Die Geschichte Karls XII., Königs von Schweden

 

Vorrede Voltaires zur Ausgabe von 1748

Erinnern wir uns, dass nach Aristoteles die Ungläubigkeit die Grundlage aller Weisheit ist. Dieser Satz sollte ein Leitfaden für jeden sein, der die Geschichte liest, besonders die alte Geschichte.

Wie viele abgeschmackte Erzählungen, welch eine Menge von Fabeln schlagen dem gesunden Menschenverstande ins Gesicht! Nun denn, so glaubt eben nicht daran!

Es hat in Rom Könige, Konsuln, Dezemvirn gegeben, die Römer haben Karthago zerstört; Cäsar hat den Pompejus besiegt – alles das ist wahr. Wenn man euch aber erzählt, Kastor und Pollux hätten für dieses Volk gekämpft; eine Vestalin habe mit ihrem Gürtel ein auf den Sand geratenes Schiff wieder flott gemacht; ein Abgrund habe sich geschlossen, als Curtius sich hineinstürzte, so glaubt es nicht. Ihr leset überall von den Wundern, von den eingetroffenen Prophezeiungen, den wunderbaren Heilungen in den Tempeln des Äskulap – glaubt es nicht! Aber hundert Zeugen haben das Protokoll über diese Wunder auf erzenen Tafeln unterzeichnet, die Tempel waren voll von Votivtafeln, welche die Heilungen beurkundeten. Glaubt, dass es Dummköpfe und Spitzbuben gab, die bezeugten, was sie nicht gesehen haben. Glaubt immerhin, dass fromme Leute den Priestern Äskulaps ein Geschenk machten, wenn ihre Kinder von einer Erkältung genasen, glaubt aber ja nicht an die Wunder Äskulaps, sie sind ebenso wenig wahr, wie die des Jesuiten Xavier, dem ein Seekrebs sein Kreuz vom Grund des Meeres wieder heraufbrachte und der sich zugleich auf zwei Schiffen befunden haben will.

Aber die ägyptischen Priester waren ja alle Zauberer und Herodot bewundert ihre tiefe Wissenschaft in allen Teufelskünsten? Glaubt nicht alles, was Herodot sagt.

Ich misstraue allem, was als Wunder auftritt. Darf ich aber die Ungläubigkeit so weit treiben, dass ich auch Tatsachen bezweifle, die zwar nicht über die Ordnung menschlicher Dinge hinausgehen, denen es aber an innerer Wahrscheinlichkeit gebricht?

So versichert Plutarch zum Beispiel, Cäsar sei ganz in Waffen in das Meer von Alexandrien gesprungen, habe dabei in der einen Hand Papiere gehalten, die er nicht nass werden lassen wollte, und sei mit der andern geschwommen. Glaubt keine Silbe von diesem Märchen des Plutarch; glaubt Cäsaren selbst, der in seinen Kommentarien kein Wort davon sagt; und seid überzeugt, dass wenn einer mit Papieren in der Hand ins Wasser springt, er sie auch nass macht.

Ihr findet in Quintus Curtius, Alexander und seine Generale seien über die Ebbe und Flut des Ozeans erstaunt gewesen, die sie nicht gekannt hätten. Glaubt es nicht!

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Alexander im Rausche den Clitus getötet, dass er den Hephästion auf die Art geliebt hat wie Sokrates den Alkibiates, aber ist durchaus unwahrscheinlich, dass der Schüler des Aristoteles nichts von der Ebbe und Flut des Ozeans gewusst habe. Es gab Philosophen in seiner Armee; es genügte den Euphrat gesehen zu haben, der an seiner Mündung die Ebbe und Flut zeigt, um diese Erscheinung zu kennen. Alexander war in Afrika gereist, dessen Küsten vom Ozean bespült werden. Sollte sein Admiral Nearch so unwissend gewesen sein, dass ihm entging, was am Indus jedes Kind weiß? Derartige Albernheiten, die von so viel Schriftstellern nachgesprochen werden, bringen die Geschichtschreiber allzu sehr in Misskredit.

Pater Mainburg erzählt hundert andern nach, zwei Juden hätten Leon, dem Isaurier, das Reich unter der Bedingung versprochen, dass er die Götzenbilder zertrümmere, wenn er Kaiser sein werde. Welches Interesse sollten denn diese zwei Hebräer dabei gehabt haben, dass die Christen keine Bilder verehrten? Wie konnten zwei solche arme Teufel ein Kaiserreich versprechen? Heißt es nicht den Leser durch derartige Fabeln beleidigen?

Man dass Mézerai in seinem harten, gemeinen, ungleichen Stil unter die schlecht verdauten Tatsachen, die er bringt, manche ähnliche Abgeschmacktheiten mischt; bald lässt er Heinrich V. von England, der in Paris zum König von Frankreich gekrönt wurde, deshalb an Hämorrhoiden sterben, weil er sich auf den Thron unserer Könige gesetzt habe, bald muss der heilige Michael der Johanna d'Arc erscheinen!

Ich glaube nicht einmal Augenzeugen, wenn sie mir Dinge sagen, die dem gesunden Menschenverstande widersprechen. Der Herr von Joinville, oder vielmehr derjenige, welcher seine gallische Geschichte in das Altfranzösische übersetzt hat, macht mir nicht weiß, dass die ägyptischen Emire, nachdem sie ihren Sultan ermordet, dem heiligen Ludwig, der ihr Gefangener war, die Krone anboten; das ist gerade so wahrscheinlich, als wenn man aussagte, man habe die Krone Frankreichs einem Türken angeboten. Wie kann man nur glauben, dass Mohammedaner einen Mann zu ihrem Beherrscher haben erheben wollen, der in ihren Augen ein Häuptling von Barbaren sein musste, den sie in der Schlacht gefangen hatten, der weder ihre Gesetze noch ihre Sprache kannte und der der Erzfeind ihrer Religion war!

Ich glaube ebenso wenig an dieses Märchen des Herrn von Joinville, als wenn er mir sagte, der Nil trete zu Anfang Oktober bei la Saint-Remi aus seinen Ufern. Ebenso sehr bezweifle ich das Geschichtchen von dem Alten vom Berge, der bei der Nachricht von dem Kreuzzug des heiligen Ludwig zwei Mörder nach Paris schickt, um ihn zu töten, wie er aber von seiner Tugend hört, am andern Tage zwei Kuriere absendet, um Gegenbefehl zu bringen. Das schmeckt denn doch zu sehr nach einem Märchen aus Tausend und eine Nacht.

Ich sage Mézerai, dem Pater Daniel und allen Geschichtschreibern ins Gesicht, dass ein Regen- und Hagelsturm Eduard III. bekehrt und Philipp von Valois den Frieden verschafft habe. Die Eroberer sind nicht so fromm und schließen nicht Frieden wegen eines Regens.

Gewiss ist nichts wahrscheinlicher als ein Verbrechen; aber es muss wenigstens nachgewiesen sein. Bei Mézerai liest man von mehr als sechzig Fürsten, denen man Gift gegeben habe; aber er beweist es nirgends und ein Gerücht darf eben nur als Gerücht angeführt werden.

