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Vor allem für Michael.

Und für Ihn: Fiat voluntas tua in omnibus.

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Onkel William war schon mehr als eine Stunde zurück und hatte sie immer noch nicht zu sich gerufen.

Sage saß an ihrem Schreibtisch im Unterrichtsraum und musste sich zusammennehmen, um nicht herumzuzappeln. Jonathan hampelte ständig während ihrer Stunden herum, sei es aus Langeweile oder aus Unmut darüber, dass sie – ein Mädchen, das nur wenig älter war als er – seine Lehrerin war. Ihr machte das nichts aus, aber sie würde ihm keinen Grund bieten, sie zu verspotten. Im Augenblick saß er über eine Landkarte von Demora gebeugt, die er richtig beschriften musste. Er gab sich bei solchen Aufgaben nur dann Mühe, wenn seine Geschwister ähnliche bewältigen mussten, die er mit seinen vergleichen konnte. Das hatte Sage früh erkannt und nutzte es zu ihrem Vorteil, um seiner Geringschätzung entgegenzuwirken.

Sie machte eine Faust, um nicht mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, während ihr Blick zum Fenster flog. Auf dem Hof herrschte geschäftiges Treiben. Hausangestellte und Hilfsarbeiter klopften Teppiche aus und legten Heulager für den kommenden Winter an. Ihre Verrichtungen verbanden sich mit dem steten Quietschen der voll beladenen Getreidewagen auf der Straße zu einem Rhythmus, der sie sonst stets beruhigte, nur heute nicht. Ihr Onkel, Lord Broadmoor, war an diesem Morgen nach Garland Hill aufgebrochen, ohne zu sagen, was er dort vorhatte. Und als er am frühen Nachmittag zurückgekehrt war, hatte er mit süffisantem Blick zum Fenster des Unterrichtsraums hochgeschaut, bevor er dem Stallburschen die Zügel überlassen hatte.

Seitdem wusste sie, dass er ihretwegen unterwegs gewesen war.

Wenn man bedachte, wie kurz er fort gewesen war, konnte er sich nur eine Stunde in der Stadt aufgehalten haben, was in gewisser Weise schmeichelhaft war. Irgendwer hatte eingewilligt, sie als Lehrling zu nehmen – der Kräuterhändler oder der Kerzenmacher oder vielleicht auch der Weber. Wenn es nötig war, würde sie auch den Boden in der Werkstatt des Hufschmieds fegen. Und sie konnte ihren Lohn für sich behalten. Die meisten Mädchen, die arbeiteten, mussten ein Kloster-Waisenhaus oder eine Familie unterstützen, doch die Broadmoors brauchten das Geld nicht, und da Sage ihre Kinder unterrichtet hatte, schuldete sie ihnen nichts und würde ihren Lohn behalten können.

Sie schaute zu dem breiten Eichentisch hinüber, an dem Aster konzentriert über ihrer eigenen Landkarte saß; sie kniff die Augen zusammen und hielt den Buntstift ungeschickt in ihren pummeligen kurzen Kinderfingern. Gelb für Crescera, die Kornkammer Demoras, wo Sage in einem Umkreis von achtzig Kilometern ihr gesamtes Leben verbracht hatte. Während die fünfjährige Aster ihren gelben Stift gegen einen grünen austauschte, versuchte Sage zu überschlagen, wie viel Geld sie wohl zusammensparen musste, bevor sie darüber nachdenken konnte, von hier fortzugehen. Aber wohin sollte sie gehen?

Lächelnd ließ sie den Blick zu der Karte an der gegenüberliegenden Wand schweifen. Berge, die bis in die Wolken aufragten. Meere, die nirgends endeten. Städte, die brummten wie Bienenkörbe.

Egal wohin.

Onkel William wollte sie genauso gern loswerden, wie Sage weggehen wollte.

Warum hatte er sie also noch nicht zu sich gerufen?

Sie hatte keine Lust, länger zu warten. Sage setzte sich auf und blätterte durch die Unterlagen vor ihr. So viel Papier, was für eine Verschwendung. Aber es war ein Statussymbol, und Onkel William konnte es sich leisten, seine Kinder damit zu versorgen. Obwohl Sage nun schon vier Jahre hier lebte, brachte sie es selten über sich, irgendetwas davon wegzuwerfen. Sie zog ein langweiliges Geschichtsbuch aus dem Bücherstapel vor sich, in das sie schon über eine Woche keinen Blick mehr geworfen hatte. Dann erhob sie sich und steckte es sich unter den Arm. »Ich bin in ein paar Minuten wieder da.«

Die drei älteren Kinder schauten hoch und wandten sich dann kommentarlos wieder ihrer Arbeit zu, nur Asters dunkelblaue Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen. Sage versuchte ihre Schuldgefühle zu ignorieren. Wenn sie eine Lehre anfing, bedeutete das, dass sie ihre Lieblingscousine zurücklassen musste, aber Aster brauchte Sages Unterstützung nicht mehr. Tante Braelaura liebte das Mädchen inzwischen wie eine eigene Tochter.

Sage eilte aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich. Vor der Bibliothek hielt sie kurz inne, um die Haare zurückzustreichen, die sich aus ihrem eingewickelten Zopf gelöst hatten; für die nächsten fünfzehn Minuten sollten sie gefälligst bleiben, wo sie waren. Dann straffte sie die Schultern und holte tief Luft. In ihrer Aufregung klopfte sie fester an die Tür, als sie eigentlich wollte, und zuckte bei dem lauten Geräusch zusammen.

»Herein.«

Sie drückte die schwere Tür auf und machte zwei Schritte ins Zimmer, bevor sie in einen tiefen Knicks sank. »Entschuldige die Störung, Onkel, aber ich muss das hier zurückbringen« – sie hielt das Buch hoch, aber plötzlich erschien ihr dieser Grund unangemessen – »und, ähm, ein anderes für den Unterricht holen.«

Onkel William blickte von einem halben Dutzend Pergamenten auf, die über seinen Schreibtisch verteilt waren. In einem Ledergurt, den er über die Rückenlehne seines Stuhls gehängt hatte, steckte ein glänzendes Schwert. Wie albern. Er trug es, als wäre er eine Art Reichsprotektor, dabei bedeutete es nichts weiter, als dass er die zweimonatige Hin- und Rückreise zur Hauptstadt Tennegol gemacht und dort vor dem Königshof seinen Lehnseid geleistet hatte. Sie bezweifelte, dass er je etwas Bedrohlicherem als einem aggressiven Bettler begegnet war, aber sein wachsender Bauchumfang stellte sicherlich eine Bedrohung für den Gurt dar. Sage blieb zähneknirschend in ihrer gebeugten Haltung, bis er sie zur Kenntnis nahm. Er ließ sich gern Zeit damit – als ob sie daran erinnert werden müsste, wer in ihrem Leben das Sagen hatte.

