sie beide Klienten an, und sagen Sie ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen; ich würde mich unverzüglich um ihre Fälle kümmern. Und überprüfen Sie, ob wir auch alle notwendigen Unterlagen dafür haben. Bitten Sie sie, uns alles zu schicken, was eventuell fehlt.«

Peter nickte verdrossen und unwillig – damit deutete er an, daß ich ihm immer zuviel Arbeit auflud. Vielleicht hatte er recht.

Trevor hatte seine Pläne zur Einstellung eines weiteren Assistenten fürs erste wieder auf Eis gelegt – wegen eines Angebots, das uns beiden zur Zeit Kopfschmerzen bereitete. Eine große Londoner Firma wollte bei uns einsteigen, oder besser gesagt in unserem Revier mit uns fusionieren und mit uns darin eine große Zweigniederlassung einrichten. Materiell würden wir davon profitieren, da ja bisher die in die Höhe schnellenden Geschäftskosten – Büromiete, Strom, Sekretärinnenlöhne – direkt aus unserer Tasche bezahlt wurden. Auch der Streß würde nachlassen. Zur Zeit hatte ja einer von uns die ganze Arbeitslast zu tragen, wenn der andere einmal krank war oder Urlaub machte. Aber die Aussicht auf Verlust der unumschränkten Herrschaft bereitete Trevor einiges Ungemach, und mir mißfiel der Gedanke, möglicherweise meine zeitliche Verfügungsfreiheit einzubüßen. Wir hatten die Entscheidung bis nach Trevors Rückkehr aus Spanien in zwei Wochen hinausgeschoben, würden uns aber dann doch den harten Realitäten stellen müssen.

Ich trommelte mit den Fingern ungeduldig auf das [16] Steuerrad meines Dolomites und wartete, daß die Baustellenampel endlich grün wurde. Sah zum hundertsten Mal auf meine Armbanduhr. »Na komm schon«, sagte ich laut. »Komm schon.« Binny Tomkins würde fuchsteufelswild sein.

Binny, Tapestrys Trainer, wollte mich nicht auf dem Pferd haben. »Nicht im Gold Cup«, hatte er kategorisch festgestellt, als die Eigentümerin den Vorschlag machte. Nach Tapestrys Auftritt im Drei-Meilen-Jagdrennen hatten sie einander vor dem Waageraum der Rennbahn von Newbury streitlustig gegenübergestanden: Mrs. Moira Longerman, klein, blond und vogelähnlich, gegen hundert Kilo frustrierter Männlichkeit.

»…nur weil er Ihr Steuerberater ist«, sagte Binny verärgert, als ich nach dem Zurückwiegen wieder zu ihnen trat. »Das ist doch lächerlich, verdammt noch mal.«

»Nun, heute hat er doch gewonnen, oder?« sagte sie.

Binny breitete in einer ohnmächtigen Geste stöhnend die Arme aus. Mrs. Longerman hatte mir den Ritt in Newbury ganz spontan angeboten, nachdem der Stalljockey sich bei einem Sturz im vorangegangenen Rennen den Knöchel gebrochen hatte. Binny hatte mich einigermaßen wohlwollend als Notlösung akzeptiert, aber Tapestry war das beste Pferd in seinem Stall, und für einen mittelmäßigen Trainer wie ihn war es ein Ereignis, wenn er einen Starter im Gold Cup hatte. Er wollte den besten Berufsjockey, den er kriegen konnte. Auf keinen Fall wollte er Mrs. Longermans Steuerberater, der dreißig Rennen im Jahr ritt, wenn er Glück hatte. Mrs. Longerman dagegen hatte etwas in der Art vor sich hin gemurmelt, daß sie Tapestry auch bei einem [17] entgegenkommenderen Trainer unterbringen könne, ich war nicht selbstlos genug gewesen, das Angebot abzulehnen, und Binny hatte vergeblich geschäumt.

Mrs. Longerman hatte bei ihrem früheren Steuerberater jahrelang mehr Steuern gezahlt, als notwendig gewesen wäre, und mir war es gelungen, eine Rückzahlung in vierstelliger Höhe für sie zu erwirken. Das war nicht das beste Kriterium für die Auswahl eines Jockeys für den Gold Cup. Sie wollte sich damit bei mir bedanken. Indem sie mir etwas Unbezahlbares schenkte. Ich hatte den leidenschaftlichen Wunsch, sie nicht zu enttäuschen; und auch das gehörte zu den Dingen, die mir jetzt zusetzten.

Ich befürchtete aber lediglich, meine Sache möglicherweise nicht gut genug zu machen, nicht aber, ich könne stürzen. Wenn sich die Angst zu stürzen einstellte, war es Zeit, mit dem Rennen aufzuhören. Eines Tages würde es vermutlich so weit sein, aber bisher war ich noch frei davon. Mir machte also vorerst nur zu schaffen, daß ich weder fit genug noch erwünscht war und möglicherweise zu spät kommen würde. Das war für den Augenblick auch genug.

Binny zischte wie eine brennende Zündschnur, als ich endlich keuchend im Waageraum erschien.