Ich glaube auch Titus Livius nicht, wenn er mir sagt, der Arzt des Pyrrhus habe den Römern angeboten, seinen Herrn gegen eine Belohnung zu vergiften. Die Römer besaßen damals kaum gemünztes Geld und Pyrrhus war reich genug, um die ganze Republik zu kaufen, wenn sie sich hätte verkaufen wollen. Die Stelle eines Leibarztes des Pyrrhus war jedenfalls einträglicher als die eines Konsuls. Ich werde deshalb diese Geschichte nicht eher glauben, als bis man mir beweisen wird, dass ein Leibarzt eines unserer Könige einem Schweizer Kanton den Antrag gemacht habe, seinen Kranken gegen eine Geldbelohnung zu vergiften.

Misstrauen wir auch allen übertriebenen Behauptungen. Dass eine zahllose persische Armee durch dreihundert Spartiaten im Engpass von Thermopylä aufgehalten worden sein soll, gibt mir kein Ärgernis; die Terraingestaltung macht die Sache wahrscheinlich. Karl XII. schlägt bei Narwa mit achttausend kriegstüchtigen Soldaten achtzigtausend schlecht bewaffnete russische Bauern; das bewundere ich und glaube es. Wenn ich aber lese, dass Simon von Montfort mit neunhundert in drei Korps geteilten Soldaten hunderttausend Mann geschlagen habe, so wiederhole ich: das glaube ich nicht! Man hält mir entgegen, es sei ein Wunder; aber wird wohl Gott dem Simon von Montfort zuliebe ein Wunder getan haben?

Ich würde auch den Kampf Karls XII. zu Bender bezweifeln, wenn er mir nicht durch mehrere glaubwürdige Augenzeugen bestätigt worden wäre und wenn nicht der Charakter Karls XII. eine derartige heroische Tollheit wahrscheinlich machte.

Ebenso wie einzelne Tatsachen muss man oft auch das bezweifeln, was man über die Sitten und Gebräuche fremder Völker liest. Versagen wir auch hier unsern Glauben jedem alten oder neuen Schriftsteller, der uns Dinge auftischt, welche der Natur und dem Wesen des menschlichen Herzens entgegen sind.

Die ersten Berichte über Amerika sprachen nur von Menschenfressern; es war als ob die Amerikaner die Menschen so alltäglich fräßen, wie wir die Hammel. Die richtig gestellte Tatsache beschränkt sich darauf, dass eine kleine Anzahl Gefangener, statt von den Würmern von ihren Siegern gefressen wurde.

Der neue Puffendorf (Grand dictionnaire géographique par Bruzen de la Martinière), der ebenso voll Fehler ist wie der alte, erzählt: im Jahre 1589 habe ein Engländer mit vier Frauen, die sich aus einem Schiffbruch in der Straße von Madagaskar retteten, auf einer wüsten Insel gelandet und dort so wacker gearbeitet, dass man im Jahre 1667 diese Insel (die Pines-Insel) mit zwölftausend schönen englischen Protestanten bevölkert gefunden habe.

Die Alten und ihre zahlreichen und gläubigen Nachbeter wiederholen uns unaufhörlich, in Babylon, der geordnetsten Stadt der Alten Welt, hätten sich alle Frauen und Mädchen einmal im Jahre im Tempel der Venus preisgegeben. Ich kann mir recht wohl denken, dass man zu Babylon wie anderswo sein Vergnügen für Geld haben konnte; aber ich werde mich nie davon überzeugen lassen, dass in einer Stadt, wo damals größere Ordnung und Sittlichkeit herrschte als irgendwo, alle Familienväter und Ehemänner ihre Töchter und Frauen auf einen öffentlichen Markt der Unzucht geschickt und die Gesetzgeber ein so sauberes Geschäft förmlich verordnet haben. Man druckt täglich hundert ähnliche Albernheiten über die Gebräuche der Orientalen; und für einen Reisenden wie Chardin findet man eine Menge Touristen, wie Paul Lukas, Jean Struys und den Jesuiten Avril, der täglich tausend Personen bei den Persern taufte, deren Sprache er nicht kannte; und der erzählt, die russischen Karawanen gingen in drei Monaten zwischen China und Russland hin und her!

Ein griechischer und ein lateinischer Mönch schreiben, Mohammed II. habe die ganze Stadt Konstantinopel der Plünderung preisgegeben, habe eigenhändig die Bilder Jesu Christi zertrümmert und alle Kirchen in Moscheen verwandelt. Um diesen Eroberer noch hassenswerter zu machen, setzen sie hinzu, er habe seiner Geliebten den Janitscharen zu Gefallen den Kopf abgeschlagen und vierzehn seiner Pagen den Bauch aufgeschlitzt, um zu sehen, wer von ihnen eine Melone gegessen habe. Hundert Geschichtschreiber schreiben diese jämmerlichen Fabeln nach; die europäischen Enzyklopädien wiederholen sie. Wenn man aber die wirklichen, von Prinz Cantemir gesammelten türkischen Annalen nachliest, so findet man, wie lächerlich diese Lügen sind. Man erfährt daraus, dass, nachdem der große Mohammed II. die Hälfte von Konstantinopel mit Sturm genommen hatte, er mit der andern in Verhandlung trat und sämtliche Kirchen unversehrt ließ; dass er einen griechischen Patriarchen ernannte, dem er größere Ehre erwies, als die griechischen Kaiser seinen Vorgängern jemals erwiesen hatten. Wenn man aber nur seinen gesunden Menschenverstand fragen will, wird man auch einsehen, wie lächerlich es ist zu glauben, ein großer, gelehrter und gebildeter Herrscher wie Mohammed II. war, werde achtzehn Pagen wegen einer Melone den Bauch aufschlitzen; und wer die Sitten der Türken nur halbwegs kennt, wird die Unsinnigkeit des Gedankens einsehen, dass die Soldaten sich in die Angelegenheiten, die zwischen dem Sultan und seinen Frauen vor sich gehen, gemischt und ein Kaiser jenen zu Gefallen seiner Geliebten den Kopf abgeschnitten habe. Aber so schreibt man jetzt allerdings die meisten Geschichten.

Mit der Geschichte Karls XII. ist es nicht so. Ich kann versichern, dass, wenn je eine Geschichte den Glauben des Lesers verdient hat, es diese ist. Ich stellte sie bekanntlich nach den Memoiren von Fabrice, de Villelongue und de Fierville, sowie den Berichten vieler Augenzeugen zusammen. Da aber diese Zeugen nicht alles sehen und manchmal schlecht sehen, verfiel auch ich in manchen Irrtum, nicht in betreff der wesentlichen Tatsachen, aber bei einigen Anekdoten, die an sich ganz gleichgültig sind, an die sich aber eine kleinliche Kritik mit Genuss angeklammert hat.

Ich habe seitdem diese Geschichte nach dem militärischen Tagebuch Adlerfelts, das sehr genau ist und auf Grund dessen ich einige Tatsachen und Daten richtig stellte, verbessert.