»Ja, komm herein«, sagte er; er klang erfreut. Seine Haare waren noch zerzaust von seinem Ritt, und dass er seine staubige Reitjacke noch nicht ausgezogen hatte, deutete darauf hin, dass, was auch immer gerade passierte, mit einer gewissen Eile geschah. Sage richtete sich wieder auf und versuchte, ihn nicht erwartungsvoll anzusehen.

Er legte die Feder hin und winkte sie zu sich. »Komm mal bitte her, Sage.«

Nun war’s vorbei mit ihrer Zurückhaltung. Sage rannte förmlich durch den Raum. Sie blieb vor seinem Schreibtisch stehen, während er eins der Blätter faltete. Sie erkannte auf einen Blick, dass es sich um persönliche Briefe handelte, und das erschien ihr seltsam. Freute er sich so sehr über ihren Abschied, dass er seinen Freunden schon davon berichtete? Aber warum sollte er es irgendwem erzählen, bevor er sie informierte? »Ja, Onkel?«

»Du bist letztes Frühjahr sechzehn Jahre alt geworden. Es wird Zeit, dass wir uns deiner Zukunft widmen.«

Sage umklammerte ihr Buch und beschränkte ihre Reaktion auf ein begeistertes Nicken.

Er strich über seinen schwarz gefärbten Schnauzbart und räusperte sich. »Deshalb habe ich mit Darnessa Rodelle einen Termin für ein Gespräch vereinbart.«

»Was?« Kupplerin war der einzige Beruf, den sie nicht für sich in Erwägung gezogen hatte, denn es war der einzige, den sie hasste. »Aber ich will keine –«

Sie unterbrach sich, weil ihr plötzlich klar wurde, was ihr Onkel gemeint hatte. Ihr fiel das Buch aus der Band.

»Ich soll verkuppelt werden?«

Onkle William nickte, offenkundig zufrieden. »Ja, Mistress Rodelle ist schon ganz auf das Concordium im nächsten Sommer konzentriert, aber ich habe ihr erklärt, dass wir ohnehin davon ausgehen, dass Jahre vergehen werden, bis sich jemand findet, der dich heiraten will.«

Trotz ihrer Verwirrung und Empörung traf sie diese Beleidigung wie ein Schlag ins Gesicht und verschlug ihr den Atem.

Er zeigte mit einer tintenfleckigen Hand auf die Briefe vor ihm. »Ich schreibe bereits junge Männer aus meinem Bekanntenkreis an und lade sie ein, uns zu besuchen. Mit ein bisschen Glück gefällst du ja einem von ihnen gut genug, dass er sich bei Mistress Rodelle nach dir erkundigt. Die Entscheidung liegt natürlich bei ihr, aber es schadet ja nicht, ihr ein wenig unter die Arme zu greifen.«

Sage rang um Worte. Die Hohe Kupplerin nahm nur Kandidatinnen auf, die adlig, reich oder außergewöhnlich waren. Und Sage war nichts von alldem. »Aber warum sollte sie mich akzeptieren?«

»Weil du unter meiner Obhut stehst.« Onkel William faltete lächelnd seine Hände auf dem Tisch. »So können wir der Situation am Ende doch noch etwas Gutes abgewinnen.«

Geist im Himmel, er erwartete auch noch, dass sie ihm dankbar war. Dankbar dafür, dass er sie mit einem Mann verheiraten wollte, den sie kaum kennen würde. Und dafür, dass ihre Eltern, die sich ganz ohne Kupplerin gefunden hatten, nicht mehr lebten, um Einspruch zu erheben.

»Der Einflussbereich von Mistress Rodelle ist sehr groß. Sie wird in der Lage sein, jemanden zu finden, der keine Einwände gegen deine … vorherigen Verhältnisse hat.«

Sages Kopf schnellte hoch. Was genau war denn falsch an ihrem vorherigen Leben? Darin war sie auf jeden Fall glücklicher gewesen.

»Das ist eine ziemliche Ehre«, fuhr er fort. »Vor allem, wenn man bedenkt, wie viel sie im Moment zu tun hat. Aber ich habe sie davon überzeugt, dass deine schulischen Qualitäten dich über deine Geburt erheben.«

Ihre Geburt. Er sagte das, als wäre es eine Schande, als Nichtadlige geboren zu werden. Als hätte er nicht selbst eine Bürgerliche geheiratet. Als wäre es falsch, Eltern zu haben, die einander selbst ausgesucht hatten.

Als hätte er sein eigenes Ehegelübde nicht vor aller Augen verhöhnt.

Sie grinste spöttisch auf ihn herab. »Oh ja, es wird eine Ehre sein, einen Mann zu haben, der ebenso treu ist wie du.«

Er erstarrte. Das Gönnerhafte in seiner Miene machte etwas weitaus Hässlicherem Platz. Sie war froh darüber, denn das gab ihr die Kraft, sich zur Wehr zu setzen. Seine Stimme bebte vor kaum verhohlener Wut. »Wie kannst du es wagen …?«

»Oder wird Treue nur von der Frau eines Adligen erwartet?«, fragte sie. Oh, sein Zorn war gut. Er nährte ihren wie der Wind ein Lauffeuer.

»Ich werde mich doch nicht von einem Kind belehren …«

»Nein, du ziehst es vor, andere mit deinem Beispiel zu belehren.« Sie stach mit dem Finger in Richtung der zusammengefalteten Briefe zwischen seinen. »Ich bin sicher, deine Freunde wissen, wohin sie kommen müssen, wenn sie etwas lernen wollen.«

Er sprang auf und brüllte: »Du wirst dich noch daran erinnern, wo dein Platz ist, Sage Fowler!«

»Ich weiß, wo mein Platz ist!«, schrie sie zurück. »Es ist unmöglich, das in diesem Haus zu vergessen!« Lange Monate, in denen sie sich zurückgehalten hatte, trieben sie jetzt vorwärts. Er hatte ihr in Aussicht gestellt, dass er sie gehen lassen würde, dass er ihr ein Leben außerhalb seiner Vormundschaft erlauben würde – nur um sie dann in eine arrangierte Heirat zu zwingen? Sie ballte die Fäuste und beugte sich über seinen Schreibtisch. Er hatte sie noch nie geschlagen, nicht ein einziges Mal in all den Jahren, in denen sie ihn herausgefordert hatte, aber sie hatte es auch noch nie so schnell so weit getrieben.

