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Table of Contents

Titel

Impressum

KAPITEL 1: AM ANFANG WAR DAS WORT

KAPITEL 2: GESCHÄFT IST GESCHÄFT

KAPITEL 3: EINE MUSE

KAPITEL 4: FANTASIE GEGEN NIE

KAPITEL 5: ENDLICH LEBEN

KAPITEL 6:  ZWANGSPSYCHIATRIE

 

 

 

 

 

 

Christoph Eydt

 

 

 

 

Des Teufels Narr

 

 

 

 

 

 

 

ROMAN

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Christoph Eydt

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

ISBN: 9783957533821

Erstauflage: 2017Grafiken Copyright by Fotolia by Psop Photo, kuco, -bitter-, © natalia_maroz

 

 

KAPITEL 1: AM ANFANG WAR DAS WORT

 

 

 

Ich hasse Arbeit. Elend für andere erledigen, denen helfen, Zaster zu machen und sich über die Krümel freuen, die versehentlich beim Festmahl der Bonzen vom Tisch fallen. Nein, danke! Nicht mit mir. Wie kann man sich nur freiwillig unters Joch werfen? Schon früh war für mich klar, dass dies niemals mein Weg sein könnte. Heute bin ich Schriftsteller. Zugegeben: Ich bin bettelarm, aber ich habe meine Freiheit, die mir so unendlich viel Wert ist, dass kein Geld der Welt diese aufwiegen kann. Ich bin frei. Ein herrliches Gefühl. Zumindest im Moment. Es kommen auch andere Momente, andere Situationen, andere Menschen. Wenn meine Freundin wieder rumheult, dass ich zu wenig Geld anbringe, fühle ich mich schon ziemlich unwohl in meiner an sich freien Haut. Ja, man kann sagen, dass ich dann das genaue Gegenteil der Freiheit bin: ein Sklave der Bewertungen meiner Freundin. Aber ich liebe meine Freiheit im Beruf. Da nehme ich gerne den Streit mit meiner Alten auf mich – gewissermaßen das Opferlamm auf dem Altar der falschen Göttin.

Gerade bin ich dabei, meine Freundin mit einer Prostituierten zu betrügen. Mit einer ziemlich heißen Prostituierten. Sie ist mindestens 1,80 groß, hat langes brünettes Haar, wunderschöne dunkle Rehaugen, fette Titten, lange Beine, und nichts an. Ich ficke sie nicht. Wir reden. Nur! Ich bin öfters hier. Sie kennt mich. Ich bin der Kunde, der labert statt poppt. Zahlen tue ich trotzdem den normalen Popp-mich-Preis.

„Und? Hast du denn heute schon mit ihr gesprochen?“, fragt sie mich und meint natürlich meine Freundin. „Nein.“, erwidere ich. „Ich gehe ihr aus dem Weg. Kann ihr Gebrumme nicht mehr hören.“

„Vermeiden ist keine Lösung. Das weißt du schon, oder Harry?“

„Klar weiß ich das. Aber erstmal brauche ich Ruhe. Was soll ich denn sonst tun?“

„Naja … du könntest das tun, wozu die meisten Männer hier herkommen.“

„Ja. Das könnte ich. Und dann? Ändert sich dann vielleicht mein Leben oder würde ich mich nur kurz befriedigt fühlen – solange, bis der Sack wieder drückt?“

„Tja, lieber Harry … du hast wohl Recht. Aber was willst du dagegen tun?“

„Ich? Gar nichts! Guck dir doch deine anderen Kunden an. Vorprogrammierte Spießer ohne Herz und Verstand.“

„Sei nicht so streng.“

„Du hast Recht. Verzeih. Soll ich dich ein wenig streicheln?“

„Du zahlst. Eigentlich sollte ich dich ficken, lieber Harry. Aber ja: Bitte streichle meinen Rücken.“

Sie legt sich auf das runde Bett, das mit irgendeiner billigen roten Bettwäsche bezogen ist und vermutlich erotische Gefühle erzeugen soll. Bei mir weckt es eine Mischung aus Missachtung und Angst. Die Nutte wackelt mit ihrem apfelförmigen Po, der in einem Tanga voll zur Geltung kommt. Kurz streichle ich ihr Gesäß, um mich dann ihrem Rücken zuzuwenden. Ihre Schultern sind total verspannt. Sie zieht sie nach oben. Langsam fahre ich mit meinen Handflächen von ihren Schultern hinunter zu ihrem Po, dann fahre ich die Wirbelsäule entlang, knete ihren Nacken und streichle die Seiten neben der Wirbelsäule. Sie stöhnt und ich spüre, wie ihr gesamter Körper loslässt. Jetzt ist sie entspannt, richtig entspannt! Ihre Schultern kommen auch nach unten. Ich würde sie ja gerne mal bei ihrem richtigen Namen nennen, aber den verrät mir hier keiner. Sie heißt einfach nur Crazy love.