Ich habe auch die von dem Kaplan und Beichtvater Karls, Nordberg, verfasste Geschichte zu Rate gezogen. Dieses Werk ist allerdings übel verdaut und schlecht geschrieben; es finden sich darin zu viel kleine, dem Gegenstand eigentlich fremde Dinge, während die großen Ereignisse so schwach dargestellt sind, dass sie klein werden. Seine Geschichte ist ein Gewebe von Schreiben, Erklärungen und Bekanntmachungen, wie sie in der Regel im Namen der Könige erlassen werden, wenn dieselben im Kriege begriffen sind. Solche Dokumente dienen aber niemals dazu, die Ereignisse bis auf den Grund kennen zu lernen; weder der Militär noch der Politiker kann sie brauchen und sie langweilen den Leser. Ein Schriftsteller kann sie bisweilen zu Rate ziehen, wenn er sich über irgendeinen Punkt Aufklärung verschaffen will, wie ein Architekt sich bei einem Bauwerk auch des Schuttes bedient.

Unter den Dokumenten, womit Nordberg seine unglückliche Geschichte überladen hat, finden sich sogar falsche und abgeschmackte, wie der Brief des türkischen Kaisers Achmet, den dieser Geschichtschreiber »Sultan Pascha von Gottes Gnaden« nennt.

Derselbe Nordberg lässt den König von Schweden über den König Stanislaus etwas sagen, was dieser Monarch nie gesagt hat und nie sagen konnte. Er behauptet nämlich, Karl XII. habe auf die Einwürfe des Primas erwidert, Stanislaus habe sich auf seiner italienischen Reise viele Freunde erworben. Es ist aber dass Stanislaus niemals in Italien war, wie mir dieser Monarch selbst versichert hat. Was wäre es auch, wenn ein Pole im achtzehnten Jahrhundert zu seinem Vergnügen Italien bereiste! Derartige unnütze Dinge muss der Geschichtschreiber weglassen, und ich bin froh, dass ich die Geschichte Karls XII. möglichst kurz gehalten habe!

Nordberg hatte weder Verstand noch Geist noch Kenntnis der Welt; eben deshalb hat ihn vielleicht Karl XII. zu seinem Beichtvater gewählt. Ich weiß nicht, ob er einen guten Christen aus diesem Fürsten gemacht hat, aber sicher hat er keinen Helden aus ihn gemacht, und Karl XII. wäre unbekannt, wenn man ihn nur aus Nordberg kennte.

Vor einigen Jahren ist eine kleine Broschüre unter dem Titel: Historische und kritische Bemerkungen über die Geschichte Karl XII. von Voltaire erschienen. Dieses Werkchen ist vom Grafen Poniatowski. Es sind Antworten auf Fragen, die ich während seines letzten Aufenthalts in Paris an ihn stellte. Sein Sekretär hatte eine zweite Abschrift davon gefertigt, die in die Hände eines Buchhändlers fiel, welcher nicht säumte sie abzudrucken. Ein holländischer Korrektor nannte sie »kritisch,« um sie besser an den Mann zu bringen. Es ist dies eine der kleineren Gaunereien des Buchhandels.

Ein Bediensteter von Herrn Fabrice, La Motraye, hat gleichfalls einige Bemerkungen über diese Geschichte drucken lassen. Unter den mancherlei Irrtümern und Kleinlichkeiten dieser Kritik finden sich auch einige wichtige und nützliche Bemerkungen. Ich trug Sorge, in den letzten Ausgaben, besonders in der von 1739 davon Notiz zu nehmen; denn in Sachen der Geschichte darf man nichts versäumen und muss, wo es möglich ist, Könige und Kammerdiener zu Rate ziehen.

Erstes Buch

Kurze Geschichte von Schweden bis Karl XII. Seine Erziehung, seine Feinde. Charakter des Zaren Peter Alexjewitsch. Interessante Nachrichten über diesen Fürsten und das russische Volk. Russland, Polen und Dänemark verbinden sich gegen Karl XII.

Schweden und Finnland bilden zusammen ein Königreich, welches ungefähr zweihundert Wegstunden breit und dreihundert Stunden lang ist. Es erstreckt sich von Süden nach Norden gemessen vom 55. bis zum 70. Grad. Sein Klima ist rau; es gibt hier beinahe keinen Frühling, keinen Herbst. Neun Monate lang herrscht der Winter; auf eine außerordentliche Kälte folgt dann plötzlich Sommerhitze. Vom Monat Oktober an gefriert es. Jene unmerklichen Abstufungen, welche anderswo von einer Jahreszeit zur andern führen und den Wechsel erträglicher machen, sind hier unbekannt. Dafür hat die Natur diesem strengen Klima einen heitern Himmel, eine reine Luft gegeben. Fast beständig von der Sonne durchglüht, erzeugt der Sommer Blumen und Früchte in kürzester Zeit. Die langen Winternächte dagegen sind durch Morgenröte und Dämmerungen verschönert, die um so länger dauern, je weniger die Sonne sich von Schweden entfernt. Das Mondlicht aber, welches hier durch kein Gewölk getrübt und durch den Widerschein des Schnees, der rings die Erde bedeckt, noch vermehrt wird – wozu häufig noch Lichterscheinungen kommen, die dem Zodiakallicht ähnlich sind – bewirkt, dass man in Schweden bei Nacht so gut reist wie bei Tage. Das Vieh ist aus Mangel an Weiden kleiner als in den mittäglichen Ländern Europas. Die Menschen dagegen sind groß; der heitere Himmel erhält sie gesund, das raue Klima macht sie kräftig. Sie leben lange, wenn sie sich nicht durch den unmäßigen Genuss starker Liköre und Weine schwächen. Freilich scheinen die nördlichen Völker diese Getränke um so mehr zu lieben, je mehr die Natur sie ihnen versagt hat.

Die Schweden sind wohlgestaltet, kräftig, gewandt und fähig, die schwersten Arbeiten, Hunger und Not zu ertragen. Sie sind geborene Soldaten, voll Stolz und mehr tapfer als industriös. Der Handel, der ihnen allein geben kann, was die Natur ihnen versagt hat, wurde von ihnen lange Zeit ganz vernachlässigt und wird auch jetzt noch nicht tätig betrieben. Aus Schweden hauptsächlich, von dem noch jetzt ein Teil Gotland heißt, sollen jene Gotenheere hervorgegangen sein, welche einst Europa überschwemmten und es Rom entrissen, das fünfhundert Jahre lang dessen Beherrscher, Gesetzgeber und Tyrann gewesen war.

Die nördlichen Regionen waren damals weit bevölkerter, als sie es heutzutage sind, weil ihre Religion den Bewohnern Vielweiberei gestattete und sie dadurch in den Stand setzte, dem Staate mehr Kinder zu geben; und die Frauen selbst keine größere Schmach kannten als Unfruchtbarkeit und Müßiggang. Ebenso arbeitsam und ebenso kräftig wie ihre Männer wurden sie daher früher und länger von ihnen Mutter. Jetzt hat Schweden mit dem ihm noch gebliebenen Rest von Finnland nur vier Millionen Einwohner. Das Land ist unfruchtbar und arm. Schonen ist die einzige Provinz, in welcher Weizen wächst. Es gibt nicht mehr als neun Millionen Silbertaler im Lande. Die öffentliche Bank, die älteste in Europa, war ein Kind der Notwendigkeit, weil die Bezahlungen in Kupfer- und Eisenmünzen geschahen und dadurch der Münzverkehr zu schwerfällig wurde.