Als Onkel William endlich seine Sprache wiederfand, presste er zwischen zusammengebissenen Zähne hervor: »Du verweigerst mir den Respekt, Nichte. Du verweigerst mir den Respekt, den du mir schuldest. Deine Eltern würden sich für dich schämen.«

Das bezweifelte sie. Nicht, wo sie so viel durchgemacht hatten, um ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können. Sage bohrte die Fingernägel in ihre Handballen. »Ich. Gehe. Da. Nicht. Hin.«

Er begegnete ihrer Hitze kühl. »Doch, das wirst du. Und du wirst einen guten Eindruck hinterlassen.« Er setzte sich mit dieser pompösen, herablassenden Art wieder hin, die sie so sehr hasste, und griff nach seiner Feder. Nur seine weiß hervortretenden Fingerknöchel straften sein ruhiges Äußeres Lügen. Er schickte sie mit einem beiläufigen Wedeln seiner anderen Hand aus dem Raum. »Du kannst gehen. Deine Tante trifft alle Vorbereitungen.«

Das machte er immer. Immer ging er über sie hinweg. Doch Sage wollte seine Aufmerksamkeit. Am liebsten wäre sie über seinen Schreibtisch gesprungen und hätte mit Fäusten auf ihn eingeschlagen wie auf einen Sandsack draußen in der Scheune. Aber über ein solches Verhalten wäre Vater wirklich beschämt gewesen.

Sage drehte sich ohne Knicks um und stapfte aus dem Zimmer. Kaum war sie im Flur, rannte sie los. Sie schob sich durch eine Schar von Leuten mit Truhen und Körben, ohne sich darum zu scheren, wer sie waren und warum sie plötzlich im Haus erschienen waren.

Das Einzige, was sie in diesem Moment beschäftigte, war die Frage, wie weit sie von dort weglaufen konnte, bis die Sonne unterging.

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Sage schlug ihre Zimmertür mit einem befriedigenden Knall zu und ging zu dem hohen Schrank in der Ecke. Sie riss die Türen auf und suchte nach der Umhängetasche, die ganz hinten liegen musste. Als ihre Finger in dem dunklen Schrank auf das raue Leinen stießen, erkannte sie den Stoff sofort, obwohl sie die Tasche jahrelang nicht benutzt hatte. Sage zog sie heraus und untersuchte sie. Der Träger war noch intakt; offenbar hatten keine Mäuse Löcher hineingefressen.

Die Tasche roch immer noch nach ihm. Nach der Kiefernsalbe, die Vater für Schnitt- und Kratzwunden hergestellt hatte. Er verwendete sie sowohl für Sage als auch für die Vögel, die er trainierte. Sie kniff die Augen zu. Vater hätte dieser Sache ein Ende bereitet. Ach was, er hätte sie sogar gleich im Keim erstickt. Aber Vater war tot.

Vater war tot und sie war eine Gefangene ihres Schicksals – eines Schicksals, vor dem er sie stets hatte schützen wollen.

Die Zimmertür ging auf und Sage erschrak, aber es war nur Tante Braelaura. Sie kam, um die Wogen zu glätten, wie sie es immer tat. Aber diesmal würde es nicht funktionieren. Sage stopfte Kleidungsstücke in die Tasche, angefangen bei der Hose, die sie immer auf ihren Streifzügen durch den Wald trug. »Ich gehe weg«, sagte sie kurz angebunden.

»Das dachte ich mir schon«, erwiderte ihre Tante. »Ich habe William gleich gesagt, dass du es nicht gut aufnehmen würdest.«

Sage drehte sich zu ihr hin. »Du wusstest es? Warum hast du mir dann nichts gesagt?«

Braelaura verzog amüsiert das Gesicht. »Ehrlich gesagt habe ich nicht damit gerechnet, dass er in der Sache Erfolg haben würde. Und ich wollte dich nicht wegen etwas in Aufruhr versetzen, was ich für absolut unwahrscheinlich hielt.«

Selbst ihre Tante glaubte nicht, dass irgendjemand sie heiraten würde. Sage wollte zwar nicht verkuppelt werden, aber das war trotzdem beleidigend. Sie wandte sich wieder ihrer Tasche zu.

»Wo willst du denn hin?«

»Völlig egal.«

»Und was lässt dich glauben, dass es besser ausgehen wird als beim letzten Mal?«

War ja klar, dass sie davon anfangen würde. Wütend stopfte Sage ein zusätzliches Paar Socken in die Tasche. Die Nächte wurden kühler; sie würde sie brauchen. »Das ist Jahre her. Inzwischen kann ich für mich selbst sorgen.«

»Zweifellos.« Sie klang so ruhig. So vernünftig. »Und wie willst du dich ernähren?«

Statt einer Antwort nahm Sage die Schleuder, die auf einem Stapel Bücher lag, wickelte sie demonstrativ auf und steckte sie in ihre Rocktasche. Mist. Sie musste sich noch umziehen, bevor sie ging.

Braelaura zog die Augenbrauen hoch. »Eichhörnchen. Wie lecker.« Sie machte eine Pause. »Und den ganzen Winter hindurch verfügbar.«

»Ich werde Arbeit finden.«

»Und wenn nicht?«

»Dann ziehe ich so lange weiter, bis ich welche finde.«

Sie musste ernsthaft genug geklungen haben, denn der Ton ihrer Tante veränderte sich. »Es ist gefährlich für Mädchen, ganz allein unterwegs zu sein.«

Sage versteckte ihr wachsendes Unbehagen hinter einem Schnauben. Sie war mit ihrem Vater jahrelang durchs Land gezogen und wusste sehr gut, welche Gefahren – menschliche wie tierische – ihr dabei begegnen konnten. »Wenigstens brauche ich dann niemanden zu heiraten, den ich nicht mal kenne.«

»Du sagst das, als würden Kupplerinnen nichts von ihrem Handwerk verstehen.«

»Na, dir hat Mistress Rodelle auf jeden Fall einen großen Dienst erwiesen, als sie dir einen Mann ausgesucht hat«, sagte Sage sarkastisch.

»Ja, hat sie«, erwiderte Braelaura ungerührt.

Sage schaute sie mit offenem Mund an. »Das ist ja wohl nicht dein Ernst.« Alle wussten, was Aster war. Ihr Name – der Name einer Pflanze – machte für alle offensichtlich, dass sie unehelich geboren war. Das Mädchen konnte nichts dafür, aber Sage begriff nicht, warum Braelaura ihrem Mann vergeben hatte.

»Eine Ehe ist weder einfach noch leicht«, sagte Braelaura. »Das haben sogar deine Eltern in der kurzen Zeit erkannt, die sie zusammen hatten.«

Vielleicht war ihre Ehe nicht leicht gewesen, aber ihre Liebe schon. Und zu heiraten hätte einfach für sie sein sollen. Stattdessen hatte ihre Eheschließung dazu geführt, dass ihre Mutter von ihren Eltern verstoßen und vom halben Dorf gemieden worden war. Aber dass sie zusammen sein konnten, war es den beiden wert gewesen.

»Wovor genau hast du eigentlich Angst?«, fragte Braelaura.

»Ich habe vor gar nichts Angst«, giftete Sage zurück.

