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Titel

Impressum

ZUR ERINNERUNG

VORWORT

Vakuum-Turm-Teleskop auf Teneriffa, 14. September 1996

Der letzte Tag!

Epilog

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Science Fiction Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: John Barns

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2017

ISBN: 9783957533777

Grafik Copyright by Fotolia by Kovalenko I

 

ZUR ERINNERUNG

VULKAN UNZEN JAPAN 1991

 

Immer wenn es in den Tiefen des grauen Riesen rumorte, ahnten die Menschen, was ihnen bevorstand. Der Berg würde Feuer und Asche spucken. So war es immer gewesen, wenn er sein Erwachen ankündigte. Es war nichts Außergewöhnliches und daher sah man dem Ereignis gelassen entgegen. Ein Vulkanausbruch gehörte für die Menschen dieser Region einfach zum Leben. Sie hatten sich darauf eingestellt und wussten von den Gefahren des Berges. Dennoch zog man nicht davon. Der Berg schenkte ihnen die fruchtbaren Äcker und Wiesen. Er nahm sich einen Teil davon zurück. Nirgends in der Umgebung gab es besseren Boden als hier am Fuße des Feuerspuckers.

Als die Eruption begann, sah alles nach einem ganz normalen Verlauf aus. Wie üblich bildete sich im Krater des Berges ein Lavadom, der sich langsam in die Höhe schob. Dann brachen Teile des glühend heißen Gesteins ab, um als pyroklastischer Strom ins Tal zu donnern. Durch die Erfahrungen vorheriger Ausbrüche hatte man die Täler im oberen Teil nicht besiedelt, damit es keine Schäden gab. Währenddessen versammelten sich zahlreiche Schaulustige und Geologen am Fuße des Berges.

Unter ihnen Maurice und Katja Krafft. Das Paar galt in der Szene als besonnen und äußerst erfahren. Durch ihre Dokumentationen und Fachbücher hatten sie sich den Ruf der Superstars erworben. Ihre Aufnahmen vom Kiluea, von Heimaey, Mt. St. Helens und vielen anderen aktiven Bergen galten als einzigartige Dokumente. Niemand hatte je eindrucksvollere Bilder und Filme über Vulkane gemacht. Daher war es nicht verwunderlich, dass die beiden hier am Unzen erschienen. Die geschichtlichen Aufzeichnungen sprachen von gigantischen, glühenden Wolken die vom Berg ausgingen. Das Paar hoffte, dass ihnen der Unzen den Gefallen tat, mit solch einem Spektakel aufzuwarten. Während eines Interviews äußerte sich Maurice allerdings enttäuscht von dem, was ihnen geboten wurde. "Selten habe ich solch kleine Ströme gesehen wie hier“, gestand er den Journalisten. Tatsächlich tat sich nichts, was sich lohnte aufzuzeichnen. Der Berg verhielt sich auffallend ruhig und das Wenige, das man sehen konnte, begeisterte niemanden von ihnen. Als sich der Vulkan in den nächsten Tagen nicht bemühte, etwas mehr von seiner Gefahr zu zeigen, beschlossen die Kraffts, zusammen mit anderen Kollegen den Weg hinauf zum Krater zu suchen, um festzustellen, was dort oben geschah.

Vom Fuße des Berges beobachteten zahlreiche Kameras, was geschah: Die Mannschaft war bereits auf halben Wege zum Gipfel, als sich ein gewaltiger Brocken aus zähem, porösem Gestein löste und als riesiger pyroklastischer Strom mit nahezu vierhundert Stundenkilometern ins Tal raste. Nichts konnte dieser Gewalt entgegentreten, nichts sie aufhalten. Erschreckt sahen die Beobachter, wie er dabei genau auf die Position der Wissenschaftler zulief. Maurice hätte seine Freude gehabt. Leider waren er und seine Frau unter der Gruppe im Berg. In Sekundenschnelle raste der Strom über sie hinweg. Sie und weitere vierzig andere Forscher wurden Opfer der Vulkane, die sie so sehr liebten.

 

IM GEDENKEN AN KATJA UND MAURICE KRAFFT, DEREN DOKUMENTATIONEN ÜBER DIE VULKANE DEN MENSCHEN UNVERGESSEN BLEIBEN WERDEN.

 

VORWORT

 

Es geschah, ohne dass die Menschen es erkannten. Es geschah, ohne dass man es bemerkte. Es geschah, ohne dass man etwas dagegen tun konnte. Es geschah, weil es in der Natur der Dinge lag. Niemand beachtete die Vorzeichen. Die Natur hat ihre eigenen Spielregeln, auch wenn manche Menschen glaubten, sie zu beherrschen.

Der Mensch glaubt, den Himmel zu kennen. Sicherlich, die Bahnen der Planeten, die Umläufe der Sterne und viele andere Geheimnisse waren den Astronomen seit Jahrtausenden bekannt. Sie wussten, wann welcher Komet am Himmel erschien und wie nah er an der Erde beziehungsweise an den anderen Planeten vorbeizog. Sie kannten den Mond besser als das eigene menschliche Zuhause. Merkur, Venus, Mars und all die anderen zum Sonnensystem gehörenden Himmelskörper wurden durch Sonden erforscht und bestens erkundet.

Der Sonnenzyklus war bestens berechnet und das Alter der Sonne bekannt. Die Forscher hatten ihr Alter auf knapp 8 Milliarden Jahre festgelegt und man ging davon aus, dass sie eine weitere Milliarde Jahre so scheinen würde, ohne dass es große Veränderungen im Energiehaushalt geben würde. Die natürliche Fusion der Kerne aus Helium und Wasserstoff hielt den Motor des Tagesgestirns in permanentem Gleichgewicht. Weder das eine noch das andere Element war im Übermaße vorhanden. Dieses sensible Gleichgewicht sorgte für eine gleichmäßige Abstrahlung der Energien und für das gemäßigte Klima auf der 148 Millionen Kilometer entfernten Erde. Nur in einem schmalen Korridor zwischen 140 und 161 Millionen Kilometern Sonnenentfernung konnte Leben existieren. Alles was näher oder weiter entfernt lag, brachte unweigerlich das Ende allen Lebens. Entweder es gefror oder verbrannte.

Seitdem die Erde entstanden war, raste sie mit kaum messbaren Abweichungen auf dieser Bahn. Nur hier konnte sich das Leben über Milliarden von Jahren entwickeln. Die Erde hatte schon viele Lebensformen gesehen und als der Mensch auf der Bühne erschien, gebar die Natur ein Wesen, das von sich behauptet, es sei allem bisher da gewesenen überlegen. Nie zuvor veränderte sich das Aussehen der Erde so drastisch wie in jener kurzen Zeitspanne, da der Mensch erschien. Er allein verfügte über Techniken, die es ihm ermöglichten, über das Wohl und Wehe des Planeten zu entscheiden. Er glaubte an seine Allmacht und seine göttliche Bestimmung. Er glaubte, er sei unsterblich und dass er niemals von der Erde verdrängt werden könnte. Er, der so von sich überzeugt war, sollte erfahren, wie sehr er sich doch geirrt hatte.

Dabei gab es schon lange Hinweise, dass etwas nicht stimmte. Doch sie wurden einfach übersehen oder falsch gedeutet. Keiner ahnte, dass kosmische Kräfte dabei waren, das sensible Gleichgewicht zu stören und damit den Beginn eines Infernos einzuleiten, wie es die Erde noch nicht erlebt hatte!

 

VAKUUM-TURM-TELESKOP AUF TENERIFFA, 14. SEPTEMBER 1996

Wie jeden Morgen hatten Professor Soltau und seine Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut die Spiegel des großen Teleskops so ausgerichtet, dass der Strahl tief ins Innere der 27 Meter tiefen Röhre auf einen Spiegel fiel. Es war normale Routine geworden, seit der Professor vor vielen Jahren diesen Dom der Wissenschaft mit konstruiert hatte. Was folgte, war der ganz normale Tagesablauf. Als Erstes würde man den Spaziergang über die Sonne machen, so wie jeden Tag. Man erwartete nichts Ungewöhnliches, zumindest nicht für die Wissenschaftler. Ein Laie hingegen wäre fasziniert gewesen von dem, was das Riesenfernrohr dort oben, acht Lichtminuten von der Erde entfernt, aufspürte. Die Forscher begaben sich hinunter zum Beobachtungsraum, wo es nur so von Computern wimmelte.

