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Table of Contents

Titel

Impressum

Widmung

Ein Trauma

Die ersten drei Jahre mit Jenny

Meine erste Angstattacke!

DANKSAGUNG

ÜBER DIE AUTORIN

 

 

 

 

 

Dorothe Reichling

 

 

 

 

 

Ich war selbst fast noch ein Kind

 

 

 

 

 

Mutter mit 15 - Autobiografie

 

 

 

 

 

DeBehr

 

 

 

 

 

 

©2017 Dorothe Reichling

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

ISBN: 9783957533791

Erstauflage: 2017

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by Creativa Images

 

FÜR HELMUT,

EIN WAHRER ENGEL AUF ERDEN

 

Ein Trauma, wie es nur das

Leben schreiben kann.

 

Wenn ich heute mein Spiegelbild betrachte, unmittelbar die Grenze der vierzig überschritten habe, dann sehe ich ein Gesicht ohne Falten. Und meine Gedanken schwinden zurück in eine Zeit, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegt.

Damals war mein Gesicht, obwohl ich kaum die Pubertät überstanden hatte, gezeichnet von Falten. Tiefe Sorgenfalten gruben sich nicht nur ins Gesicht, sondern hinterließen tiefe Narben auch in meinem Herzen.

Hier beginnt schon fast meine ganz persönliche Geschichte.

Gerade mal fünfzehn Jahre alt, selbst noch ein Kind, gerade einmal auf dem Weg zur Frau, begann mein Leben völlig aus den Fugen zu geraten.

Noch immer denke ich mit Unbehagen an die Vergangenheit zurück. Heute aber bin ich mehr als dankbar für die gewonnene Chance, die mir das Leben im Nachhinein zum Geschenk gemacht hat.

Insgesamt war ich mehr als fünfzehn Jahre lang krank. Nicht so krank, wie wenn man Husten oder eine Grippe hat. Auch nicht so krank, dass ich wieder gesund geworden wäre, wenn eine OP geholfen hätte. Nein! Meine Krankheit kam schleichend, und mit jedem einzelnen Tag kamen neue Symptome hinzu. Ich wusste sie nicht zu deuten, nicht einzuordnen, auch nicht, woher es so plötzlich kam. Meine erste Angstattacke hatte ich in einem Zug. Aber dazu später mehr …

Heute will ich endgültig abschließen. Mit der Vergangenheit, mit der Krankheit, und Frieden schließen. Es wird nochmals so sein wie damals, als ich glaubte, ich sei längst verloren. Verloren wie ein Engel, dem man die Flügel gebrochen hatte und ihn zurückließ, mit Krücken um vielleicht, wenn es für den Zufall reicht, das Fliegen erneut erlernt.

Alles begann fast wie in einem Märchen. Ich begegnete mit gerade mal dreizehneinhalb Jahren meiner ersten und großen Liebe. Ali, ein junger Türke, der mir Aufmerksamkeit schenkte, wie ich sie zuvor nie erlebt hatte. Ich traf ihn das allererste Mal in einer Disco. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Ali war bereits zwei Jahre älter als ich. Er sah rasend gut aus. Typisch südländisch halt. Toller Body, schwarzes Haar und noch schwärzere Augen, in die ich mich sofort verliebte. Ich war jung, unerfahren und so naiv. Ich war ihm sehr schnell verfallen.

Er spürte das und witterte somit seine Chance. Ich war seine leichteste Beute. Wir tanzten, wir küssten, mir schwirrten die Gedanken im Kopf. Es war so absehbar, so vorhersehbar. Wir schliefen miteinander noch in der ersten Nacht. Ich vergaß nicht nur mein Alter, ich vergaß sogar jeden guten Vorsatz, den ich je in dieser Beziehung gefasst hatte.

In der Wohnung seiner Eltern, die natürlich nicht zu Hause waren, passierte es das erste Mal.

In dieser Nacht verlor ich nicht nur den Kopf, sondern auch meine Unschuld. Er war vorbereitet, hatte Kondome dabei. Aber diese benutzten wir nur beim ersten Mal in dieser Nacht. Der erste Schmerz war vorbei, als Ali zum zweiten Mal in mich eindrang und versprach, jetzt würde es auch schön für mich. Er behielt recht. Es war schön, so schön, dass wir beide alles um uns herum vergaßen. Die Nacht brachte uns zusammen.

Wir führten von nun an eine Beziehung!

Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch, wir waren ein Paar, wir waren seelenverwandt. Anfangs lief auch alles gut. Bis, ja bis ich, wie sollte es anders sein, schwanger wurde. Ja, es gab die Pille, ja, ich war aufgeklärt, ja, er nahm Kondome, ja, er versprach mir, aufzupassen. Wie bereits gesagt. Ich war nicht mal vierzehn und so sehr verliebt.