Schweden war bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts ein freies Land. In diesem langen Zeiträume wechselte die Regierungsgewalt mehr als einmal, aber sämtliche Wechsel geschahen zugunsten der Freiheit. Die oberste Behörde trug den Namen König, ein Titel, mit welchem in den verschiedenen Ländern sehr verschiedene Machtbefugnisse verbunden sind. In Frankreich und Spanien bedeutet er die unumschränkte Gewalt, in Polen, in Schweden und England den Vorstand eines Freistaats. Jene schwedischen Könige vermochten nichts ohne den Senat; und der Senat hing wieder von den Ständen ab, die häufig zusammenberufen wurden. Die Vertreter des Volks in diesen großen Versammlungen waren die Edelleute, die Bischöfe und die Abgeordneten der Städte; später wurden auch die Bauern zugelassen, ein sonst ungerechterweise verachteter Teil des Volks, der fast im ganzen übrigen Norden Sklave ist.

Gegen das Jahr 1492 wurde dieses auf seine Freiheit so eifersüchtige Volk, das noch jetzt stolz darauf ist, vor dreizehnhundert Jahren unter Alarich Rom bezwungen zu haben, durch ein Weib und durch ein anderes weniger mächtiges Volk unterjocht.

Margarete Waldemars Tochter, die Semiramis des Nordens, Königin von Dänemark und Norwegen, eroberte Schweden durch Gewalt und List und vereinigte diese drei zu einem einzigen. Nach ihrem Tode zerrissen Bürgerkriege das Land; Schweden warf das Joch der Dänen ab, nahm es aber bald wieder auf, es hatte Könige und Administratoren. Zwei Tyrannen bedrückten es um 1520 auf eine furchtbare Art; der eine war Christiern II., König von Dänemark, ein Ungeheuer voller Laster ohne eine einzige Tugend, der andere war der Erzbischof von Upsala, der Primas des Reiches und ebenso grausam wie Christiern. Im Einverständnis miteinander ließen diese beiden eines Tages die Bürgermeister und Räte der Stadt Stockholm nebst vierundneunzig Senatoren greifen und durch Henkershand hinrichten, unter dem Vorwand, dass der Papst sie exkommuniziert habe, weil sie die Rechte des Staats gegen den Erzbischof verteidigt hätten.

Während diese beiden Menschen, welche die Lust an der Unterdrückung vereinte, die Teilung der Beute aber wieder entzweite, dem härtesten Despotismus, der grausamsten Rachgier frönten, änderte ein neues Ereignis die Gestalt des Nordens.

Gustav Wasa, ein junger Mann, der von den alten Königen des Landes abstammte, trat aus der Tiefe der Wälder Dalekarliens, wo er in Verborgenheit gelebt hatte und befreite Schweden. Er besaß eine jener großen Seelen, welche die Natur so selten bildet, und alle Eigenschaften, deren man bedarf, um die Menschen zu beherrschen. Sein vorteilhaftes Äußeres, sein hohes Wesen verschafften ihm Anhänger, wo er sich zeigte. Seine Beredsamkeit, der eine edle Miene zu Hilfe kam, war umso ergreifender, je natürlicher sie schien; sein Genie unternahm Dinge, welche der gewöhnliche Mensch für verwegen hält, die aber in den Augen des großen Mannes nur kühn sind; sein Mut, sein unermüdlicher Eifer sicherte seinen Unternehmungen das Gelingen. Er war unerschrocken und zugleich vorsichtig, von einem milden Charakter in einer wilden Zeit und so tugendhaft, als ein Parteiführer nur immer sein kann.

Gustav Wasa war Christierns Geisel gewesen und gegen das Völkerrecht als Gefangener zurückbehalten worden. Aus seinem Gefängnis entwischt, irrte er als Bauer verkleidet in den Bergen und Wäldern von Dalekarlien umher. Er sah sich hier in die Notwendigkeit versetzt, in den Kupferbergwerken zu arbeiten, um sein Leben zu fristen und sich zu verbergen. In diesen unterirdischen Räumen fasste er den Plan, den Tyrannen vom Throne zu stürzen. Er entdeckte sich den Bauern; sie erkannten in ihm den Menschen höherer Natur, dem sich gewöhnliche Geschöpfe unwillkürlich unterordnen. In kurzer Zeit machte er aus diesen Wilden tüchtige Soldaten. Er griff Christiern und den Erzbischof an, besiegte sie zu wiederholten Malen und jagte beide aus Schweden. Nun erwählten ihn die Stände mit Recht zum König des Landes, dessen Befreier er geworden war.

Kaum saß er auf dem Throne, als er sich an ein Unternehmen wagte, das schwieriger war als Länder erobern. Die wahren Tyrannen des Reiches waren die Bischöfe; sie besaßen fast den ganzen Reichtum Schwedens und bedienten sich desselben nur, um die Untertanen zu bedrücken und die Könige zu befehden. Diese Macht war umso furchtbarer, als die Unwissenheit des Volks sie geheiligt hatte. Gustav Wasa ahndete jetzt an der katholischen Religion die Schlechtigkeit ihrer Priester. In weniger als zwei Jahren machte er Schweden lutherisch und zwar noch mehr durch die Überlegenheit seiner Politik als durch seine Regierungsgewalt. Nachdem er dies Reich so den Dänen und der Geistlichkeit, wie er zu sagen pflegte, abgewonnen hatte, regierte er glücklich und unumschränkt bis in sein siebzigstes Jahr und nahm ein ruhmvolles Ende, indem er seine Familie und seinen Glauben auf dem Throne des Landes ließ.

Einer seiner Nachkommen war jener Gustav Adolf, den man auch Gustav den Großen nennt. Dieser König eroberte Ingermanland, Livland, Bremen, Werden, Wismar und Pommern und außerdem noch über hundert Orte in Deutschland, die Schweden nach seinem Tode zurückgab. Er erschütterte den Thron Ferdinands II. und bot den Lutheranern in Deutschland die Hand, wobei ihn die Intrigen von Rom noch unterstützten, da dieses die Macht des Kaisers mehr fürchtete als die der Ketzerei. Er war es in der Tat, der durch seine Siege viel zur Demütigung des Hauses Österreich beitrug. Man schreibt den Ruhm dieses Unternehmens dem Kardinal Richelieu zu, der die Kunst verstand sich einen Namen zu machen, während Gustav sich damit begnügte große Taten zu vollführen. Er war im Begriff, den Krieg an die Donau zu verlegen, und vielleicht den Kaiser vom Throne zu stoßen, als er in seinem siebenunddreißigsten Lebensjahre in der Schlacht bei Lützen (16. November 1632) fiel. Er gewann diese Schlacht gegen Wallenstein und nahm den Namen eines großen Königs, die Liebe des Nordens und die Achtung seiner Feinde mit ins Grab.