Soltau setzte sich in seinen Stuhl vor einen der großen Monitore, wohin die Bilder von der Sonnenoberfläche übertragen wurden. Zunächst stellte er das System auf den Sektor AA567 ein. Hier hatte er am Tag zuvor die Bildung eines neuen Fleckens beobachtet. Es war für ihn trotz aller Routine und Gleichmäßigkeit immer wieder ein faszinierendes Ereignis, wenn man die Geburt eines solchen Fleckens beobachtete. Soltau nahm seine Beobachtung auf. Er sah, wie der Fleck immer größer wurde und kleine Satelliten sich um ihn bildeten. Für Soltau nichts Ungewöhnliches. Er fand dauernd solche Flecken und wusste, dass sie irgendwann in sich zusammenfielen oder auf die der Erde abgewandte Seite wanderten. Daher war der Fleck für ihn nicht von besonderem Interesse und er wendete sich anderen Bereichen der Sonne zu. Nichts deutete an diesem Tage auf besondere Ereignisse auf dem Feuerball hin. Alles schien im normalen Bereich zu sein und so wandte sich der Professor anderen Tätigkeiten zu. Da waren der monatliche Bericht ans Institut und die Anforderung neuer Studenten. Auch war es an der Zeit, den aktuellen Kapitalbedarf für die Forschung einzureichen, um so das Teleskop betreiben zu können.

Während sich der Professor so seinen Schreibtischtätigkeiten widmete, übernahm sein Assistent Werner Meier die Beobachtungen am Hauptgerät. Zunächst betrachtete er den Stern im normalen sichtbaren Licht. Da das Bild von den Rechnern umgewandelt wurde, konnte er die Oberfläche gefahrlos betrachten. Durch Veränderung der Helligkeit konnte er deutlich die verschiedenen Konturen sichtbar machen. Er widmete sich der Sektion AA567. Sie wanderte langsam hinüber auf die Rückseite der Sonne. Dort würde der Fleck, wie schon so oft, in sich zusammenfallen. Bisher war es immer so gewesen und es gab keinen Grund zur Annahme, dass es dieses Mal anders sein würde.

 

VAKUUM-TURM-TELESKOP AUF TENERIFFA, 29. SEPTEMBER 1996

Die Sonne hatte sich um die Hälfte gedreht. Wie schon in den Tagen zuvor, geschah nichts Ungewöhnliches. Aber gerade diese Tatsache verunsicherte Professor Soltau. Längst hätte es eine Veränderung durch den Zusammenbruch des Sonnenflecks geben müssen, doch nichts deutete darauf hin. Die Korona hatte sich nicht wie erwartet aufgeladen und auch sonst blieben die vorher berechneten Ereignisse aus. Jetzt wanderte am rechten Rand der Sonne jene Erscheinung, die sie in der Sektion AA567 beobachtet hatten, ins Blickfeld der Forscher.

Als Soltau sie an diesem Morgen sah, erkannte der Wissenschaftler sofort, dass sich der Fleck verändert hatte. Statt der berechneten Schrumpfung, war der Fleck um ein Vielfaches angewachsen. Das durfte aber nicht sein. Um sicherzugehen, dass er sich nicht geirrt hatte, verließ Soltau das schützende Gebäude, um, nur mit einer Spezialbrille bewaffnet, einen Blick auf seine Beobachtung zu werfen. Als er den dunklen Fleck ohne optische Hilfsmittel auch mit bloßem Auge erkannte, wusste er genau, was geschehen würde. Unverzüglich machte er sich auf den Weg in sein Büro, um seine Vorgesetzten in Berlin zu informieren.

 

Sternwarte des National Geographic Instituts Mt. Kiloea auf Hawaii am 29. September 1996

Hier am großen Vulkankrater betrieben amerikanische Astronomen ihr größtes Teleskop. Dank der exponierten Lage hatte man hier schon viel Neues über das Universum erfahren. So waren die Forscher in Regionen des Universums vorgedrungen, die oft Milliarden von Lichtjahre von der Erde entfernt waren. Sie hatten unbekannte Gasnebel und Galaxien aufgespürt und dabei die Geburt und den Tod von Sternen gesehen. Das Gerät galt als größtes Auge der Menschheit und die Forscher aus aller Welt kamen hierher, um neue Erkenntnisse zu gewinnen, was zum Ansehen der Anlage mit beitrug.

Am heutigen Morgen fand der leitende Wissenschaftler, Dr. Adam Bormann, eine Mitteilung vom VTT aus Teneriffa auf dem Tisch, die ihn zu einem Lächeln zwang. „Lächerlich“, war sein Kommentar. Was sollte das auch? Er war gewohnt, in den Fernen des Universums zu forschen, doch dieser Auftrag führte ihn in den Vorgarten der Menschheit. Er sollte mit einem der kleineren Rohre eine Sektion auf der Sonne in Augenschein nehmen. Nur widerwillig kam er dem Auftrag nach und richtete das Gerät auf die angegebene Position. Noch immer glaubte er an einen Scherz. Als er seine Augen auf den angegebenen Abschnitt richtete, begriff er jedoch sofort den Ernst der Lage. Zu deutlich und unübersehbar sah er die Anomalie auf der Oberfläche.

 

RAUMSTATION MIR, 2. OKTOBER 1996

Der neue Arbeitstag begann für Lenorev stets mit einem Überblick seines Forschungsprogramms. Da waren die Experimente in der Schwerelosigkeit, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderten. Bereits jetzt hatte er alle Langzeitaufenthalte im All gebrochen und er war sich sicher, dass er noch ein weiteres halbes Jahr hier oben hoch über der Oberfläche verbringen würde. Er arbeitete so vertieft, dass es für ihn ein regelrechter Schock war, als mehrere optische und akustische Warnsignale gleichzeitig ertönten. Besonders das Warnlicht für die Strahlungsintensität fand sein Augenmerk. Was war da los? War eine Sektion der schützenden Hülle zu lange der harten Sonnenstrahlung ausgesetzt gewesen? Das konnte nicht sein, denn zahlreiche Überwachungsgeräte sorgten dafür, dass sich die Mir gleichmäßig um ihre eigene Achse drehte. Fast parallel mit dem Signal meldete sich die Bodenstation.

„Mir, hier Bodenstation. Schalten sie unverzüglich die Sonnensegel ab und begeben sie sich in ihre Strahlenschutzkammer. Bitte bestätigen!“ Lenorev erstarrte. Warum sollte er die so lebenswichtigen Segel abschalten. Schließlich waren sie für die Energieversorgung der ganzen Station unverzichtbar. Er schwebte hinüber zur Funkstation. „Bodenstation, hier Mir. Habe ich richtig verstanden, dass ich die Segel abschalten soll?“

„Sie haben richtig verstanden. Beeilen sie sich!“ Lenorev war es gewohnt, jeden Befehl der Bodenstation zu befolgen und so tat er es auch dieses Mal. Er suchte den richtigen Schalter und drückte ihn. „Station auf Batteriebetrieb umgeschaltet“, erklang es aus dem Lautsprecher. Danach machte sich der Kosmonaut auf den Weg in die Strahlenschutzkammer der Station. Hier schützten gewaltige Bleiwände vor jeder Art von Strahlung, seien es Röntgen-, Gamma- oder UV-Strahlen. Es war jener Ort, den die Besatzung nur aufsuchte, wenn es ums Überleben ging. Nun hieß es ausharren, bis die Bodenkontrolle ihm erlaubte, wieder seiner normalen Arbeit nachzugehen. Das große Warten begann.