Meine Eltern wussten anfangs nichts von uns beiden. Ein Türke war nicht unbedingt das, was sich meine Mutter für mich gewünscht hätte. Und schon gar nicht wollte sie, dass ich mit einem Jungen schlief. Aber sie lernte Ali kennen und später auch akzeptieren. Wir konnten von nun an offen zu unserer Beziehung stehen.

Er ging bei uns ein und aus, war mitunter sehr gerne gesehen. Ali war ein Charmeur. Er konnte sogar meine Mutter um den Finger wickeln. Obwohl sie nicht wusste, dass wir bereits miteinander schliefen, sprach sie mit mir über Verhütung. Ich tat ganz unschuldig, als ginge es um ein Thema, das mich noch gar nicht zu interessieren schien. „Oh, Mutti, wenn du wüsstest“, hörte ich meine innere Stimme leise zu mir flüstern.

Alles lief bestens, alles war in Ordnung. Ich hatte einen super Typen als Freund. In der Schule gab es auch keinen Stress, obwohl ich nicht sonderlich gerne hinging. Für mich war Schule immer mehr Pflicht als Lust.

Ich hatte Freunde und eine allerbeste Freundin. Was hätte ich mir mehr wünschen können?

Marga war ein richtiger Schatz! Wir waren so unterschiedlich, unterschiedlicher hätte man nicht sein können. Vielleicht war es gerade das, was uns sofort zusammenschweißte. Ein Jahr älter als ich, war Marga auch schon etwas reifer als ich. Sie war sehr schlank, fast knabenhaft. Ich dagegen immer mehr das Pummelchen an ihrer Seite.

Marga nannte mich immer das „Mädchen mit den gewissen Rundungen“. Sie war strebsam, ich eher pflichterfüllend, was die Schule betraf. Sie kannte keine Angst, vor nichts und niemandem ließ sie sich beirren. Ich war immer ängstlich. Marga spielte mit den Jungs, ob groß oder klein. Sie hatte ihren Spaß, zahlte nie drauf. Ich verlor immer gleich mein ganzes Herz und landete am Ende weinend in ihren Armen. Marga war einfach großartig und so war es auch nur verständlich, dass sie als Erstes erfuhr, dass ich schwanger war. Wieder mal lag ich schluchzend in ihren Armen.

Ich erinnere mich genau. Ihren Ausdruck in den Augen, vergesse ich nie, er sprach Bände. Hinzu kam, dass sie Ali nicht mochte, was die Sache auch nicht erleichterte. Sie sah in ihm nur den Halunken, als den er sich auch später entpuppte. Marga riet mir damals zur Abtreibung. Ich war entsetzt und erschrocken zugleich. Ihre Worte höre ich noch heute. Sie führte sich auf wie meine Mutter, nicht wie meine beste Freundin.

„Du versaust dir dein ganzes Leben. Ein Kind von einem Türken. Wie kannst du nur daran denken, ein Kind zu bekommen. Du bist selbst noch ein halbes Kind. Wäre es anders, wärst du jetzt nicht in dieser beschissenen Situation."

Ich war klein mit Hut. Marga war halt das genaue Gegenteil von mir. Sie war sehr konsequent, wenn sie erst einmal sich eine Meinung über jemanden gebildet hatte. Ali konnte bei ihr gar nicht punkten. Schon wenn sie ihn sah, bekam sie einen Ausschlag, wie sie sagte. Für Marga war klar und das unwiderruflich, dass sie nie Kinder haben würde. Ihr Leben sollte auf Beruf und Karriere ausgerichtet sein. Ich hatte mir bis dato noch keine wirklichen Gedanken gemacht, weder über Beruf und schon gar nicht über Kinder. Jetzt aber blieb mir keine andere Wahl. Ich war schwanger und das mit vierzehn.

Auch heute noch habe ich Kontakt zu Marga. Sie hat ihre Jugendliebe David geheiratet und, wie prophezeit, keine Kinder bekommen.

Sie arbeitet erfolgreich als Dolmetscherin für verschiedene Firmen. Auch diesen Karrieresprung, von dem sie schon als Kind geträumt hatte, zog sie einfach mal so durch.

Leider ist der Kontakt nur noch auf telefonischer Basis möglich, aber wir haben uns Gott sei Dank nie ganz aus den Augen verloren. Noch heute kann ich auf sie zählen. Wenn ich sie brauche, ist sie da. Sie war damals für mich da, und das gilt bis heute. Sie ist halt meine beste Freundin.

Ich entschied mich, trotz Margas Moralpredigt, gegen eine Abtreibung, nichtsahnend, was auf mich zukommen würde. Ich war mir nicht bewusst, dass ich eine Lawine in Gang gesetzt hatte, die nicht nur mein Leben verändern sollte. Aber es waren damals ganz andere Fragen, die mich beschäftigten.