»Wo zum Teufel sind Sie gewesen?« wollte er wissen. »Ist Ihnen klar, daß das erste Rennen bereits vorüber ist und Sie in fünf Minuten wegen Nichterscheinens mit einer Geldbuße belegt worden wären?«

»Tut mir leid.«

Ich trug meinen Sattel, meinen Helm und die Tasche mit meiner Ausrüstung in den Umkleideraum, ließ mich dankbar auf die Bank sinken und versuchte, nicht mehr zu [18] schwitzen. Um mich herum herrschte der gewohnte Trubel; Jockeys zogen sich an und aus, fluchten, lachten und akzeptierten mich aufgrund langer Bekanntschaft als einen Teil der Szenerie. Ich war für zweiunddreißig Jockeys als Steuerberater tätig und hatte unter der Hand für ein weiteres Dutzend die Steuerformulare ausgefüllt. Überdies war ich derzeit bei einunddreißig Trainern als Steuerberater engagiert, bei fünfzehn Gestüten, zwei Stewards vom Jockeyclub, einem Rennplatz, dreizehn Buchmachern, zwei Pferdetransportfirmen, einem Schmied, fünf Futterhändlern und über vierzig Besitzern. Ich wußte wahrscheinlich mehr über die privaten Finanzangelegenheiten der Rennwelt als irgend jemand sonst aus der Szene.

Im Führring zwitscherte Moira Longerman glücklich erregt vor sich hin; ihre Stupsnase ragte wie die eines Kätzchens aus einem flauschigen, aufgestellten Zobelkragen in die Höhe. Unter dem Kragen schmiegte sie sich in einen dazu passenden Mantel, und auf den blonden Locken segelte ein flauschiger Zobelhut. Ihre nicht mehr ganz jungen blauen Augen strahlten vor Aufregung, und der ausgelassene Frohsinn, den sie verströmte, machte auch klar, warum so viele tausend Menschen das Geld, das ihnen für ein Hobby zur Verfügung stand, für den Besitz von Rennpferden ausgaben. Nicht nur des Wettens wegen und auch nicht nur, um anzugeben: eher wohl wegen des Kicks, den ihnen zusätzliche Adrenalinstöße verschafften, und weil sie einfach dazugehören wollten. Moira Longerman wußte sehr wohl, daß aus ihrer Freude schnell Enttäuschung mit Tränen werden konnte. Die tiefen Täler, in die man [19] unversehens geraten konnte, machten die Bergeshöhen um so kostbarer.

»Ist Tapestry nicht einfach wunderbar?« Und ihre kleinen, behandschuhten Finger flatterten in die Richtung, in der das Pferd unter dem Blick der zehn Reihen tief stehenden, aufmerksamen Zuschauer dahintrabte.

»Großartig«, sagte ich wahrheitsgemäß.

Binny warf einen finsteren Blick in den kalten, sonnigen Himmel. Er präsentierte das Pferd hier in einem Glanz, den seine anderen Starter nur allzuoft missen ließen: Mähne und Schwanz säuberlich geflochten, Hufe geölt, Sattelzeug aus glänzendem, gewienertem Leder und ein raffiniertes geometrisches Muster in das wohlgepflegte Fell der Hinterhand gebürstet. Binny sagte damit aller Welt, daß es nicht an mangelnder Vorbereitung lag, wenn sein Pferd versagen sollte. Binny würde mich für den Rest seiner Tage als Grund vorschieben, warum er den Gold Cup nicht gewonnen hatte.

Ich kann nicht behaupten, daß mich das besonders gestört hätte. Wie Moira Longerman beherrschte mich die atemberaubende Erregung der vor mir liegenden, für mein Leben wohl einmaligen Erfahrung. Möglich, daß die Katastrophe auf dem Fuß folgte, aber was auch geschah, die Tatsache, daß ich im Gold Cup geritten war, konnte mir niemand mehr nehmen.

Es waren mit Tapestry acht Starter. Wir stiegen auf, ritten im Schritt zur Bahn hinüber, paradierten an den voll besetzten, lärmigen Tribünen vorüber und dann im Aufgalopp zum Start. Ich merkte, wie ich zitterte, und wußte, daß das dumm war. Nur mit kühlem Kopf ließ sich ein [20] vernünftiges Ergebnis erzielen. Aber das wußten meine Nebennierenrinden leider nicht.

Immerhin konnte ich so tun als ob. Das Schmetterlingskribbeln der Nerven betäuben und mich geben, als ob ich Rennen dieses Kalibers ein halbes dutzendmal in jeder Saison bestritt. Keiner der anderen sieben Reiter wirkte ängstlich oder angespannt, aber ich vermutete, daß es einige von ihnen doch sein mußten. Selbst für die Profis der Spitzenklasse war dieses Rennen ein herausragendes Ereignis. Wahrscheinlich war also die von ihnen zur Schau getragene Ruhe ebenso vorgetäuscht wie meine. Bei diesem Gedanken ging es mir gleich besser.