„Was ist eigentlich los mit dir?“, fragt sie mich halb im Traum, halb in der Wirklichkeit.

„Was soll schon los sein?“, frage ich trocken zurück.

„Naja, du bist ein komischer Vogel. Wir treffen uns nun schon öfters. Ich liege vor dir, bin bereit, alles zu tun, was du willst. Aber du willst nur reden. Wieso? Und wieso mit mir? Ich bin weder schlau noch irgendwas Besonderes. Ich bin einfach nur eine Frau, die über die Runden kommen will.“

„Ja.“, erwidere ich. „Genau das.“

„Genau was?“

„Du bist eine Frau, die über die Runden kommen will.“

„Ja, und?“

„Ich bin ein Mann, der über die Runden kommen will.“

Ich packe fester zu, vor allem an den Schultern und drücke meine Daumen die Wirbelsäule entlang. Crazy love gibt zu erkennen, dass es ihr gefällt, ich fühle mich bestätigt und will nun gehen. Sie greift aber nach meiner Hand, führt sie zu ihrer Brust, stoppt im letzten Moment und flüstert: „Danke.“ Ich nicke ihr zu. Dann fragt sie: „Bist du zufrieden?“

„Nein. Natürlich nicht.“ Diese Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

Es vergeht etwas Zeit – und mit der Zeit vergeht Stille.

„Was?“, frage ich.

Crazy love grinst und sagt: „Du hast dich schon richtig verstanden.“

Verdammt! Ich stürme aus dem Zimmer, renne den Flur entlang, der nach einer Kombination aus Parfüm und Schweiß riecht, bezahle unten meine vergeudete Stunde, springe am Türsteher vorbei und rette mich auf die Straße. Stopp! Nochmal zurück. „Crazy love, wo bist du?“, rufe ich. Sie kommt die Treppe herunter und wir setzen uns an den Tresen. „Tut mir leid. Manchmal bin ich ein unbeherrschter Mann.“

„Ich weiß. Ich bin dir nicht böse.“

Der Türsteher blickt zu uns herüber; vermutlich ärgert er sich, dass Crazy love bei mir sitzt und redet, statt mich hinausbefördern zu lassen. „Was ist los mit dir, Harry?“

„Ach, Lieblingsbordsteinschwalbe … ich bin pleite, habe keine Erfolgsaussichten und will in keine andere Richtung blicken.“

„Andere Richtung?“

„Naja, anderer Job. Ich bin Schriftsteller. Das ist mein Leben, mein Beruf – meine Berufung. Ich will und kann nix anderes, als zu schreiben.“

„Seit wann muss man als Schriftsteller Geld verdienen?“, Crazy love lacht.

Ich zwinge mir ein Lächeln ab, fühle mich aber noch immer so sehr gefangen, dass ich am liebsten einen Stuhl nehmen würde, um ihn voller Boshaftigkeit und Hässlichkeit gegen die Gläserwand hinter dem Tresen zu werfen. Crazy love scheint meine Regung zu spüren und fragt, wo mein Problem sei.

„Harry!“, sagt sie in einem mahnenden Ton, der eher an eine Mutter als an eine Prostituierte erinnert. „Wir kennen uns schon länger und ich weiß, wie sehr du deine Freiheit brauchst und wie du sie genießt. Geld war dir nie wichtig. Wieso heulst du auf einmal wegen sowas rum?“

Ich muss überlegen. Sie hat Recht. Ich finde mein Leben toll, so wie es ist. Ich habe Zeit, viel Zeit, verdiene hier und da bisschen was mit Auftragstexten und kann ansonsten schreiben, was ich will, auch wenn bisher kein Verlag bereit war, meine geistigen Ergüsse einer größeren Masse zugänglich zu machen. Crazy love holt mich aus meinen Gedanken zurück: „Sag schon. Wer will, dass du mehr Geld verdienst? Du nicht. Kann also nur Mama oder Frau sein. Da du deine Mutter hasst, bleibt nur die Frau übrig. Harry … setzt sie dich unter Druck?“

Darauf will ich nicht antworten. Crazy love versteht – ich gehe.