Wie sollte ich meinen Eltern beibringen, nicht nur, dass ich Sex mit vierzehn hatte, sondern auch noch schwanger geworden war. Dass ich vielleicht sogar die Schule abbrechen würde. Dass Ali noch nichts von all dem wusste. Und überhaupt, wie sollte mein Leben weitergehen, ohne Schulabschluss, ohne Geld und mit so wenig Aussicht auf ein Happy End?

Meine Mutter hatte mich aufgeklärt, aber die Praxis eines Frauenarztes hatte ich bisher noch nie von innen gesehen. Wie würde Ali reagieren? Würde er bei mir bleiben? Würde er das Kind wollen? Ich dachte für einen kurzen Augenblick an eine gemeinsame Zukunft. Aber wirklich nur einen kurzen Augenblick. Ich war noch Schülerin. Würde ich die Schule vielleicht doch mit seiner Hilfe beenden können? Tausend Fragen standen mit einem Mal im Raum. Antwort gab mir aber niemand. Ich war allein. Allein und schwanger.

In diesem Moment fühlte ich mich das erste Mal richtig einsam und verloren zugleich. Selbst Margas aufmunternde Worte, dass sie immer für mich da sei, egal was auch immer passieren würde, halfen mir nicht. Es gab nichts, was mir in diesem Moment hat helfen können.

Dann geschah alles so schnell. Ich konnte gar nicht so schnell schauen, geschweige denn reagieren, wie um mich herum alles begann zu zerbrechen. Mein Leben begann, sich aufzulösen.

Ich erzählte Ali von meiner Schwangerschaft. Er reagierte unfassbar. Er sagte mir offen ins Gesicht, dass er bestimmt nicht der Vater sei. Er hätte immer aufgepasst, und er würde sich von einer deutschen Hure kein Kind unterschieben lassen. Ich beschimpfte ihn mit „Scheiß-Türke!“ Das war das erste und das letzte Mal, dass er mich geschlagen hatte. Mein Leben, das ich gestern noch hatte, war nicht mal vierundzwanzig Stunden später einfach wie ausradiert.

Ich war bereits in der achten Woche schwanger, schob meine Entscheidungen und Hoffnungen vor mir her.

Fast schon zu spät für einen Abbruch, selbst wenn ich es noch gewollt hätte, was ich nicht tat. Es war zu spät. Auch zu spät für Ali und mich. Ich trennte mich, aber kam nicht wirklich von ihm los. Er benutzte mich, und ich ließ es zu. Er kam nur, um mit mir zu schlafen, stieg über mich hinweg und verschwand auch gleich wieder. Ich ließ es geschehen. Schließlich, so dachte ich damals, war er doch das Einzige, was ich hatte, und ich trug sein Kind unter meinem Herzen.

Heute denke ich, wie ich mich nur selbst so erniedrigen lassen konnte. Ali war ein schwanzgesteuertes Arschloch. Er war es nicht wert, dass ich mir seinetwegen schlaflose Nächte bereitete. Ich glaubte an die Hoffnung in mir. Die Hoffnung, dass, wenn unser Kind erst einmal da sein würde, sich alles wieder einrenken könnte zwischen uns. Ein Kind verbindet doch. Oder?

Ali, ich, zusammen mit unserem Kind. Gemeinsam großziehen. Science Fiction der übelsten Art! Wenn ich heute so darüber nachdenke, was ich bereit war, alles für ihn zu tun, nur um ihn halten zu können, könnte ich laut loslachen über so viel Naivität.

Mit vierzehn glaubte ich zwar nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber ich wollte an eine Chance für uns glauben. Wir hätten eine Familie sein können. Aber das Schicksal wollte es anders.

Ali zeigte aber null Interesse. Sex war das Einzige, was er noch von mir wollte. Als mein Bauch aber später dicker und dicker wurde, blieb er ganz weg. Bitter war die Erkenntnis, bitter der Weg, der vor mir lag.

Warum ich das alles zuließ? Was hatte ich schon? Mit der Schwangerschaft war alles dahin. Meine Kindheit, okay, die war so oder so vorbei, aber meine Jugend, alles vorbei. Meine Freunde, bis auf Marga, alle wollten nichts mehr von mir wissen. In der Schule war ich das Gespött des Tages. Mein bisheriges Leben war verloren. Ich ging verloren.

Die Tage vergingen. Meine Schwester Anna, die knapp zwei Jahre älter war als ich, war die Erste, die in der Familie meine Schwangerschaft entdeckte.

Lange würde ich sowieso keinem mehr etwas vormachen können.

Dass ich einfach nur zugenommen hatte, und deshalb so einen Bauch bekommen habe, nahm mir auf Dauer keiner mehr ab. Anna sagte es zu meiner Mutter, als sei es das Natürlichste der Welt: „Die Mia ist schwanger.“ Zuerst glaubte ich, die Bombe sei geplatzt, aber so leicht hatte es Anna nicht. Meine Mutter reagierte zuerst noch harmlos, hielt es wohl für einen Scherz. „Mia und schwanger, bestimmt nicht, nicht Mia! Unsere Mia würde mir das nie antun. Sie ist doch erst vierzehn. Oder?“ Wir sahen uns an.

