Thomas Oberender

Empowerment Ost

Wie wir zusammen wachsen

Tropen Sachbuch

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Tropen

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-50470-5

E-Book: ISBN 978-3-608-12014-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

21. Juli 2019 Der Park Akadimia Platonos liegt nordwestlich des Zentrums von Athen. Seine großen, trockenen Wiesen sind im Sommer von breiten Wegen und Trampelpfaden durchzogen. Zwei einspurige Fahrstraßen trennen den Park in kleinere Teile. Kinder spielen hier, Jugendliche machen Musik und die verschiedensten Communitys bilden ihre sozialen Inseln im Grünen.

Im südöstlichen Teil, oberhalb der Vasilikon Straße und unweit der Agios-Trifon-Kirche, befindet sich der archäologische Park der Platon Akademie. 387 v. Chr. hat Platon hier einen Kultbezirk für die Musen und seine philosophische Schule gegründet, in einem Hain außerhalb der Stadtmauern Athens, der nach dem mythischen Helden Akademos Akademeia genannt wurde. Die auf einem tiefer gelegenen Plateau des Parks gelegenen Grundsteine des antiken Schulgebäudes bilden ein Karree aus kniehohen Mauersteinen, denen die umstehenden Olivenbäume und Pinien Schatten spenden.

Wie durch ein Wunder konnte diese historische Stätte über viele Jahrhunderte hinweg von den Athenerinnen und Athenern als ein freier, öffentlicher Ort erhalten werden.

2015 gründete die Künstlerin Joulia Strauss in Platons Garten die Avtonomi Akadimia – eine autonome Akademie, die ihr Bildungskonzept als eine Form aktivistischer Praxis versteht. Zugleich war Strauss’ Akademie Teil des Widerstands vieler Anwohner und Athener gegen die geplante Überbauung des Parks durch eine Shopping Mall, wie sie von der Firma BlackRock geplant worden war. Dank der vielfältigen Proteste wurden diese Pläne in letzter Sekunde abgewendet, die Akademie hingegen lebt seither weiter. Nachdem wir bei den Berliner Festspielen anlässlich des 30. Jubiläums der Maueröffnung den abgerissenen Ostberliner »Palast der Republik« als einen »Palast der Gegenerzählungen« im Westen der Stadt wieder errichtet hatten, wurde ich drei Monate später von der Avtonomi Akadimia eingeladen, in Athen von meinen Erfahrungen mit der deutschen Wiedervereinigung zu berichten. Ungefähr 30 Gäste aus Griechenland, England und Deutschland waren gekommen. Als wir begannen, war die Sonne gerade hinter den alten Pinien verschwunden, am Ende unserer Begegnung war es tiefe Nacht.

Dieser 21. Juli war Tag eines heftigen Erdbebens, dessen Epizentrum nur 60 Kilometer von Athen entfernt und ungewöhnlich nahe der Erdoberfläche lag. Ich erlebte die wenigen, aber starken Erdstöße gegen Mittag in einer Apotheke, die plötzlich erbebte, als würde ein Panzer das Gebäude rammen – die Arzneimittel fielen aus den Regalen und die Angestellten liefen, ohne sich weiter um ihre Kunden und Kasse zu kümmern, telefonierend ins Freie. Jetzt, am Abend in diesem Garten, saßen die Besucherinnen und Besucher der Akademie auf den antiken Steinen des Schulgebäudes und verteilten Wasser und Antimückenspray.

Joulia Strauss: Nehmen wir uns drei Minuten, um uns mit dem Herzschlag der Erde zu synchronisieren.

Thomas Oberender: Oh ja, der Herzschlag der Erde war heute intensiv zu spüren, danke. Es freut mich sehr, dass wir uns in diesem besonderen Garten treffen. Ich werde von Erfahrungen sprechen, über die ich selten rede. Ich habe mich über diese Einladung sehr gefreut und es macht in Griechenland auch einen besonderen Sinn, über die deutsch-deutsche Geschichte aus einer spezifischen Perspektive zu sprechen, die im Ausland, das Deutschland eher als einen machtvollen, monolithischen Block erlebt, kaum wahrgenommen wird. Das gilt auch für das Selbstbild der Deutschen in Deutschland , das in den Medien und im politischen Diskurs überwiegend westdeutsch geprägt ist. Die Lage im Osten Deutschlands, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist mir besonders nah, da ich in Ostdeutschland geboren wurde und zur letzten Generation zähle, die dort noch erwachsen wurde. Zugleich haben die Wahlerfolge der rechtspopulistischen AfD heute zu einem sehr viel breiteren Interesse an den gesellschaftlichen Entwicklungen in den neuen Bundesländern geführt – was mit einer scheinbar kaum erklärbaren Polarisierung zwischen einem sich politisch radikalisierenden Osten und bürgerlich gemäßigten Westen verbunden ist. Auch ich möchte das nicht erklären. Ich bin kein Soziologe oder Historiker, sondern folge meinen Erinnerungsspuren an die letzten 30 Jahre und versuche, die Entwicklung meiner eigenen Gefühle zu verstehen.