Unterwegs biege ich in eine Straße, die zu einem kleinen Waldstück führt. Eigentlich müsste ich in die Stadt, diese Verlagsdame will mich sehen, um mir zu sagen, dass meine Werke wieder nicht ausreichen würden. Scheiß drauf! Egal! Ich habe noch ein paar Aufträge, die fertig werden müssen. Fuck. Das ist dann wirklich mal wichtig. Wald oder Nicht-Wald? Nicht-Wald! Verlag oder Nicht-Verlag? Nicht-Verlag! Ich muss nach Hause, auch wenn dort das wartet, was landläufig als Freundin bezeichnet wird. Lydia wird vermutlich wieder wütend sein. Ich kann ihr Generve nicht länger ertragen. Würde sie doch mal vom Bus überfahren, verschleppt oder schwer krank werden – irgendwas, nur damit sie mal die Klappe hält.

Lydia hat nicht bemerkt, dass ich gekommen bin. Also schleiche ich ins Wohnzimmer und klappe dort meinen Laptop auf. Sie pennt im Nebenraum. Vielleicht ist sie auch schon tot – wer weiß?! „Harry, verdien endlich mehr Geld.“, höre ich sie rufen, bin mir aber gewiss, dass es meine inneren Stimmen sind. „Harry, was ist los mit dir? Findest du das toll, so ein Versager zu sein?“ – Miststück; soll doch selber arbeiten gehen. Okay, Laptop ist an und ich bin bereit, bedeutungslose Texte für Menschen zu schreiben, die ich entweder gar nicht kenne oder aus tiefstem Herzen ob ihrer Oberflächlichkeit verachte.

Während ich über irgendwelche Technikprodukte schreibe, höre ich ein Knacken – ganz leicht – fast so, als wäre das Genick eines Kindes gebrochen worden. Die Tür wird geöffnet. Meine Freundin steht da. Früher war sie heiß … so im Halbschlaf mit einem meiner alten Hemden. Das hatte was. Aber heute? Ich weiß eh, was kommen wird, wenn sie zu mir hinübersieht. Schlaftrunken taumelt sie mir entgegen, brabbelt etwas in ihren Bart, greift zu ihren Brüsten, als wolle sie prüfen, ob diese noch anwesend sind … und dann … erkennt sie mich, reist die Augen auf und schreit: „Harry! Du? Hier?“

Ich weiß nicht, ob das zynisch oder ernsthaft gemeint ist. „Was machst du hier?“, fragt sie mich. Ich blicke auf den Bildschirm, dann auf sie, dann auf den Bildschirm, nochmal kurz zu ihr, dann zur Wand hinter ihr. „Ich arbeite noch.“, sage ich und denke mir: „Geh pennen, du böser Fluch.“ Sie bleibt stehen, sieht mich mit Verachtung, Verzweiflung und Wut an, um mir dann folgende Wörter entgegen zu schleudern, wobei sie nach jedem Wort eine längere Pause einlegt: „Du. Bist. Kein. Arbeiter. Du. Bist. Arbeitslos. Du. Penner. Dein. Scheiß. Bringt. Uns. Gar. Nichts. Nächsten. Monat. Darf. Ich. Zum. Amt.“

Da war es: Dieses kleine hässliche Mädchen, das früher von allen gehänselt wurde. Ach Lydia, warum bist du nur so? Sie lässt sich in den Sessel mir gegenüber fallen. „Harry. Du bist eine Niete als Schriftsteller. Verstehe das endlich! Es geht mir so auf den Kranz, dass du nichts anderes machst oder kannst. Jeder andere Kerl hat eine normale Arbeit, verdient gutes Geld und kann sich was leisten.“