Wir erreichten die Startmaschine in einer unruhigen Reihe, den Vorwärtsdrang der Pferde mit kurzem Zügel im Zaum gehalten, das ganze Gewicht der Reiter noch im Sattel. Als der Starter seinen Hebel umlegte und die Bänder in die Höhe schnellten, warf Tapestry mit einem Ruck den Kopf nach vorn, biß in die Luft und riß mir fast die Arme aus den Gelenken.

Die meisten Hindernisrennen über dreieinviertel Meilen beginnen verhalten, werden etwa eine Meile vorm Ziel schneller und enden möglicherweise schon wieder mit nachlassendem Tempo. Aber das Feld des Gold-Cup-Rennens legte diesmal los, als wolle es über die Distanz die Rekordzeit des Derbys brechen. Moira Longerman erzählte mir nachher, Binny habe ein ihr bis dahin völlig unbekanntes Vokabular benutzt, weil es mir nicht gelang, Tapestry auf Fühlung mit dem Hauptfeld zu halten.

Als wir über die ersten zwei Hindernisse und auf Höhe der Tribüne waren, lag ich gut sechs Längen zurück – ein [21] Abstand, der an sich nicht viel zu bedeuten hatte, aber so früh im Rennen sicherlich für ein ›Ich habe es ja gleich gesagt‹ reichte. Tatsache war, daß ich mich nicht recht entscheiden konnte. Sollte ich es schneller angehen? Mich dichter hinter die Schweife vor mir klemmen? Tapestry war das Rennen schon schneller angegangen als bei unserem Siegesritt in Newsbury. Wenn ich ihn mit den anderen laufen ließ, war er vielleicht auf halber Distanz erschöpft und würde vollends zurückfallen. Wenn ich ihn zurückhielt, würden wir das Rennen vielleicht wenigstens bis zum Finish reiten können.

Während er über das dritte Hindernis und den Wassergraben sprang, vergrößerte sich der Abstand zum Feld weiter, und ich war mir über meine Taktik immer noch nicht im klaren. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß die anderen das Rennen so schnell angehen würden. Ich wußte nicht, ob sie das Tempo durchzuhalten hofften oder später langsamer werden und sich meiner Position wieder annähern würden. Unmöglich zu sagen, was davon wahrscheinlicher war.

Aber was würde Binny sagen, wenn ich mich falsch entschied und im ganzen Rennen vom Start bis zum Ziel hinterherritt? Würde er mir das geringste ersparen?

Was tat ich bloß in diesem Rennen, in einer für mich falschen Klasse?

Ich machte mich zum Narren.

O Gott, dachte ich, warum hatte ich es nur versuchen müssen?

Wirtschaftsprüfer und Steuerberater gelten als von Hause aus vorsichtig, aber ich war jetzt soweit, alle Vorsicht über Bord zu werfen. So gut wie alles war besser, als vom Start [22] bis zum Ziel hinterherzureiten. Kluge Überlegungen halfen mir jetzt nicht weiter. Ich gab Tapestry einen Kick, den er nicht erwartet hatte, und er schoß wie ein Pfeil nach vorn.

»Ruhig«, keuchte ich. »Ruhig, zum Teufel.«

Schließ zu den anderen auf, dachte ich, aber nicht zu schnell. Wenn du zu schnell läufst, verbrauchen wir die Reserven, die wir für das letzte Stück bergan benötigen. Wenn wir es überhaupt jemals bis dorthin schaffen… Wenn ich nicht vorher stürze… Wenn ich nicht zulasse, daß Tapestry ein Hindernis falsch angeht, sich vorzeitig verausgabt oder einen Sprung völlig verweigert.

Erst eine Meile geritten und schon mehrere Leben durchlitten.

Am Ende der ersten Runde war ich immer noch letzter, aber nicht mehr so weit abgeschlagen, daß es eine Schande gewesen wäre. Noch eine Runde… vielleicht konnten wir bis zum Ziel doch noch an einem oder zweien vorbeigehen. In dieser Phase begann ich mich langsam wohl zu fühlen – eine Grundstimmung, die meist durch nervöse Konzentration überdeckt wurde. Aber ich wußte von vergangenen Renntagen her, daß ich mich später mehr meiner Freude als meiner Zweifel erinnern würde.

Nach dem Wassergraben lagen wir immer noch an letzter Stelle dicht hinter dem geschlossenen Feld. Dann der Graben; Tapestry kam genau richtig ab, und wir machten in der Luft ein gutes Stück wett. Setzten Nase an Schweif des Starters vor uns auf. Hielten uns dort bis zum nächsten Hindernis und machten wieder im Sprung etwas gut, setzten neben und nicht mehr hinter unserem bisherigen Vordermann auf.

[23] Gut. Ich war nicht mehr der letzte. Nur noch mit der letzte. Und welche Befürchtungen auch immer ich hinsichtlich Tapestrys Stehvermögen hegen mochte, er stieg inzwischen jedenfalls mit Schwung über die Hürden.

