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Cristina Cattaneo

Namen statt Nummern

Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers

Aus dem Italienischen von Barbara Sauser

Vorwort von Sacha Batthyany

Rotpunktverlag

Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel Naufraghi senza volto. Dare un nome alle vittime del Mediterraneo bei Raffaello Cortina Editore, Mailand, erschienen.

Die Übersetzung erscheint mit finanzieller Unterstützung der Paul Grüninger Stiftung. Der Verlag bedankt sich hierfür.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2018 Raffaello Cortina Editore, Mailand
© 2020 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)

Die gedruckte Ausgabe enthält einen 8-seitigen Bildteil.

Fotos Umschlag: Mattia Balsamini

Lektorat: Sarah Wendle

1. Auflage 2020
eISBN 978-3-85869-875-9

Inhalt

Es bedeutet alles

Vorwort von Sacha Batthyany

1

Oktober 2013

Den Toten einen Namen geben

2

Katastrophen

Die Toten gleich behandeln

3

Die Herausforderung von Lampedusa

Wer sucht, der findet

4

Die ersten Identifizierungen

»Es ist richtig, dass wir hier sind«

5

Die dreizehn von Catania

»Sie nehmen etwas Erde aus der Heimat mit«

6

Melilli

Ein Leichenhaus am Meer

7

Der »Barcone«

Was diese Toten erzählen

8

Der letzte Akt

Ein Anfang

Es bedeutet alles

Vorwort von Sacha Batthyany

Ihren Namen hörte ich zum ersten Mal auf einem Schiff ein paar Seemeilen vor der Küste Lampedusas. »Cristina Cattaneo gibt uns unsere Würde zurück«, sagten mir ein paar Eritreer, die ich tags zuvor kennengelernt hatte. »Sie setzt sich für uns ein.« Es war ein sonniger Nachmittag Anfang Oktober 2018, leichter Wellengang. Ich war als Journalist vor Ort, um über das Schiffsunglück zu berichten, das sich hier fünf Jahre zuvor ereignet hatte und das Europa verändern sollte.

Am 3. Oktober 2013 kenterte ein alter Fischkutter achthundert Meter vor der italienischen Insel Lampedusa. Er war in der libyschen Hafenstadt Misrata losgefahren und schon seit zwei Tagen auf See, als der Motor ausfiel. Mehr als fünfhundert Männer, Frauen und Kinder waren dem Wind und der Strömung ausgesetzt, die ersten Lichter auf der Insel waren bereits erkennbar, da zündete der Kapitän ein Leintuch an, um Hilfe zu holen. Er schwang es hin und her, ein Fetzen verfing sich im Maschinenraum, das Feuer geriet außer Kontrolle. Einige sprangen ins Wasser, andere waren unter Deck eingesperrt. Fischer, die zufällig in der Nähe waren, zogen 155 Menschen aus dem Wasser, 366 Menschen ertranken.

Fünf Jahre danach legte der Bürgermeister Lampedusas einen Kranz ins Wasser, an der Stelle, an der er das Unglück vermutete. Ich stand an der Reling und sah zu, wie Angehörige der Opfer sich an den Händen hielten, sie beteten und sangen und weinten, bis wir eine Stunde später wieder an Land gingen. Am Abend fanden Straßenumzüge statt, Teelichter wurden angezündet, Gottesdienste gehalten. Und in den Gesprächen mit den Menschen, die auf Lampedusa im Gedenken an die Toten zusammenkamen, fiel immer wieder dieser eine Name: Cristina Cattaneo.

Schon vor dem Schiffsunglück vom 3. Oktober 2013 ertranken Flüchtlinge im Mittelmeer. Nie zuvor aber sah man so viele Särge auf einmal. Die Fernsehbilder über die Tragödie brachte die Flüchtlingskrise in die beheizten Stuben der Menschen Europas, denen es bis dahin so gut gelungen war, auszublenden, was draußen auf dem Wasser täglich passiert. Wegsehen war nun aber nicht mehr möglich.

Mit Cristina Cattaneo in Kontakt zu treten, der Forensikerin aus Mailand, war nicht ganz einfach, sie sei »wahnsinnig beschäftigt«, so schrieb sie es in einer E-Mail, und oft unterwegs. Ihre Assistentin sagte, sie möge es nicht, zu weit im Voraus zu planen, es könne ja immer ein Notfall eintreten, für den sie alles stehen und liegen lassen müsse. Und mit Notfällen kennt sie sich aus.