„Vielleicht will ich mir nichts leisten?!“, erwidere ich mit verlegener Stimme, in der Abneigung und Willkür mitschwingen. Ich habe es satt, mir immer dasselbe anhören zu müssen. Seit Wochen redet sie über nichts anderes. Soll sie doch Schluss machen, wenn ich ihr zu extrem bin. „Harry!“, ruft sie mich aus meinen Gedanken zurück. „Ja, Liebling?“, frage ich trocken. „Hast du mir überhaupt zugehört?“ Ich will die Frage nicht beantworten und sage: „Musst du nicht ins Bett? Es ist spät und ich – naja – ich habe noch zu tun. Nenn‘ es Arbeit oder nicht. Ist mir egal.“

„Ich würde es Arbeit nennen, wenn ab und zu mal Geld reinkommen würde, du Flachwichser.“

Ich bin kurz davor, abzuhauen, presse meine Fäuste ins Sofa und beiße mir auf die Zunge, um nichts zu sagen, was falsch sein könnte. Nach ein paar Sekunden sage ich: „Leg dich wieder hin, Lydia. Bitte!“ Sie steht auf, und ohne einen Ton zu verlieren, geht sie ins Bett. Dem Himmel sein Dank! Ruhe! Endlich! Auch wenn sie es nicht als Arbeit sieht und ich von den wenigen Aufträgen, die ich habe, nicht begeistert bin, so reicht unser Geld, um Monat für Monat über die Runden zu kommen. Klar, es könnte mehr sein, aber dann müsste ich auch mehr wollen – und das will ich nicht. Sie kann sich ja eine Arbeit suchen, die ihr die fette Kohle verspricht.

Ich mache mir ein Bier auf und trinke es in weniger als fünf Zügen aus, dann ziehe ich meine Arbeit bis in die frühen Morgenstunden durch. Es wird hell und ich sitze noch immer an Texten über Küchengeräte, Videospiele und Neuigkeiten aus der Stadt. Es ist ermüdend, immer nur die Gedanken anderer zu Papier zu bringen, während die eigenen nicht ausgeschrieben werden oder von kapitalismusgeprägten Regulierungsinstitutionen abgelehnt werden, die auf Mode und Zeitgeist geeicht sind. Gott, wie ich mein Leben hasse, wenn ich darüber nachdenke.

Die Sonne wirft freundlich-warm ihre Strahlen in das kleine Wohnzimmer. Ich sitze noch am Laptop und schreibe die Texte, die fertig werden müssen. Es sind oberflächliche, gefühllose Texte. Sie passen perfekt in unsere Gesellschaft, weshalb ich froh bin, auch so schreiben zu können. Das einzige Problem ist meine zunehmende Sucht nach Cola-Schnaps-Mischungen. Die machen munter, ver- und benebeln aber auch den Geist. Lydia weiß von meinen feuchten Vergnügungen. Noch toleriert sie es – immerhin kommt wenigstens etwas Geld dadurch rein. Der Kopf muss frei sein beim Schreiben. Während ich den letzten Text beende, läuft im Hintergrund „Footloose“ von Kenny Loggins. Mein Kopf wippt im Takt der Musik, meine Augen schließen von selbst, als hätte jemand eine Automatik aktiviert. Dann lasse ich mich ins Sofa fallen, trinke die letzten Schlucke meines Muntermachers und schlafe ein. Es tut gut, aufgemuntert einzuschlafen - weg von hier zu sein, raus aus diesem Verschlag voller Erniedrigung und Armut – geistiger Armut.