 

Lufthansa LH203 von New York nach Frankfurt, ebenfalls am 02. Oktober 1996

Gleichmäßig zog der schwere Airbus A300 in 12000 Metern Höhe seine Bahn in Richtung Osten. Hier hoch über dem Atlantik, jenseits der Wolken, fühlte sie Kapitän Meerbusch wohl. Das beruhigende Summen der zwei Triebwerke vermittelte ein Gefühl der Ruhe. Die Gewissheit, in einem der sichersten Flugzeuge zu sitzen, wiegte ihn in Sicherheit. Er konnte sich auf die computerunterstützten Systeme stets verlassen. Damals, als ihn die Fliegerei in seinen Bann zog, musste er noch richtig arbeiten. Da war nichts mit Fly by write oder anderen unterstützenden Hilfen, die dem Piloten viele Entscheidungen abnahmen. Damals konnte er sich nur auf sein Können und nicht auf die Technik verlassen. So saß er nun seelenruhig in seinem Cockpit, nicht ahnend, dass er diesen Flug sein Leben lang nicht vergessen würde.

 

VAKUUM-TURM-TELESKOP AUF TENERIFFA

02. OKTOBER 1996, 13.00 UHR MEZ

Die Anomalie auf der Sonne wurde jetzt von mehreren Wissenschaftlern beobachtet. Sie war in den letzten Stunden gewaltig angewachsen. Wie lange würde sie in diesem Zustand wohl noch verbleiben?, dachten alle. Was würde geschehen, wenn es zum Kollaps käme? Die Antwort auf diese Fragen sollte nicht lange auf sich warten lassen, denn um 13.10 Uhr geschah es. Hier am VTT sah man es zuerst. Der riesige Fleck zog sich innerhalb weniger Sekunden zusammen und verschwand aus dem Sichtfeld der Beobachter. Gleichzeitig registrierten die Messgeräte einen enormen Anstieg der Strahlungswerte. Die Männer und Frauen erkannten, dass es sich um einen gewaltigen Ausbruch auf der Sonne handeln musste. Da die Sektion nicht am Sonnenrand lag, konnte die Größe der Protuberanz nur erahnt werden. Nach dem, was die Systeme zeigten, musste die gewaltige Feuerfontäne gut 20 Millionen Kilometer ins All hinausgeschossen sein, wobei sie Millionen Tonnen solarer Materie mit sich riss. Der Sonnensturm raste mit nahezu Lichtgeschwindigkeit auf die Erde zu. Für eine Warnung war es jetzt zu spät. Als die Katastrophe im Teleskop sichtbar wurde, waren gut acht Minuten vergangen. Diese Zeit benötigte das Bild von der Sonne bis zu Erde. Fast zeitgleich kam der Sonnensturm auf der Erde an. Das Magnetometer, die Strahlenmessgeräte und Seismometer reagierten fast synchron und zeigten Werte an, die sich am Rande der äußersten Messskala befanden.

 

RAUMSTATION MIR, 2. OKTOBER 1996, 13.15 UHR MEZ

Lenorev bemerkte es am deutlichsten, wie gefährlich der Ausbruch war. Seine Station geriet regelrecht ins Taumeln und er wurde in seiner Strahlenschutzkammer durchgerüttelt. Ein unheilverkündendes Ächzen der Station zeigte ihm an, wie die Mir zum Spielball der Naturgewalten wurde. Doch er konnte nichts tun, sondern nur hoffen, dass die Station diesem Ansturm gewachsen war. Es dauerte Minuten, die zur Ewigkeit wurden. Dann war die Schockwelle vorbei und es wurde ruhig auf der Station.

 

STERNWARTE DES NATIONAL GEOGRAPHIC INSTITUTS MT. KILOEA AUF HAWAII, AM 02. OKTOBER 1996,

13.20 UHR MEZ

Da es vollkommen dunkel war, konnte man hier nicht direkt den Ausbruch beobachten. Dennoch reagierten die Messgeräte wie fast überall auf der Welt. Zugleich fielen kurzfristig all jene Geräte aus, die ihre Daten drahtlos übertrugen. Selbst die so angeblich sicheren Handys gaben keinen Ton mehr von sich. Die Seismografen hingegen schlugen aus wie bei einem Vulkanausbruch. Dabei hatte sich die sonst so unruhige Erde überhaupt nicht bewegt.

 

LUFTHANSAFLUG LH203, 13.20 UHR

KURZ VOR DER FRANZÖSISCHEN KÜSTE

Meerbusch wurde aus seiner Ruhe gerissen als die Auswirkungen des Sonnensturms das Magnetfeld der Erde urplötzlich veränderten und sämtliche elektronischen Geräte schlagartig beeinflussten. Das schwere Flugzeug begann durchzusacken, als die Triebwerke und die Steuerung keine Impulse mehr bekamen. Die roten Warnlichter an den Konsolen zeigten einen Totalausfall aller automatischen Systeme an. Geistesgegenwärtig reagierte er, wie er es gelernt hatte. Die Erfahrung aus vielen Tausend Flugstunden bewährte sich. Er schaltete den Autopiloten ab, um manuell weiter zu fliegen. „Verlassen sie sich nie auf die Elektronik“, hatte man ihm während des Trainings immer wieder eingebläut. Dieser Satz sollte ihn und allen anderen an Bord nun das Leben retten. Er schaltete die Kabinenwarnung ein, damit sich die Passagiere anschnallten. Danach drückte er die beiden Schubhebel für die Triebwerke in die höchste Stufe. Doch geschah zunächst nichts. Der Klipper stürzte weiterhin im Sinkflug ab. Noch zeigte der Höhenmesser gut 10.000 Meter bis zum Grund, doch selbst diese Höhe konnte hier zu ungeheuren Gefahren führen, da der jetzige Flugkorridor mit zu den am stärksten beflogenen Regionen gehörte. Wehe, wenn er auf den Gleitweg eines niedriger fliegenden Flugzeugs geriet. Die Folgen wären katastrophal.

Diese und andere Überlegungen gingen Meerbusch durch den Kopf, als er den Kampf mit der Technik aufnahm. Minuten vergingen und der Abstand zum Boden wurde immer kleiner. Dabei schmierte die Maschine nicht senkrecht, sondern in einem langgestreckten Bogen ab. Als der Höhenmesser noch knapp 3000 Meter zeigte, begannen die Bemühungen endlich, Erfolg zu zeigen. Langsam fing sich die Maschine und die Nase erhob sich. Urplötzlich meldeten sich auch sämtliche elektronischen Geräte zurück und als sich die Maschine eine Viertelstunde später anschickte, ihre ursprüngliche Flughöhe wieder zu erreichen, schien es so, als sei überhaupt nichts geschehen. Jetzt flog sie wieder, wie man es gewohnt war.

Der Sonnensturm fegte an der Erde vorbei und veränderte für kurze Zeit das Magnetfeld der Erde. In dieser Zeit fielen alle Mobilfunknetze und anderen Übermittlungssysteme, die auf Funkbasis beruhten, für kurze Zeit aus, was zu einem Chaos in der Kommunikation führte. Am nächsten Tag hörte man in den Nachrichten von dem Ereignis. Es schien ein ganz normaler Sonnensturm gewesen zu sein, wenn auch ein sehr heftiger. Der Nachrichtensprecher wies darauf hin, dass man in den folgenden Tagen auch außerhalb der Polarregionen Nordlichter sehen konnte, dies aber ein ganz natürliches Phänomen sei.

Tatsächlich schien der Himmel über London und Paris in den nächsten zwei Nächten zu brennen. Ein geheimnisvolles rotes Licht mit phosphoreszierendem grünen Schleier erhellte die Nächte. Gebannt sahen die Menschen auf das seltene Himmelsspektakel.