»Glaubst du wirklich, William würde dich jemandem geben, der dich schlecht behandelt?«

Nein, das glaubte sie nicht, aber Sage wandte sich wieder ihrer Tasche zu, um nicht antworten zu müssen. Onkel William war Tag und Nacht durchgeritten, um sie zu holen, sobald er vom Tod ihres Vaters gehört hatte. Und als sie ein paar Monate später weggelaufen war, hatte er sie tagelang gesucht, bis er sie in einer Schlucht gefunden hatte, aus der sie, verletzt und verfroren, wie sie war, aus eigener Kraft nie wieder herausgekommen wäre. Er hatte niemals ein Wort des Tadels darüber verloren, sondern sie einfach in seine Arme gehoben und nach Hause gebracht.

Eine Stimme in ihrem Innern flüsterte, dass es eine Ehre war, dass die Kupplerin sich ihrer annehmen wollte, ein Geschenk. Das erklärte sie zu einem ganz normalen Teil der Familie und nicht zu einer armen Verwandten, die er gezwungenermaßen durchfütterte. Es war das Beste, was er ihr zu bieten hatte.

Es wäre so viel leichter gewesen, wenn sie ihn hätte hassen können.

Sage spürte die Hand der Tante auf ihrer Schulter und erstarrte. »Er muss ein ganz schönes Sümmchen dafür gezahlt haben, dass sie mich nimmt.«

»Zweifellos.« An Braelauras Ton war zu erkennen, dass sie lächelte. »Aber Mistress Rodelle hätte nie zugestimmt, wenn sie in dir kein Potenzial sehen würde.« Sie strich Sage eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Glaubst du, du bist noch nicht so weit? Es ist nicht so schwierig, wie du denkst.«

»Das Vorstellungsgespräch oder mit jemandem verheiratet zu sein?« Sage weigerte sich, sich zu entspannen.

»Beides«, sagte Braelaura. »Bei dem Vorstellungsgespräch kommt es darauf an, wie du dich präsentierst. Und was die Ehe angeht –«

»Vater hat mir erzählt, wie Babys gemacht werden.« Sage errötete.

Braelaura fuhr fort, als hätte Sage sie nicht unterbrochen: »Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, bringe ich dir seit Jahren bei, wie man einen Haushalt führt. Als ich letztes Frühjahr krank war, hast du dich ziemlich gut geschlagen. William war sehr zufrieden mit dir.« Sie rieb über Sages Rücken. »Du könntest ein schönes Zuhause und ein paar Kinder haben. Wäre das so schlecht?«

Sage spürte, wie sie dem beruhigenden Druck ihrer Tante allmählich nachgab. Ein eigenes Zuhause. Weit weg von diesem Ort. Obwohl sie ehrlicherweise nicht den Ort hasste, sondern die Erinnerungen, die sie mit ihm verband.

»Mistress Rodelle wird einen Mann finden, der jemanden wie dich braucht«, sagte Braelaura. »Sie ist die Beste von allen.«

»Onkel William hat gesagt, es könnte Jahre dauern.«

»Möglich«, stimmte ihre Tante zu. »Ein Grund mehr, warum du jetzt nichts überstürzen solltest.«

Sage gab sich geschlagen und warf die Tasche zurück in den Schrank.

Braelaura stellte sich auf die Zehenspitzen, um Sage einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Ich werde für dich da sein. Bei jedem einzelnen Schritt. Anstelle deiner Mutter.«

Da die Tante ihre Mutter nur selten erwähnte, wollte Sage ihr schnell ein paar Fragen stellen, bevor sie das Thema wechselte, doch in diesem Moment kam die zwölfjährige Hannah mit wehenden Locken ins Zimmer gestürzt. Sage sah sie finster an. »Kannst du nicht anklopfen?«

Hannah ignorierte sie. »Stimmt das, Mutter? Sage fährt zur Kupplerin? Zur Hohen Kupplerin?«

Tante Braelaura legte einen Arm um Sages Taille, als wollte sie sie davon abhalten, wegzulaufen. »Ja, das stimmt.«

Sage schaute ihre Cousine weiter wütend an. »Hast du auch irgendwas Wichtiges zu sagen?«

Hannah zeigte hinter sich. »Die Schneiderin ist hier.«

Sage brach der kalte Schweiß aus. Schon?

Hannah wandte sich mit großen blauen Augen wieder Sage zu. »Glaubst du, sie wählt dich für das Concordium aus?«

»Ha!«, hörte man den dreizehnjährigen Jonathan hinter Hannah im Flur schallend lachen. Er trug einen Koffer. »Das möchte ich sehen.«

Sage wurde übel. Wann sollte dieses Vorstellungsgespräch denn sein? Sie war Onkel William ins Wort gefallen, bevor er es sagen konnte. Braelaura führte sie zur Tür, wo Hannah aufgeregt auf und ab hüpfte. »Sie hat ihre Sachen im Unterrichtszimmer ausgebreitet.«

»Wann muss ich denn da hin?«, brachte Sage endlich heraus.

»Morgen, Liebes«, sagte Braelaura. »Morgen Nachmittag.«

»Morgen? Aber wie kann ich denn bis dahin ein neues Kleid genäht bekommen?«

»Mistress Tailor ändert einfach eins aus ihrem Bestand um und fährt morgen früh mit uns.«

Sage ließ sich durch den Flur führen und blieb wie benommen stehen, während Braelaura die Schnüre ihrer Korsage so weit löste, dass Sage hinausschlüpfen konnte. Plötzlich wurde es dunkel im Raum. Im ersten Moment dachte Sage, sie würde ohnmächtig, aber Hannah und Aster zogen nur die Vorhänge zu. Als sie damit fertig waren, setzte Aster sich still auf einen Stuhl in der Ecke; offensichtlich hoffte sie, dass niemand sie beachtete, damit sie bleiben und zusehen konnte. Hannah tanzte herum und plapperte in einem fort. Sie konnte es gar nicht erwarten, zu ihrem eigenen Vorstellungsgespräch zu fahren, und fragte ihre Mutter, ob sie es für möglich hielte, dass Vater ihr schon mit fünfzehn Jahren erlauben würde, sich der Kupplerin vorzustellen, auch wenn sie erst ein Jahr später vermittelt werden könne.

Ihre Cousine konnte sich auch vorstellen, dass Sage noch eine Chance hatte, zum Concordium mitgenommen zu werden. Solchen Illusionen gab Sage sich allerdings nicht hin. Die vorrangige Aufgabe der Hohen Kupplerin bestand darin, die Besten ihrer Region für diese Zusammenkunft auszuwählen, aber da hätte Sage nicht einmal hin gewollt, wenn sie schön oder reich genug gewesen wäre, um dafür in Betracht zu kommen. Sie hatte keine Lust, quer durchs Land bis nach Tennegol getrieben und dort praktisch wie eine Kuh versteigert zu werden. Hannah hingegen träumte davon, wie alle Mädchen in ganz Demora.