Seine Tochter Christine, eine Frau von seltenem Geist, unterhielt sich lieber mit Gelehrten, als dass sie ein Volk regierte, welches nur Sinn für kriegerische Taten hatte. Sie machte sich dadurch, dass sie dem Throne entsagte, ebenso berühmt, als ihre Ahnen es durch Gewinnung und Befestigung desselben getan hatten. Die Protestanten haben kein gutes Haar an ihr gelassen, als ob man nicht, auch ohne an Luther zu glauben, große Tugenden haben konnte. Die Päpste dagegen frohlockten viel zu viel über die Bekehrung einer Frau, die doch vor allem Philosoph war. Sie zog sich nach Rom zurück, wo sie den Rest ihrer Tage inmitten der Künste verlebte, die sie so sehr liebte, und um derentwillen sie in einem Alter von siebenundzwanzig Jahren einem Königreiche entsagt hatte.

Vor ihrer Abdankung veranlasste sie die schwedischen Reichsstände, an ihrer statt ihren Vetter Karl Gustav X., den Sohn des Pfalzgrafen und Herzogs von Zweibrücken, zum König zu wählen. Dieser König fügte den Eroberungen Gustav Adolfs noch neue hinzu. Er führte seine Kriegsvölker zuerst nach Polen, wo er die berühmte Schlacht bei Warschau gewann, welche drei Tage gedauert hatte. Dann führte er lange Zeit einen glücklichen Krieg gegen die Dänen, belagerte ihre Hauptstadt, vereinigte Schonen mit Schweden und sicherte wenigstens eine Zeitlang dem Herzog von Holstein den Besitz von Schleswig. Als er später Unfälle erlitt und deshalb mit seinen Feinden Frieden schloss, kehrte er seinen Ehrgeiz gegen seine Untertanen. Er fasste den Plan, in Schweden die unumschränkte Monarchie einzuführen; starb jedoch in seinem siebenunddreißigsten Lebensjahre (den 13. Februar 1660) wie der große Gustav, ehe er dieses Werk des Despotismus zu vollenden vermochte, welches dann sein Sohn Karl XI. zum Schlusse führte.

Karl XI., Soldat wie alle seine Vorfahren, war noch despotischer als sie. Er nahm dem Senat seine Macht und erklärte ihn zum Senat des Königs, während er der Senat des Reichs gewesen war. Er war mäßig, tätig, arbeitsam, so dass man ihn hätte lieben können, wenn sein Despotismus die Gefühle seiner Untertanen nicht in Furcht verwandelt hätte.

Im Jahre 1680 heiratete er Ulrike Eleonore, Tochter des Königs Friedrich III. von Dänemark, eine tugendhafte Prinzessin, die eines größeren Vertrauens würdig gewesen wäre, als ihr Gatte ihr schenkte. Ihr entspross am 27. Juni 1682 der König Karl XII., der außerordentlichste Mensch vielleicht, der je gelebt. Er vereinigte in sich alle die großen Eigenschaften seiner Vorfahren und hatte keinen anderen Fehler, und kein anderes Unglück, als dass er diese Eigenschaften alle übertrieb. Von ihm soll hier erzählt werden, was über seine Person und seine Taten Sicheres festgestellt werden konnte.

Das erste Buch, das man ihm zu lesen gab, war das Werk von Samuel Puffendorf. Er sollte sich daraus beizeiten mit seinen Staaten und denen seiner Nachbarn vertraut machen. Zuerst erlernte er die deutsche Sprache, die er immer ebenso gut sprach wie seine Muttersprache. Mit sieben Jahren verstand er bereits mit Pferden umzugehen. Anstrengende Übungen, in denen er sich gefiel, und die auf seine kriegerischen Neigungen schließen ließen, kräftigten frühzeitig seinen Körper, so dass er die Strapazen zu ertragen vermochte, zu denen ihn sein Temperament hinzog.

Obschon in seiner Kindheit von sanfter Gemütsart, besaß er doch einen unüberwindlichen Eigensinn. Das einzige Mittel, ihn nachgiebig zu machen, war, wenn man seinen Ehrgeiz stachelte. Mit dem Worte Ruhm erlangte man alles von ihm. Er hatte eine Abneigung gegen das Latein. Als man ihm aber sagte, dass die Könige von Polen und Dänemark es verstünden, lernte er es schnell, und behielt genug davon, um es von da ab sprechen zu können. Auf die gleiche Art griff man es an, um ihn zum Studium des Französischen zu bestimmen; aber gleichwohl blieb er dabei, sich niemals dieser Sprache zu bedienen, selbst nicht mit den französischen Gesandten, die keine andere Sprache verstanden.

Sobald er einige Fortschritte im Lateinischen gemacht hatte, ließ man ihn den Quintus Curtius übersetzen; er gewann eine Vorliebe für dieses Buch, welche ihm der Gegenstand desselben weit mehr einflößte als dessen Stil. Als der Lehrer, welcher ihm diesen Schriftsteller erklärte, fragte, was er von Alexander halte, erwiderte der Prinz: »Ich möchte ihm ähnlich werden.« – »Aber,« entgegnete man ihm, »er hat nur zweiunddreißig Jahre gelebt.« – »Ach!« versetzte er, »ist denn das nicht genug, wenn man so viele Reiche erobert hat?« – Man verfehlte nicht, dem Könige, seinem Vater, diese Antworten zu hinterbringen, der ausrief: »Aus diesem Kind wird mehr werden, als aus mir geworden ist; er wird weiter gehen als der große Gustav!« – Eines Tages unterhielt er sich damit, im Zimmer des Königs zwei geographische Karten zu betrachten, wovon die eine eine ungarische, dem Kaiser durch die Türken entrissene Stadt, die andere die Hauptstadt von Livland, Riga vorstellte, welch letztere die Schweden schon vor hundert Jahren erobert hatten. Unter dem Plan der ungarischen Stadt standen die Worte aus Hiob: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobet!« – Als der junge Prinz diese Worte las, nahm er sofort einen Bleistift und schrieb unter den Plan von Riga: »Gott hat mir's gegeben, der Teufel soll mir's nicht mehr nehmen.« – So ließ dieser unbezähmbare Charakter schon in den unbedeutendsten Handlungen seiner Kindheit jene Züge zu Tage treten, welche originellen Geistern eigen sind und zum Voraus ahnen lassen, was sie einst sein werden.