Rückblickend fällt mir auf, dass ich nie Ostdeutscher sein wollte, weder in der DDR noch danach. Ich habe mich auch lange nicht als solcher empfunden. Als ich in der ehemaligen DDR aufwuchs, fühlte ich mich, als ob ich bereits »draußen« wäre. Die DDR, dieses offizielle Land mit seinen Behörden und Riten, das waren die anderen. Ich war 23, als die Mauer geöffnet wurde. Aber ich hatte auch zuvor nie das Gefühl, auf Dauer hinter der Mauer eingesperrt zu bleiben. Ich war überzeugt, ich würde rauskommen, ohne fliehen zu müssen – durch meine Arbeit, meine Neugier, Intelligenz, etwas, das sich nicht einsperren lässt. Vielleicht war das nur jugendliche Zuversicht, aber ich war mir dessen gewiss. Ich wurde in der DDR durch Westliteratur geprägt, die Romane Pynchons, die Denker der jungen Postmoderne, Grenzgänger wie Heiner Müller und vor allem natürlich Popmusik, Fernsehen und Kino aus dem Westen. Dieses zu uns gelangte Aroma des Westens erzeugte auf magische Weise eine Erfahrung von Freiheit. Das war der »Westen« – viel mehr als seine politische und wirtschaftliche Realität. Die Distanz zum DDR-Staat, seinem Militarismus mit Schulappellen und Handgranatenweitwurf im Schulsport, diese Angst, ständig für irgendwas bestraft werden zu können, all das führte im Laufe der Zeit zu einer inneren, alternativen Realität, in der ich mehr zu leben glaubte als in dem offiziellen Land, das mich umgab. Sieht man von wenigen Lehrern oder Freunden ab, waren es nur die Kunst und Popkultur, die eine andere Sprach- und Empfindungswelt förderten, und so bewegte ich mich mitten in der späten DDR irgendwo zwischen James Baldwin, Perestroika und Neuer Deutscher Welle.

Und, wie soll ich sagen, in diesem »Garten« konnte ich wachsen. Andere konnten das in diesem Land nicht, sind ausgereist oder geflohen oder haben sich radikalisiert. Ich habe die Abgeschlossenheit und Überwachung ertragen, weil es daneben auch etwas anderes gab – die Familie, Freunde und die erste Liebe, Bildung, einen offenen Diskurs in der Kirche und Erfolge in vielen kleinen Dingen. Ich hielt mich an Menschen, die kritisch waren, wach, oft älter als ich. Und als in diesem zerbröselnden Staat 1989 die Proteste lauter wurden, fühlte es sich für uns vollkommen natürlich an, dass dieser Wandel kam, dass – dieser »inneren« Realität folgend – nun auch da »draußen« andere Verhältnisse entstanden.

Mit der ostdeutschen Identität war es also schon zu Ostzeiten eine spezielle Sache. Zum »Bürger der DDR« bin ich damals vor allem dann geworden, wenn ich Menschen aus dem Westen getroffen habe. Ihnen habe ich diesen Staat seltsam hingebungsvoll erklärt und ihn in der Regel verteidigt, obwohl ich sonst in kritischer Distanz zu ihm stand. Als ich in Weimar zur Berufsschule ging, war ich einer der ausgesuchten Lehrlinge des Kombinats Fortschritt, die an einer Schülerbegegnung mit Abiturienten aus Westdeutschland teilnehmen durften. Sie waren, einer Tradition der dortigen Schulen folgend, auf eine Bildungsreise in die DDR gekommen, wofür die Klassikerstadt Weimar ein besonders beliebter Ort war. Die Fragen und kritischen Beobachtungen der Jungen und Mädchen von »drüben« führten dazu, dass ich, und nicht nur ich, beteuerte, dass diese DDR nicht nur Unfreiheit und Zerfall produziert, sondern auch einige, sonst kaum erwähnte Errungenschaften. Und nach diesem Treffen ging ich dann zurück in dieses Land, mit einem geschenkten Kaugummi im Mund, und konnte mich und meine Worte nicht fassen.

So, wie ich heute noch immer staune, wenn ich mir den Anfang der Revolution von 1989 in Erinnerung rufe: Sie begann mit einer Handvoll mutiger Leute. In Leipzig, Jena, Berlin und bald in vielen Orten der DDR. Diese kleinen Gruppen protestierender Leute hatten aufgehört, Angst zu haben. Entgegen der eigenen Erinnerungsbilder waren es eben keine Menschenmassen, sondern ein paar Dutzend Menschen, die auf die Straße gingen.

