Coverbild

Victoria Pearl

ENDLICH GEFUNDEN

Roman

Originalausgabe:
© 2008
ePUB-Edition:
© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-941598-88-1

1

»Ich geh’ jetzt!« Hanna drehte sich nach Birte um.

Die saß auf der Couch, blätterte abwesend in einer Zeitschrift und blickte nur kurz auf. »Wohin?« fragte sie desinteressiert.

Oh Frau, seufzte Hanna stumm, siehst du meinen Koffer denn nicht? »Weg von dir«, sagte sie schwach.

Birte nickte. »Das nehm’ ich an«, erwiderte sie lakonisch, »schließlich komme ich ja nicht mit.«

Die beiden Frauen schwiegen.

Wieso hält sie mich nicht auf? Warum unternimmt sie nichts? Sind ihr die zwei Jahre, die wir gemeinsam verbracht haben, so egal?

Hanna stand immer noch unschlüssig vor der Wohnungstür. Sie gab sich einen Ruck, als sie das Rascheln des Papiers hörte. Birte hatte eine Seite umgeblättert, las anscheinend interessiert einen Bericht.

»Also, ich geh’ jetzt«, versuchte Hanna noch einmal auf sich aufmerksam zu machen.

»Ich weiß, das sagtest du schon«, knurrte Birte undeutlich. »Immer diese leeren Versprechungen«, hörte Hanna noch.

»Ich . . . du hast . . .« Hannas Stimme brach. Nein, sie durfte jetzt nicht schwach werden. Sie musste gehen, sie hatte es so oft angedroht, nun musste sie endlich konsequent sein. »Ein schönes Leben noch«, murmelte sie, griff nach ihrer Tasche und öffnete die Tür.

Entschlossen trat sie ins Treppenhaus, angelte nach dem Türgriff und wäre dabei fast über den ersten Treppenabsatz gestolpert. Die Tür fiel mit einem gewaltigen Rums ins Schloss.

»Entsch. . .« Nein, sie würde sich bei niemandem mehr entschuldigen!

Hanna balancierte vorsichtig die lange Treppe hinab. Sie musste aufpassen, dass sie keine Stufe verpasste, denn eine Flugeinlage mit diesem Gepäck würde sie direkt ins Krankenhaus befördern.

Das kleine Auto hatte Hanna bereits am Nachmittag mit den wenigen größeren Gegenständen, die ihr gehörten, beladen. Nun schob sie den Koffer auf den Rücksitz und zwängte die Tasche zwischen die Sitze.

Nach etlichen Versuchen entkam Hanna der engen Parklücke und fuhr in Richtung Innenstadt. Sie würde die Stadt verlassen, irgendwohin fahren, wo sie nichts an die vergangen beiden Jahre erinnerte, ein neues Leben beginnen. Zum wievielten Mal tat sie das? Hanna wusste es nicht, hatte irgendwann aufgehört, Enden und Neuanfänge zu zählen.

Vielleicht, überlegte sie jetzt, war nie etwas zu Ende gegangen. Möglicherweise redete sie sich diese neuen Anfänge, diese neuen Leben einfach nur ein?

Die Kassiererin war nicht begeistert, als Hanna ihr Konto auflöste. Sie wollte darauf bestehen, dass Hanna eine Auflösung hätte vorankündigen müssen. Als sie jedoch sah, wie klein das Guthaben war, beruhigte sich die gewissenhafte Frau erstaunlich schnell und wickelte das Geschäft ohne weitere Einwände ab.

Nun war die Bahn frei. Hanna atmete erleichtert durch. Birte existierte nicht mehr. Die Verletzungen, die sie Hanna zugefügt hatte, würden verheilen.

Hanna wählte für ihre Flucht die Autobahn nach Süden. Irgendwo wollte sie die Bahn verlassen, eine neue Stadt finden, die sie aufnahm, ihr einen Job bot und sie ihr Leben leben ließ.

Sie dachte kurz daran, bei ihrer Mutter vorbeizuschauen, doch sie verwarf den Gedanken so schnell wieder, wie er gekommen war. Sie hatten sich nichts zu sagen – seit Jahren nicht mehr. Mit Schauern erinnerte sich Hanna an die gezwungene Atmosphäre, die bei den letzten Besuchen geherrscht hatte. Sie war der irrigen Meinung gewesen, eine Mutter würde ihrem Kind immer nur das Beste für sein Leben wünschen, egal, welchen Weg es eingeschlagen hatte. Das verhielt sich in ihrem Fall indes ganz anders, wie Hanna schmerzlich hatte erfahren müssen. Sie wollte keine weiteren Auseinandersetzungen mehr, keine Anschuldigungen hören, keine Verletzungen mehr.

Das kleine Auto, bereits ziemlich in die Jahre gekommen, schnurrte zuverlässig und beruhigend. Kilometer um Kilometer legte Hanna zwischen sich und ein weiteres Kapitel Vergangenheit.

Irgendwann wurde die Stille im Wagen so ohrenbetäubend, dass Hanna das Radio einschaltete. Ein bisschen Unterhaltung konnte nicht schaden, dachte sie und summte auch gleich beim nächsten Lied, einem aktuellen Hit aus der Abteilung Schmusesong, mit. Spätestens nach dem dritten Titel wusste Hanna, dass sie einen Schlagersender erwischt hatte.

»Du hast mich tausendmal belogen«, sang da eine weibliche Stimme. Erschrocken stellte Hanna das Radio ab.

Sie war doch fertig mit Birte, mit ihren Seitensprüngen, mit ihren Lügen, mit ihrer Verachtung, mit ihrer quälenden Gleichgültigkeit! Warum stiegen ihr jetzt die Tränen in die Augen? Warum fühlte sie diesen stechenden Schmerz in ihrer Brust?

Hanna verließ die Autobahn bei der nächsten Raststätte. Sie suchte sich einen freien Parkplatz möglichst weit entfernt von Tankstelle und Restaurant. Nachdem Hanna den Motor abgestellt hatte, blieb sie sitzen. Sie legte ihren Kopf auf die auf dem Lenkrad verschränkten Hände – und ließ ihren Tränen freien Lauf.