„Ich habe meine Tage erst gestern bekommen Mutti, willst du etwa meinen Tampon sehen? Oder du, Anna?“ Ich versuchte, so glaubwürdig wie nur möglich rüberzukommen, und hatte Glück. „Nein, natürlich nicht! Ich glaube dir!“ Und wieder hatte ich ein paar Tage Ruhe. Ich strafte Anna mit vernichtenden Blicken. Sie aber lachte nur. „Ihr werdet schon sehen“, und ihr Grinsen hätte ich ihr am liebsten aus dem Gesicht gerissen. Meine Mutter vertraute mir, das war ein weiteres Problem. Eine Lüge folgte der anderen. Ich fühlte mich schuldig. Ehrlichkeit und Vertrauen wurden bei uns sehr groß geschrieben. Meine Mutter hatte es nicht verdient, dass ich sie so hinterging. Bereits zu diesem Zeitpunkt waren die Lügen mein einziger Verbündeter. Nur so lange, so hoffte ich, bis ich aus meiner Schwangerschaft kein Staatsgeheimnis mehr machen müsste. Ich begann, mich bereits zu schnüren, um mein Geheimnis noch etwas länger für mich zu behalten.

Warum war es nur so schwer, so unmöglich, mich meiner Mutter anzuvertrauen? Ein Teufelskreis, in dem ich steckte, der aber irgendwann auseinanderbrechen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Und Zeit war etwas, das ich überhaupt nicht mehr hatte.

Ich konnte nur erahnen, vage Vermutungen anstellen, dass ich bereits im fünften, Anfang sechsten Monat gewesen sein musste, als ich aufgeflogen bin. Es war der Tag, an dem die Schule bei uns zu Hause anrief, um sich nach mir zu erkundigen, wann ich wieder in die Schule zurückkommen würde.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt der Schule bereits den Rücken zugedreht. Meine eigenen Entschuldigungen bereits über Wochen im Voraus gefälscht, um mir so einen größeren Zeitvorsprung zu verschaffen.

Ich war panisch vor Angst, noch nie zuvor war ich so unsicher. Mein Bauch war kaum noch zu verstecken, wie sollte ich da in die Schule gehen? Ich schnürte mich fast bis zur Bewusstlosigkeit, und zog zusätzlich weite Pullover an. Anna ließ mich in Ruhe, aber zwischen uns war es längst ein offenes Geheimnis. Und diese Übelkeit, die mich fast täglich die ganze Schwangerschaft über begleitete, wäre in der Schule sehr schnell auffällig geworden.

Es kam, wie es kommen musste.

Meine Schwester war mal wieder die treibende Kraft und redete so lange auf meine Mutter ein, bis sie am Tag, bevor sie zur Arbeit ging, auf mich zukam.

Ihre Worte waren knapp, aber bestimmend. „Bist du schwanger, oder nicht? Ich hole einen Schwangerschaftstest aus der Apotheke, wenn du mir nicht sofort eine Antwort gibst. Anna lässt mir einfach keine Ruhe mit ihrem Gefasel.“ Ich sah zu Anna. Sie grinste nicht. Ich tat ihr leid und ich wusste, sie wollte mir nur helfen.

Der Druck der letzten Wochen war einfach zu viel für mich geworden. „Ja, ich bin schwanger“, hörte ich mich sagen und die Tränen nahmen unaufhörlich ihren Lauf. Zuerst konnte meine Mutter gar nicht reagieren.

Sie formte fast lautlos die Worte. „Du bist wirklich schwanger?“ Ich glaube, sie wollte es einfach nicht wahrhaben.

Sie stand wie versteinert vor mir, und ihre Augen verloren jeglichen Ausdruck. Dann brach es aus ihr heraus.

„Du bist doch aufgeklärt. Warum hast du nichts gesagt. Du hättest die Pille bekommen“, und und und …

Eigentlich hörte ich ihr gar nicht mehr zu. Es rauschte alles an mir vorbei. Endlich war es raus, dachte ich nur. Endlich würde ich den Rest meiner Schwangerschaft vielleicht sogar noch genießen können. Endlich war ich nicht mehr alleine.

„Mama, es tut mir so leid. Ich wollte dich nicht enttäuschen, bitte sei mir nicht böse.“ Meine Mutter konnte wohl nicht anders, als wie damals in diesem Moment, in dem auch etwas in ihr zerbrach. Sie stürzte auf mich zu und packte mich an den Armen. Sie schüttelte mich und schlug auf mich ein. Schützend hielt ich meine Hand vor meinen Bauch. Anna schrie: „Mama, Mama, hör bitte auf, sie ist doch schwanger!“

Sie ließ von mir ab. Ihre Augen waren weit aufgerissen, so hatte ich sie noch nie erlebt. „Wie weit bist du, kannst du noch abtreiben?“ Ihre Stimme war kalt, ihr Blick leer und ausdruckslos.