Als ich aufwache, es muss Nachmittag sein, wartet Lydia mir gegenüber. Sie sitzt im Sessel, verschränkt die Arme und schlägt mit ihrem Fuß rhythmisch gegen die Couch, auf der ich kurzen Frieden gefunden habe. Sie trägt einen knappen Rock, dazu ein Top. Sie sieht heiß aus. Ich würde sofort meine Augen schließen und auf sie onanieren, aber ihr Blick verrät mir, dass das nichts wird. Sie will wohl reden. Wenn ich jetzt Musik anmachen würde, gäbe es einen Amoklauf. Ich bleibe liegen und sage nüchtern: „Hallo Liebling. Wie geht’s?“ Ich weiß, dass man sowas nicht seine Partnerin fragt. Ich müsste wissen, wie es ihr geht. Und ich weiß es auch. Ich frage kühl und ignorant, weil ich meine Abneigung nicht verbergen will. Sie erwidert: „Mir geht es beschissen und du bist schuld.“ Nett! Wirklich nett! Dämliche Fotze, Miststück. Jetzt wird die alte Leier gestartet. Mann, wie hab ich das satt. ICH WILL KEINEN NORMALEN JOB, dieses spießige und einem Sklaven nicht unähnliche Erwerbsverhalten ist das Irrsinnigste, was ich kenne. Die Menschen stehen viel zu früh auf, um in Hektik und Stress zur Arbeit zu rennen, nur um dort angekommen Geld für andere zu verdienen und sich über drei Krümel vom Tisch der Fetten zu feiern. Diese Krümel sind Gehalt, Urlaub und Weihnachtsgeld. Geil, oder? Dafür lohnt es sich, zu sterben! Blöde Wichser! Ich werde niemals so wie die! Niemals! Auch nicht für Lydia. Sie fängt an: „Harry, du brauchst Arbeit – richtige Arbeit; nicht dieses dumme Texteschreiben. Das bringt nichts.“

„Woher willst du das wissen?“, frage ich eingeschnappt. Während vor meinem inneren Auge ein grinsender Bukowski auftaucht, redet Lydia weiter: „Was soll das denn werden mit dir? Bist du zufrieden? Sag es mir! Bist du wirklich zufrieden damit, wie es läuft?“

„Wie was läuft?“

„Na das Geldverdienen, Schlaumeier!“

„Ach so. Naja, es könnte besser laufen. Es muss nur jemand meine Texte veröffentlichen.“ Das habe ich absichtlich gesagt, denn ich weiß, wie es Lydia aufregt, wenn ich suggeriere, meine Texte könnten unser Geldproblem lösen. Ich will es eskalieren lassen – aber nicht zu sehr.

„Harry! Du bist ein Idiot. Das einzige, was du schaffst, ist es, zu saufen und billige Auftragstexte zu schreiben. Das ist zu wenig – viel zu wenig.“

„Wieso?“, will ich wissen. „Wieso soll das zu wenig sein, wenn es mir doch reicht. Wir können uns die Bude leisten, ab und zu was zum Anziehen und auch mal Ausgehen. Was willst du denn noch?“

„Boah, Harry, hallo? Wir leben im 21. Jahrhundert. Da ist kein Platz für falsche Bescheidenheit. Ich will einfach leben. Und Leben kostet! Harry … versteh doch. Kannst du nicht etwas mehr Geld verdienen – irgendwie?“

„Etwas?“

„Naja, schon mehr als nur ‚etwas‘. Es geht doch um uns. Wir brauchen das Geld.“

„Falsch!“, tönt es aus mir heraus. „Du brauchst das scheiß Geld. Ich nicht.“

„Unsinn, Harry. Natürlich brauchst du Geld. Wie bezahlst du die Wohnung, die scheiß Versicherungen, Steuern und dein Essen?“ Ihr Ton wird rauer. Sie überschlägt ihre Beine und presst die Arme gegen die Brust, wodurch ihre Titten nach oben gedrückt werden und ich sie viel besser sehen kann. Das lenkt wenigstens von ihrem Gelaber ab.

„Lydia. Du wusstest von Anfang an, was ich bin. Und du hast gewusst, dass mir Geld egal ist. Ich gehe nicht für Geld arbeiten, sondern für mein Glück.“

„Und? Bist du glücklich?“, fragt sie. Natürlich habe ich mir damit ein Bein gestellt.

„Nein. Ich bin nicht glücklich. Ich hasse mein Leben. Ich wollte nichts als frei sein. Das bin ich und muss Texte für Idioten schreiben, die nicht in der Lage sind, die einfachsten Sätze zu bilden. So sieht meine Freiheit aus.“

Nach einer Pause ergänze ich: „Aber wenigstens bin ich nicht dem Mammon verfallen und opfere das bisschen Freiheit, das ich habe, für Geld.“

„Du bist doch schwachsinnig. Was soll das? Willst du immer noch Revolutionär spielen? Ist es toll, zu rebellieren und dabei alle Liebsten zu vergessen? Harry, wir sind arm. Ich will nicht arm sein. Entweder schreibst du 1000-mal mehr Texte für fremde Leute und kommst so an Geld oder du suchst dir eine anständige Arbeit oder das war’s. Ich habe es nämlich satt, immer nur auf dem Zahnfleisch zu kriechen wegen irgendwelcher komischen Vorstellungen von Freiheit oder Kunst.“