Er war elf Jahre alt, als er seine Mutter verlor. Diese Fürstin starb am 5. August 1693, wie man sagt an einer Krankheit, die sie sich aus Kummer über das Benehmen ihres Gemahls zugezogen hatte. Die Anstrengung, womit sie ihren Schmerz hierüber zu verbergen suchte, war zu viel für ihre Kräfte. Karl XI. hatte nämlich eine große Menge seiner Untertanen mittels eines Gerichtshofes, der den Namen Liquidationskammer führte und nur von seinem Willen abhing, ihres Vermögens beraubt. Zahllose durch diese Kammer zugrunde gerichtete Bürger, Edelleute, Kaufleute, Gutsbesitzer, Witwen und Waisen füllten die Straßen von Stockholm und erschienen täglich vor den Toren des Palastes, wo sie vergeblich ihre Klagen ertönen ließen. Die Königin unterstützte diese Unglücklichen mit allem, was sie besaß; sie gab ihnen ihr Gold, ihren Schmuck, ihre Mobilien, sogar ihre Kleider. Als sie nichts mehr zu geben hatte, warf sie sich ihrem Gemahl weinend zu Füßen und bat ihn, doch ein Herz für seine Untertanen zu haben. Aber der König erwiderte ihr streng: »Madame, wir nahmen Euch zur Gemahlin, um uns Kinder zu geben, nicht Ratschläge.« – Von diesem Augenblick an soll er sie mit einer Härte behandelt haben, die ihr Ende beschleunigte.

Er starb vier Jahre nach ihr, am 15. April 1697, im zweiundfünfzigsten Jahre seines Lebens und im siebenunddreißigsten seiner Regierung, als eben das deutsche Reich, Spanien und Holland einerseits und Frankreich andererseits die Entscheidung ihrer Händel seinem Schiedsrichteramt unterstellt und er das Werk der Versöhnung dieser Mächte bereits begonnen hatte.

Er hinterließ seinem fünfzehnjährigen Sohne einen nach außen befestigten und hochgeachteten Thron, arme, aber kriegerische und gehorsame Untertanen, und wohlgeordnete, von geschickten Ministern verwaltete Finanzen. Bei seiner Thronbesteigung war Karl XII. nicht nur unumschränkter und friedlicher Regent von Schweden und Finnland, er beherrschte auch Livland, Carelien und Ingermanland, und besaß Wismar, Wiborg, die Inseln Rügen und Oesel, sowie den schönsten Teil von Pommern und das Herzogtum Bremen und Verden. Alle diese Eroberungen seiner Vorfahren waren seiner Krone durch langen Besitz und die feierlichen, vom Schrecken der schwedischen Waffen aufrecht erhaltenen Verträge von Münster und Oliva gesichert. Der unter den Auspizien des Vaters begonnene Frieden von Ryswick kam unter denen des Sohnes zum Abschluss. Schon mit Beginn seiner Regierung trat er so als Schiedsrichter Europas auf.

Die schwedischen Gesetze bestimmen, dass der König mit fünfzehn Jahren majorenn sein solle. Allein der in allem eigenmächtige Karl XI. setzte in seinem Testamente fest, dass sein Sohn erst mit dem achtzehnten Lebensjahre majorenn werden sollte. Durch diese Bestimmung begünstigte er die ehrgeizigen Pläne seiner Mutter Hedwig Eleonore von Holstein, Witwe des Königs Karl X. Diese Fürstin wurde durch den König, ihren Sohn, zur Vormünderin ihres Enkels, des jüngeren Königs und zur Regentin des Königreichs erklärt, wobei man ihr einen Rat von fünf höheren Beamten zur Seite stellte.

Die Regentin hatte, so lange der König, ihr Sohn, regierte, an allen Staatsangelegenheiten teilgenommen. Sie war schon hochbejahrt, allein ihr Ehrgeiz, der größer war als ihre Kräfte und ihr Geist, ließ sie hoffen, die Süßigkeit der Macht noch lange unter ihrem Enkel zu genießen. Sie entfremdete ihn daher möglichst viel den Geschäften. Der junge Prinz verbrachte seine ganze Zeit auf der Jagd oder mit Truppenbesichtigungen. Bisweilen nahm er auch an den Übungen derselben Anteil. Diese Art Unterhaltung schien nur die natürliche Wirkung der Lebhaftigkeit seines Alters zu sein. Sein Benehmen zeigte nichts, was die Regentin hätte beunruhigen können; diese Fürstin schmeichelte sich vielmehr, Übungen ihn unfähig machen würden, sich mit Ernst und Fleiß zu beschäftigen, so dass sie desto länger die Regierung in Händen behalten würde.

Eines Tages im November desselben Jahres, da sein Vater gestorben war, hielt er eine Besichtigung über mehrere Regimenter ab, wobei ihn der Staatsrat Piper begleitete. Der König schien in tiefes Nachdenken versunken. »Darf ich mir die Freiheit nehmen zu fragen, worüber Eure Majestät so ernstlich nachdenken?« sagte Piper zu ihm. – »Ich denke,« erwiderte der Prinz, »dass ich mich würdig fühle, diese tapferen Leute zu befehligen, und ich wollte, dass weder ich noch sie Befehle von einem Weibe anzunehmen hätten.« – Piper ergriff die Gelegenheit sein Glück zu machen mit beiden Händen. Er hatte selbst nicht Ansehen genug, um es wagen zu können, ein so gefährliches Unternehmen, wie die Verdrängung der Königin von der Regentschaft und die Herbeiführung der Majorennerklärung des Königs war, in Gang zu bringen. Er schlug es deshalb dem Grafen Axel Sparre vor, einem kühnen Feuerkopf, der nach einer höheren Stellung strebte. Sparre glaubte ihm, nahm alles auf sich und arbeitete doch nur für Piper. Die Regentschaftsräte waren bald gewonnen. Sie wussten ja, dass sie beim Könige einen Stein im Brett haben würden, wenn sie die Ausführung dieses Planes beschleunigten.

Demgemäß begaben sie sich in corpore zur Königin und stellten ihren Antrag. Einen solchen Schritt hatte diese nicht erwartet. Die Reichsstände waren eben versammelt. Auch dort brachten die Regentschaftsräte die Sache vor. Niemand erhob seine Stimme dagegen. Die Sache ging mit einer so unaufhaltsamen Geschwindigkeit vorwärts, dass drei Tage nachdem Karl XII. den Wunsch ausgesprochen hatte, zu regieren, die Stände ihm bereits die Gewalt übertrugen. Die Macht und das Ansehen der Königin fiel in einer Minute. Sie zog sich ins Privatleben zurück, das ihrem Alter besser entsprach, wenn auch nicht ihrer Neigung. Der König wurde am darauffolgenden 24. Dezember gekrönt. Er hielt seinen Einzug in Stockholm auf einem mit Silber beschlagenen Fuchsen, das Zepter in der Hand und die Krone auf dem Haupte, unter dem Jauchzen eines ganzen Volks, das ja stets das Neue vergöttert und jeden jungen Fürsten mit den größten Hoffnungen begrüßt.

Der Erzbischof von Upsala hatte das Recht die Salbung und Krönung vorzunehmen; es war dies das letzte von den Vorrechten, welche seine Vorgänger sich angemaßt hatten. Als er der Sitte gemäß den Prinzen gesalbt hatte und nun die Krone erhob, um sie demselben aufs Haupt zu setzen, entriss sie Karl den Händen des Erzbischofs und krönte sich selbst, wobei er den Prälaten mit stolzen Blicken maß. Das Volk, dem jeder Schein von Größe imponiert, jauchzte der Handlung des Königs Beifall zu. Selbst diejenigen, welche am meisten unter dem Despotismus seines Vaters geseufzt hatten, ließen sich hinreißen den Sohn wegen dieser hochfahrenden Handlung zu rühmen, die ihnen doch ihre künftige Sklaverei voraussagte.