»Scheiße«, murmelte Hanna vor sich hin. »Ein wunderschöner, heißer Sommertag und du hockst da und heulst!«

Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken zu Birte zurückkehrten. Birte! Eine attraktive, selbstbewusste Frau. Eine Frau, die ihr aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse ein sorgenfreies Leben bieten konnte. Sie war der Grund gewesen, dass Hanna ihr Leben als Krankenschwester aufgegeben hatte, dass sie statt zwei Wochen zwei Jahre in einer ihr fremden Stadt geblieben war, dass sie alle Brücken hinter sich hatte zerbröckeln lassen. Sie war es gewesen, die sie mit ihrer Leidenschaft an sich gebunden hatte, die ihr nicht nur die Sterne, sondern gleich den ganzen Himmel zu Füßen legen wollte. Irgendwann war Hanna aufgewacht – und hatte sich in einer Hölle aus Eifersucht und Misstrauen wiedergefunden.

Hanna schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. Mit einem Blick auf ihre Siebensachen, die sich in dem kleinen Auto befanden, begann sie sich zu überlegen, was sie als nächstes anstellen sollte. Alles hatte sie dabei, was sie zum Leben brauchte, was ihr im Leben noch wichtig war.

Ein verdammt kleines Leben, dachte Hanna, wenn es in ein Auto passt!

Erneut rollten Tränen über ihr Gesicht. Sie war erschöpft, emotional ausgelaugt und, wenn sie ehrlich war, hatte sie Angst vor dem, was kommen würde.

»Hallo?«

Hanna reagierte nicht.

»Hallo, Sie da!«

Die Stimme klang irgendwie besorgt, doch Hanna konnte nicht gemeint sein, also hielt sie die Augen weiterhin geschlossen.

»Geht es Ihnen nicht gut?« Jetzt klopfte jemand an die halbgeöffnete Scheibe.

Hanna schreckte hoch. Hektisch sah sie sich nach der Störquelle um.

Eine mittelgroße, dunkelhaarige Frau stand neben ihrem Auto und blickte Hanna aus fast schwarzen Augen fragend an.

»Sind Sie in Ordnung?« fragte sie noch einmal. Als Hanna noch immer nichts erwiderte, runzelte die Frau, sie mochte um die vierzig sein, die Stirn. »Können Sie mich verstehen?« forschte sie mit ihrer leicht kratzenden Stimme.

Hanna nickte automatisch. Natürlich verstand sie Deutsch!

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Die Frau schien inzwischen ernsthaft besorgt.

Was weiß die schon? Mir kann niemand helfen, wenn ich mir nicht selbst helfen kann!

Ungeduldig schüttelte Hanna den Kopf. Sie wünschte sich, die Fremde würde endlich gehen, sie in Ruhe weinen lassen.

Doch sie dachte nicht daran. Statt sich mit den Kopfzeichen zufriedenzugeben, griff sie nach dem Türgriff, öffnete die Tür mit einem Ruck und neigte sich über Hanna.

Hanna fuhr erschrocken zurück. Sie hatte schon gehört, dass auf Raststätten häufig Überfälle stattfanden, doch bei ihr war überhaupt nichts zu holen. Instinktiv griff Hanna nach ihrem kleinen Rucksack und umklammerte ihn.

Verdutzt und fragend blickte die fremde Frau in Hannas angstgeweitete Augen. »Oh, entschuldigen Sie«, flüsterte sie betroffen und trat einen Schritt zurück. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Bitte verzeihen Sie.«

Unschlüssig stand die Fremde vor der geöffneten Tür. Sie drehte sich schließlich um und ging einige Schritte vom Fahrzeug weg. Dann hob sie die Schultern und kam wieder zurück. »Ich will nicht aufdringlich sein«, begann sie leise und behutsam, »aber ich glaube, Sie könnten etwas frische Luft und vielleicht ein Getränk vertragen.«

Besorgt fragte sich Hanna, ob sie tatsächlich so bedauernswert aussah, doch sie wagte nicht in den Spiegel zu blicken. Mit einem unwilligen Kopfschütteln versuchte sie die Fremde endlich zu vertreiben. Es gelang ihr nicht, sie stand einfach da und wartete.

»Ich . . . Mir geht’s gut«, erklärte Hanna mit heiserer Stimme.

»Das glaube ich nicht«, widersprach die andere sofort. »Steigen Sie endlich aus diesem Schwitzkasten aus, ehe Sie einen Hitzeschlag erleiden!« befahl sie.

Erst jetzt nahm Hanna wahr, wie heiß es tatsächlich war. Ihr rann der Schweiß über den Rücken, das T-Shirt klebte an ihrem Oberkörper, und der Sitz unter ihren nackten Schenkeln fühlte sich feucht an.

Vielleicht hatte die Fremde ja recht, überlegte Hanna, vielleicht sollte sie sich eine kurze Pause gönnen.

Hanna stieg aus, versuchte unauffällig ihre Shorts etwas weiter nach unten zu ziehen.

Jetzt hätte die Dunkelhaarige gehen können, sie hatte erreicht, was sie wollte und Hanna vor dem Hitzschlag bewahrt. Doch die Fremde wartete, bis Hanna sie ansah.

»Kommen Sie mit«, forderte sie sie auf und ging ein paar Schritte voraus. »Da vorn ist es schattig.«

Was sollte Hanna machen? Die Frau vor ihr war so bestimmend und würde nicht lockerlassen.

Hanna folgte ihrer Retterin, die zielstrebig einen leicht erhöhten Platz ansteuerte, auf dem Tische und Bänke scheinbar wahllos unter die schattigen Bäume gemauert worden waren. Mit einem Seitenblick auf Hanna holte die Dunkelhaarige eine leichte Strickjacke aus ihrer Umhängetasche, legte sie unter einen Baum und bedeutete Hanna, sich darauf niederzulassen. Auch diesmal gehorchte Hanna, sie nahm auch die Wasserflasche, die ihr die Fremde reichte, entgegen und besann sich sogar darauf, was man damit anstellen konnte. Nach einigen kräftigen Schlucken aus der erstaunlich kühlen Flasche merkte Hanna, wie ihre Lebensgeister allmählich zurückkehrten.