„Lydia …“

„Nein, Harry. Wieso schaffst du es nicht, wie alle anderen zu sein? Wieso? Wo ist das Problem? Ausbildung, Arbeit, Feierabend, fertig.“

„Weil, Lydia, weil das nichts weiter als modernes Sklaventum ist. Die Leute laufen heute nicht mit Ketten und Halsband rum. Sie tragen Uhr und Geldkarte. Viel schlimmer.“

„Du bist ein Trottel. Sie arbeiten, geben der Gesellschaft was und erhalten Lohn.“

„Schweigegeld wohl eher.“

„Harry!“, Lydia richtet sich auf, schreitet anmutig zum Fenster und zupft an der Gardine rum.

„Lydia, was soll das denn? Wieso willst du mich in was zwingen, was ich nicht will?“

„Weil es hier um uns geht, Harry.“

„Es geht nur um dich. Also hör auf, zu heucheln.“

„Du Arschloch!“

- Schweigen, bedrückendes Schweigen.

Ich will mich erheben, wage aber keinen Teil meines Körpers zu bewegen, zu groß die Angst, einen Impuls zu liefern, der eine Attacke erlauben könnte. Mein Atem stockt, meine Brust ist schwer, meine gesamte Muskulatur angespannt. Lydia starrt mich an, wirft mir einen bösen Blick nach dem anderen zu.

„Du bist ein asozialer Wichser.“ Mit diesen Worten verlässt sie die Wohnung.

Die Tür war noch nicht zugeschlagen, da springe ich auf, greife zu meiner Jacke und gehe Lydia hinterher. Nicht, weil ich sie einholen will oder gar mit ihr reden will … nein, ich möchte selber raus aus diesem scheiß Loch. Diese enge, beklemmende Wohnung macht mich fertig. Krank, wenn man trotzdem keinen Bock hat, mehr Geld ranzuschaffen, um sich was Größeres zu leisten. Naja, das Größere würde dann auch wieder beklemmend sein – irgendwann.

Ich stürme die Treppen hinunter. Lydia war schneller als ich. Die Haustür ist schon zu und auf der Straße sehe ich sie nicht mehr. Zum Glück! Das Tolle an uns ist, wenn wir uns ankotzen, geht sie in die Stadt unter Menschen – ich gehe in den Wald oder Park und will alleine sein. So wissen wir, dass wir uns wenigstens nicht begegnen, auch wenn unsere Spaziergänge direkt aufeinander bezogen sind.

Der Park ist nicht weit weg. Dort fühle ich mich wohler als im Wald, wo mir nackte Einsamkeit entgegenschleudern würde. Ich brauche Menschen um mich herum – irgendwelche, nicht mal viele, einfach nur ein paar, so dass ich das Gefühl habe, unter Menschen zu sein – ja, ganz Mensch zu sein. Paradox! Lydia braucht sowas viel intensiver. Sie trifft sich gerne mit Freundinnen, labert über jeden Scheiß, geht in Läden, zwingt sich in Menschenmassen und glaubt, sich dabei wohl zu fühlen. Sei es drum. Die Sonne scheint, die Mücken zwicken, hohes Gras und nix zu …

Naja – Galgenhumor. Das Schlimme an solchen Momenten ist, dass ich total verkrampft bin. Ich kann kaum mehr meinen Körper spüren – erst die Schmerzen meiner Muskeln rufen mich ins Hier und Jetzt zurück, doch dann ist es schon längst zu spät. Mein Bauch schmerzt, der Rücken ebenso, die Schultern, meine Schenkel. Mein Nacken hat Mühe, meinen Kopf aufrecht zu halten. Ich lasse ihn lieber hängen, gebe mich der Schwerkraft hin. Mein Blick fällt auf den kalten Asphalt einer Straße, die ich überquere, dann auf einen geschotterten Weg, der mich direkt in den Park führt. Menschen gibt es noch keine.