„Ich bin weit über einen Abbruchtermin hinaus“, antwortete ich genauso kalt. Wir standen damals alle drei noch eine ganze Weile sprachlos zusammen.

Keiner wusste mit der neuen Situation umzugehen. Dann folgten die üblichen Fragen. Warum und weshalb und überhaupt. Ali musste nun auch Farbe bekennen und wurde samt seinen Eltern zu uns nach Hause zitiert. Weder seine noch meine Eltern waren bisher darüber informiert, dass wir bereits getrennt waren. Ich hielt es nicht mehr für wichtig, und Ali?

Ali zog wie immer den Schwanz ein.

Wunder geschehen immer wieder …

Eine Wandlung vollzog sich in Bruchteilen von Sekunden. Es war nicht mehr mein Problem, dass ich schwanger war, es wurde automatisch das Problem meiner Mutter und das Problem von Alis Eltern. Mein Vater hielt sich raus. Wie immer! Für ihn sollte sich nur nichts ändern, alles andere war ihm egal.

Ali schwieg. Er konnte keine einzige Frage beantworten, die man ihm stellte. Er saß da wie ein Häufchen Elend und ließ alles einfach über sich ergehen.

Auf die Frage, wie er sich das alles in Zukunft vorstellen würde, kam nichts, außer einem hängenden Schulterzucken und einem schuldbewussten, aber ratlosen Gesicht. Ich weiß nicht, ob es dieser Moment war, oder ein anderer der vielen Momente, in denen mich Ali enttäuschte und alleine ließ mit Entscheidungen, die wir zu treffen hatten, und Fragen, die er mir niemals bereit war zu beantworten. Ich trennte mich endgültig, nicht nur körperlich, sondern, was viel wichtiger war, seelisch von ihm. Ali war ein Kapitel in meinem Leben, mit dem ich endgültig abgeschlossen hatte. Soweit ich fähig war, mit vierzehn etwas abzuschließen.

Meine Mutter war zuerst nicht begeistert von meinem Entschluss. Ali sollte bluten. In ihren Augen kam er zu leicht davon. Hätten die Eltern, auf beiden Seiten, doch gerne gesehen, dass wir geheiratet hätten, wenn wir erst einmal volljährig gewesen wären. Es war doch zumindest eine von vielen Möglichkeiten. Sei es auch nur aus versorgungstechnischen Gründen. Aber mein Gedanke war, dass man keinen Fehler bereinigt, ob groß oder klein, und auch keine Schuld bezahlt mit einem weiteren Fehler.

Ich spürte, dass mich die Schwangerschaft mehr und mehr veränderte. Irgendwie war ich reifer geworden und ein wenig sicherer, in dem, was ich wollte und was nicht. Ali gehörte nicht mehr in mein Zukunftsbild.

Sicher war, dass ich mein Kind wollte. Eine Entscheidung, die ich niemals bereut habe.

Der erste Besuch beim Frauenarzt stand mir bevor. Einem Termin, bei dem es jeder Frau ein wenig blass um die Nase wird. Eine der vielen kleinen Notwendigkeiten für eine Frau, die wohl zu den unangenehmsten Dingen zählt, die sie hinter sich zu bringen hat, und das nicht nur, wenn sie ein Kind erwartete.

Mein erster Besuch war grausig, aber unumgänglich. Ich saß mit Mamas gekaufter und eingekleideter Umstandskleidung im Wartezimmer. Alle starrten mich an. Ich war der Meinung, dass dies nicht nur an meinem Bauch lag, der nun deutlich zu sehen war. Auch nicht, dass ich aussah wie vierzehn. Für mich war es die Kleidung. Meine Mutter hatte es wirklich nur gut gemeint. Wir hatten nie den gleichen Geschmack, was die Kleidung betraf. Ich saß dort mit einem Kleid. Es war fast knöchellang, beige-lila in großen Karos und langen Armen. Sehr „schön“ noch der große Wollkragen. Dazu trug ich Stiefel. Größer kann ein Stilbruch nicht sein, ganz gleich wie alt man ist. Auch für Schwangere sollte gelten: „Kleidung ist ein Ausdruck deiner Persönlichkeit.“ Nicht einen Hauch von meiner Persönlichkeit drückte dieses Kleid aus. Es war einfach nur scheußlich. Also saß ich da und hoffte, dass ich keinem begegnen würde, der mich kannte.

Später als ich dann an der Reihe war und so da lag, hätte meine Scham nicht größer sein können. Ich trug zwar nicht mehr dieses Kleid, aber …

Das erste Mal, dass ich so ausgeliefert und nicht mehr Herr meiner eigenen Bestimmung war. Ein Moment der Extreme. Das änderte sich aber, Gott sei es gedankt, sehr schnell. Es war der Augenblick, in dem ich mein noch ungeborenes Kind das allererste Mal auf dem Monitor sehen konnte und den Herzton laut und deutlich wahrnahm.