An der nächsten Hürde, auf der Gegengeraden, löste sich das Rennen in Einzelereignisse auf. Der Favorit stürzte und brachte den zweiten Anwärter auf den Sieg mit zu Fall. Tapestry brach ungestüm zur Seite aus, als er die sich am Boden wälzenden Leiber erreichte, und rammte das Pferd neben sich. Dessen Reiter stürzte ebenfalls.

Es ging alles so furchtbar schnell. Eben noch ein ordentliches Gold-Cup-Rennen, und in der Sekunde darauf ein Schlachtfeld. Drei am Boden, die hohen Hoffnungen der Besitzer, Trainer, Pferdepfleger und Wetter im Wind zerstoben. Tapestry brach aus dem Gewühl hervor wie ein Stier, aber als wir die Steigung vor uns in Angriff nahmen, lagen wir wieder an letzter Stelle.

Versuche niemals, bergauf zu beschleunigen, heißt es, denn die Pferde, an denen du vorbeigehst, werden bergab an dir vorbeiziehen. Geh mit den Kräften sparsam um, verschwende sie nicht. Ich ging mit Tapestrys Kraft sparsam um, bergauf und an letzter Stelle, und es kam mir so vor, als ob die anderen auf der Kuppe plötzlich von mir wegschossen, jedes Quentchen irgendwas, das sie noch besaßen, mobilisierten und davonjagten, während wir auf der Stelle traten.

Komm schon, dachte ich inständig, komm schon, jetzt oder nie. Jetzt oder niemals. Vorwärts, Tapestry. Komm in die Gänge. Wir flogen den Hügel schneller hinunter, als ich in meinem ganzen Leben jemals geritten war.

[24] Eine Hürde auf halbem Weg den Abhang hinunter. Ein minimaler Schrittwechsel. Ein Sprung, der jede Gemse beschämt hätte.

Da lag noch ein Jockey am Boden, zusammengerollt, um möglichen Tritten zu entgehen. Pech… Wirklich übel…

Drei Pferde vor mir. Noch zwei Hindernisse. Ich begriff plötzlich, daß außer uns und den drei Pferden vor uns niemand mehr im Rennen war. Und sie waren auch nicht weit vor uns. Mein Gott, dachte ich und mußte beinahe lachen, einmal angenommen, ich komme an einem davon vorbei, dann bin ich dritter. Dritter im Gold Cup. Ein Traum, von dem man bis zum Lebensende zehren kann.

Ich trieb Tapestry noch weiter an, und erstaunlicherweise sprach er darauf an. Das Pferd, über dessen Qualität im Finish man sich nicht im klaren war, das man schonen mußte. Das Pferd, das jetzt über das Geläuf donnerte wie in einem Sprint.

Um die Kurve… nur noch ein Hindernis vor uns… ich kam ihm schneller näher als die anderen… hob neben dem dritten Pferd ab, landete vor ihm… und nur noch der letzte, anstrengende Anstieg bis zum Ziel. Ich werde dritter, dachte ich jauchzend. Ich bin dritter, verdammt noch eins.

Für manche Pferde ist das Finish in Cheltenham ein erbärmlicher Kampf. Manche gehen vor Mattigkeit seitwärts, schlagen mit dem Schweif und stocken, wenn sie vorn liegen, sind völlig verausgabt, werden bleiern langsam, so langsam, daß sie das Ziel kaum noch zu erreichen scheinen.

Tapestry widerfuhr nichts dergleichen, aber den beiden Pferden vor uns. Eines wankte die Gerade in immer [25] breiteren Schlangenlinien hinauf. Das andere schien von einer Sekunde zur anderen immer langsamer zu werden und schließlich stehenzubleiben. Zu meinem eigenen und jedermanns anderem Unglauben drosch Tapestry in gestrecktem Galopp an beiden vorbei und gewann den Gold Cup.

Es war mir schnurzegal, daß alle Welt sagen würde (und auch tatsächlich sagte), ich hätte niemals eine Chance gehabt, wenn nicht die beiden Favoriten gestürzt wären. Es war mir vollkommen schnuppe, daß das Rennen als ›schlechter‹ Gold Cup in die Geschichte eingehen würde. Ich erlebte auf dem langen, langsamen Ritt vom Ziel bis zum Absattelring einen solchen Gipfel der Ekstase, daß nichts mehr in meinem Leben, dachte ich, dem je gleichkommen konnte.

Das Unmögliche war wahr geworden. Mrs. Longermans Steuerberater hatte ihr einen beträchtlichen steuerfreien Gewinn eingebracht.

Eine umnebelte Stunde später – ich trug mittlerweile wieder Straßenkleidung, im Waageraum floß der Champagner in Strömen, und alle Hände, die ich mir nur wünschen konnte, schlugen mir auf die Schulter – war ich immer noch so unbeschreiblich glücklich, daß ich am liebsten die Wände hochgelaufen wäre, laut gelacht und Handstandüberschläge gemacht hätte. Reden, Verstellungen, Moira Longermans Tränen der Erregung, Binnys ungläubige Verlegenheit, das alles war in einem Tumult über mich hereingebrochen, den ich später ordnen wollte. Ich schwamm wie berauscht auf den Wogen des Ruhms, die alles Opium dieser Welt überflüssig machten.