 

VAKUUM-TURM-TELESKOP AUF TENERIFFA: 12. JANUAR 1997

DOKTOR SOLTAU UND SEINE MITARBEITER WAREN IMMER NOCH MIT DER AUSWERTUNG DER EREIGNISSE VOM

2. OKTOBER BESCHÄFTIGT. DER UNGEWÖHNLICH HEFTIGE AUSBRUCH HATTE ALL IHRE VORHERSAGEN DURCHEINANDERGEWORFEN. BISHER HATTE MAN EINEN REGELMÄßIGEN ANSTIEG DER SONNENAKTIVITÄTEN MIT EINEM ZYKLUS VON 11 JAHREN GEHABT. ALS DER AUSBRUCH GESCHAH, BEFAND SICH DIE SONNE IN DER ABFLAUENDEN PHASE. WAR ES EIN ZUFALL, ODER WURDEN SIE ZEUGEN EINER PHASE DER VERÄNDERUNGEN? NOCH KONNTE DIE WISSENSCHAFT KEINE EINDEUTIGEN BEWEISE FÜR EINE ERHÖHTE AKTIVITÄT LIEFERN. ZWAR GAB ES NACH DEM AUSBRUCH WEITERE SONNENFLECKEN, DOCH DIESE LAGEN IN NORMALEN GRENZEN. NACH DEM BISHERIGEN WISSENSSTAND MÜSSTE DIE NÄCHSTE HOCHAKTIVE PHASE IN SIEBEN JAHREN KOMMEN. DIESER ZYKLUS WÜRDE SICH ERST IN GUT EINER MILLIARDE JAHREN VERÄNDERN. DAS LAG IN FERNSTER ZUKUNFT. TROTZDEM ARBEITETE MAN SCHON HEUTE AN DEM SZENARIO DES SONNENUNTERGANGS. NICHT UM DAS ENDE DER MENSCHHEIT VORHERZUSAGEN, SONDERN VIELMEHR, UM VERGLEICHSMODELLE ZU ERSTELLEN, DIE AUF ANDERE SONNEN IN DER NÄHE ZUTRAFEN. EIN ASTRONOMISCHER LAIE WÜRDE SICH NICHT VORSTELLEN KÖNNEN, DASS DIESE SONNEN DER ERDE GEFÄHRLICH WERDEN KONNTEN. DIE ASTRONOMEN SAHEN DAS ANDERS: WENN EIN STERN IM UMKREIS VON 1.000 LICHTJAHREN EXPLODIERTE, WÜRDE DIE ERDE IN MITLEIDENSCHAFT GEZOGEN WERDEN. DIE SCHOCKWELLEN WÜRDEN DEN PLANETEN TREFFEN UND UNVORHERSEHBARE SCHÄDEN ANRICHTEN, VIELLEICHT SOGAR DIE BAHNEN DER PLANETEN UND MONDE IM SONNENSYSTEM VERÄNDERN. JE NÄHER DER BETROFFENE STERN AM SONNENSYSTEM LAG, UMSO GRAVIERENDER DIE FOLGEN.

In dem angenommenen Umkreis gab es mehrere Kandidaten. Als besonders auffällig wurden Beteigeuze im Sternbild des Orion und Wega in der Leier eingestuft. Beide Sonnen wurden als rote Riesen bezeichnet, Sterne, die ihren Höhepunkt überschritten hatten und auf denen sich jene Veränderungen abspielten, welche die Wissenschaftler erst im besagten Zeitraum für die eigene Sonne erwarteten. Besonders Wega stellte dabei eine Gefahrenklasse erster Güte dar. Erstens war sie mit 27 Lichtjahren Entfernung nicht gerade weit von der Erde entfernt. Zweitens war Wega ein Mehrfachsternensystem, was hieß, dass sich in diesem System mehrere Sterne befanden. Bei Wega waren es sechs an der Zahl. Wenn der Hauptstern explodierte, würde er zwangsläufig die anderen fünf entweder aus ihren Bahnen reißen oder zur Reaktion zwingen. Würde Letzteres geschehen, so die Annahme der Wissenschaftler, käme es zur Entstehung einer Supernova. Der dabei entstehende Energiesturm würde wie bei einer Kettenreaktion viele Sonnen zum großen Knall zwingen. Die Kräfte würden sich ungeheuer potenzieren und im weiten Umkreis würden die Sonnensysteme vergehen. Bei einer solch verheerenden Energiemenge bestand jedoch noch eine viel größere Gefahr, die Bildung eines schwarzen Lochs, jenem Phänomen, das wie ein gigantischer Staubsauger alles an sich ziehen würde. Im Extremfall wäre die Stabilität einer ganzen Region gefährdet. Aussichten, die den Wissenschaftlern gar nicht gefielen.

Bei Beteigeuze war die Situation nicht ganz so gravierend. Zwar war auch dieser Stern ein roter Riese, aber die Entfernung von 435 Lichtjahren würde ein gewisses Zeitfenster ermöglichen. Zeit, in der man vielleicht einen Teil der Menschheit retten könnte, Zeit, um der Menschheit eine Heimat in den Weiten des Weltalls weit fort von ihrer jetzigen Welt zu suchen.

Bis es jedoch so weit war, beschloss man, sich der Entwicklung auf der heimischen Sonne zu widmen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war es, eine Beobachtungsstation so nah wie möglich in ihrer Nähe zu platzieren. Als wenn die Welt es geahnt hätte, waren bereits zwei Sonden dieser Art auf den Weg geschickt worden. Helios 1 war am 10. Dezember 1974, Helios II am 15. Januar 1976 von Florida gestartet worden. Nur die NASA verfügte über die starken Titan-Zentaur-Raketen, mit deren Hilfe es überhaupt möglich war, die fast 400 Kilogramm schweren Satelliten als vorgeschobene Beobachtungsposten der Menschheit so nah wie möglich an die Sonne zu platzieren.

Ursprünglich hatte man vorgehabt, beide Sonden nur zur Strahlungsmessung einzusetzen, um so neue Erkenntnisse über die Struktur und die Funktionsweise der Sonne zu gewinnen. Jetzt sollten sie auch optische Eindrücke und Bilder von der Hölle am Himmel übertragen. Als man die ersten Bilder von Helios I am 15. März 1975 aus einer Sonnenentfernung von „nur“ 48 Millionen Kilometern erhielt, war man bereits euphorisch und feierte die Mission als großen Erfolg. Man beschloss, in Abweichung zum ursprünglichen Plan, die Schwestersonde noch näher an die Sonne zu bringen. Ende April 1976 passierte Helios II den sonnennächsten Punkt in einer Entfernung von 45 Millionen Kilometern. Bis zum heutigen Tage arbeiteten beide Sonden absolut zuverlässig, obwohl sie doch weit näher an der Sonne waren als der nächste Planet Merkur, der in einer Entfernung von 57,9 Millionen Kilometern zur Sonne seine Bahn zog.

 

MAX-PLANCK-INSTITUT BERLIN, MITTE MÄRZ 1997

Auf diese beiden Kundschafter setzte Soltau seine ganze Hoffnung. Es wurden Verbindungen zur NASA geschaltet, damit die Daten der beiden Sonden direkt in das Max-Planck-Institut geschickt werden konnten. Als Leiter des Projekts sollte Soltau mit seinem Mitarbeiterstab aus Teneriffa fungieren.

Als der Professor die Bilder von der Oberfläche sah, bekam er Dinge zu sehen, die nie zuvor in dieser Klarheit und Auflösung zur Erde gesandt wurden. Das Großteleskop auf dem Tejo schaffte es, Objekte bis 100 Kilometer aufzulösen. Die Sonden hingegen brachten es auf eine Größe von knapp 10 Kilometern. Ein Grund hierfür lag an der fehlenden Atmosphäre der Erde, die einein Großteil des Lichtes abfing. Soltau sah zahlreiche kleine Flecken, die sich immer wieder vereinten und zu größeren Gruppen zusammenschlossen, bis sie zu einem großen Einbruch auf der Sonne wurden. Aus diesen so entstandenen Klüften wurde Energie aus dem Innern der Sonne in die Korona geleitet. Die Wissenschaftler verstanden erstmals die Zusammenhänge zwischen der relativ kühlen Sonnenoberfläche und dem heißen Gasring rund um die Sonne. Die Verbindung zwischen den beiden Komponenten musste mit den Sonnenflecken zusammenhängen, denn die Wissenschaftler hatten festgestellt, dass jedes Mal, wenn ein solcher Fleck in sich zusammenfiel, die Temperatur in der Korona schlagartig anstieg. Um die Bestätigung für diese Theorie zu bekommen, musste man zwangsläufig auf den nächsten Kollaps warten.