Allmählich, ich bin schon einige Schritte in den Park gegangen, höre ich kaum mehr den Lärm der Straßen. Stattdessen kann ich den Vögeln lauschen, den Blättern im sachten Mittsommerwind und den Hunden, die weiter weg auf einer Wiese miteinander spielen. Von den Besitzern keine Spur. Es ist ruhig, es ist friedlich – endlich. Und nun will ich Metal hören: laut, heftig und mit viel Geschrei. Leider habe ich nichts zum Musikabspielen dabei. Also doch die natürlichen Dinge wahrnehmen, die Natur riechen, sehen, fühlen, hören – die Tiere, die Pflanzen, und eben auch den Menschen. Und da sind wir wieder beim Thema: Lydia. Ich weiß nicht, wann unsere Beziehung so abgekackt ist. Am Anfang lief alles toll mit ihr. Wir lachten, konnten über alles miteinander reden, haben lange, gründlich und abwechslungsreich gefickt. Und nun? Jetzt geh ich zu einer Nutte, um zu reden, die Lust auf Sex ist mir gänzlich abhandengekommen und Lydia beschwert sich nur noch darüber, was für ein Loser ich doch sei. Was ich leider nicht schaffe, ist, Lydia in dieser finsteren Zeit zur Seite zu stehen. Nein, ich bin wütend auf sie. Sie tut mir weh. Immer und immer wieder. Und ich bin gefangen. Trennen will ich mich nicht, es ertragen kann ich nicht. Was tun? Ein Vogel ist vor meinen Füßen gelandet, während ich über all das nachsinne. Plötzlich spüre ich, wie ich anfange zu grinsen; dann reiße ich den Mund auf und lache los. Einfach so. Laut. Frei. Wahnsinnig. Es tut gut und erschreckt mich sogleich, denn ich habe es weder gesteuert noch gewollt. Mir ist nicht nach Lachen. Etwas in mir scheint das aber anders zu sehen. Ich sitze auf der Parkbank wie auf einem Scheißhaus. Mein Klopapier ist alle und ich hatte ordentlich Dünnpfiff im Kopf. Was soll mein verkacktes Leben? Noch ein Vogel ist gelandet. Weiter weg schleicht eine schwarze Katze durch die Hecken. Was soll der Rotz? Wozu bin ich hier? Was will ich? Was kann ich? Und woher weiß ich, ob all diese Fragen samt den Antworten richtig sind? Ich weiß gar nichts. Ich lebe nur vor mich hin. An sich ein edler Pfad, aber er scheint nicht zu passen – nicht jetzt, nicht hier. Meine Schreibkunst verkommt zu einem unwürdigen technisierten Sklavendienst. Ich halte diesen am Leben, denn es ist meine einzige Chance, Geld mit Schreiben zu verdienen, und zwar so viel, dass man sich ein normales Leben leisten kann. Für Lydia zu wenig – für mich geradeso ausreichend. Wäre sie zufriedener, wenn ich ein erfolgreicher Romanautor wäre? Vermutlich … vermutlich nicht. Sie würde was anderes finden, um Dampf abzulassen. Die ganze Beziehung ist zum Scheitern verurteilt. Man sieht nicht mehr die einstige Einheit – jeder sieht nur sich und ist allein. Der einzige Trost ist, dass es vielen so geht – auch wenn ich mal dachte, Lydia und ich seien aus anderem Holz geschnitzt als diese verblödete, namenlose Masse von Menschen, die jeden Tag den gleichen Mist tun und brave Bücklinge in einem korrupten System sind.

Ich weiß nicht, wie spät es ist. Es ist mir egal. Hier auf der Holzbank ist es schön. Die Bank selbst ist kaputt – mutwillig zerstört. Aber man kann noch auf ihr sitzen – ich zumindest. Das ist das Wichtigste. Eben kamen zwei Joggerinnen vorbei; groß gewachsen, blondes Haar, schwule Jogginganzüge. Sie lächelten zu mir hinüber, wohl nichtsahnend, welcher Kreatur sie ihr Lächeln zugeworfen haben. Hier sitzt kein normaler Mensch, kein Bürohengst, kein Außendienstleiter, kein Ingenieur, kein Hausmeister – hier sitzt, nein, hier lebt ein Kreativer, ein Künstler, ein Lebenskünstler, der im Begriff ist, das einzige Skript, das er hat, zu vernichten.