Sobald Karl der Herr war, schenkte er dem Rat Piper sein Vertrauen und übertrug ihm die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten. Bald war derselbe sein Premierminister, ohne dass er diesen Namen trug. Wenige Tage darauf ernannte er ihn zum Grafen, was in Schweden eine sehr hohe Würde und kein leerer Titel ist, den man ohne weiteres annehmen kann wie in Frankreich.

Die erste Regierungszeit des Königs erweckte keine günstige Meinung von ihm; es schien als ob ihn mehr seine Ungeduld als eine Berechtigung dazu auf den Thron geführt habe. Zwar zeigte er allerdings keine gefährliche Leidenschaft, aber sein Benehmen war doch nur eine Reihe jugendlicher Aufwallungen und eigensinniger Ausbrüche. Er schien faul und hochfahrend. Die fremden Gesandten an seinem Hofe hielten ihn sogar für einen mittelmäßigen Kopf und schilderten ihn ihren Monarchen als einen solchen. Schweden hatte die gleiche Ansicht von ihm. Niemand kannte seinen wahren Charakter, er kannte ihn selbst nicht, bis die Stürme, die plötzlich im Norden ausbrachen, seinen verborgenen Eigenschaften Gelegenheit gaben, sich zu entfalten.

Drei mächtige Fürsten wollten sich seine außerordentliche Jugend zunutze machen und beschlossen fast zu gleicher Zeit sein Verderben. Der erste war Friedrich VI., König von Dänemark, sein Vetter; der zweite August, Kurfürst von Sachsen und König von Polen, der russische Zar, Peter der Große, war der dritte und gefährlichste. Es ist notwendig, auf die Ursache dieses Kriegs, der so große Ereignisse im Gefolge hatte, zurückzugehen und mit Dänemark zu beginnen.

Von den zwei Schwestern, die Karl XII. besaß, war die älteste an den Herzog von Holstein, einen jungen und ebenso tapferen als liebenswürdigen Fürsten vermählt. Bedrückt von dem König von Dänemark ging der Herzog mit seiner Gemahlin nach Stockholm und warf sich dem König in die Arme, den er nicht nur als Schwager, sondern auch als den Fürsten eines Volks, das stets einen unversöhnlichen Hass gegen die Dänen hegte, um Hilfe anflehte.

Das alte Haus Holstein, aus dem Hause Oldenburg entsprungen, war im Jahre 1449 durch Wahl auf den Thron von Dänemark gelangt. Die Reiche des Nordens waren damals Wahlreiche; das dänische wurde bald zum Erbreich. Einer seiner Könige, Christiern III., empfand für seinen Bruder Adolf eine Liebe oder eine Rücksicht, wie man sie unter Fürsten nicht leicht findet. Er wollte ihn nicht ohne Fürstentum sehen, und konnte doch deshalb seine eigenen Staaten nicht zerstückeln. In einem seltsamen Vertrag teilte er mit ihm die Herzogtümer Holstein-Gottorp und Schleswig und bestimmte darin, dass die Nachkommen Adolfs künftig zugleich mit den Königen von Dänemark in Holstein regieren sollten; dass die beiden Herzogtümer ihnen gemeinschaftlich gehören sollten, und dass der König von Dänemark in Holstein keine Änderung vornehmen könne ohne den Herzog, noch der Herzog ohne den König. Diese sonderbare Union, wie übrigens schon einmal eine ähnliche mehrere Jahre lang in demselben Hause bestanden hatte, war seit fast achtzig Jahren eine Quelle beständiger Streitigkeiten zwischen der dänischen und der holstein-gottorpischen Linie gewesen. Die Könige hatten immer versucht die Herzoge zu unterdrücken und die Herzoge sich ganz unabhängig zu machen. Den letzten Herzog hatte ein solcher Versuch die Freiheit und den Herzogshut gekostet. Im Jahre 1689 hatte er durch Vermittlung von Schweden, England und Holland, in den Konferenzen von Altona beides wieder erlangt und diese Staaten hatten die Aufrechterhaltung des Vertrags verbürgt. Da aber ein Vertrag zwischen Fürsten häufig nichts anderes ist als die Unterwerfung unter die Notwendigkeit solange, bis der Stärkere in der Lage ist den Schwächeren niederzudrücken, so lebte der Zank unter dem neuen König von Dänemark und dem jungen Herzog heftiger als je wieder auf. Während sich der Herzog in Stockholm befand, erlaubten sich die Dänen bereits Feindseligkeiten im Lande Holstein und verbanden sich im geheimen mit dem König von Polen, um den König von Schweden selbst zu demütigen.

Friedrich August, Kurfürst von Sachsen, dessen Wahl zum Könige von Polen weder die beredte Zunge und die diplomatische Geschicklichkeit des Abbé de Polignac, noch die großen Eigenschaften des Prinzen von Conti, seines Mitbewerbers, vor zwei Jahren hatten verhindern können, war ein Fürst, der ebenso wegen seiner ungewöhnlichen Körperkraft als wegen seiner Tapferkeit und Galanterie bekannt war. Nach dem Hofe Ludwigs XIV. war der seinige der glänzendste in Europa. Nie gab es einen Fürsten, der großmütiger und freigebiger war und seine Geschenke mit größerer Anmut zu geben wusste. Er hatte die Hälfte der Stimmen des polnischen Adels erkauft und die andere Hälfte durch den Anmarsch einer sächsischen Armee erzwungen. Er glaubte seine Truppen auch ferner nötig zu haben, um fester auf dem Throne zu sitzen, aber es bedurfte eines Vorwands, um sie in Polen zu behalten. Er beschloss deshalb den König von Schweden in seiner Provinz Livland anzugreifen, und zwar bei folgender Veranlassung.

Livland, diese schönste und fruchtbarste Provinz des Nordens, hatte ehedem den Rittern des Deutschordens gehört. Die Russen, die Polen und die Schweden hatten sich dann den Besitz des Landes streitig gemacht. Seit fast hundert Jahren hatte Schweden es erobert, und endlich war es ihm im Frieden von Oliva feierlich zugesprochen worden.