Im Sommer 1989 gab es eine große Auswanderungswelle aus der DDR über Ungarn und über die Botschaft der BRD in Prag. Auch deshalb wurden die Auseinandersetzungen in der DDR langsam offener geführt. Und neben den Flüchtenden gab es immer mehr Menschen, die sich bewusst entschieden zu bleiben, um dieses Land zu verändern. Schon lange zuvor hatten sich verschiedene Reformkräfte unter dem Dach der Kirche organisiert und eine unabhängige Umwelt- und Friedenspolitik betrieben oder versucht, vielerorts die Altstädte vor dem Verfall zu retten. In einigen Städten gingen diese Leute irgendwann nach den Friedensgebeten aus den Kirchen hinaus auf die Straßen.

Damals hatte ich gerade meine Armeezeit hinter mir. Das hat meine Wahrnehmung der Straßenproteste sehr geprägt. Anfang Juni 1989 wurden beim Tian’anmen-Massaker in Peking zweieinhalbtausend demonstrierende Studenten ermordet. Ich dachte, dass so etwas auch in der DDR passieren kann, wenn sich der Protest in einen Massenprotest verwandelt. Ich hatte eben noch in dieser durchideologisierten Armee gedient, hatte Offiziere erlebt, die unsere Spinte kontrollierten, uns rückwärtslaufen ließen, wenn wir die Hand nicht schnell genug zum Gruß am Mützenrand erhoben hatten – diese Stasiprofis und Parteimitglieder sollten das Aufbegehren kampflos geschehen lassen? Bei den ersten großen Demonstrationen spürte ich vor allem, dass es gefährlich war. Aber ich spürte auch, wie gut es sich anfühlte.

Anfang September 1989 war ich in Leipzig unvermittelt zum ersten Mal in eine solche Demonstration geraten. Ich wollte einen Freund besuchen, einen Maler, der am anderen Ende der Stadt wohnte. Auf einmal stoppte die Straßenbahn am Leipziger Zoo und ich musste zu Fuß weiterlaufen, ohne dass eine Erklärung gegeben wurde. Auch die große Ringstraße war gesperrt. Als ich auf den Leipziger Hauptbahnhof zuging, sah ich etwa 30 oder 40 Menschen in der Nähe des Haupteingangs demonstrieren. Ich weiß, dass sich am 4. September zum ersten Mal tausend Demonstranten rund um die Nikolaikirche versammelten, und die Menschen, die ich am Bahnhof sah, waren wahrscheinlich ein Teil dieser Proteste. Die Polizei hatte Straßensperren errichtet, wie man sie sonst von den Jubelumzügen am 1. Mai kannte. Auf der einen Seite standen die Leipziger und applaudierten den Demonstranten auf der anderen Seite des Zauns. Das waren Menschen, die wirklich etwas riskierten. Und während auch ich ihnen applaudierte – wie die anderen um mich herum –, dachte ich: Du kannst doch nicht diesen Leuten ›Bravo‹ zurufen und sagen, ›Hey, toll, dass ihr das macht!‹, und selbst nur Zuschauer bleiben. Also kletterte ich über die Absperrung und ging zu ihnen. Aber es war durchaus seltsam – sie kannten mich ja nicht. Sie konnten nicht wissen, ob ich von der Stasi bin, und ich mochte auch nicht einfach ihre Slogans mitbrüllen. Ich wollte nur bei ihnen sein. Tatsächlich war ihnen das ziemlich egal. Ich sah, wie Polizisten kamen und jemanden aus der Gruppe ergriffen, herauszogen und wegbrachten. Aber keiner hörte auf. Ich fühlte mich unter ihnen wie ein Zuschauer, allein, fremd, hatte natürlich auch Angst und wollte jetzt dringend diesen Freund, zu dem ich unterwegs war, als Verstärkung holen. Ich lief also los und sah auf dem Weg in nahegelegenen Seitenstraßen zum ersten Mal diese vielen Mannschaftswagen mit heruntergeklappten Rückplanken, in denen Bereitschaftspolizisten warteten. Als ich bei meinem Freund ankam, war er nicht zu Hause. Von seiner Freundin erfuhr ich Monate später, dass er an diesem Tag auf der anderen Seite gestanden hatte, bei den Stasi-Leuten. Sie erzählte mir, dass er schon als Teenager angeworben wurde. Es war eine übliche Perfidie der Stasi, den diffusen Idealismus, Ehrbegriff und sicher auch etwas Einsames bei Minderjährigen auszunutzen – das hätte mir vielleicht genauso passieren können.