»Ich . . . bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen solche Umstände bereite«, stammelte sie.

Die Fremde, die sich neben sie ins Gras gesetzt hatte, reagierte nur mit einem unwilligen Kopfschütteln.

Es drängte Hanna, ihr zu erklären, dass sie keine Hilfe brauchte. »Wissen Sie, ich war in Gedanken und habe nicht gemerkt, wie heiß es war. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Danke.«

Hanna fand, dass sie das recht gut hinbekommen hatte, doch die Dunkelhaarige gab sich gänzlich unbeeindruckt. Sie blieb einfach sitzen und beobachtete Hanna, die unter dem prüfenden Blick aus den dunklen Augen immer nervöser wurde.

Was zur Hölle will sie? fragte sie sich. Um sich abzulenken, griff sie wieder nach der Wasserflasche.

»Ihnen scheint jemand ziemlich übel mitgespielt zu haben«, vernahm Hanna plötzlich die leicht kratzende Stimme neben sich.

Sie drehte den Kopf nicht, sondern starrte weiter auf den unter ihr liegenden Parkplatz.

Die Stimme wurde weich: »Vielleicht würde es Ihnen helfen, darüber zu reden. Ich weiß, wir kennen uns nicht, doch genau das könnte sich als Vorteil erweisen, meinen Sie nicht?«

Hanna kämpfte mit sich. Einerseits hätte sie sich der Frau am liebsten in die Arme geworfen, sich von ihr trösten lassen – das hätte die andere bestimmt getan, denn sie schien unter einer ausgeprägten Form des Helfersyndroms zu leiden –, auf der anderen Seite wollte Hanna allein sein, wollte sich in ihrem Schmerz vergraben, einschlafen und nie wieder aufwachen.

Sie tat nichts von beidem, statt dessen stand sie trotzig auf und meinte: »Ich habe noch eine lange Fahrt vor mir. Nochmals danke für Ihre Hilfe.«

Hanna wollte sich schwungvoll auf dem Absatz drehen, um wieder auf den schmalen Kiesweg zu gelangen, doch sie hatte ihre körperliche Verfassung überschätzt. Statt eines eindrucksvollen Abgangs legte sie fast eine Bauchlandung aufs Tapet.

Im letzten Moment war die Fremde aufgesprungen und fing die fallende Hanna auf. Jetzt lag sie also doch plötzlich in den Armen der Dunkelhaarigen. Die Wärme und die Weichheit, die dieser Körper, der Hanna umfangen hielt, ausstrahlte, waren zuviel für sie. Hanna konnte es nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Das hier fühlte sich gut an, ganz so, als müsste es sein. Die beruhigend streichelnde Hand auf ihrem Rücken nahm ihr die letzte Selbstbeherrschung, Hanna weinte hemmungslos.

Minuten waren vergangen, keine der beiden Frauen sprach. Das beruhigende Streicheln hatte nicht aufgehört, sondern sich gar auf Hannas Gesicht ausgeweitet. Allmählich versiegten die Tränen.

Krampfhaft überlegte sich Hanna eine Entschuldigung oder zumindest eine Erklärung für ihr peinliches Verhalten. Sie hatte sich aufgeführt wie ein Kleinkind und nicht wie eine erwachsene Frau, die sich mit großen Schritten der Vierzig näherte.

»Sag nichts«, flüsterte die Dunkelhaarige an Hannas Ohr, als sie gerade Luft holte, um zu sprechen.

»Aber ich . . . es tut mir . . .«

Weiter kam Hanna nicht, denn die Fremde legte ihr den Finger auf die Lippen und lächelte fast wehmütig. »Unsere Wege haben sich nur für einen kurzen Moment gekreuzt«, sagte sie leise. »Ich muss gehen . . . leider . . .« Die Frau griff nach der Strickjacke und entfernte sich mit schnellen Schritten.

Hanna blickte ihr verwirrt nach. Sollte sie dem Impuls nachgeben und ihr hinterherrennen? Bis sich Hanna jedoch zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, war die andere bereits zwischen den Autos verschwunden. Welches ihr Fahrzeug hätte sein können, ließ sich nicht ausmachen, es gab viel zu viele Möglichkeiten.

Was war das für ein seltsamer Tag, überlegte Hanna. Sie bückte sich nach der Wasserflasche, die ihre Retterin zurückgelassen hatte.

Ein Zeichen? Hanna lachte über diesen verrückten Gedanken, es war doch nur eine ganz gewöhnliche Wasserflasche, wie man sie in jedem Supermarkt kaufen konnte. Da sie noch halb voll war, nahm sie Hanna mit zu ihrem Auto. Sie entschloss sich, noch schnell die Toiletten aufzusuchen, sich frisch zu machen und auch etwas zu essen, denn ihr war in den Sinn gekommen, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte.

2

»Wer hat das verordnet?« Schwester Klaras Stimme donnerte durch die kleine Teeküche, in der sich die Stationsschwestern zu einer kurzen Pause getroffen hatten.

Hanna zuckte mit den Achseln. »Wer wohl? Doktor Heimer natürlich«, antwortete sie. Es bedurfte keiner hellseherischen Fähigkeiten, um drauf zu kommen, fand sie.

»Wenn ich den in die Finger kriege!« schäumte die Oberschwester. »Es ist schon das dritte Mal heute, dass wir das Bett von Frau Sturm neu beziehen müssen. Dieser Idiot!«

Niemand ging auf diesen Wutausbruch ein, denn Schwester Klara würde sich von selbst beruhigen. Und Doktor Heimer . . . er war nun mal der Oberarzt auf der Station. Seine Anweisungen erschienen dem geschulten Personal des Lindenkrankenhauses oft seltsam, aber es nahm nie jemand Schaden. Die Tage des Chefs waren gezählt, das hofften jedenfalls alle, seine Gedanken weilten seit Monaten beim Golfplatz in Spanien, wohin er sich nach seiner Pensionierung zurückziehen würde.