Alle Scham war vergessen, verflogen, existierte nicht mehr, und von da an ging ich nun regelmäßig zu den noch ausstehenden Untersuchungen.

Es stellte sich heraus, dass ich bereits Anfang des siebten Monats war. Der Arzt war sehr entsetzt über mein Verhalten, dass ich erst so spät gekommen war. Die Tatsache, dass ich mich geschnürt hatte, um meinen Bauch zu verbergen, ließen ihn nochmals ermahnende Worte an mich richten. Ich hatte mehr Glück, als ich verdiente, meinte er aus seiner Sicht als Arzt. Das Kind in meinem Bauch hatte keinen Schaden davongetragen. Es hätte auch anders kommen können. Ich wusste, wie es gemeint war und zeigte auf mein Kleid, das ich endlich wieder anziehen durfte.

Jetzt hätte es doch eigentlich bergauf gehen können. Ich brauchte mich nicht mehr zu verstecken. Es gab kein Geheimnis mehr um meine Schwangerschaft, das Kind war gesund, und ich?

Ja was war mit mir?

Nichts war in Ordnung mit mir. Fehlanzeige! Es war nur die Spitze eines Eisberges, an den ich angestoßen hatte. Es sollte noch alles viel schlimmer werden, als ich es mir je hätte vorstellen können. Wie gut, dass man nicht in die Zukunft schauen kann. Wäre es möglich gewesen, ich hätte mir einen Strick genommen. Aber so nahm das Schicksal seinen Lauf, dessen Richtung ich nicht zu bestimmen hatte. Ich war eine Marionette im Spiel um Leben und Tod. Aber noch stand der Sieger nicht fest. So schnell stutzte man mir nicht die Flügel. Bald würde ich die Verantwortung für ein neues Menschenleben übernehmen müssen. Ich wollte mich mit all meiner noch vorhandenen Kraft dieser Aufgabe stellen. Nichts sollte mich davon abbringen, meiner Rolle als Mutter gerecht zu werden.

In den folgenden Tagen befasste ich mich hauptsächlich mit der Namensfindung für mein ungeborenes Mädchen. Ich wünschte mir ein Mädchen und ich war mir sicher, es würde ein Mädchen werden. Lange konnte ich mich nicht meinen Träumereien hingeben. Jetzt aber, da alle über mich und meine Schwangerschaft Bescheid wussten und die meisten Dinge geregelt waren, fand sogar ich so etwas wie innerlichen Frieden wieder.

In den vorherigen Monaten war alles über mich hereingebrochen. Ich hatte nicht nur über Monate meine Schwangerschaft verheimlicht, nein, ich hatte auch alle Menschen, die mir lieb und teuer waren, belogen. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen: „Es geschah nicht mit Absicht.“

Manchmal fragte ich mich: „Hätte ich etwas verhindern können? Wenn ich nicht schwanger geworden wäre, wäre Ali noch bei mir? Lag wirklich alles nur an mir?“ Ich war nicht glücklich und ich glaubte, es nie wieder werden zu können. Wie sollte ich auch glücklich sein? Hatte ich doch alle vor den Kopf gestoßen. Meine Mutter hielt zu mir. Aber mit meiner Schwangerschaft gab ich auch ihrem Leben eine neue Richtung. Eine Richtung, um die sie nicht gebeten hatte. Meine Geschwister mussten sich mit Kompromissen begnügen. Auch sie hatten keine Wahl. Jeder fügte sich dem Geschehen, das ich alleine verursacht hatte.

Ich musste feststellen, dass ich nicht nur für mich eine Entscheidung getroffen hatte, als ich mich für mein Kind entschied. Ich veränderte das Leben von so vielen. Wenn es einen Ort gegeben hätte, an den ich hätte gehen können, alleine mit meinem Kind, um so wieder dieses Chaos zu entwirren, ich wäre gegangen. Ganz gleich, was ich mir auch wünschte, Wünsche gehören in die Kategorie Träume und Träume waren Seifenblasen, die zerplatzten.

Ich war ein gefallener Engel. Ja, das war ich. Meine Vorsätze waren immer gut gemeint. Meine Wünsche waren bescheiden und ich liebte es, mein bisschen Glück zu teilen. Jetzt aber hatte ich nichts mehr zu geben.

Im Gegenteil. Ich geriet in die ungewollte Position der Forderung. Was ein Kind alles kosten würde. Angefangen vom Kinderwagen, Bettchen, Kleidung und die täglichen Windeln. „Oh, mein Gott was hatte ich nur getan? Die Zeit würde schon Lösungen mit sich bringen, oder?“ Jetzt aber stand mir etwas ganz anderes bevor.

Ein Besuch in der Schule stand an. Meine Mutter hatte mit mir einen Termin mit dem Schuldirektor vereinbart.