[26] In dieses Fest von einem Tag trat ein Mann in der Sanitäteruniform von St. John und fragte nach mir.

»Sind Sie Roland Britten?« sagte er.

Ich nickte über einem Glas Schampus.

»Da ist ein Jockey, der Sie sprechen möchte. Im Krankenwagen. Sagt, er will sich nicht ins Krankenhaus bringen lassen, bevor er mit Ihnen geredet hat. Ganz schön durcheinander, der Bursche. Würden Sie also bitte mitkommen?«

»Wer ist es denn?« fragte ich und setzte meinen Drink ab.

»Budley. Ist im letzten Rennen gestürzt.«

»Ist er schwer verletzt?«

Wir gingen aus dem Waageraum und über das mit Menschen bevölkerte Stückchen Asphalt auf den Krankenwagen zu, der direkt außerhalb der Tore wartete. Es war fünf Minuten vor dem letzten Rennen des Tages, und Tausende hasteten umher, liefen auf die Tribünen zu und plazierten in aller Eile die letzte Wette des Tages. Der Sanitäter und ich liefen gegen den Strom jener, die vor dem Massenansturm Richtung Parkplatz wollten.

»Ein gebrochenes Bein«, sagte der Sanitäter.

»Was für ein elendes Pech.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb Bobby Budley mich sprechen wollte. An seiner letzten Jahresabschlußrechnung war nichts auszusetzen gewesen, und der Herr vom Finanzamt hatte sie abgesegnet. Eigentlich dürfte er im Augenblick keinerlei drängende Probleme haben.

Wir kamen an die Hecktüren des weißen Krankenwagens, und der Mann vom St. John öffnete sie.

»Er ist da drin«, sagte er.

Keiner von den großen Krankenwagen, dachte ich und [27] stieg hinauf. Eher ein weißer Lieferwagen, dessen Höhe gerade eben nicht ausreichte, um aufrecht stehen zu können. Wahrscheinlich hatten die Krankenhäuser an Renntagen nicht genug reguläre Krankenwagen zur Verfügung.

Auf einer Trage lag unter einer Decke verborgen eine Gestalt. Den Kopf unter dem niedrigen Dach gesenkt, trat ich darauf zu.

»Bobby?« sagte ich.

Es war nicht Bobby. Es war jemand, den ich nie zuvor gesehen hatte. Jung, beweglich und alles andere als verletzt. Er sprang von der Trage und warf die dunkelgraue Decke wie eine Wolke von sich.

Ich drehte mich um, um den Rückzug anzutreten. Fand den Sanitäter neben mir im Lieferwagen. Hinter ihm waren die Türen bereits geschlossen. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als freundlich, und als ich versuchte, ihn aus dem Weg zu drängen, trat er mir gegen das Schienbein.

Ich drehte mich abermals um. Der Herr von der Bahre riß gerade eine Plastiktüte auf, die einen handgroßen, feuchten Baumwollklumpen enthielt. Der Sanitäter hielt einen meiner Arme fest und der Herr von der Bahre den anderen, und trotz ziemlich verzweifelten Keuchens und heftiger Gegenwehr meinerseits gelang es ihnen mit vereinten Kräften, mir die feuchte Baumwolle auf Mund und Nase zu drücken.

Es ist schwierig, sich effektiv zur Wehr zu setzen, wenn man nicht gerade stehen kann und jeder Atemzug reinster Äther ist. Das letzte, was ich in einer ergrauenden Welt sah, war die spitze Mütze, die dem Sanitäter vom Kopf fiel. Sein hellbraunes Haar entfaltete sich zu einem zotteligen Mop [28] und verwandelte ihn von einem Engel der Barmherzigkeit in einen einfachen Schurken.

Ich hatte schon ein- oder zweimal zuvor den Rennplatz auf einer Bahre verlassen, aber nie fest schlafend.

Jetzt, hellwach in der lärmerfüllten Dunkelheit, konnte ich keinen Sinn in alledem entdecken.

Warum sollte irgend jemand mich entführen? Hatte es etwas mit meinem Sieg im Gold Cup zu tun? Und wenn ja, was?

Mir schien, daß ich noch schlimmer fror, daß mir noch übler war und daß die knirschenden, brausenden Nebengeräusche noch lauter geworden waren. Hinzu kam nun ein unkoordiniertes Gefühl der Bewegung. Aber dennoch befand ich mich nicht in einem Lastwagen.

Wo dann? In einem Flugzeug?

Plötzlich gab sich die Übelkeit als das zu erkennen, was sie wirklich war. Ich litt nicht unter den Nachwirkungen des Äthers, wie ich vage vermutet hatte, sondern unter einer vertrauten Krankheit, die mich von Kindesbeinen an hin und wieder befallen hatte.

Ich war seekrank.

Auf einem Boot.