Am 18. März kam es zu einem solchen Zusammenbruch. In der Region ER664 am oberen linken Rand des Gestirns hatte sich zunächst eine Anzahl von Flecken gebildet, die sich, wie schon so oft beobachtet, zu einem großen Fleck vereinten. Soltau war der sicheren Überzeugung, dass dieser Fleck innerhalb weniger Stunden in sich zusammenbrach. Seine Vorhersage bestätigte sich. Er und sein Stab wurden Zeugen, wie sich der Einbruch vollzog. Wenige Minuten später meldete Helios II einen Anstieg der Temperatur in der Gashülle innerhalb des gleichen Sektors. Der Beweis für den Zusammenhang war erbracht. Was aber waren die Sonnenflecken nun ganz genau?, fragte sich Soltau. Bisher war man der Annahme gewesen, die Flecken entständen durch Abkühlung innerhalb eines engen Bereichs auf der Sonne. Diese Abkühlung wurde optisch als dunkler Fleck sichtbar. Als Soltau die Temperaturen im Zusammenbruch im Sektor ER664 nochmals studierte, fand er Erstaunliches. Tatsächlich schien rund um den Fleck eine gewisse Kälte zu sein. Im Zentrum jedoch bildete sich wenige Sekunden vor dem Verschwinden des Flecks ein Hitzering. Es schien so, als ob mit dem Kollaps ein Energieschub aus dem Innern des Gestirns durch das Zentrum des Flecks in die Korona geleitet wurde. Durch diese Erkenntnis bekamen die Flecken eine vollkommen andere Bedeutung. Sie schienen eine Art Kamin zu sein, der heiße Gase ableitete. Je mehr Sonnenflecken also zu sehen waren, umso mehr Energie wurde von der Sonne in den Gasring geleitet und dieser aufgeheizt. Kam es nun zu einer Energieübersättigung, so entstanden die gigantischen Fackeln, die Protuberanzen.

Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse, ergab sich ein vollkommen anderes Bild der Sonne und der Flecken. Was aber war der Grund für die Bildung der Flecken? Diese Frage konnte der Stab nicht beantworten. Sie beschäftigten sich mehr als Astronomen und kannten daher nur Teilbereiche. So wusste man, dass die Sonne aus zwei Hauptkomponenten bestand, Wasserstoff und Helium. Beide Elemente wurden durch den ungeheuren Druck der Sonne zusammengepresst und erhitzt. Ab einer bestimmten Wärme wurden die Atome verschmolzen. Es kam zur Kernfusion, wodurch Heliumkerne in Wasserstoffatome und umgekehrt umgewandelt wurden. Die hierbei freigesetzte Energie war der Motor des Sterns. Bei einem gleichmäßigen Anteil der beiden Bestandteile würde die Sonne noch Milliarden von Jahre Energie abstrahlen können. Erst wenn ein Element überwog, käme der Haushalt durcheinander und die Sonne bekäme ein anderes Gesicht. Könnte es sein, so fragten sich die Wissenschaftler, dass ein Fehler in diesen Vermutungen steckte? Was wäre, wenn bereits heute, in der Gegenwart, der Zeitpunkt gekommen wäre, da genau dieses für die Zukunft gedachte Modell auf der Sonne eingetreten war? Um diese Frage zu lösen, konsultierte Soltau die Kernspezialisten in der Kernforschungsanlage in Jülich.

 

KERNFORSCHUNGSANLAGE JÜLICH, MITTE MAI 1997

Hier arbeitete die Firma Siemens an einem kühnen Plan. Sie wollten mittels kontrollierter Kernfusion ein neues Zeitalter in der Energieversorgung aufschlagen. Bisher kannte man nur die unkontrollierte Fusion beim Zünden von H-Bomben. H-Bomben wiesen gegenüber der normalen Atombombe eine Besonderheit auf. In ihr wurde Wasserstoff mittels Kernspaltung von Uran zur Reaktion gezwungen. Das dabei entstehende Element Helium entsprach genau der Komponente, wie sie auch auf der Sonne vorkam. Wie verheerend die Wirkung einer solchen Bombe war, welch ungeheure Energie kurzfristig freigesetzt wurde, davon zeugten zahlreiche Krater auf den Atollen im Pazifik, wo man diese Bomben gezündet hatte. Obwohl die Fusion nur wenige Sekunden aufrechterhalten wurde, verbrannte die entstehende Hitze alles im weiten Umkreis. Durch den Einsatz von Uran als Zünder gab es jedoch einen äußerst radioaktiven Niederschlag, den Fallout.

Durch ihn wurde die Wirkung der Bomben zusätzlich verstärkt. Überall dort, wo man diese Tests durchgeführt hatte, durfte niemand über Jahrzehnte den Boden betreten. Dass die umgesiedelten Bewohner der Inseln trotzdem zurückkehrten, nahm man stillschweigend in Kauf. Boten sie doch zugleich eine Art Versuchsmäuse für die Auswirkungen nach dem Atomschlag.

In Jülich hingegen wollte man keine neue Waffe entwickeln, sondern einzig und allein den Fusionsprozess nutzen, um eine neue Energiequelle zu haben. Ziel war es, die Fusion in einem geschlossenen Areal über lange Zeit aufrechtzuerhalten, um die dabei entstehende Wärme wie bei jedem anderen Kraftwerk in Energie umzuwandeln. Würde dies gelingen, so brauchte man nur noch ein einziges Kraftwerk für den ganzen Kontinent, selbst wenn sämtliche Haushalte das drei- bis vierfache an Strom verbrauchten. Mit der Fusionstechnik wäre das Problem schlagartig gelöst und der Menschheit stände eine Quelle zur Verfügung, wie man sie nur aus utopischen Romanen kannte. Zu diesem Zwecke war ein Reaktor entwickelt worden, in welchem Experimente im Hochtemperaturbereich durchgeführt werden konnten: der Block A.

Hier arbeitete und forschte man mit unvorstellbaren Energien. Da selbst Stahlbeton den zu erwartenden Gewalten nur Bruchteile von Sekunden standhielt, wurde bei jedem neuen Versuch zunächst ein Energiefeld aufgebaut, das sich wie eine Kugel um den Kern des Spaltmaterials schloss. Die hierfür benötigten Kräfte leitete man sinnvollerweise vom Block B des Kraftwerks direkt in den Reaktor. Sobald das Feld stabil war, begann man mit dem Erhitzen vom Wasserstoff. Schon des Öfteren war man dabei an die Grenzen gestoßen und der Versuch aus Sicherheitsgründen abgebrochen worden. Nur ein einziges Mal gelang es bisher, die erforderlichen 100 Millionen Grad Wärme für Bruchteile von Sekunden zu erreichen. Dabei gelang für wenige Millisekunden die Fusion. Danach brach das Feld zusammen und der Reaktor wurde vollkommen isoliert. Doch bereits jetzt konnte man ablesen, wie groß der Erfolg gewesen war. Die Energie für die Erwärmung und Stabilisierung des Systems war mehrfach zurückgewonnen worden und in das normale Stromnetz eingeflossen.

Als Soltau mit seinen Fragen die dortigen Wissenschaftler konsultierte, fand man recht schnell Interesse an der gestellten Aufgabe und versprach die volle Unterstützung. Die Mannschaft in Jülich begann dort, wo man zuletzt aufgehört hatte, der kurzzeitigen Fusion. Im Laufe von Monaten erstellte man Berechnungen und Modelle über das geschilderte Phänomen.

 

WESTEUROPA, 11. AUGUST 1999

Bereits Tage zuvor gab es kein anderes Thema in den Medien. Nach langer Zeit sollte sich an diesem Tag die Sonne über Europa verfinstern. Im Vorfeld des Ereignisses brachten fast alle Fernsehsender ausführliche Berichte und Reportagen. In einigen der öffentlich-rechtlichen Anstalten verfolgte man die Bedeutung einer solchen Finsternis bis in die Anfangszeit der Menschheit und deren Auswirkungen zurück. Sonnenfinsternisse galten seit jeher als böses Omen für die Zukunft. Viele Seher nutzten sie für ihre düsteren Vorhersagen. Oft wurde mit diesem Ereignis das Ende der Menschheit und das Ende aller Tage prophezeit. Die Kirchen der verschiedensten Regionen fanden in der Erscheinung ihren Gefallen und gutgläubige Menschen strömten in Scharen zu ihnen, um ihren Predigern zuzuhören. Dabei gab es wirklich nichts Schlimmes an einer Finsternis. Wäre da nicht die Angst vor dem Verschwinden des Tagesgestirns für alle Zeiten, man hätte sie mehr oder weniger als wunderschönes und einmaliges Schauspiel genossen.