Der verstorbene König Karl XI., dessen Härte gegen seine Untertanen bereits erwähnt wurde, hatte auch die Livländer nicht geschont. Er hatte sie ihrer Privilegien und eines Teils ihrer Erbgüter beraubt. Patkul, dem sein tragisches Ende später eine traurige Berühmtheit gewann, wurde von dem livländischen Adel abgeordnet, um die Klagen der Provinz an den Thron zu bringen. Er hielt eine Ansprache an seinen Herrscher in achtungsvollen aber energischen Worten und mit jener männlichen Beredsamkeit, welche das Unglück verleiht, wenn es mit dem Mute gepaart ist. Allein die Könige betrachten derartige öffentliche Reden nur zu oft als leere Förmlichkeiten, die man nach altem Brauch duldet, ohne ihnen eine weitere Folge zu geben. Bei diesem Anlass jedoch klopfte Karl XI. – ein Heuchler, wenn er sich nicht von seinem Zorn hinreißen ließ – Patkul sanft auf die Schulter und sagte zu ihm: »Ihr habt als wackerer Mann für Euer Vaterland gesprochen. Ich schätze Euch darum. Fahrt so fort!« – Wenige Tage später aber ließ er ihn des Hochverrats schuldig erklären und als Hochverräter zum Tode verurteilen. Patkul verbarg sich anfangs und ergriff später die Flucht. Er trug seinen Groll nach Polen. Dort wurde er dem König August vorgestellt. Karl XI. war tot; aber der Urteilsspruch gegen Patkul und dessen Hass lebte fort. Er stellte dem polnischen Monarchen vor, dass alles eine Eroberung Livlands begünstige: die Verzweiflung des Volks, welches sich sehne, das Joch Schwedens abzuwerfen, und die Jugend des Königs, der nicht imstande sei sich zu verteidigen. Diese Aufforderung wurde von einem Fürsten, den die Eroberung Livlands längst angelockt hatte, gnädigst aufgenommen. August hatte überdies bei seiner Krönung zum König von Polen versprochen, alle Anstrengungen zu machen, um die Provinzen, welche Polen verloren, zurückzugewinnen. Durch einen Einfall in Livland glaubte er daher Polen zu gefallen und seine Macht zu befestigen. Er täuschte sich jedoch nach beiden Richtungen hin, so viel Wahrscheinlichkeit auch jene Ansicht für sich hatte. Bald war alles zu einem unvermuteten Einfall bereit; man hielt es nicht einmal für nötig, die leere Förmlichkeit einer Kriegserklärung oder eines Manifests vorauszuschicken.

Zu gleicher Zeit umwölkte sich auch der Horizont gegen Russland hin. Der Monarch, der damals dort herrschte, verdient die Aufmerksamkeit der Nachwelt. Peter Alexjewitsch, Zar von Russland, hatte sich bereits durch die Schlacht, welche er im Jahre 1697 gegen die Türken gewann, sowie durch die Einnahme von Asow, die ihm das Schwarze Meer erschloss, einen achtungsgebietenden Namen gemacht. Er wollte sich aber durch weit erstaunlichere Dinge als durch Siege den Namen des Großen erringen. umfasste schon damals den Norden Asiens und Europas und erstreckte sich von den Grenzen Chinas bis zu denen Polens und Schwedens über einen Raum von tausendfünfhundert Wegstunden. Vor Zar Peter kannte man jedoch dieses ungeheure Land kaum in Europa. Die Moskowiter besaßen eine geringere Bildung als die Mexikaner zurzeit der Eroberung des Cortez. Geborene Sklaven ebenso barbarischer Herren verrotteten sie in Unwissenheit, in der Entfremdung von jedweder Kunst und in der Unempfindlichkeit dieser Mängel, welche jede Industrie ersticken musste. Ein altes, bei ihnen hochgeheiligtes Gesetz verbot ihnen sogar bei Todesstrafe ohne die Erlaubnis ihres Patriarchen ihr Land zu verlassen. Dieses Gesetz, das doch nur geschaffen war, um ihnen jede Gelegenheit zu benehmen, ihr Joch kennen zu lernen, gefiel einem Volk, das im Sumpf seiner Unwissenheit und seines Elends jeden Verkehr mit den anderen Nationen verschmähte.

Die Ära der Moskowiter begann mit der Erschaffung der Welt. Zu Anfang des letzten Jahrhunderts rechneten sie bereits 7207 Jahre, ohne sich übrigens über das Entstehen dieser Zahl irgendeine Rechenschaft geben zu können. Der erste Tag ihres Jahres war an unserem 13. September. Als Grund für diese Bestimmung führten sie an, dass Gott die Welt im Herbst, das heißt in der Jahreszeit erschaffen habe, wo die Früchte der Erde reif seien. So war selbst der Schein eines Wissens bei ihnen grober Irrtum. Niemand hatte bei ihnen eine Ahnung davon, zurzeit des russischen Herbstes in einem entgegengesetzten Klima Frühling sein könne. Es war noch nicht lange her, dass das Volk in Moskau einen persischen Gesandschaftssekretär verbrennen wollte, weil er eine Sonnenfinsternis vorausgesagt hatte. Die Russen kannten nicht einmal den Gebrauch der Zahlen; zu ihren Rechnungen bedienten sie sich vielmehr kleiner Kugeln, die sie auf Drähte zogen. Auf keiner Steuereinnehmerei, selbst nicht auf dem Schatzamt des Zaren kannte man eine andere Art des Rechnens.

Ihre Religion war und ist noch die der griechischen Christen, aber voll von abergläubischen Bräuchen, denen sie um so inniger anhingen, je verrückter sie waren und je schwerer ihr Joch sie bedrückte. Wenige Russen wagten Tauben zu essen, weil man den heiligen Geist in Gestalt einer Taube gemalt hat. Sie beobachteten regelmäßig vier Fasten im Jahr, und wagten es während dieser Zeit nicht Eier oder Milch zu genießen. Gott und der heilige Nikolaus waren die Gegenstände ihrer Anbetung; gleich nach diesen kam der Zar und der Patriarch. Die Macht dieses letzteren war so grenzenlos wie die Unwissenheit seiner Gläubigen. Er verkündete Todesurteile und legte die grausamsten Martern auf, ohne dass es eine Berufung gegen sein Tribunal gab. Zweimal im Jahre ritt er aus, begleitet von seiner ganzen Geistlichkeit in zeremoniösem Aufzug. Der Zar hielt ihm dabei den Zügel seines Rosses und das Volk in den Straßen warf sich vor ihm nieder wie die Tataren vor ihrem großen Lama. Die Beichte war eingeführt, aber man bediente sich ihrer nur bei den größten Verbrechen; dann schien ihnen die Absolution notwendig, nicht aber die Reue. Sobald nur ihre Popen sie gesegnet hatten, hielten sie sich für rein vor Gott. Sie schritten daher auch ohne einen Gewissensbiss zu empfinden von der Beichte zum Diebstahl und zum Totschlag; ja was für andere Christen ein Zügel ist, war für sie gerade eine Aufmunterung zur Schlechtigkeit. Sie machten sich ein Gewissen daraus, an einem Fasttage Milch zu trinken; aber Familienväter, Priester, Frauen und Töchter betranken sich an Fasttagen in Branntwein. Man disputierte übrigens in diesem Lande wie anderswo über die Religion; der größte Streit herrschte aber über die Frage, ob die Laien das Zeichen des Kreuzes mit zwei oder mit drei Fingern machen müssten. Ein gewisser Jakob Nursuff hatte unter der vorigen Regierung wegen dieser Streitfrage in Astrachan einen Aufstand erregt. Es gab sogar Fanatiker, wie bei jenen gebildeten Nationen, wo jedermann Theologe ist; und Peter, der die Gerechtigkeit bis zur Grausamkeit trieb, ließ einige jener Elenden, die man Wosko-Jesuiten hieß, verbrennen.