Cristina Cattaneo hat in England und Kanada studiert, hat sich früh einen Namen gemacht für die ganz schwierigen Fälle, Kindsmissbrauch, Vergewaltigungen, Folter, Mord. Sie untersucht seit Jahren anonyme Leichen, die man nicht zuordnen kann und die, falls die Suche nach ihrer Identität scheitert, namenlos begraben werden. »Jeder Fall erzählt eine andere Geschichte«, sagt sie, als wir uns in Mailand treffen, Wochen nachdem mir die Eritreer auf Lampedusa zum ersten Mal von ihr erzählt haben. »All diese Geschichten lagerten sich in mir ab wie Sedimente.« Cristina Cattaneo hat wache Augen, blonde Locken, auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Dokumente und Bücher zu Türmen.

Das Schiffsunglück vom Oktober 2013 hat auch Cristina Cattaneo verändert, wie sie selbst sagt. Plötzlich habe sich in ihr eine Frage geformt, die sie seitdem nicht loslässt: Wie kann es sein, fragte sie sich, als sie von der Tragödie hörte, dass bei jedem Erdbeben, bei jedem Flugzeugunglück alles dafür getan wird, die Opfer zu identifizieren. Da reisen Spezialisten an und nehmen DNA-Proben, da werden Angehörige informiert und im Trauerprozess begleitet, weil es sich so gehört. Selbst in blutigen Kriegen wird oftmals ein respektvoller Umgang mit den Leichen gewahrt. Nur für die Toten im Meer scheint sich niemand zu interessieren.

Sie sterben anonym, ohne Namen, ohne Geschichte, als hätten sie nie gelebt. Sie sinken auf den Meeresboden, verkommen zu bloßen Nummern und Material für kalte Statistiken, die in Broschüren landen, die niemand lesen will: Chiffren einer der großen Tragödien unserer Zeit.

Viel ist geschehen seit dem Schiffsunglück 2013. Erst rief die italienische Regierung eine humanitäre Hilfsaktion ins Leben, die »Operation Mare Nostrum«, die das Leben Hunderttausender rettete, die auf der Reise sonst ertrunken wären. Doch der politische Wind drehte schnell. Aus »Mare Nostrum« wurde »Triton«, eine reine Grenzsicherung, weil man ja keine Anreize mehr schaffen wolle, wie es hieß, damit sich nicht noch mehr Menschen auf den Weg übers Meer machten.

Länder wie Serbien, Österreich und Ungarn begannen 2015, ihre Grenzen mit Stacheldraht zu sichern, Politiker sprachen plötzlich von »muslimischen Invasoren«, Europa wurde zur Festung. In Deutschland wurde die Antimigrationspartei AfD in manchen Regionen führende Kraft. In Italien wurde Seenotrettern, die einst als Helden gefeiert wurden, die Einfahrt in die Häfen verboten, und Matteo Salvini, der damalige Innenminister, sprach von Flüchtlingen nur noch als »Menschenfleisch«. Der Tod im Mittelmeer wird neuerdings in Kauf genommen.

Umso essenzieller ist Cattaneos Arbeit. »Eine Gesellschaft wird nicht nur daran gemessen, wie sie sich um die Lebenden kümmert. Sondern auch, wie um die Toten.« Seit 2013 tut sie alles dafür, die Namen und Geschichten der Menschen ausfindig zu machen, die auf der Überfahrt starben. Die Forensikerin seziert Gewebe, analysiert Knochensplitter, begutachtet verwaschene Dokumente, die ans Ufer geschwemmt wurden, Zahnbürsten, Kinderzeichnungen. Sie analysiert und dokumentiert Fundgegenstände und vergleicht sie mit bereits existierenden Datenbanken – etwa vom Roten Kreuz. Sie macht Interviews mit Müttern und Vätern, die ihre Kinder auf der Überfahrt verloren haben, um ihre Angaben mit bereits gesammelten Daten zu vergleichen.

Denn auch das geht vergessen und wird verdrängt bei den täglichen Schreckensmeldungen von immer neuen Bootsunglücken, die im Fernsehen und in den Zeitungen kaum mehr erwähnt werden, weil sie so alltäglich sind. Jedes Mal, wenn ein Schlauchboot kentert, sind Familien und Freunde in Panik. Väter und Mütter, oft Tausende von Kilometern vom Unglücksort entfernt, suchen nach Informationen über ihre Kinder, Brüder suchen nach ihren Geschwistern, wochenlang, monatelang, jahrelang.