[29] 3

Ich lag, wie mir nun klar wurde, in einer Koje. Das straff gespannte Netz vor der offenen Seite zu meiner Rechten sollte verhindern, daß ich herausfiel. Das Brausen kam von den Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen. Das Knirschen und Rattern resultierte daraus, daß ein fester Körper von einem Motor gegen dessen Widerstand durchs Wasser geschoben wurde.

Es war eine enorme Erleichterung, daß ich mir jetzt wenigstens auf meine Umgebung einen Reim machen konnte. Das verschaffte mir einen festen Bezug zum Raum und erlaubte mir, meinen Zustand wie von außen zu betrachten. Andererseits kamen mir nach Lösung des verwirrendsten Teils des Rätsels die körperlichen Mißempfindungen um so schärfer zu Bewußtsein. Kalt. Hände an die Beine gefesselt. Muskeln steif von zu langer Ruhe. Und das Wissen, daß ich mich auf einem Schiff befand, das Wissen, daß mir auf einem Schiff immer übel wurde, trug eindeutig und erheblich zu meiner Übelkeit bei.

Unwissenheit war ein wunderbares Beruhigungsmittel, dachte ich. Die Intensität eines Schmerzes hing von dem Maß an Beachtung ab, die man ihm schenkte, und man fühlte sich am hellichten Tag in Gesellschaft von Menschen nicht halb so mies wie allein und im Dunkeln. Wenn jemand [30] käme und mit mir redete, würde ich vielleicht nicht so frieren, mir wäre nicht so elend zumute und vielleicht auch nicht mehr ganz so übel.

Etwa ein Jahrhundert lang kam niemand.

Die Bewegungen des Schiffes wurden stärker und mit ihnen das flaue Gefühl in meinem Magen. Ich spürte, daß ich leicht von einer Seite zur anderen rollte, und hatte den allzu deutlichen Eindruck, daß ich auch in Längsrichtung geneigt wurde, einmal mit den Füßen, dann mit dem Kopf nach unten, im selben Rhythmus, mit dem sich der Bug mit den Wellen hob und senkte.

Draußen auf dem Meer, dachte ich hilflos. Auf einem Fluß wäre es nicht so rauh.

Mit Witzeleien wie »Nun Gott, in den Dienst gepreßt«, »Shanghait!« und »Jim, mein Junge, jetzt hat Long John Silver dich beim Wickel« versuchte ich eine Weile, der Situation eine heitere Seite abzugewinnen. Ohne durchschlagenden Erfolg.

Schließlich gab ich es auch auf, darüber nachzugrübeln, warum ich wohl hier war. Ich gab es auf, Besorgnisse zu hegen. Ich verlor sogar das Empfinden für die Kälte und die Unbequemlichkeit. Zu guter Letzt konzentrierte ich mich nur noch darauf, mich nicht zu übergeben, und das gelang mir nur, weil ich seit dem Frühstück nichts gegessen hatte.

Frühstück? Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ich wußte nicht, wie lange ich bewußtlos gewesen war, ja, nicht einmal, wie lange ich wach im Dunkeln gelegen hatte. Ich mußte jedenfalls lange genug bewußtlos gewesen sein, um von Cheltenham an die Küste und an Bord eines Schiffes [31] gebracht worden zu sein. Und war lange genug wach, um mich nach Schlaf zu sehnen.

Die Maschine stoppte.

Die plötzliche Stille war so wunderbar, daß mir jetzt erst in vollem Maße bewußt wurde, wie zermürbend die Lärmfolter gewesen war. Ich hatte richtiggehend Angst, daß sie wieder einsetzen würde. Funktionierte so eine Gehirnwäsche?

Dann kamen plötzlich neue Geräusche von oben. Schlurfende Laute, dann metallische und dann – überwältigend – ein Strahl Tageslicht. Ich zuckte zusammen, schloß meine ans Dunkle adaptierten Augen und öffnete sie langsam wieder. Über mir war aus dem Lichtstrahl ein helles Rechteck geworden. Jemand hatte eine Luke geöffnet.

Frische Luft wehte wie Schauer herein, kalt und feucht. Ohne große Begeisterung sah ich mich in der kleinen Welt hinter dem weitmaschigen, weißen Netz um.

Ich befand mich, wie man es ausdrücken könnte, in vorderster Front. Im Vorschiff, im Bug. Die Koje, in der ich lag, wurde zu meinen Füßen hin schmaler, und die Seitenwände der Kabine liefen nach vorne hin zusammen wie eine Pfeilspitze.

Die Koje war ungefähr sechzig Zentimeter breit, und darüber befand sich eine weitere Koje. Ich lag auf einer mit einem Tuch bedeckten Matratze; marineblau.

Der Rest der Kabine wurde größtenteils von zwei großen, eingebauten, oben offenen, lackierten hölzernen Behältern beansprucht. Um Segel zu verstauen, dachte ich. Ich befand mich in der Segelkoje eines Segelboots.

[32] Hinter meiner rechten Schulter sah ich eine zur Zeit fest verschlossene Tür, die wahrscheinlich nach oben und zu Wärme und Leben führte, in die Kombüse und den Salon.