Im Krankhaus erzählte man sich die tollsten Geschichten über die Heldentaten des einst so genialen Chirurgen, der sich seine Karriere durch seine Spielsucht verbaut hatte und schließlich als Stationsarzt auf seinen unspektakulären Abschied wartete. Zwischen ihm und Schwester Klara hatte vor langer, langer Zeit eine heimliche Beziehung bestanden, von der natürlich alle im Krankenhaus Kenntnis hatten. Der Arzt versprach der Oberschwester wohl immer wieder, die Scheidung von seiner Frau einzureichen, doch es blieb bei leeren Worten. Dass sich Schwester Klara von Heimer abwandte, lag jedoch schließlich an einer weiteren Affäre des Geliebten, von der sie durch absichtliche Indiskretionen in der Cafeteria hatte erfahren müssen. Seither gingen alle in Deckung, wenn sich die beiden über den Weg liefen, denn man konnte nie sicher sein, wem die Sicherung durchbrennen würde.

Schwester Klara hatte die Demütigung nie verwunden, die ihr Heimer zugefügt hatte, der Arzt seinerseits macht Klara für das Ende seiner bequemen Ehe verantwortlich. Selbst Jahre nach dieser für das gesamte Krankenhauspersonal interessanten Zeit wusste niemand mit Bestimmtheit zu sagen, wer Heimers Frau die verschiedenen Affären ihres Ex-Mannes gesteckt hatte.

»Hey, träumst du?« Belinda riss Hanna unsanft aus ihren Gedanken. Die untersetzte Mittfünfzigerin, die es nicht lassen konnte, ihr Haar auffallend zu blondieren, war Hannas Stütze, Freundin, Nachrichtenmagazin und Stadtführerin. Keine kannte sich besser im Krankenhaus und dem Ort aus als sie. Mit mütterlicher Fürsorge hatte sie Hanna bei ihrem Stellenantritt vor über einem Jahr unter ihre Fittiche genommen und ihr so manchen Stolperstein aus dem Weg geräumt.

»Ach, ich dachte gerade über den verletzten Stolz der Frauen nach«, gab Hanna lachend zur Antwort.

»Diese alte Geschichte«, brummte Belinda. »Man sollte meinen, dass auch verletzter Stolz irgendwann mal verjährt. Kindergarten, das! Wir müssen los, ist gleich Visite«, informierte sie Hanna, die der Aufforderung sogleich Folge leistete.

Zum Glück hatte sie heute keinen Nachtdienst, dachte Hanna, als sie gegen acht Uhr das Krankenhaus endlich verließ. Die Abführmittel, die Frau Sturm bekommen hatte, wirkten immer noch.

»Gehen wir noch auf einen Absacker zu Billy?« fragte Belinda, die Hanna keuchend eingeholt hatte.

»Nein, heute lieber nicht«, antwortete Hanna, »ich muss noch Bücher sortieren.«

Belinda schnaufte: »Du und deine Bücher! Wie lange wohnst du schon in dieser Wohnung?« Sie gab die Antwort gleich selbst: »Ein Jahr, Süße! Ich kann nicht verstehen, dass du sie noch immer nicht fertig eingerichtet hast. Das ist doch kein Leben.«

»Ich habe nun mal ein kleines Leben, in dem es nur langsam vorwärts geht, wenn überhaupt«, erwiderte Hanna leicht verschnupft.

Belinda hatte ja recht, sie wusste es. Aber Hanna hatte sich lange nicht aufraffen können, so etwas wie Ordnung in ihr Leben zu bringen, und es fiel ihr auch heute noch schwer, diese Stadt und die Wohnung als ihr Zuhause anzusehen. Sie hatte monatelang aus Kisten, Taschen und Koffern gelebt.

Die Wohnung, über die sie in einem Supermarkt fast gestolpert war – das schwarze Brett, an dem sie angeschlagen war, hatte sich aus der Verankerung gelöst und stand so ungünstig, dass man einen Bogen drum herum machen musste – war lange Zeit nur mit einer Stehlampe, einer Luftmatratze, ein bisschen Geschirr und natürlich den paar Kisten bestückt gewesen.

Belinda hatte sie aus ihrer Lethargie herausgerissen, nachdem sie ziemlich klare Worte für das Chaos in der kleinen Wohnung gefunden hatte. Hanna schmerzten die Arme, wenn sie daran dachte, wie Belinda sie nach ihrem ersten Besuch in ihrer Bleibe fast täglich in irgendwelche Geschäfte geschleppt hatte und unnachgiebig darauf bestanden hatte, dass sie sich Möbel, Gestelle, Regale und weiß Gott was alles anschaffte.

Da Hanna nichts mehr sagte, schwieg auch Belinda. Nach kurzer Zeit jedoch meinte ihre Freundin: »Wenn du nicht mitkommen willst, ist das deine Sache. Ich frage mich aber, wie du jemals wieder jemanden finden willst, wenn du dich hinter deinen Büchern verkriechst.«

»Ich bin noch nicht soweit«, schnappte Hanna. »Außerdem kann es doch sein, dass ich gar niemanden finden will, oder?«

Belinda setzte ihr mitleidiges Lächeln auf, das Hanna des Öfteren schon fast in den Wahnsinn getrieben hatte. »Niemand will wirklich allein sein, das ist nur eine Ausrede! Du bist verletzt worden von wem auch immer, du bist geflüchtet, aber du hast deine Vergangenheit mitgenommen. Wenn du sie nicht endlich abschließt, bleibst du allein.«

»Danke, Frau Psychologin«, gähnte Hanna betont gelangweilt. Sie hatten diese Diskussion schon so oft geführt.