Viele Angehörige können nicht Abschied nehmen, weil sie nicht sicher sind, ob ihre Vermissten wirklich tot sind, sagte mir eine Mitarbeiterin des IKRK. Sie können nicht trauern, weil sie sich an jede noch so kleine Chance klammern, wie Schiffbrüchige an Treibholz, dass ihre Töchter oder Söhne sich eines Tages doch noch melden werden. Deshalb besteht Cattaneos Verdienst nicht nur darin, den Toten eine Würde zu geben. Sie hilft vor allem auch den Lebenden.

Cattaneos Arbeit ist eine leise Arbeit, fern der großen Bühnen, auf denen Politiker Reden halten, um sich für die nächsten Wahlen zu profilieren. Durch ihr Mikroskop blickt sie auf eine menschliche Tragödie, die sich vor unserer Haustür abspielt – in einem Europa, das doch so stolz ist auf seine Erinnerungskultur, jedoch am liebsten alles vergäße, was das tägliche Sterben im Mittelmeer angeht.

Mit der Akribie der Wissenschaftlerin stemmt sie sich gegen die herrschenden politischen Kräfte, gegen das Verdrängen und die wohl niederträchtigste aller menschlichen Geißeln: die Gleichgültigkeit.

Zuletzt sah ich Cristina Cattaneo an einem regnerischen Dezembertag 2018 im Genfer Universitätsspital, in einem kleinen Büro im achten Stock. Sie befragte dort ein syrisches Ehepaar, das beim Schiffsunglück im Oktober 2013 seine Töchter verloren hat und seitdem auf Informationen wartet. Die Eltern haben nie erfahren, was im letzten Moment im Leben ihrer Kinder geschah.

Cattaneo erkundigt sich nach allen erdenklichen Details: Alter, Knochenbrüche, Körperstruktur, Zahnstellung. Sie geht dabei vor, wie sie das immer tut. Sie nimmt sich Zeit, Taschentücher stehen bereit. Es ist ein schmerzhafter Prozess für alle Beteiligten, weil die Eltern sich nicht an körperliche Details ihrer Kinder erinnern wollen, die psychische Qual ist zu groß. Die Forensiker aber sind auf die genaue Beschreibung angewiesen. Gemeinsam schauen sie sich Fotos der Leichen an. Man zeigt ihnen ein paar Fundgegenstände, doch die beiden schütteln den Kopf.

Es war das erste Mal, dass Cattaneo solche Befragungen außerhalb Italiens durchführte. Sie versprach sich neue Erkenntnisse, neue Spuren. In den mittlerweile über sechs Jahren seit der Schiffstragödie 2013 hat Cristina Cattaneo die Namen von 38 Menschen ausfindig machen können, die in jenem Oktober bei der Überfahrt starben. In 98 Fällen sei sie nahe dran, sagte sie damals. »38 Familien, die wir über den Tod ihrer Liebsten informieren konnten«, fasste Cattaneo ihre Arbeit der vergangenen Jahre trocken zusammen.

Es klingt nach nichts. Ein Tropfen im Meer. Es bedeutet alles.

Sacha Batthyany ist Reporter bei der »NZZ am Sonntag« und Buchautor.

1

Oktober 2013

Den Toten einen Namen geben

Manchmal begegnet man einer wildfremden Person, mit der einen vielleicht so gut wie nichts verbindet, und stellt fest, dass man mit ihr einen »wichtigen« Moment des Lebens gemein hat, etwa den Geburtstag, den Studienabschluss oder den Hochzeitstag. Das überrascht und freut uns gewöhnlich, weil es uns das Gefühl gibt, eine Beziehung geknüpft zu haben. Dasselbe Gefühl kann sich auch einstellen, wenn beide eine nahestehende Person verloren haben.

Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit den sterblichen Überresten von Menschen unbekannter Identität, ein Thema, das mir schon seit meinen Anfängen als Rechtsmedizinerin sehr nahegeht, gerade weil diese Personen im Stillen, von allen vergessen, verstorben sind. Bei der Geschichte der toten, nicht identifizierten Migrantinnen und Migranten, von der ich in diesem Buch aus meiner persönlichen Warte erzählen will, kommt für mich noch ein weiterer Aspekt hinzu: Meine eigene Trauer, die ich im selben Zeitraum empfand.