Braelaura zog Sage das Kleid von den Schultern; es war eins von mehreren, die sie besaß und hasste. Es war auf eine bizarre Art unfair, dass sie so viele Dinge hatte, die sie nicht wollte. Die meisten Mädchen würden töten, um sich bei einer Hohen Kupplerin vorstellen zu können.

Mistress Tailor kramte in einem Korb herum, der auf dem Tisch stand, hielt aber inne und zeigte auf den Hocker, den sie mitten ins Zimmer gestellt hatte. »Stell dich da drauf«, befahl sie. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Braelaura half Sage auf den Hocker und stützte sie, als er unter ihren Füßen wackelte. Sage kämpfte gegen einen Schwindel an, der nichts damit zu tun hatte, dass sie dort oben ihre Balance halten musste.

»Unterrock aus«, sagte die Schneiderin über ihre Schulter. Sage wand sich erst, zog ihn dann aber doch aus und reichte ihn ihrer Tante. Normalerweise musste man sich für eine Anprobe nicht komplett ausziehen, sondern es reichte aus, wenn die Schneiderin mit einer Knotenschnur Maß nahm, die sie über dem Unterrock anlegte. Sage verschränkte zitternd die Arme über ihrem Brustband und war froh, dass die Vorhänge sie sowohl vor der Zugluft als auch vor Blicken schützten.

Mistress Tailor drehte sich um und runzelte die Stirn, als sie Sages Unterwäsche sah. Die jungenhaften Leinenshorts waren das Einzige, was Braelaura Sage weiter zu tragen erlaubt hatte, seitdem sie sie in Frauenkleider zwängte. Diese Shorts waren weitaus bequemer als das, was Frauen sonst trugen, und außerdem sah sie ohnehin niemand.

Die Schneiderin blinzelte Sage mit gespitzten Lippen aus verschiedenen Blickwinkeln an. »Ihr Hauptmakel ist ihre Dünnheit«, murmelte sie. »Wir werden sie auspolstern müssen. Vor allem oben.«

Sage verdrehte die Augen bei dem Gedanken an all das Füllmaterial und die Rüschen, die es brauchen würde, um ihre flache Brust zu kaschieren. Braelaura hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, Spitze und Schleifen an ihre Kleider zu nähen, da diese stets fatale Bekanntschaften mit Scheren gemacht hatten, wenn niemand hinschaute.

Kalte Finger kniffen ihr in die Taille. »Hier hat sie gute Kurven, und ein stabiles, gebärfreudiges Becken hat sie auch. Das können wir betonen.«

Sage fühlte sich wie das Pferd, das ihr Onkel letzten Monat gekauft hatte. Kräftige Schenkel sind gut für die Zucht, hatte der Pferdehändler gesagt und dabei auf das Hinterteil der Stute geklopft. Die hier können Sie noch zehn Jahre besteigen lassen.

Die Schneiderin hob Sages Arm an, um sie in besserem Licht noch kritischer zu beäugen. »Schön helle Haut, aber zu viele Sommersprossen.«

Braelaura nickte. »Die Köchin kocht schon Zitronenlotion.«

»Ja, tragt reichlich davon auf. Hast du denn überall Narben auf den Armen, Kind?«

Sage seufzte. Die meisten waren so alt und klein, dass man sie nur sah, wenn man danach suchte.

»Ihr Vater hat im Wald gearbeitet«, erklärte Braelaura der Schneiderin. »Bevor sie zu uns kam, hat sie sehr viel Zeit draußen verbracht.«

Mistress Tailor fuhr mit einem knochigen Finger über eine lange rote Schramme. »Ein paar davon sind aber auch noch frisch. Was hast du denn gemacht? Bist du etwa auf Bäume geklettert?« Sage zuckte die Achseln, und die Frau ließ ihren Arm wieder fallen. »Na ja, ich sollte mich nicht beschweren«, sagte sie trocken. »Deine Kleiderreparaturen halten mich seit Jahren über Wasser.«

»Aber gerne doch«, sagte Sage, deren Lebensgeister langsam zurückkehrten. Wut war angenehmer als Angst.

Die Schneiderin ignorierte sie und hielt die Spitze von Sages Zopf zwischen ihren Fingern. »Weder braun noch blond«, grummelte sie. »Ich weiß nicht, welche Farbe ich damit kombinieren soll.« Sie schaute Sages Tante an. »Wie wird sie die Haare denn während des Vorstellungsgesprächs tragen?«

»Das haben wir noch nicht entschieden«, sagte Braelaura. »Wenn wir sie hinten zusammenbinden, lösen sich ständig Haare aus dem Zopf. Aber sie lassen sich gut aufdrehen, obwohl sie so fein sind.«

»Hmmm.« Die Schneiderin riss Sages Kinn herum, um ihr in die Augen zu schauen, und Sage widerstand dem Drang, ihr in die Finger zu beißen. »Grau … Vielleicht bringt Blau ein bisschen Farbe in ihre Augen.« Sie ließ Sages Kinn los. »Aber diese Sommersprossen!«

Aster legte verwundert den Kopf schief. Sie hatte Sage immer um ihre Sommersprossen beneidet. Als sie drei war, hatte Sage sie dabei erwischt, wie sie sich welche mit Tinte ins Gesicht gemalt hatte.

»Gut, dann also Blau«, sagte Mistress Tailor, wodurch sie erneut Sages Aufmerksamkeit auf sich zog, obwohl sie ausschließlich mit Tante Braelaura sprach. Dann machte die Schneiderin sich daran, den riesigen Koffer zu durchwühlen, der an der Wand stand. »Das hier könnte passen, aber ich werde die ganze Nacht brauchen, um es für sie umzuarbeiten.«

Die Schneiderin hob eine blaue Stoffmasse aus der Truhe. Als sie sie ausschüttelte, kam eine blau-violette Monstrosität zum Vorschein, in der Sage sich nicht einmal vorstellen konnte zu gehen. Um die langen Ärmel wanden sich mit Goldfaden eingestickte – unzweifelhaft elend kratzige – Muster, die sich auf dem Oberteil wiederholten. Der tiefe Ausschnitt war mit einem Wasserfallkragen versehen, der wahrscheinlich noch verschönert werden würde, um Fülle zu suggerieren.

»Es ist schulterfrei«, sagte Mistress Tailor, während Braelaura und Hannah »Oh« und »Ah« machten. »Sie hat ganz hübsche Schultern, also sollten wir sie auch zeigen. Aber das bedeutet: kein Brustband.«

Sage schnaubte. Es war ja nicht so, als würde sie wirklich eins brauchen.