Auch die Sache mit meinen Handgelenken wurde klar. Sie waren tatsächlich beidseits an meine Hose gebunden. Soweit ich sehen konnte, hatte jemand auf Höhe der Seitentaschen einige Löcher in den Stoff gestochen, etwas Verbandsartiges durch die Löcher gezogen und auf wirkungsvolle Weise meine Handgelenke an den Stoff gefesselt.

Eine gute Hose ruiniert: Aber andererseits waren alle Katastrophen relativ.

Über mir erschien ein Kopf in der Luke. Ich konnte ihn durch das Netz nur undeutlich als Silhouette gegen den grauen Himmel ausmachen, hatte aber den Eindruck, daß der Mann ziemlich jung und von kompromißloser Härte war.

»Sind Sie wach?« sagte er, während er herabspähte.

»Ja«, antwortete ich.

»Gut.«

Er ging weg, kam aber kurz darauf zurück, um sich mit Kopf und Schultern in die Luke zu beugen.

»Wenn Sie vernünftig sind, binde ich Sie los«, sagte er.

Seine Stimme hatte etwas von der herrischen Kraft dessen, der gewohnt ist, zu befehlen statt gut zuzureden. Eine Stimme, die ihr Handwerk auf die harte Tour gelernt hatte und unterwegs einiges an Aggressivität angesammelt hatte.

»Haben Sie etwas Dramamin für mich?« fragte ich.

»Nein«, sagte er. »In der Kabine ist eine Toilette. Da können Sie reinkotzen. Sie müssen mir erst bestätigen, daß Sie [33] sich ruhig verhalten werden, wenn ich jetzt runterkomme und Sie losbinde. Sonst laß ich's bleiben. Klar?«

»Ich bin einverstanden«, sagte ich.

»Gut.«

Ohne weiteres Aufheben kam er mühelos durch die Luke herunter und füllte – eins neunzig groß in Bootsschuhen – praktisch den ganzen verfügbaren Raum aus. Er bewegte sich, ganz selbstverständlich das Gleichgewicht haltend, auf dem schlingernden Boot.

»Hier ist das Klo«, sagte er und hob den Deckel einer dieser beiden Dinger, die wie eingebaute, lackierte Kisten aussahen. »Sie müssen das Seeventil öffnen und mit diesem Hebel Seewasser durchpumpen, wenn Sie fertig sind, sonst werden Sie hier überflutet.« Er schloß den Deckel und öffnete eine Klappe in der Wand darüber. »Da drin finden Sie eine Flasche mit Trinkwasser und ein paar Pappbecher. Ihre Mahlzeiten bekommen Sie, wenn wir unsere kriegen.« Er griff tief in eine der Segelkisten, die ansonsten leer zu sein schien. »Hier ist eine Decke. Und ein Kissen.« Er zog sie heraus, zeigte sie mir – beide waren dunkelblau – und ließ sie wieder hineinfallen.

Dann blickte er nach oben zu dem großzügigen Quadrat offenen Himmels über ihm.

»Ich stelle die Luke so weit auf, daß Sie Luft und Licht bekommen. Um herauszukommen reicht das nicht. Und es gibt auch nichts, wofür sich das Rauskommen lohnte. Wir haben kein Land mehr in Sicht.«

Er zögerte einen Augenblick und löste dann das Netz, das einfach mit verchromten Haken in Ösen an der Koje über mir festgehalten wurde.

[34] »Sie können das Netz wieder einhängen, wenn es ungemütlich wird«, sagte er.

Ohne weiße Maschen dazwischen betrachtet, wirkte er keineswegs vertrauenerweckend, ein kantiges Gesicht mit kräftigen Knochen. Ziemlich kleine Augen, schmallippiger Mund, wettergegerbte Haut und glattes, braunes, schlaff herabhängendes Haar. Ungefähr in meinem Alter, aber keinerlei Seelenverwandtschaft. Er blickte ohne jede Spur sadistischen Vergnügens auf mich herab, wofür ich dankbar war, aber auch ohne Entschuldigung und jedes Mitleid.

»Wo bin ich?« fragte ich. »Warum bin ich hier? Wo fahren wir hin? Und wer sind Sie?«

Er sagte: »Wenn ich Ihre Hände losbinde und Sie irgendwas versuchen, beziehen Sie Dresche.«

Du machst wohl Witze, dachte ich. Einsneunzig gesunde Muskulatur gegen einsfünfundsiebzig durchgefrorene, steife Seekrankheit. Na, vielen Dank auch.

»Worum geht es überhaupt?« fragte ich. Selbst in meinen eigenen Ohren klang das ziemlich schwach. Aber andererseits fühlte ich mich auch genau so – ziemlich schwach.

Er antwortete nicht. Er bückte sich nur, beugte sich über mich und knotete den Verband an meinem linken Handgelenk auf. Dann zog er sich aus der Enge zwischen den Kojen wieder zurück und wiederholte das Ganze mit meiner rechten Hand.

»Bleiben Sie liegen, bis ich hier raus bin«, sagte er.