Auch mein Klassenlehrer würde anwesend sein. Wie würde ich mit dieser erneuten Herausforderung umgehen? Ich baute auf Glück und Verständnis der Schulleitung. Wider allen Erwartungen war mir das Glück hold. Das Gespräch verlief ohne große Komplikationen.

Dr. Schumacher, der Leiter der Schule und Herr Mussmann, mein Klassenlehrer, waren bereit, mir alle nur erdenkliche Unterstützung zuteilwerden zu lassen, um meinen Abschluss doch noch zu machen. Meine Mutter war überglücklich.

Selbst ich, die ich die Schule lieber von außen sah, war begeistert. Ich hatte die kleine Chance, mit diesem Schritt meiner Mutter zu zeigen, dass ich doch nicht ein so ganz hoffnungsloses Geschöpf war. Hochschwanger ging ich also die letzten Monate in die Schule, saß mit meinem Schwangerschaftskleid, das ich so sehr hasste, in der hintersten Reihe und lernte das, was ich glaubte, nie mehr in Zukunft zu benötigen. Selbst mit dem Abschluss in der Tasche, eine Ausbildung würde ich so schnell nicht machen können. Ich hatte also meinen Abschluss gemacht, mit einem Notendurchschnitt von 3,3, hochschwanger, aber es war geschafft. Ich war stolz auf mich.

Von der Schulbank ging es auch gleich in den Kreißsaal. Ich hatte den magischen neunten Monat hinter mich gebracht. Mein Bauch war so groß geworden, dass ich nicht mal mehr meine Schuhe sehen konnte, wenn ich stand. Das Schlafen auf dem Bauch, meine absolute Lieblingsstellung, war schon seit Monaten tabu. Ich schlief nur noch auf der Seite, etwas anderes war nicht möglich. Der Versuch, auf dem Rücken zu schlafen, erwies sich schnell als immerwährende Bergfahrt. Ich glaubte, ersticken zu müssen. Die Schlafdecke wölbte sich so hoch, dass ich selbst ganz im Bett verschwand. Es blieb mir nur die Seitenlage.

Da ich die ersten Monate verschlampt, hatte einen Frauenarzt aufzusuchen, um alle Vorsorgeuntersuchungen machen zu lassen, war der genaue Geburtstermin nicht wirklich zu bestimmen.

„Es kann täglich soweit sein“, sagte mir mein Arzt. In Wirklichkeit waren es noch knapp drei Wochen, die ich Zeit hatte. Aber dann war es schlussendlich doch so weit.

Es gibt Tausende von Dingen, vor denen man Angst haben kann. Es gibt Ängste, die vergehen mit der Zeit und es gibt Ängste, die schleppt man sein ganzes Leben lang mit sich herum.

Und es gibt Ängste, die trägt man einfach aus. So wie ich in der Nacht der Geburt meiner Tochter.

Wenn ich heute an diese Nacht zurückdenke, überkommen mich sehr gemischte Gefühle. Zum einen die Angst vor der Geburt selbst. Zum anderen die Frage, was danach passieren würde. „Würde ich irgendwann ein normales Leben führen können oder hatte ich längst jede Chance darauf verloren? Wie lebte ein fünfzehnjähriges Mädchen mit Kind, ohne Ausbildung, ohne Geld? Wie sollte ich arbeiten, um Geld zu verdienen und gleichzeitig Mutter sein?“ Mein ganzes Leben bestand bisher aus Zwischenlösungen.

Zuhause lief alles auf Hochtouren. Unser Kinderzimmer wurde funktionell eingerichtet, sodass auch für das Baby der eigene Platz vorübergehend gesichert war. Noch teilten wir uns zu dritt ein kleines Zimmer. Etwas später würde Anna ausziehen. War es ihre Entscheidung oder war es ein Muss, erzwungen durch meinen Fehler, der unaufhaltsam seine Kreise zog. „Vertrieb ich Anna aus ihrem Elternhaus?“ Früher war alles so einfach gewesen. Vor meiner Schwangerschaft war ich ein verliebter Teenie, einer von Millionen, der sich darauf freute, langsam das Leben für sich zu entdecken. Ich hatte so viele Pläne und noch mehr Träume. Wo war das alles nur geblieben?

Ali war weg. Er meldete sich ab und an telefonisch. Ich war überzeugt davon, dass der Druck von seinen Eltern kam. Von alleine hätte er sich nicht mehr getraut, sich zu melden. Er konnte froh sein, dass ich niemanden erzählte, dass er mich geschlagen hatte und das in der Schwangerschaft. Aus meiner einzigen großen Liebe war eine einzige große Lüge geworden.