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Das weiß getünchte zweistöckige Gebäude tauchte aus dem Oktobernebel auf. Sage sprang vom Wagen, sobald er zum Stehen kam, und war so auf das Haus der Kupplerin konzentriert, dass sie die matschige Pfütze erst bemerkte, als sie mittendrin saß. Ihre Tante zog Sage seufzend am Ellenbogen hoch und bugsierte sie in den Baderaum auf der Rückseite des Hauses. »Keine Sorge«, sagte Braelaura beruhigend. »Genau aus diesem Grund bereiten sich alle hier auf ihr Gespräch vor.«

Mistress Tailor war bereits dort und wartete darauf, letzte Korrekturen an dem Kleid vornehmen zu können. Sage verschwendete keine Zeit; bereitwillig streifte sie ihre verdreckten Sachen ab und stieg in die warme Wanne. »Wasch dir die Hände und halt sie dann hoch«, instruierte Braelaura sie. »Sonst blättert der Nagellack ab.«

»Wie soll ich denn dann sauber werden?« Statt zu antworten, nahm ihre Tante einen Waschlappen und machte sich daran, Sages Rücken abzuschrubben. Sage verzog das Gesicht, hielt aber still. Sie wollte nur, dass dieser Tag vorbeiging.

Sobald Braelaura zufrieden war, stieg Sage wieder aus dem Wasser und trocknete sich ab. Dann ließ sie bibbernd über sich ergehen, dass ihre Schultern, ihr Hals und ihre Arme mit hautberuhigenden Cremes eingerieben wurden. Ihr ganzer Körper wurde mit Puder eingestäubt. »Das juckt«, klagte sie.

Braelaura versetzte ihr einen Klaps. »Nicht kratzen, sonst ruinierst du deine Nägel. Der Puder verhindert, dass du dich nass schwitzt.«

»Er riecht nach Kamille. Ich hasse Kamille.«

»Sei nicht albern. Niemand hasst Kamille. Sie wirkt beruhigend.«

Dann bin ich wohl niemand. Sage hielt die Arme hoch, während ihre Tante ihr das Korsett umlegte. Geist im Himmel, das war das Unbequemste, was sie je getragen hatte. Die Stäbe bohrten sich in ihre Rippen, während Braelaura es zuschnürte und versuchte, es so festzuzurren, dass es nicht verrutschte. Doch als Sage in den ersten von drei Reifröcken stieg, verschob sich das Korsett bereits und drückte nun an anderen Stellen.

Mistress Tailor und Tante Braelaura zogen Sage das Kleid über den Kopf und sie steckte ihre frierenden Arme in die langen Ärmel. Dann wuselten die beiden um sie herum, zupften das Kleid zurecht und arrangierten den Stoff so, dass der Ausschnitt möglichst vorteilhaft wirkte, bevor sie das Oberteil vorne zuschnürten. Sage fuhr mit den Fingern über den Samtstoff und die Spitze, die sie unterhalb ihrer Schultern umflossen. Nach dem Vorstellungsgespräch würde das Kleid bis zu dem – Monate oder Jahre in der Zukunft liegenden – Tag im Schrank hängen, an dem sie dem Mann präsentiert wurde, den Mistress Rodelle für sie ausgesucht hatte.

Ein Mann konnte sich zwar durchaus auch von selbst an eine Kupplerin wenden, wenn er eine Frau verehrte, aber die Entscheidung darüber, ob sie tatsächlich ein Paar werden sollten, lag bei der Kupplerin. Häufig wussten die Paare nur sehr wenig übereinander, bevor sie heirateten. Ein unbelasteter Start ins Eheleben wurde als vorteilhaft angesehen. Sage verabscheute dieses Konzept, ebenso wie ihr Vater es getan hatte, aber angeblich wurden die Paare auf der Basis ihres Temperaments zusammengestellt, selbst dann, wenn es um hochpolitische Hochzeiten ging wie jene, die beim Concordium vereinbart wurden.

Ehen, die außerhalb dieses Systems geschlossen wurden, waren nur selten stabil oder glücklich, was Sage jedoch hauptsächlich darauf zurückführte, dass Paare, die sich von ganz allein zusammentaten, geächtet wurden. Vielleicht konnte Sage ihren Onkel ja wenigstens dazu überreden, dass sie ihren potenziellen Ehemann vorher kennenlernen durfte. Schließlich hatte er Tante Braelaura auch schon Jahre, bevor sie verkuppelt wurden, gekannt. Dieser Gedanke gab ihr ein Fünkchen Hoffnung, die sie zuvor nicht gehabt hatte.

Tante Braelaura ließ sie auf einem Hocker Platz nehmen und legte ein Leinentuch über ihr Kleid, damit sie ihr Gesicht schminken konnten. Die Lockenbänder vom Vorabend wurden herausgezogen und Sages Haare flossen in Wellen über ihren Rücken. Mit perlenbesetzten Nadeln steckten die beiden Frauen die Haare nun zurück, damit Sages Schultern frei blieben. Mistress Tailor seufzte zufrieden und reichte Tante Braelaura das erste von vielen Schminktöpfchen.

»Meinst du, Onkel William erlaubt mir, dass ich meinen Zukünftigen kennenlerne, bevor er seine Einwilligung gibt?«, fragte Sage, während ihre Tante Creme in ihrem Gesicht verteilte.

Braelaura schaute sie überrascht an. »Ja, natürlich.«

»Und was, wenn er mir nicht gefällt?«

Die Tante wich ihrem Blick aus und tauchte die Finger in das nächste Töpfchen. »Uns gefällt nicht immer das, was gut für uns ist«, sagte sie. »Vor allem am Anfang.«

Sage fragte sich unwillkürlich, ob Braelaura wohl von sich selbst sprach, aber in erster Linie galt ihre Sorge dem Mann, der für sie ausgesucht werden würde. »Wenn Onkel William also glaubt, dass dieser Mann gut für mich ist, interessiert ihn nicht, was ich sage?«

»Also wirklich, Sage.« Ihre Tante seufzte. »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass du dem Mann keine faire Chance geben wirst. Du bist ja schon jetzt vorgenommen gegen ihn, dabei existiert er noch nicht mal.«

Sage verfiel in missmutiges Schweigen, und Braelaura tätschelte ihr die Wange. »Nicht schmollen. Ich kann dich nicht schminken, wenn du so ein Gesicht ziehst.«

Sie versuchte, ihre Stirn zu entspannen, doch ihre Gedanken machten das unmöglich. Der Wunsch ihres Onkels, sie in feste Hände zu geben und aus dem Haus zu haben, würde wahrscheinlich am Ende schwerer wiegen als sein Vorsatz, sich ihr gegenüber anständig zu verhalten. Wahrscheinlich gab er sein Einverständnis dem Erstbesten, der sie nicht schlecht behandeln würde, aber das war ja kein Rezept für eine glückliche Ehe. Sage grübelte, während ihre Tante ihr eine gefühlte Stunde lang weiter Cremes und Farbe ins Gesicht schmierte. Schließlich hielt sie ihr einen Spiegel vor, damit Sage sich begutachten konnte.