Der Oktober des Jahres 2013 hat mich tief geprägt. In einem Zeitraum von weniger als zwei Wochen, während der Sommer von einem nasskalten Herbst abgelöst wurde, starb mein Vater. Zum ersten Mal erfuhr ich, obwohl tagtäglich mit dem Tod konfrontiert, am eigenen Leib die Leere, die der Tod mit sich bringt. Als Rechtsmedizinerin habe ich seit zwanzig Jahren mit Menschen zu tun, die ein Kind, einen Elternteil, einen Partner verloren haben. An das überwältigende Gefühl der Trauer und des Mitleids etwa mit einem Vater, der es nicht fassen kann, dass sein frisch von der Uni abgegangener Sohn, mit dem er eben noch ein letztes Mal gefrühstückt hat, tödlich mit dem Auto verunglückt ist, werde ich mich nie gewöhnen. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie es sich anfühlen mag, auf der »anderen« Seite zu sein, auf der Seite der Menschen, die ein erstarrtes, kaltes Gesicht betrachten müssen, das sie nicht mehr erkennen, die, vom Schmerz betäubt, einen Sarg auswählen, vor aller Augen einem Leichenzug folgen müssen: Nun wusste ich es. Noch betroffener als der Verlust selbst machte mich das grausame Gefühl, nicht in der Lage gewesen zu sein, den Tod meines Vaters zu verhindern, machtlos zugesehen zu haben, wie sein Leben entglitt. Schmerz, Schuldgefühle und Erinnerungen: Nun verstand ich all diese Facetten eines großen Verlusts.

Im selben Zeitraum, in dem ich zusammen mit meiner Mutter am Krankenbett meines Vaters wachte, erlebten Hunderte andere Familien auf ganz andere Weise ebenfalls die Tragödie des Todes eines Angehörigen. Familien, deren Schicksal sich bald mit dem meinen kreuzen würde und die von der Trauer ebenso überwältigt waren, nur in schönen Erinnerungen an die verstorbene Person etwas Trost fanden.

Am 3. Oktober 2013 sank vor der Küste Lampedusas ein Boot mit über fünfhundert Eritreerinnen und Eritreern an Bord. Wenige Tage später traf es ein zweites Schiff, diesmal mit syrischen Familien. Heute bewahren wir in den Regalen unseres Labors unzählige Dossiers mit Porträts, Dokumenten und Fotos der Opfer auf, die uns von Menschen zur Verfügung gestellt wurden, die zum Teil bis heute nach ihren Angehörigen suchen. Neben Ängsten und Frustration quält diese Eltern, Geschwister, Kinder und Ehegatten auch die bis heute anhaltende Ungewissheit über den Verbleib ihres Familienmitglieds und die Tatsache, dass sie es nicht bestatten konnten.

Wie wurde das alles zu einem Teil der Geschichte unseres Labors? Werfen wir einen Blick zurück. Tote ohne Identität beschäftigen uns seit über zwanzig Jahren. Unser Labor mit dem etwas sowjetisch klingenden Namen Labanof (die Abkürzung für Laboratorio di Antropologia e Odontologia Forense, Labor für forensische Anthropologie und Zahnmedizin, gegründet von meinem früheren Professor Marco Grandi) befasst sich seit je hauptsächlich mit der Untersuchung von Leichen, vom Mafiaopfer, das in der Umgebung von Mailand unter dem Fundament eines Gebäudes aufgefunden wird, bis hin zu den antiken Bewohnern Mediolanums. Wir – hinter diesem »wir« stecken junge und weniger junge Spezialistinnen und Spezialisten für Rechtsmedizin, Biologie, Anthropologie, Zahnmedizin, Naturwissenschaft und Archäologie – versuchen menschlichen Überresten eine Geschichte, eine Identität und sogar ihre Würde zurückzugeben, unabhängig von ihrem Zustand und der Epoche, aus der sie stammen, und egal, ob der Auftraggeber ein Staatsanwalt oder ein Mitglied des archäologischen Dienstes ist.