Selbst heute noch, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, war die Faszination geblieben. Clevere Geschäftsleute sahen hier eine Möglichkeit, rasch sehr viel Geld mit Finsternisbrillen aller Art zu verdienen. Gerade in den letzten Tagen kam es zu Hamsterkäufen dieser Art und jene, die versuchten noch kurz vor dem Ereignis eine Brille zu ergattern, mussten feststellen, wie die Preise sich mehr als verzehnfachten. Dieser Trend wurde von den Medien zusätzlich geschürt, da man allerorts darauf hinwies, wie gefährlich der ungeschützte Blick in das Tagesgestirn sei. Selbst Schweißbrillen waren der ungeheuren Helligkeit nicht gewachsen und praktisch nutzlos.

Die großen Teleskope und Fernsehkameras wurden mit speziellen Aluminiumfiltern versehen, um so der Finsternis ein Stück näher zu rücken und den Menschen einen unvergessenen Einblick in die Hölle am Himmel zu verschaffen. In der schmalen Zone absoluter Totalität strömten unzählige Menschen zusammen, um das Ereignis zu erwarten. Viele von ihnen wurden jedoch enttäuscht, da ausgerechnet mit Beginn der Verdunkelung dicke Wolken den ungetrübten Blick zum Himmel verschleierten. Mehr Glück hatten jene, die sich in den Bereichen der Teilfinsternis versammelten. Hier gab es an vielen Stellen einen strahlend blauen Himmel ohne jede Beeinträchtigung. In Deutschland reagierten die Medien rasch und stellten ihre Übertragungsfahrzeuge dort auf. Zwar gab es keine vollkommene Finsternis, dennoch waren die Menschen mehr als begeistert, als um 10.03 Uhr das Schauspiel begann.

Als der Höhepunkt um 13.15 Uhr erreicht war, sahen viele Menschen in der Totalitätszone zum ersten Male den die Sonne umgebenden Gasring in seiner vollen Schönheit. Als die Korona erschien, reagierten sie je nach Gesinnung euphorisch und voller Begeisterung, oder mit einem stillen andächtigen Erstaunen. Hier und jetzt konnten Medien und Wissenschaftler tief in die Seele der Menschen schauen. Viele hätten den kurzen Zeitraum der vollkommenen Finsternis gerne verlängert und genossen daher die entscheidenden drei Minuten in jeder Sekunde aus. Nur wenige, die es sich leisten konnten, hatten sich ein Ticket für einen Überschallflug mit der Concorde besorgt. Die Sonderflüge waren binnen kürzester Frist ausverkauft gewesen. So verfolgten Wissenschaftler und Laien das Schauspiel über Stunden hinweg, während das Flugzeug in zwanzigtausend Metern Höhe exakt der Erddrehung folgte.

Auch Soltau und sein Team nahmen eine solche Gelegenheit wahr. Für das Max-Planck-Institut war eine eigene Maschine reserviert und mit zahllosen Messinstrumenten ausgestattet worden. Zunächst erfreuten sich die Wissenschaftler an dem Naturschauspiel, doch kurz bevor das Ende des Fluges erreicht wurde, machte einer der Mitarbeiter eine Entdeckung, die alle anderen sofort an die Sichtgeräte beorderte. Am oberen Rande der verdecken Sonne hatte er eine gewaltige Protuberanz ausgemacht, die sich weit über die Grenze des Gasrings wie eine Hand in den Himmel schob. Soltau war verblüfft, denn trotz intensiver Beobachtung hatte er diesen Ausbruch nicht vorhersagen können. Im Gegenteil. Die Sonnenflecken auf der erdzugewandten Seite waren endlich weniger geworden. Es blieb nur eine Erklärung. Auf der abgewandten Seite musste sich ein ungeheurer Fleck entwickelt haben und kollabiert sein. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Die Entwicklung der Zone musste binnen weniger Tage geschehen sein, denn sonst hätte man ihn entdecken müssen, da durch die Eigenrotation des Gestirns diese Zone hätte sichtbar sein müssen. Die Heftigkeit des Ausbruchs und die Entstehung der Gaszunge mussten gigantisch sein. So etwas hatte man bisher nicht gesehen. Was war los mit der Sonne? Soltau fand keine Erklärung und hoffte, dass Jülich recht bald mit einer einleuchtenden Theorie aufwarten würde.

 

KERNFORSCHUNGSANLAGE JÜLICH AM 19. NOVEMBER 1999

FAST ZWEI JAHRE WAREN SEIT DER ANFRAGE AUS BERLIN VERGANGEN. ZU BEGINN DES FORSCHUNGSAUFTRAGES HATTE MAN ZAHLREICHE ERKENNTNISSE, ABER KEINERLEI BEWEISE FÜR DAS VERHALTEN DER SONNE GEFUNDEN. UM ZU EINEM ERGEBNIS ZU GELANGEN, BESCHRITT MAN EINEN NEUEN WEG. WIE IM DUNKELN TASTETE MAN SICH VOR UND SO WIE EINST DIE FORSCHER BETRATEN SIE NEULAND IN DER KERNFORSCHUNG. DIE WISSENSCHAFTLER MODIFIZIERTEN DAS VERHÄLTNIS VON HELIUM UND WASSERSTOFF NEU UND KONSTRUIERTEN SO EIN VERÄNDERTES BILD. ALS MAN DEN HELIUMANTEIL UM NUR 3 % ERHÖHTE, STELLTEN SIE EINE ERSTAUNLICHE REAKTION FEST. DIE MODELLHAFTE SONNE BEGANN, RASCH ABZUKÜHLEN. ES BILDETEN SICH KÄLTEZONEN AUS, DIE IM FORTSCHREITENDEN STADIUM DIE FUSION VOLLKOMMEN ZUM ERLIEGEN BRACHTEN. NUN ÜBERTRUGEN DIE MÄNNER UND FRAUEN DAS ERGEBNIS AUF DIE SONNE. TATSÄCHLICH BEGANN DER COMPUTER, IM VIRTUELLEN BILD VERSTÄRKT SONNENFLECKEN DARZUSTELLEN. GENAU VON DIESEM EREIGNIS HATTE MAN IHNEN IN BERLIN BERICHTET. WIE IM ZEITRAFFER VERÄNDERTE SICH DIE OBERFLÄCHE DES MODELS UND DIE EINST HELLE OBERFLÄCHE WURDE ZU EINER SCHWARZEN KRUSTE, DIE KAUM NOCH EINEN ENERGIEAUSSTOß ZULIEß. AM ENDE DES PROZESSES BRACH DIE UMGEBENDE GASHÜLLE ZUSAMMEN UND DIE SONNE VERFINSTERTE SICH. WAS MILLIARDEN VON JAHREN DAUERTE, SPIELTE SICH INNERHALB WENIGER MINUTEN AB. SOWEIT WAR DAS EXPERIMENT GELUNGEN, DOCH HATTE IHNEN SOLTAU NICHT VON UNGEHEUREN AUSBRÜCHEN AUF DER SONNE BERICHTET? DIESE KOMPONENTE KAM BEI EINEM HELIUMÜBERSCHUSS NICHT VOR. WAS ALSO, SO ÜBERLEGTE MAN WEITER, WÜRDE GESCHEHEN, WENN MAN DEN UMGEKEHRTEN WEG EINSCHLUG UND DEN WASSERSTOFFANTEIL ÜBERMÄßIG ERHÖHEN WÜRDE?