»Ich weiß, ich weiß«, seufzte Belinda. »Du willst kein Risiko mehr eingehen. Aber ohne Risiko geht gar nichts, Herzchen! Liebe ist immer ein Wagnis, aber ein Leben ohne Liebe ist weniger als ein kleines Leben!«

Der Hieb hatte gesessen. Hanna verzog das Gesicht. Ja, Belinda hatte wie immer recht, aber das änderte nichts daran, dass sie nicht bereit war, sich wieder auf jemanden einzulassen, die Wunden waren schlicht zu tief. Vielleicht, sinnierte Hanna, taten Verletzungen einfach auch länger weh, wenn man nicht mehr zwanzig war.

Vielleicht aber lag ihre Weigerung, sich auch nur auf den Gedanken an eine Beziehung einzulassen, daran, dass sie lange auf ein Zeichen von Birte gewartet hatte. Immer wieder hatte sie sich vorgestellt, dass ihre Ex-Freundin plötzlich vor ihrer Tür stand, sie um Verzeihung bat und ihr gestand, dass ein Leben ohne Hanna kein Leben mehr sei. Dieses Ereignis hatte bis zum heutigen Tag nicht stattgefunden – und die Wahrscheinlichkeit, das erkannte Hanna in jedem vernünftigen Moment, dass sie Birte je wiedersehen würde, lag bei exakt null Prozent.

»Belinda, sei mir nicht böse, ich habe einfach keine Lust auf Experimente«, sagte Hanna. Sie blieb stehen, hauchte ihrer Freundin einen flüchtigen Kuss auf die Wange und marschierte eilig durch die Quergasse, die zu ihrem Wohnblock führte.

Der Briefkasten gähnte Hanna wie üblich leer entgegen, die Werbeprospekte zählte sie nicht als Post. Auf der Treppe lag das Gratisblättchen der Stadt, das sich die Krankenschwester mitnahm.

Schon nach elf, stellte Hanna fest. Wie schnell doch die Zeit verging, wenn sie sich hinsetzte und Bücher sortierte. Sortieren konnte man es nicht wirklich nennen, was sie tat, sie schmökerte in den Büchern, legte sie weg, nahm sich einen anderen Stapel vor, stellte vielleicht ein Exemplar ins Bücherregal – alphabethisch geordnet, versteht sich, da war Hanna mit sich unnachgiebig – und griff zum nächsten, das sie aufschlug, durchblätterte, an einer spannenden Stelle hängenblieb. Sie hatte ihre Favoriten, die konnte sie fünfmal lesen und fand sie immer noch gut, herzerweichend oder fesselnd.

Vielleicht hätte ich Belinda heute sagen sollen, dass ich bei Billy nie und nimmer jemanden kennenlernen werde, der zu mir passt, überlegte Hanna, als sie Rita Mae Browns »Rubinroter Dschungel« weglegte. Belinda ging wie alle davon aus, dass ein Mann hinter Hannas Enttäuschung stand – und Hanna unterließ es, diesen Irrtum zu korrigieren.

Die Krankenschwester hatte keine Ahnung, wie ihre Kolleginnen reagieren würden, wenn sie wüssten, dass Hanna Frauen liebte. Als sie vor drei Jahren – auf Birtes Drängen – ihrer Mutter endlich reinen Wein eingeschenkt hatte, war diese an die Decke gegangen. Die Tirade, mit der sie ihre einzige Tochter eingedeckt hatte, wollte sich Hanna nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen, doch sie hatte bleibende Spuren in ihr hinterlassen.

Hanna hatte sich ihrer Mutter nie besonders nahe gefühlt, die Frau, die sie zur Welt gebracht hatte, war nie ihre Vertraute gewesen, dennoch verletzten ihre Worte sie so tief, dass sie den Kontakt mit ihr abbrach.

Seit dem Outing bei ihrer Mutter glaubte Hanna nicht mehr an die aufgeklärte und tolerante Gesellschaft. Wo sie früher einen lockeren Spruch über das schönere Geschlecht gemacht hatte, schwieg sie heute. Wo sie früher einer Frau mit Interesse begegnet war, wich sie heute aus. Nein, sie wollte keine Schwierigkeiten mehr, keine schiefen Blicke, kein Getuschel. Sie wollte einfach ihr kleines Leben unauffällig und ohne Verpflichtungen leben, so, als wäre sie eigentlich gar nicht da.

Seufzend erhob sich Hanna vom harten Boden, streckte sich und griff nach der Wasserflasche, die neben ihr gestanden hatte. Selbst nach über einem Jahr brachte sie es nicht übers Herz, diese Flasche zu entsorgen. Sie füllte sie immer wieder auf, trank immer aus der Flasche, nicht aus dem Glas. Es war ein Ritual geworden, das sie an jenen seltsamen Tag erinnerte, an dem sie beschlossen hatte, keine Verletzungen hinzunehmen und sich nie mehr dafür zu entschuldigen, dass es sie gab. Und natürlich erinnerte sie diese Flasche immer auch an die Unbekannte, die sie getröstet hatte. Rückblickend hatte sie wohl etwas mehr als nur getröstet, doch vielleicht interpretierte Hanna im Nachhinein die Situation auch nur durch eine leicht rosarot gefärbte Brille.

Beschwingt eilte Hanna durch die spätsommerlich warmen Straßen der Stadt. Drei freie Tage lagen vor ihr, und die wollte sie nutzen. Tatsächlich hatte sie sich entschlossen, ihrem Leben nebst der Arbeit, die sie liebte, einen tieferen Sinn zu geben. Seit sie diesen Entschluss gefasst und täglich nach dem Aufstehen vor dem Spiegel wiederholt hatte, war schon einiges passiert.

Als erstes begann sie, die inzwischen abonnierte Tageszeitung zu lesen und stieß dabei auf eine Rubrik, die ihr Interesse weckte: Kontaktanzeigen. So etwas gehörte in jede Zeitung, doch hier suchte nicht nur Sie ein Er oder Er eine Sie, sondern da machten sich auch verschiedene Sies Hoffnungen auf andere Sies.