Später erfuhr ich auch, dass Ali nicht zu den treusten seiner Artgenossen zählte. Immer, wenn er mich abends nach Hause gebracht hatte, verabschiedete er sich bei mir mit den Worten: „Wenn ich zu Hause bin, rufe ich gleich noch mal an, um dir Gute Nacht zu wünschen.“ Er rief an, aber nicht von zu Hause aus. Sein Leben fand auch nach neun Uhr abends statt, nur nicht mit mir. Er hatte viele kleine Affären neben mir. Den Gerüchten zufolge hätte ich vorgewarnt sein müssen. Aber was man nicht sehen will, sieht man auch nicht. Erst als ich mit eigenen Augen sah, was andere längst wussten, schaffte ich den Absprung. Ich sah Ali im Einkaufszentrum. Wir wollten uns eigentlich erst am frühen Nachmittag treffen. Er hatte mich dort nicht vermutet. Er wusste, dass ich das Einkaufszentrum mied, wenn es ging. Leider musste ich an diesem Tag für meine Mutter eine kleine Besorgung machen.

Ich sah ihn. Er kam mit einem Mädchen eng umschlungen die Rolltreppe heruntergefahren. Ich stand unten und versteckte mich hinter einer Litfaßsäule. Irgendwie tat es nicht so weh, wie ich es erwartet hatte.

Heute weiß ich, dass ich mich innerlich bereits längst von ihm verabschiedet hatte. Ich hatte nur noch nicht gelernt, loszulassen.

Ganz gleich wie ich mich zu Hause auch gefühlt haben mag. In der Nacht, als meine Wehen einsetzten, war ich wieder ein vollwertiges Mitglied der Familie. Es war weit nach Mitternacht. Im Haus war es ruhig. Ich lauschte auf den gleichmäßigen Atem meiner Geschwister. Kein Laut war zu hören. Selbst auf den Straßen herrschte Totenstille. Ich konnte kaum meine eigene Hand vor den Augen erkennen, als ein heftiger Schmerz durch meinen Körper zog. Ich musste leicht aufschreien und krümmte mich vor Schmerz. Zuerst glaubte ich, es sei mal wieder blinder Alarm. In den vergangenen Tagen hatte ich immer wieder mal solche Schmerzen. Meine Mutter beruhigte mich mit tröstenden Worten, dass, wenn es so weit sei, ich es schon merken würde und sie dann für mich da sein würde. Aber jetzt war es so weit und sie war nicht da. Sie war arbeiten. Sie hatte Nachtschicht. Sollte ich sie anrufen? Würde sie kommen, um mir beizustehen? Ich schlug die Bettdecke beiseite, um aufzustehen. Mühsam schaffte ich es, mich aufzusetzen. Da war es wieder. Diesmal stärker als beim ersten Mal. Ich sollte Anna wecken, sie würde wissen, was zu tun sei. Ich suchte im Dunklen nach dem Lichtschalter und verfehlte ihn. Stattdessen traf ich den Wecker auf meinen Nachttisch, der schallend zu Boden fiel. „Scheiße“, schimpfte ich mit mir selbst. Immer noch gekrümmt vor Schmerz erreichte ich den Lichtschalter.

Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Dann sah ich mich um. Anna und Kai schliefen den Schlaf der Gerechten. Ich sah nur ihre Köpfe, die leicht aus dem Bett hervorguckten. Der Rest ihrer Körper war in Decken gehüllt. Langsam ging ich auf das Bett von Anna zu. Vielleicht war es ja mal wieder blinder Alarm und alle Aufregung umsonst. Sollte ich Anna wirklich aufwecken? Oder vielleicht doch zurück in mein Bett?

Der Schmerz schien weg zu sein. Fast auf dem Weg zurück in mein eigenes Bett blieb ich plötzlich stehen. Ich spürte etwas Warmes, das an meinen Beinen entlanglief. Von Panik gepackt traute ich mich nicht einmal, nachzuschauen, ich schrie nur …

„Anna, Anna, ich verliere das Kind! Schau, ich verliere mein Kind!“ Anna kroch unter ihrer Decke hervor. Noch ganz verschlafen sah sie mich an. „Was machst du Mia? Warum schläfst du nicht? Du weckst das ganze Haus mit deinem Geschrei.“

„Anna! Du musst mir helfen, das Kind! Ich verliere das Kind! Ich blute! Schau da!“

Zum ersten Male traute ich mich, selbst nachzuschauen, was dort an meinen Beinen immer noch so warm herunterlief. Anna war nun endgültig wach und murmelte irgendetwas vor sich hin. Sie war mit einem Satz aus ihrem Bett und stand nun direkt neben mir. Inzwischen war auch Kai wach geworden. Er sah uns fragend an, sprach aber kein Wort. „Beruhige dich Mia. Du blutest nicht. Es ist alles in Ordnung.“ Auch ich hatte inzwischen festgestellt, dass es kein Blut war, aber was war es dann? Ich spürte keinen Schmerz mehr, oder war es die Angst, die den Schmerz einfach ausschaltete?

„Deine Fruchtblase ist geplatzt“, sagte Anna. „Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen.“ „Meine Fruchtblase?“, wiederholte ich.