OHNE LANGE ZU ZÖGERN, GAB MAN DIE NEUEN DATEN IN DAS SYSTEM EIN UND WARTETE DARAUF, DASS DER RECHNER DAS BILD ANZEIGT. EINIGE MINUTEN VERGINGEN. DANN ERSCHIENEN ABERMALS DIE SONNENFLECKEN. BIS HIERHER STIMMTE SCHON EINMAL DAS BILD. ZUSÄTZLICH BILDETE DAS MODELL JEDOCH RIESIGE FACKELN AUS, DIE INS ALL SCHOSSEN. GENAU VON DIESEM PHÄNOMEN HATTE SOLTAU BERICHTET. MAN WAR AUF DER RICHTIGEN SPUR. DIE VERÄNDERUNGEN AM BILDSCHIRM GINGEN WEITER. WAS NUN KAM, ERSCHRECKTE DIE WISSENSCHAFTLER. DAS MODELL BEGANN, SICH AUFZUBLÄHEN, UM SICH KURZE ZEIT SPÄTER ZU VERKLEINERN. WAR DAS DAS ENDE? NEIN, DENN DER STERN BLÄHTE SICH ERNEUT AUF. LANGSAM ENTWICKELTE SICH EIN RHYTHMUS ZWISCHEN AUFBLÄHEN UND ZUSAMMENZIEHEN. EINE ART PULS BILDETE SICH, DER LANGSAM ABER STETIG IMMER SCHNELLER WURDE. DANN KURZ VOR DEM ENDE MACHTE DIE SONNE EINE WEITERE VERÄNDERUNG DURCH. DAS PULSIEREN HÖRTE AUF UND DER GASBALL WUCHS SICHTBAR AN, OHNE SICH ERNEUT ZUSAMMENZUZIEHEN. DABEI VERFÄRBTE ER SICH INS RÖTLICHE. AUCH DIESER PROZESS SETZTE SICH GERAUME ZEIT FORT, BIS DAS MODELL TAUSENDMAL GRÖßER WAR ALS ZUM ZEITPUNKT DES GLEICHGEWICHTS. NUN WARTETEN DIE WISSENSCHAFTLER AUF DAS ENDGÜLTIGE ENDE. ALS ES KAM, EXPLODIERTE DER STERN REGELRECHT UND STIEß SEINE GESAMTE OBERFLÄCHE AB. DER REST FIEL IN SICH ZUSAMMEN, BIS SICH EIN WINZIGER BALL VON UNGEHEURER DICHTE GEBILDET HATTE. DIESER GLÜHTE LANGSAM AUS. WAR ES DAS, WAS DER SONNE BEVORSTAND? WAREN ALLE BISHERIGEN PROGNOSEN EIN IRRTUM GEWESEN? ES HATTE DEN ANSCHEIN. UM DEN ENDGÜLTIGEN BEWEIS FÜR DAS SZENARIO ZU ERHALTEN, BLIEB NUR EINE EINZIGE WAHL. MAN MUSSTE DIE BEOBACHTUNGEN AUS DEM VERSUCH MIT DEN TATSÄCHLICHEN AKTIVITÄTEN DES GESTIRNS VERGLEICHEN.

WENN NUR WENIGE DER BERECHNUNGEN UND VORAUSSAGEN EINTREFFEN WÜRDEN, HÄTTE MAN GEWISSHEIT.

 

MAX-PLANCK-INSTITUT BERLIN, 22. DEZEMBER 1999

DAS TEAM AUS BERLIN UND JÜLICH SAß VOR EINEM GROßPROJEKTOR IN EINEM DER HÖRSÄLE DER ANGESCHLOSSENEN UNIVERSITÄT. GEBANNT UND SCHWEIGEND VERFOLGTEN SIE DIE VORFÜHRUNG. NIEMAND DER ANWESENDEN VERMOCHTE SICH DEN ÄUßERST REALEN BILDERN ZU ENTZIEHEN. ZU FANTASTISCH, ZU EINDRINGLICH WAREN DIE EINDRÜCKE DER VORFÜHRUNG. ALLEIN DIE VORSTELLUNG, DASS ES GESCHEHEN KÖNNTE, BERÜHRTE DIE ANWESENDEN. WAS WÄRE, WENN SICH DAS GESEHENE TATSÄCHLICH EINES TAGES IN DIESER FORM ABSPIELEN WÜRDE? SAH MAN HIER DAS ENDE DER MENSCHHEIT BEREITS VORWEG? WIE WÜRDEN DIE MENSCHEN REAGIEREN, WENN SIE ERFAHREN WÜRDEN, DASS DER EXITUS BEVORSTAND? DIESE UND VIELE ANDERE FRAGEN BEWEGTEN DIE MÄNNER UND FRAUEN. AM ENDE DER VORFÜHRUNG HERRSCHTE BEDRÜCKENDE STILLE. ES WAR SCHWER, SICH VORZUSTELLEN, DASS ES SO SEIN KÖNNTE. DAS MODELL SCHIEN ZU REAL, ALS DASS ES EINFACH ALS FIKTION ABGEHAKT WERDEN KONNTE. EINER DER MÄNNER AUS JÜLICH ÜBERLEGTE KURZ, BEVOR ER SEINE PROGNOSE ABGAB. „NACH UNSEREN JETZIGEN BERECHNUNGEN BLEIBEN UNS KNAPP 200 JAHRE, BIS ALLES LEBEN AUF DER ERDE UNTERGEHT. SOLLTE SICH DER PROZESS JEDOCH BESCHLEUNIGEN UND EREIGNISSE EINTRETEN, DIE WIR BISHER IN UNSEREM MODELL NICHT BERÜCKSICHTIGT HABEN, KÖNNTE DIE ZEITSPANNE NOCH KÜRZER SEIN.“

„WAS MEINEN SIE MIT EREIGNISSE?“, FRAGTE SOLTAU NACH.

„WIR HABEN ZUM BEISPIEL DIE AUSWIRKUNGEN AUF DAS ERDMAGNETFELD, BEGLEITENDE KLIMAVERÄNDERUNGEN, DYNAMIK DER ERDROTATION, VERÄNDERUNGEN INNERHALB DER UMLAUFBAHNEN DER ANDEREN PLANETEN UND VIELES ANDERE NICHT BERÜCKSICHTIGT, SONDERN UNS AUSSCHLIEßLICH AUF DIE VERÄNDERUNGEN DER SONNE KONZENTRIERT. ALLE ANDEREN MÖGLICHKEITEN BERGEN ZU VIELE UNSICHERHEITEN UND MÜSSTEN NACHTRÄGLICH EINGEARBEITET WERDEN. DAS JEDOCH IST NICHT UNSER FACHGEBIET. WIR SIND KERNFORSCHER UND KEINE GEOLOGEN, BIOLOGEN ODER ASTRONOMEN. UM EIN WIRKLICH GENAUES BILD DER VERÄNDERUNGEN ZU BEKOMMEN, MÜSSTEN SICH WELTWEIT ALLE ANDEREN FACHRICHTUNGEN AN DEM PROJEKT BETEILIGEN. NUR WENN ALLE MÖGLICHKEITEN AUS DIESEN BEREICHEN MIT IN DAS SZENARIO EINFLIEßEN, LÄSST SICH DER TATSÄCHLICHE ZEITPUNKT BIS AUF EIN PAAR JAHRE GENAU BERECHNEN.“