Die Anzeigen sagten indes nicht besonders viel aus, fand Hanna, darum antwortete sie auf keine von ihnen. Da sie sich selbst nicht als besonders anziehend oder feminin empfand, schien sie auch nicht wirklich zu den Vorstellungen der Inserentinnen zu passen. Die Kontaktanzeigen erinnerten sie aber daran, wie sie vor langer Zeit – so kam es ihr wenigstens vor – Birte kennengelernt hatte. Damals hatte sie zu den Entdeckerinnen des Chats gehört und sich schließlich zu einem Date mit einer ihr bekannten Unbekannten hinreißen lassen. Die Liebe schlug ein, zumindest bei Hanna, an den Folgen hatte sie noch immer zu beißen.

Aber das Internet bot viele Möglichkeiten, dachte Hanna, und darum wollte sie sich einen PC leisten, um auch wieder zur großen Gemeinschaft der Glücksjägerinnen gehören zu können.

Im Fachgeschäft riet ihr ein sichtlich unmotivierter Verkäufer zu einem Laptop mit Bluetooth. Mit dem sei sie unabhängig, könne sich auch wireless an einem x-beliebigen Hot Spot ins Internet einwählen und so eigentlich unablässig online surfen, mailen und chatten. Diese Aussicht erschreckte Hanna. Sie wollte einfach ein Gerät, das für die alltäglichen Dinge tauglich war, aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit so einem Objekt in der Tasche durch die Gassen zu wandern. Schließlich fiel ihre Wahl auf ein deutlich günstigeres Computermodell, das zwar mit der neuesten Version des Betriebssystems aufwartete und auch über diverse Extras, deren Namen in Hannas Ohren wie die Zutaten zu einem thailändischen Essen klangen, verfügte, aber doch noch für eine Normalsterbliche zu bedienen war. Der Verkäufer wickelte den Handel mit stoischer Miene ab und vergaß sich zu verabschieden, doch das berührte Hanna nicht.

Am nächsten Morgen wurde ihr Gerät geliefert. Hanna brauchte Stunden, um sich durch die Betriebsanleitung zu lesen, doch irgendwann, die Nachmittagssonne stand schon tief, machte die Maschine das, was Hanna von ihr verlangte, und endlich hatte sie auch ihr Internetkonto eröffnet. An diesem Abend holte Hanna fast drei surffreie Jahre nach.

Das schrille Geräusch hörte nicht auf. Hanna drehte sich von einer Seite auf die andere, versuchte ihrem wirren Traum eine andere Richtung zu geben, doch der schrille Ton blieb hartnäckig und ließ sich nicht wegträumen. Allmählich tauchte Hanna aus ihrer Traumwelt auf. Halbwach stellte sie fest, dass sich die Türklingel in ihren Schlaf gedrängt hatte.

»Ich komm ja schon, verflixt noch mal!« knurrte sie missmutig.

Im zweiten Anlauf schaffte sie es, aus dem Bett zu kommen, die Pantoffeln anzuziehen und nach dem Morgenmantel zu greifen. Bis sie den allerdings korrekt angezogen hatte, schrillte die Türklingel weitere Minuten ohne Unterlass.

So was Lästiges! Wer kann das sein? fragte sich Hanna nun doch etwas alarmiert. Sie erwartete keinen Besuch, wer hätte sie denn auch besuchen sollen?

Vorsichtig öffnete Hanna die Wohnungstür einen Spalt breit. Vor ihr stand Belinda und streckte ihr zwei Papiertüten entgegen, die einen einladenden Duft verströmten. Inzwischen war Hanna wach genug, um zu registrieren, dass wohl der Inhalt der Tüten für den Duft verantwortlich war, dennoch konnte sie ihn noch nicht einordnen.

»Oh, da hat wohl jemand eine lange Nacht hinter sich«, lachte Belinda.

Sie wartete nicht darauf, dass sie hereingebeten wurde, schließlich kannte sie sich in Hannas Wohnung aufgrund der Möblierungsaktionen ebenso gut aus wie diese selbst. Unaufgefordert schob sie sich an der gähnenden Krankenschwester vorbei und ging schnurstracks in die Küche. Die Kaffeemaschine gurgelte wenige Minuten später fröhlich vor sich hin, während Belinda in den Schränken nach Tellern, Tassen und Besteck suchte.

Hanna, noch immer nicht ganz bei sich selbst angekommen, verzog sich derweil ins Bad. Sie stellte sich unter die Dusche, wartete geduldig, bis ihre Lebensgeister sich regten. War sie mit Belinda verabredet gewesen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Vielleicht hatte sie es mit dem Surfen doch etwas übertrieben . . .

»Hanna, wie lange brauchst du noch? Der Kaffee wird kalt«, tönte es aus der Küche.

Rasch zog sich Hanna an und gesellte sich zu Belinda, die inzwischen den kleinen Tisch gedeckt hatte.

»Jetzt wird erst mal richtig gefrühstückt«, beschied ihr Belinda in ihrer liebevoll autoritären Art. »Dann überlegen wir uns, was wir mit dem freien Tag anfangen.«

»Ähm, Belinda«, begann Hanna, »ich weiß nicht, wie ich sagen soll . . .«

»Immer geradeheraus«, lachte Belinda, »nur keine Umschweife!«

Wenn du mich ausreden lassen würdest, erwiderte Hanna in Gedanken und hob erneut an: »Waren wir denn für heute verabredet?«

Belindas Lachen erfüllte die Küche. Eine wahre Frohnatur, diese Frau, dachte Hanna wenig amüsiert, aber muss sie wirklich so laut sein?

»Nein, Herzchen, waren wir nicht, aber das ist doch kein Problem«, beschied ihr die Kollegin. »Wann kommt es denn schon vor, dass wir am gleichen Tag frei haben? Das müssen wir ausnutzen!« Da Hanna die offensichtliche Begeisterung nicht teilte, hakte Belinda nach: »Du hast doch nicht etwa schon etwas vor?«

Wahrheitsgemäß schüttelte Hanna den Kopf. Nein, sie hatte nichts Konkretes geplant, nur wäre sie nach ihrem Internet-Exzess gern länger im Bett geblieben. Das konnte sie vergessen, jetzt war Belinda da, und es war klar, wer nun das Kommando führte.