Es ist dunkel und betrunken. Halt! Ich, ich bin betrunken. ES ist dunkel. ICH bin betrunken. So rum! Ich war noch in meiner Stammkneipe. Der Geruch von Schnaps, Bier und Qualm hat den Vorteil, dass man seine Sorgen schnell vergisst. Und das liegt nicht nur am Geruch. Alter Schwede. Ich denke grad voll daneben. Es regnet. Kalte Tropfen prallen auf meine Haut und fühlen sich wie Rasierklingen an, die man mir aufsetzt und die bei jeder Bewegung tiefer eindringen. Sehen tue ich fast nichts. Die Laternen sind aus und irgendwie dreht sich die Welt, auch wenn die Erde bei sich bleibt. Langsam, Stufe für Stufe, erklimme ich das Treppenhaus, in dem es nach Kartoffelsuppe und Waschmittel riecht … stinkt. Es ist der Aufgang zur Normalität, zur spießigen Etagenwohnung, zur Konformität, zur gebückten Haltung sich selbst gegenüber. Ich stürze, mache Lärm, weil ich gegen die Wand knalle und sogleich gegen ein Schuhregal. Eine Etage weiter habe ich meine Bude gefunden. Mal sehen, ob die Alte schon da ist. Meinen Schlüssel, der vorhin wie auch immer ins Bierglas gefallen ist, stecke ich ins Schloss.

Ich brauche drei Anläufe und denke unweigerlich an Geschlechtsverkehr. Dann endlich steckt er drin. Ich muss wackeln, rechts, links, vor, zurück – und dann geht sie auf, die Tür. Im Flur erblicke ich das Licht im Schlafzimmer. Toll! So soll es sein. Ich ziehe meine Schuhe aus und muss mich dazu an der Tür festhalten, die weniger sicher ist als angenommen. Sie fällt in den Rahmen und ich segle hinterher, reiße irgendwas nach unten, was aufprallt, zerschellt und ordentlich Lärm macht. Ich bleibe wie versteinert stehen und warte … warte … warte. Kein Ton. Also muss Lydia schon schlafen. Ich schließe die Tür und gehe ins Schlafzimmer. Dort bleibt mir der Atem weg. Was ich sehe, ist so wunderbar, dass ich einige Schritte rückwärts taumeln muss, um mich zu fassen. Da liegt sie, Lydia, so zart, friedlich, lieb. Ihre Augen sind verschlossen. Ihr Körper scheint aus sich heraus zu strahlen. Sie wirkt engelsgleich. Ihre Haare liegen wohl geordnet. Ihre Füße, so weich, die Beine so glatt. Ihr ganzer Körper ist perfekt. Die Brust hebt und senkt sich mit ihrem Atem, was mich in einen hypnotischen Zustand versetzt. Ich schleiche zum Bett, setze mich mit letzter Kraft auf den Rand und lasse mich tief in mein Kissen sinken. In diesem Moment spüre ich ein Beben – ein inneres. Lydia!

Sie dreht sich zu mir und sagt: „Na prima. Der alte Säufer ist da.“

Da ist es wieder, dieses beschwerliche Drücken in meiner Magengegend, das innere Versagen und Aufgeben, das Gefühl totaler Hilflosigkeit gepaart mit Wut und Verachtung. Aus einem Engel ist ein Teufel geworden. „Du stinkst. Kannst du dich nicht mal waschen?“, fragt sie mich mit weit aufgerissenen Augen. Ich kann nicht anders, als zu schweigen. Die Stille würde eh jeden Moment unterbrochen werden. „Weißt du eigentlich, wie bescheuert das alles ist? Wieso sind wir überhaupt noch zusammen, Harry? Wieso?“ Ich habe Angst vor dieser Frage, selbst wenn ich sie schon lange kenne. Ich kenne auch meine Antwort: Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Angst vorm Alleinesein? Liebe? Gewohnheit? Vertrautheit? Gemeinsame Ziele und Werte sind es jedenfalls nicht. Und Gefühle? Tja, nicht wirklich – außer man nimmt Verachtung, Wut, Frust und teilweise sicher auch Hass als akzeptable Gefühle zum Erhalt einer Beziehung. Wieso sind wir noch zusammen? Wir haben uns nicht sonderlich lieb. Es erscheint wie eine abstrakte Beziehung, nicht real – einfach nur ein um uns geschlossenes Band des Schicksals.