»Erklären Sie mir, was hier vorgeht.«

Er stellte einen Fuß auf den Rand der Segelkiste, stemmte die Hände gegen die Seiten der Luke und zog sich halb nach oben in die Außenwelt hinauf.

[35] »Ich kann Ihnen nur eines sagen«, meinte er völlig emotionslos, als er noch einmal hinabblickte, »daß Sie mir verdammt lästig sind. Ihretwegen muß ich sämtliche Segel auf Deck verstauen.«

Mit einem Klimmzug, einer Windung und einem Tritt hievte er sich hoch.

»Erklären Sie es mir«, bat ich inständig. »Warum bin ich hier?«

Er antwortete nicht. Er fummelte am Lukendeckel herum. Ich schwang meine Füße über den Rand der Koje und kam äußerst wackelig auf die Füße. Das Stampfen des Schiffs brachte mich prompt aus dem Gleichgewicht und warf mich, ein Häufchen Elend, auf den Boden.

»Sagen Sie's mir«, rief ich, zog mich wieder hoch und hielt mich an irgendwelchen Dingen fest. »Sagen Sie es mir doch, zum Teufel.«

Der Lukendeckel glitt über die Öffnung und sperrte den größten Teil des Himmels aus. Aber diesmal wurde er nicht fest verschlossen, sondern ruhte auf Metallverstrebungen, die einen Spalt von wohl sieben, acht Zentimetern frei ließen: wie ein Deckel, der über einem Kasten ein Stückchen offenstand.

Ich faßte mit der Hand durch die Lücke und schrie abermals: »Sagen Sie es mir.«

Die einzige Antwort, die ich bekam, war das Geräusch, mit dem der Lukendeckel gegen alle Öffnungsversuche meinerseits gesichert wurde. Dann erstarben auch diese Geräusche, und ich wußte, er war fort; und eine oder zwei Minuten später wurde die Maschine wieder angelassen.

Das Boot schlingerte und wurde wild hin und her [36] geworfen, und meine Seekrankheit gewann in Sekundenschnelle die Oberhand. Ich kniete auf dem Boden, den Kopf über der Kloschüssel, und keuchte und würgte, als versuchte ich, den ganzen Magen loszuwerden. Ich hatte so lange nichts mehr gegessen, daß ohnehin nur hellgelbe Galle kam, aber das machte die Sache keineswegs besser. Das war das ganze Elend an der Seekrankheit: Der Körper schien nie zu begreifen, daß es einfach nichts mehr zu erbrechen gab.

Ich wälzte mich auf die Koje, schwitzte und zitterte gleichzeitig und wollte nur noch sterben.

Decke und Kissen, dachte ich. In der Segelkiste.

Eine furchtbare Anstrengung, aufzustehen und beides zu holen. Ich beugte mich in die Kiste hinein, und vor meinen Augen drehte sich alles.

Noch eine scheußliche Sitzung über der Schüssel. Zum Teufel mit der Decke und dem Kissen. Aber mir war so kalt.

Beim zweiten Versuch bekam ich sie zu fassen. Hüllte mich fest in die dicke, marineblaue Wolle und bettete meinen Kopf dankbar auf das marineblaue Kissen. Irgendwo gab es doch noch Barmherzigkeit, wie es schien. Ich hatte ein Bett und eine Decke und Licht und Luft und ein Wasserklosett, und Heerscharen von Schiffsgefangenen vor mir hätten ihre Seele für all das gegeben. Es war wohl ein wenig viel, obendrein noch eine Erklärung zu verlangen.

Der Tag verging, und es wurde immer schrecklicher. Wer jemals richtig seekrank war, wird keiner weiteren Erklärung bedürfen. Der Kopf schmerzt, die Haut ist schweißnaß, der Magen revoltiert, es ist einem schwindlig, und man fühlt sich durch und durch unglaublich krank. Wenn ich die Augen öffnete, würde es noch schlimmer.

[37] Wie lange, dachte ich, wird das so weitergehen? Überquerten wir den Kanal? Gewiß mußte dieses unablässige Stampfen bald aufhören. Wo immer wir hinfuhren, weit konnte es nicht sein.

Irgendwann kehrte er zurück und öffnete den Lukendeckel.

»Essen«, sagte er; er mußte schreien, um sich über das Getöse der Maschine hinweg verständlich zu machen.

Ich antwortete nicht; war der Mühe nicht wert.

»Essen«, rief er noch einmal.

Ich bedeutete ihm mit einer schwachen Handbewegung, er könne gehen.

Ich könnte schwören, daß er gelacht hat. Sehr merkwürdig, wie komisch Seekrankheit für diejenigen ist, die nicht darunter leiden. Er schob den Lukendeckel wieder zurück und ließ mich mit meiner Übelkeit allein.

Das Licht verdämmerte zu Dunkelheit. Ich versank in Träume, die erheblich tröstlicher waren als die Wirklichkeit, und erwachte wieder; und während einer dieser kurzen Schlafphasen kam jemand und schloß die Luke. Es war mir ziemlich egal. Wenn das Boot gesunken wäre, hätte ich dem Ertrinken als einer willkommenen Erlösung entgegengesehen.