Da Gegenwehr sinnlos war, ergab sich Hanna ihrem Schicksal und hörte sich brav an, was ihre Kollegin geplant hatte.

Diese war selbstredend mit einem Plan A: »Wir stürmen das Möbelhaus, schließlich hat es in deiner Wohnung noch jede Menge Leerräume!«, einem Plan B: »Wir gehen in die Spielhalle, um die Mittagszeit sind dort unglaublich viele gut aussehende Männer anzutreffen« und einem Plan C: »Wir setzen eine Kontaktanzeige für dich auf, es muss endlich was passieren« angerückt.

Hanna wand sich bei jedem vorgetragenen Angebot mehr. Die Kontaktanzeige aber schlug dem Fass den Boden aus. In klaren Worten, Hanna staunte darüber wohl noch mehr als Belinda, erklärte sie, dass Plan B und C absoluter Quatsch seien, sie sich im Leben nicht auf so etwas einlassen würde und Belinda ihre karitative Ader doch bitte im Krankenhaus oder bei der Heilsarmee ausleben solle.

Nach dem ersten Schock, Belinda schnappte tatsächlich nach Luft, verschluckte sich nebenbei an ihrem Hörnchen mit Honig und erlitt daher einen beängstigenden Hustenanfall, lachte sie und meinte: »Gut, dann also ins Möbelhaus.«

Erleichtert atmete Hanna aus.

»Um die anderen Dinge kümmern wir uns später«, schob Belinda in diesem Moment nach.

Es hatte keinen Sinn, darauf zu reagieren. Resigniert kaute Hanna an ihrem Bissen Brot und spülte ihn mit lauwarmem Kaffee hinunter.

»Ich bräuchte einen ordentlichen Bürostuhl«, informierte Hanna ihre Kollegin. Es war an der Zeit, dass sie wieder darüber bestimmte, was sie brauchte und was nicht.

Belinda nickte begeistert, endlich ein brauchbarer Beitrag von Hanna, wird sie sich gedacht haben.

Eine Stunde später betraten die beiden Frauen das Möbelhaus und steuerten ohne Umwege in die Abteilung »Büromöbel«. Hanna erwies sich als anspruchsvolle Kundin. Während Belinda die optischen Aspekte als wichtig taxierte, prüfte Hanna jeden Stuhl auf seine Stabilität und Bequemlichkeit.

Inzwischen war eine Verkäuferin auf das Duo aufmerksam geworden. Mit professionellem Lächeln steuerte die großgewachsene Brünette auf die potentiellen Kundinnen zu.

»Darf ich Ihnen behilflich sein?« fragte sie mit dunkler, freundlicher Stimme.

Die gäbe eine gute Krankenschwester ab, urteilte Hanna belustigt.

Belinda hielt sich mit derartigen Gedanken nicht auf. Sie erklärte der Frau, was sie suchten und beschrieb mit weit ausholenden Gesten Hannas Wohnung.

Das fand diese allerdings ziemlich überflüssig und mischte sich darum ein: »Ich brauche einen Bürostuhl, der bequem ist, langes Sitzen ermöglicht und den heute geltenden ergonomischen Standards entspricht.«

Zum zweiten Mal an diesem Morgen konnte Belinda ihr Erstaunen über Hanna nicht verbergen.

Die Verkäuferin, S. Mayer stand auf ihrem Namensschildchen, wandte sich ihr augenblicklich zu. Ihre blauen Augen musterten sie amüsiert und interessiert.

»Ergonomisch? Oh, da sind Sie bei uns an der absolut richtigen Adresse. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen die neuesten Modelle. Sie werden begeistert sein. Ich selbst . . .«

Frau S. Mayer lebte für ihren Beruf. Die Begeisterung, mit der sie Hanna die verschiedenen Stuhlmodelle vorführte und probesitzen ließ, konnte nicht gespielt sein. Hanna war es schleierhaft, wie sich die Frau alle technischen Daten, statistischen Angaben, Umfrageergebnisse unter Kunden, Herstellungsdetails und anderes mehr merken konnte. Vielleicht erfand sie diese Dinge ja nur, argwöhnte Hanna darum. Frau Mayer aber tappte in keine der »Fallen«, die ihr Hanna im Verlauf des Verkaufsgesprächs stellte, und so beschloss sie, der Frau uneingeschränkt zu vertrauen.

Belinda hatte sich inzwischen in die Küchenabteilung verzogen, nachdem sie feststellen musste, dass ihre Meinung in Sachen Bürostühle überhaupt nicht gefragt war.

Frau S. Mayer wirkte jünger, als sie tatsächlich sein konnte. Sie erzählte von ihrer langjährigen Berufserfahrung, dabei nannte sie die Zahl 20 als Orientierungshilfe. Hanna betrachtete sie daraufhin etwas genauer. Das braune Haar der Verkäuferin wies doch etliche graue Verzierungen auf, stellte sie fest, die Lachfältchen um die blauen Augen hatten sich schon tief eingegraben, und auch die Stirn zeigte Spuren eines doch schon etwas längeren Lebens.

»Jetzt möchte ich Ihnen noch das Neueste vom Neuen zeigen«, kündigte S. Mayer an. »Dieser Stuhl ist eben erst eingetroffen, ein absolutes Highlight könnte man sagen!«

Hanna befürchtete, dass dieses Highlight auch ziemlich high im Preis sein würde, denn selbst die normalen Bürostühle, die sie inzwischen begutachtet und getestet hatte, kosteten mehr, als Hanna sich vorgestellt hatte.

»Nein, nein, das ist nicht nötig«, wiegelte sie darum ab. »Ich habe mich für den schwarzen Stuhl da hinten entschieden, der passt genau.«

Die Verkäuferin lächelte verständnisvoll. Sie hatte wohl bemerkt, dass Hanna beim Blick auf die kleinen, gut getarnten Preisschilder etwas blass um die Nase geworden war.