»Schau«, sagte Braelaura. »Hübsch siehst du aus.«

Sage betrachtete ihr Spiegelbild mit morbider Faszination. Durch die glatte, elfenbeinfarbene Make-up-Schicht hindurch sah man nicht eine einzige Sommersprosse. Ihre blutroten Lippen bildeten einen starken Kontrast zu ihrem blassen Teint und ihre hohen Wangenknochen hatten einen unnatürlichen Stich ins Rosarote. Der violette Lidschatten ließ ihre grauen Augen beinahe blau erscheinen, was wahrscheinlich Absicht war, aber zwischen ihren geschwungenen und schwarz gefärbten Wimpern sah man sie eigentlich kaum noch.

»Sehen die Damen am Königshof jeden Tag so aus?«, fragte sie.

Ihre Tante verdrehte die Augen. »Nein, so sieht die Braut eines Adligen aus. Und? Was denkst du?«

Sage verzog verächtlich ihre scharlachroten Lippen. »Ich denke, jetzt weiß ich, warum Mutter abgehauen ist.«

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Sage hatte Mühe, auf den lächerlich hohen Schuhen das Gleichgewicht zu halten, während sie aus dem Baderaum zur Vorderseite des Hauses gingen. Auf den Stufen zur Veranda stellte Sage sich hinter ihre Tante, schlug die Augen nieder und faltete die Hände, damit man ihre lackierten Nägel besser sah. Dorfbewohner drückten sich in nahe gelegenen Hauseingängen und Fenstern herum, um einen Blick auf die neueste Anwärterin auf den Braut-Status zu erhaschen, und Sage errötete unter ihrer Schminke. Starrten sie sie an, weil sie sie nicht erkannten, oder im Gegenteil?

Braelaura zog an der Glocke neben der Tür, und ihr Klang hallte durch die Straßen, wodurch noch mehr Leute auf sie aufmerksam wurden. Die Kupplerin brauchte fast eine geschlagene Minute, um an die Tür zu kommen. Über Sages Rücken lief bereits ein Rinnsal aus Angstschweiß.

Die Tür ging auf, und die Kupplerin stand vor ihnen. Darnessa Rodelle war eine imposante Erscheinung; sie maß mehr als ein Meter achtzig und trug ihre grau werdenden Haare in einem festen, am Hinterkopf sitzenden Knoten. Mit ihren fünfzig Jahren hatte ihr Körper die Form einer Kartoffel angenommen, und die kräftigen Arme verrieten, dass sie ein komfortables Leben mit gutem Essen führte. Sie verzog das Gesicht, als würde ein übler Geruch zu ihr hindringen.

»Madam Rodelle, Gebieterin des menschlichen Herzens«, sagte Braelaura, und Sage nahm an, dass es sich um eine Art traditionelle Begrüßungsformel handelte. »Darf ich Ihnen meine Nichte vorstellen, in der Hoffnung, dass Sie in Ihrer Weisheit für sie einen Ehemann finden, der ihrem Liebreiz, ihrem Scharfsinn und ihrer Schönheit entspricht?«

Sage zog den Rock ihres Kleides von ihren zitternden Knien und knickste so tief, wie es diese verflixten Schuhe zuließen.

»Sie dürfen, Lady Broadmoor«, erwiderte die Kupplerin mit großer Geste. »Bringen Sie das Mädchen herein, auf dass sie dem Namen ihrer Familie alle Ehre macht.«

Sage erhob sich und trat ein paar Schritte vor. Sie kam sich vor wie in einer Theateraufführung: Es gab einen festgelegten Text, genau abgestimmte Positionen, Kostüme – und sogar Publikum. Ihr wurde mulmig zumute. Nichts von alldem hier fühlte sich real an.

»Ist es dein Wunsch zu heiraten, Sage Broadmoor?«

Sage zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte. »Jawohl, Mistress.«

»Dann tritt näher, damit ich deine Vorzüge kennenlernen kann.« Die Kupplerin machte einen Schritt zur Seite, um Sage vorbeizulassen.

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Sage erhaschte einen letzten Blick auf Tante Braelaura, bevor die Tür sich schloss und die Schatten mit dem schwachen Licht innerhalb des Salons verschmolzen. Den größten Teil des Fußbodens bedeckter ein dicker geflochtener Teppich. In dessen Mitte stand ein niedriger Teetisch und an einer Seite ein gepolstertes Sofa. Obwohl durch die schweren Leinengardinen nur wenig Licht drang, war Sage erleichtert, dass sie zugezogen waren, denn so war sie vor neugierigen Blicken geschützt.

Die Kupplerin umkreiste sie langsam und musterte sie dabei von oben bis unten. Sage hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet. Die Stille wurde immer unerträglicher. Hatte sie vergessen, dass sie irgendetwas sagen musste? Die Haut unter ihrem Korsett fing an zu jucken, während ihr Schweiß allmählich in den Stoff sickerte. Blöder, nutzloser, widerlicher Kamillepuder.

Schließlich führte die Frau sie zu einem unbequemen Holzstuhl. Sage ließ sich auf dem Rand der Sitzfläche nieder und breitete ihre Röcke wie einen Fächer um sich aus. Sie versuchte, ihr Korsett ein wenig zu drehen, damit es nicht mehr so stark juckte. Doch ohne Erfolg.

Mistress Rodelle setzte sich Sage gegenüber auf das breite Sofa und fixierte sie mit kritischen Blicken. »Die Pflichten der Ehefrau eines Mannes von Stand sind einfach, aber allumfassend. Sie gewinnt und erhält sich seine Zuneigung durch ihr Aussehen und ihre gefälligen Umgangsformen …«

Diese Formulierung ärgerte Sage. Solange sie hübsch war und gute Laune hatte, würde ihr Mann sie lieben? Aber Menschen brauchten doch dann am meisten Liebe, wenn sie nicht in ihrer besten Verfassung waren. Sage blinzelte und konzentrierte sich wieder auf die Kupplerin, doch der Gedanke setzte sich in ihrem Hirn fest wie ein Dorn.

Die Frau redete in monotonem Tonfall immer weiter und weiter. Sie müsse unterwürfig sein, gehorsam und liebenswürdig; sie müsse ihrem Mann stets beipflichten. Und weitere Dinge mehr, die sie tun müsse, um ihm zu gefallen. Die Kupplerin beugte sich vor, legte den Kopf auf die Seite und schaute auf sie herab.