DIESER AUSSAGE KONNTE SOLTAU NUR ZUSTIMMEN. ZUGLEICH SAH ER VOR SEINEM GEISTIGEN AUGE EINE UNGEHEURE AUFGABE. ERSTMALIG IN DER GESCHICHTE DER WISSENSCHAFT WÜRDEN ALLE FACHBEREICHE, EGAL IN WELCHER SPARTE SIE AUCH ANGESIEDELT WAREN, ZUSAMMENARBEITEN, DAMIT DAS BILD KLAR WÜRDE. EIN GIGANTISCHES NETZWERK SAMMELTE ALLE VERFÜGBAREN INFORMATIONEN FÜR NUR DIESEN EINEN ZWECK, DEN TAG ZU BESTIMMEN, DA SICH DIE MENSCHEN EINE NEUE HEIMAT SUCHEN MÜSSTEN! SOLTAU BESCHLOSS NOCH AM SELBEN TAGE, DIE WICHTIGSTEN ENTSCHEIDUNGSTRÄGER ÜBER DIE GEWONNENEN ERKENNTNISSE ZU INFORMIEREN. ES WAR KEINE ZEIT MEHR FÜR GROßE REDEN, SONDERN FÜR TATEN. BEVOR ER SICH ERHOB, UM SOFORT DAMIT ZU BEGINNEN, STELLTE ER KLAR, DASS DIE GEZEIGTEN EREIGNISSE AUF KEINEN FALL AN DIE ÖFFENTLICHKEIT GELANGTEN. EINE PANIK VON NIE DA GEWESENEM AUSMAß WÄRE DIE FOLGE. SEKTEN ALLER RICHTUNGEN WÜRDEN DIE ENTSTEHENDE MASSENHYSTERIE ZU IHREN GUNSTEN AUSNUTZEN. VERBRECHEN, PLÜNDERUNGEN, MORD UND ANARCHIE WÄREN DIE FOLGEN. ALLE SICHERUNGSSYSTEME, ALLE MORALISCHEN BEDENKEN WÜRDEN MIT EINEM MALE HINWEGGEFEGT. ALLEIN DER GEDANKE DARAN ZEICHNETE DIE DÜSTERSTEN VISIONEN. DIES UM JEDEN PREIS ZU VERHINDERN, WAR VORRANGIG. DIE NATÜRLICHEN AUSWIRKUNGEN KONNTE MAN NICHT AUFHALTEN, WOHL ABER ALLES ANDERE. DENNOCH FRAGTE SICH SOLTAU, WIE ER DIE GEWÄHR ÜBERNEHMEN KONNTE, DASS ALLES UNTER DEN FACHLEUTEN BLIEB. KONNTE ER DEN VERANTWORTLICHEN POLITIKERN TRAUEN? WÜRDEN NICHT AUCH SIE VERSUCHEN, AUS DEM BEVORSTEHENDEN EREIGNIS IHRE VORTEILE ZU ZIEHEN? WIE OFFEN SOLLTE ER SEINE ANNAHMEN DARLEGEN UND WAS WÄRE, WENN SICH DIE WISSENSCHAFTLER TROTZ ALLER MODELLE GEIRRT HATTEN? MÜSSTE MAN NICHT DEN IRRTUM DER VERGANGENHEIT EINGESTEHEN, UM DIE NEUEN TATSACHEN ZU AKZEPTIEREN? DIESE UND VIELE ANDERE FRAGEN JAGTEN MIT LICHTGESCHWINDIGKEIT DURCH SEIN GEHIRN, WÄHREND ER SICH MIT DEN VORBEREITUNGEN AUF DAS TREFFEN MIT DEN POLITIKERN BEFASSTE. WAS SOLLTE ER TUN? WAS WAR RICHTIG, WAS FALSCH? SOLTAU WUSSTE ES NICHT.

 

BÜRO DR. SOLTAU, AM 23. DEZEMBER 1999

DIE MEISTEN POLITIKER WAREN BEREITS IN DIE WINTERFERIEN ENTLASSEN WORDEN. DIE LETZTE GROßE SITZUNG DES ABLAUFENDEN JAHRTAUSENDS HATTE MIT EINEM RÜCKBLICK AUF DAS GESCHAFFENE GEENDET. MIT NEUEM MUT UND DEN BESTEN WÜNSCHEN FÜR DIE KOMMENDEN AUFGABEN WAR MAN FORTGEFAHREN UND NUR EINIGE WENIGE STAATSBEAMTE SORGTEN FÜR DIE AUFRECHTERHALTUNG DER WICHTIGSTEN FUNKTIONEN ZWISCHEN DEM JAHRESWECHSEL. DR. SOLTAU BEKAM ES SEHR DEUTLICH ZU SPÜREN, WAS ES HIEß, WENN DIE STAATSFÜHRUNG LIEBER FEIERTE, ALS SICH AUSGERECHNET UM SEINE ANGELEGENHEITEN ZU KÜMMERN.

„DAS HAT DOCH BIS ZUM NÄCHSTEN JAHR ZEIT“, WAR DIE GELÄUFIGE ANTWORT, ALS ER VERSUCHTE, SEIN ANLIEGEN VORZUBRINGEN. JE ÖFTER SOLTAU DIE VERSCHIEDENEN NUMMERN ANRIEF, UMSO MEHR VERFINSTERTE SICH SEIN GEMÜT. NIEMAND WOLLTE ANGESICHTS DES JAHRTAUSENDWECHSELS MIT SCHLECHTEN NACHRICHTEN KONFRONTIERT WERDEN. ES SCHIEN, ALS SCHLIEßE MAN NICHT NUR EIN JAHRHUNDERT, SONDERN AUCH EIN KAPITEL DER MENSCHHEITSGESCHICHTE MIT DEM DATUM AB. MAN WOLLTE EIN SIGNAL FÜR DEN NEUANFANG SETZEN. MIT DEM AUFBRUCH INS DRITTE JAHRTAUSEND NACH DEM GREGORIANISCHEN KALENDER SAHEN VIELE POLITIKER IHRE MÖGLICHKEIT, SICH WIEDER EINMAL WERBEWIRKSAM ZU PROFILIEREN. SEIT MONATEN HATTEN DIE REDENSCHREIBER FORMULIERT, UM IHREN VORGESETZTEN WORTE IN DEN MUND ZU LEGEN, DIE BEI DER BEVÖLKERUNG ANKAMEN. HYMNEN MIT EUPHORISCHEM INHALT WURDEN VERFASST, UM DAS VOLK IN EINEN TAUMEL DER BEGEISTERUNG ZU FÜHREN. IN DIESES KONZEPT PASSTEN DIE SCHLECHTEN NACHRICHTEN DER ASTRONOMEN NICHT HINEIN UND WURDEN DAHER ALS UNLIEBSAME ERSCHEINUNG BEISEITE GEDRÄNGT. NEIN, BLOß KEINE KATASTROPHEN IN DIESER SENSIBLEN ZEIT. ALLES NUR NICHT DAS.

NACH VIELEN STUNDEN UND ZAHLREICHEN AUSREDEN ERKANNTE SOLTAU, DASS DER SO NICHT WEITERKAM. ES HATTE KEINEN SINN MEHR, SICH ÜBER DIE STURHEIT DER BEAMTEN AUFZUREGEN. SO BESCHLOSS ER, SEINE BEMÜHUNGEN AUFZUGEBEN UND HOFFTE DARAUF, DASS ES IN DEN NÄCHSTEN TAGEN KEINE KOSMISCHEN HIOBSBOTSCHAFTEN AUS DEM ALL GEBEN WÜRDE.

Das neue Jahrtausend begann und aus dem anfänglichen Optimismus wurde recht bald Gleichgültigkeit. Es gab nichts, was darauf hindeutete, dass sich etwas Besonderes ereignen würde.

 

BUNDESKANZLERAMT BERLIN, AM 04. JANUAR 2000

Die Sonne hatte sich tatsächlich nicht mehr weiter verändert. Zwar gab es noch immer große Ausbrüche, die sich aber im normalen Rahmen der aktuellen Entwicklung bewegten. Es schien so, als hätte die Natur der Menschheit einen kleinen Aufschub geschenkt. Dass dies die Ruhe vor dem Sturm war, wussten nur die Eingeweihten. Jederzeit konnte es zu einem großen Knall kommen, dachte Soltau. Daher war er froh, als er nun, nachdem man das Großereignis der Datumswende gefeiert hatte, endlich für sein Anliegen Gehör fand. „Wann können sie im Kanzleramt sein?“, wurde er gefragt. Soltau fiel nur ein Wort ein, um die Ernsthaftigkeit der Situation zu beschreiben. „Sofort!“, hatte er geantwortet. „Dann machen sie sich auf den Weg. Wir erwarten sie innerhalb der nächsten Stunden in Berlin!“, wurde ihm entgegnet. Angesichts der Eile hatte Soltau im Vorfeld schon alle Unterlagen zusammengestellt und brauchte nur noch seinen unscheinbaren Koffer zu nehmen, um sich auf den Weg zu machen. Niemand würde ihn und seinen kleinen Koffer beachten, dachte er als er das Flugzeug bestieg.