»Das ist eine sehr gute Entscheidung«, bestätigte sie glaubhaft. »Aber den neuesten Stuhl möchte ich Ihnen trotzdem zeigen. Der ist wirklich toll! Ich könnte ihn mir zwar nicht leisten, obwohl ich als Angestellte Rabatt hätte – dieser Preis ist jenseits von Gut und Böse. Das Gefühl, auf so einem Hightech-Gerät zu sitzen, dürfen Sie sich aber auf keinen Fall entgehen lassen!«

Diese Frau hätte Hanna für eine Reise in die Antarktis einen Bikini verkaufen können, so überzeugend wirkte sie. Hanna war darum sehr erleichtert, dass sie ihre Entscheidung, einen der billigsten Stühle zu kaufen, anerkannte. Warum sie ihr trotzdem das neueste Modell zu einem, wie Hanna jetzt sah, exorbitanten Preis vorstellen wollte, blieb ihr ein Rätsel.

Das Polster leuchtete knallrot, doch ansonsten sah man dem Stuhl nicht an, dass er etwas Besonderes sein sollte. Misstrauisch setzte sich Hanna – und hätte fast einen Schrei ausgestoßen. Die Sitzfläche federte leicht nach, jede Bewegung, die Hanna machte, wurde gedämpft, es gab kein Ruckeln, Rütteln oder Wackeln. Hanna kam sich vor, als sitze sie auf einer Wolke.

Frau Mayer, die Hanna aufmerksam beobachtet hatte, strahlte zufrieden. »Sehen Sie?« fragte sie rhetorisch. »Wäre doch schade gewesen, hätten Sie auf dieses Gefühl verzichtet!«

Hanna nickte zustimmend. Mit Bedauern erhob sie sich aus dem Wunderstuhl und wandte sich dem wesentlich günstigeren, gewöhnlicheren Modell zu.

Der Verkauf war schnell abgewickelt. Hanna erhielt einen Beleg, mit dem sie an der Laderampe ihren Stuhl abholen konnte. Jetzt musste sie nur noch Belinda finden, dann konnte sie sich wieder ihrem PC zuwenden und in die Weiten des Internets eintauchen.

Hanna musste ihre ganze Überzeugungskraft einsetzen, um Belinda klarzumachen, dass sie durchaus allein in der Lage war, die vier Teile, in die der Stuhl zerlegt war, zusammenzusetzen. Schließlich kapitulierte die beste Freundin und überließ Hanna endlich ihrem freien Tag. Davon war nicht mehr allzu viel übrig. Rasch schraubte Hanna ihre Neuerwerbung zusammen, setzte sich und drehte sich glücklich ein paar Mal im Kreis. Das Leben begann wieder Spaß zu machen, zumindest manchmal.

3

Bei ihrem letzten Ausflug auf die verschiedenen Seiten, die von Frauen für Frauen gestaltet worden waren, hatte Hanna einige entdeckt, die sie sich als Favoriten abgespeichert hatte. Heute würde sie sich diese etwas genauer ansehen und dafür keine Zeit mit ziellosem Suchen verschwenden.

Bei der ersten Seite, die sie anklickte, blieb sie bei den verschiedenen Texten, Gedichten und Kurzgeschichten hängen. Ziemlich amüsant, fand sie, und manchmal errötete sie, da die Verfasserinnen kein Blatt auf die Tasten gelegt hatten. Die Seite bot noch mehr, doch Hanna wollte sich auch über die Inhalte der anderen Favoriten informieren und klickte sich darum auf die nächste Homepage.

Hier brauchte sie wenig Zeit, um zu merken, dass es sich dabei lediglich um die Sparte »Spezialinteressen« eines großen Online-Buchversands handelte. Sie schaute sich dennoch einige Buchtitel an, las entsprechende Bewertungen und ehe sie sich’s versah, hatte sie sich drei Romane bestellt.

Auf der dritten Seite ihrer Liste verweilte Hanna nur kurz. Da sie vorwiegend in englischer Sprache gehalten war, verging Hanna bald die Lust. Zwar schienen die Themen interessant zu sein, doch sie hatte ihre eher mangelhaften Englischkenntnisse schon zu lange brachliegen lassen, als dass sie recht schnell hätte Texte übersetzen können. Hanna nahm sich vor, sich bei Gelegenheit nach einem Auffrischungskurs in Englisch umzusehen.

Die nächste Seite, wieder in Deutsch, lockte mit verschiedenen Foren, einem Chat, Ausgehtipps, Kontaktanzeigen und vielem mehr. Hanna sah sich die einzelnen Bereiche interessiert an. Schließlich entschloss sie sich, den Schritt in den Chat zu wagen.

Inzwischen fühlte sie sich im Umgang mit dem PC, insbesondere mit dem Internet, wieder vertraut genug, um sich ein E-Mail-Konto einzurichten und sich mit einem Nickname Möwe anzumelden.

Im Chat tummelten sich rund ein Dutzend Frauen. Einige bemerkten, dass jemand Neues hinzugekommen war und begrüßten Möwe mit einem kurzen »Hallo, willkommen« oder ähnlich, doch die meisten schienen durch ihre Unterhaltungen so beansprucht zu sein, dass sie sich nicht um Hanna kümmerten.

Hanna versuchte herauszufinden, über welches Thema sich die Chatterinnen unterhielten. Bald stellte sie fest, dass drei verschiedene Gruppen kreuz und quer Unterhaltungen führten, denen zu folgen unmöglich war. Seltsamerweise gab es auch immer wieder lange Pausen, in denen niemand etwas schrieb, was Hanna irritierte. Sie holte sich bei der Seite mit der Anleitung zum Chat Hilfe und kam rasch zum Schluss, dass sich die Teilnehmerinnen flüsternd austauschen mussten, also unter Ausschluss der Chat-Öffentlichkeit.

»Na toll«, knurrte Hanna. »Da krieg’ ich das Wesentliche ja gar nicht mit!«