Plötzlich fiel Sage auf, dass Mistress Rodelle verstummt war. Hatte sie ihr eine Frage gestellt? Sage sagte das, wovon sie hoffte, dass es von ihr erwartet wurde, Frage hin oder her. »Ich möchte all das und noch mehr für meinen zukünftigen Ehemann sein.«

»Die größten Wünsche deines Mannes …?«

»… werden zu meinen eigenen.« Sage hatte bis spät in die Nacht eingebläut bekommen, was sie antworten musste. Es fühlte sich allerdings absurd an, ein solches Versprechen abzugeben, ohne die geringste Ahnung zu haben, was die Wünsche ihres Mannes denn sein würden. Wenn man bedachte, welche übertriebenen Erwartungen dieses Kleid in Bezug auf ihre Figur weckte, konnte er zumindest in einer Hinsicht ja nur enttäuscht sein. Die Fragen rissen nicht ab, und Sages Gedächtnis spuckte bereitwillig die Antworten aus. Dieses Spiel kostete sie so wenig Anstrengungen, dass es ihr allmählich albern vorkam. Keine dieser Antworten stammte von ihr selbst – sie waren einfach nur das, was die Kupplerin hören wollte. Und jedes Mädchen gab dieselben Antworten. Was sollte das dann alles?

»Nun zum nächsten Punkt«, unterbrach die Frau Sages Gedanken. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Reden wir über deine … intimeren Pflichten.«

Sage holte tief Luft. »Ich wurde schon darüber aufgeklärt, was ich zu erwarten habe und wie ich … zu reagieren habe.« Sie hoffte, dass ihr Gegenüber sich damit zufriedengeben würde.

»Und sollte dein Erstgeborenes nur eine Tochter sein, was sagst du dann, wenn du ihm das Kind in den Arm legst?«

Nächstes Mal werde ich die Kraft haben, dir einen Sohn zu schenken, lautete die Antwort, aber Sage kannte Frauen, die schwierige Schwangerschaften durchgemacht hatten. Selbst die Zähesten von ihnen litten zu Anfang unter Übelkeit und fühlten sich am Ende massiv unwohl, und zwar noch bevor die Wehen einsetzten. Die Vorstellung, die ganze Mühe auf sich zu nehmen, ein Kind auszutragen, nur um sich dann zu entschuldigen, erzürnte sie. Die Hitze ihrer Wut war verlockend und sie gab ihr nach.

Sage hob den Blick. »Ich werde sagen: ›Ist sie nicht wunderschön?‹«

Mistress Rodelle verkniff sich etwas, das anfangs wie ein Lächeln aussah, und setzte eine verärgerte Miene auf. »Und dann?«

»Warte ich darauf, dass mein Mann mir sagt, dass sie fast so schön ist wie ich.«

Wieder dieses unterdrückte Lächeln. »Mädchen sind nutzlos für einen Mann von Stand. Du musst bereit sein, dich zu entschuldigen.«

Sages Finger krallten sich um eine Falte im Stoff ihres Kleides. Sie hatte Vater einmal gefragt, ob er enttäuscht sei, nur eine Tochter zu haben, und er hatte ihr in die Augen gesehen und Nie im Leben geantwortet. »Ohne Mädchen gäbe es auch keine Jungen.«

»Das ist zweifellos richtig«, gab die Kupplerin zurück. »Aber wenn du deinem Mann keinen Erben schenkst, hast du versagt.«

Die letzten drei Worte schienen auf die Gegenwart gemünzt zu sein: Du hast versagt. Was hatte sie dazu getrieben, von den richtigen Antworten abzuweichen? Sie suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, den Schaden wiedergutzumachen, doch es fiel ihr nichts ein, was nicht sowohl ehrlich als auch beleidigend war.

»Solltest du keinen Erben zustande bringen, bist du dann nach einer Weile bereit, einer anderen Platz zu machen, der es besser gelingt?«

Was würde Vater dazu sagen? Sage schaute zu Boden und holte langsam Luft, um das Zittern in ihrer Stimme in den Griff zu bekommen. »Ich …«

Die Kupplerin fuhr fort: »Wenn du einen Ehemann hast, Sage Broadmoor, dann musst du danach streben, die Ehre, die du in die Ehe mit einbringst, noch zu vergrößern.«

Als Sage das hörte, konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie änderten ihren Namen, als sollte sie sich schämen, die zu sein, die sie war. »Fowler«, sagte sie. »Mein Vater hieß Fowler, also heiße auch ich so.«

Über Mistress Rodelles Gesicht huschte ein verächtlicher Ausdruck. »Du kannst nicht erwarten, dass man dich mit so einem Namen akzeptiert. ›Sage Broadmoor‹ klingt, als wärst du ein uneheliches Kind, aber ›Sage Fowler‹ klingt, als wärst du das uneheliche Kind eines einfachen Mannes.«

»Es ist der Name, den meine Eltern mir gegeben haben.« Sage bebte vor Zorn. »Sie haben ihn wertgeschätzt, also werde auch ich es tun.«

Die nächsten Worte der Kupplerin waren wie ein Peitschenhieb: »Kein Mann mit nobler Erziehung würde so einen Namen mehr wertschätzen als das Balg einer gemeinen Hure.«

Sage sprang auf; durch ihre Adern fuhr der Blitz. Mistress Rodelle hatte offenbart, was sie wirklich dachte, und wenn Sage dem nicht widersprach, würde sie alles verraten, was ihre Eltern wegen Leuten wie ihr erlitten hatten. »Ich möchte lieber eine Hure sein als die Ehefrau eines Mannes mit dieser Kinderstube.« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter. »Ihr Name zeugt von derselben Gesinnung, und ich will damit nichts zu tun haben!«

Es entstand eine unangenehme Stille.

»Ich glaube, wir sind am Ende angelangt«, sagte die Kupplerin derart seelenruhig, dass Sage ihr am liebsten mit ihren lackierten Nägeln das Gesicht zerkratzt hätte. Stattdessen stolperte sie über den Teppich und riss die Tür auf. Tante Braelaura, die neben dem Wagen auf und ab ging, erstarrte. Als sie Sage sah, weiteten sich ihre Augen vor Schreck.

Sage raffte ihren Rock bis zu den Knien hoch und rannte die Stufen hinab und quer über die Straße. Dabei trat sie so fest auf, dass ihre Schuhe im Matsch stecken blieben. Während sie, mit ihren Strümpfen Steine und Dreck aufsammelnd, an ihrer Tante vorbeilief, hörte sie die Kupplerin an der Tür so laut rufen, dass es mit Sicherheit alle im Dorf hören konnten:

»Lady Broadmoor. Sagen Sie Ihrem Mann, dass ich ihm die Anzahlung für die Vermittlung seiner Nichte erstatte. Ich kann nichts für sie tun.«

Während der Kutscher Braelaura in den Wagen half und dann zurück auf die Straße fuhr, marschierte Sage, ohne einen Blick zurückzuwerfen, aus dem Dorf.