Gegenstand unserer Arbeit ist also, wenn man so will, die ganze Menschheit in all ihren Todesarten. Durch unsere Arbeit geben wir denen, die nicht mehr unter uns sind, eine Stimme. Abends, wenn es in den Gängen und engen Räumen des Labanof still geworden ist, wenn Studierende und Personal gegangen sind und man statt ihres fröhlichen, lauten Geplappers die fernen Stimmen der Angestellten der benachbarten städtischen Leichenhalle hört, wo die Abendschicht angefangen hat, finde ich mich oft allein inmitten der Reihen von Tischen wieder, auf denen je ein von den fürsorglichen Händen eines angehenden Spezialisten für Rechtsmedizin oder eines Doktoranden in Anthropologie nicht nur gewissenhaft, sondern, und dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen, geradezu liebevoll angeordnetes Skelett liegt. Die zweitausend Jahre Geschichte, die ich auf wenigen Quadratmetern vor mir habe, bringen mich immer wieder zum Staunen. Geschichte, erzählt von den Knochen einer (wie ihr Sarkophag verrät) vermögenden Matrona aus dem alten Rom, eines im Mittelalter an Tuberkulose gestorbenen Kindes, erzählt von den sterblichen Überresten eines vor zehn Jahren erstochenen Obdachlosen, einer zerstückelten und in einen See geworfenen Prostituierten, vom Skelett eines verstorbenen Alzheimerpatienten, der irgendwo fern von seinem Zuhause ohne Papiere aufgefunden wurde, oder von der Leiche eines Migranten, der beim Versuch, nach Italien zu gelangen, im Meer ertrunken ist. Unabhängig von ihrer Herkunft haben alle ihre Geschichte und Würde. Leitstern bei dieser ständigen Arbeit mit Verbrechen, Opfern und fremden Leben ist uns seit je die Identität als Wert an sich – gerade wenn jemand sie verloren hat.

1995 begannen wir eine Art Feldzug, um die wissenschaftliche Gemeinschaft, und nicht nur sie, darauf aufmerksam zu machen, dass in Mailand bei jährlich dreißig bis vierzig Leichen die Identifizierung schwierig war und Ende Jahr stets zwei oder drei Leichname namenlos blieben. Uns war auch aufgefallen, dass mehr als die Hälfte der letztlich erfolgreich identifizierten Leichen von Italienerinnen und Italienern stammten, deren Verschwinden in Städten wie Rom, Neapel oder in einer Ortschaft in der Umgebung von Mailand gemeldet worden war. Warum diese Schwierigkeiten? Obwohl sich das Potenzial von Internet und Medien damals bereits langsam abzeichnete, konnte es passieren, dass eine in Rom von zu Hause weggelaufene und in Mailand ohne Papiere gestorbene junge Frau für immer namenlos begraben wurde, auch wenn die Familie ihr Verschwinden der Polizei gemeldet hatte. Es war kein typisches Mailänder Problem, auch in vielen anderen italienischen und europäischen Städten lagen in den Leichenhallen Dutzende nicht identifizierter Personen. Warum? Hauptsächlich deswegen, weil es keine Datenbank gab, in der man von jedem Ort aus Informationen über namenlose Tote mit Informationen über vermisste Personen abgleichen konnte. Die Lösung war simpel, aber nur wenige wussten von dem Problem.

An diesem Punkt setzte eine Medienkampagne an, die nicht nur von unserem kleinen Universitätslabor, sondern auch von vielen anderen, einflussreicheren Gruppen unterstützt wurde, etwa vom staatlichen Radio und Fernsehen RAI und der Associazione Penelope (gegründet von Angehörigen vermisster Personen). Ziel war, diese absurde, viel Leid verursachende Lücke zu schließen.

Der Medienrummel hatte 2007 schließlich eine parlamentarische Anfrage zur Folge. Alle, die auf irgendeine Weise mitgekämpft hatten – von Verwandten nie aufgefundener Vermisster über Fernsehmoderatoren bis hin zu Universitätsprofessoren –, wurden zur Mitwirkung eingeladen. Ich erinnere mich noch an den Eindruck, den die dunklen, mit Holz und rotem Samt ausgekleideten Gänge des Palazzo del Viminale damals auf mich machten, und daran, wie ruhig der vormalige Präsident des Obersten Ausschusses für konstitutionelle Fragen der Abgeordnetenkammer, Luciano Violante, unseren akribischen Berichten lauschte: Erzählungen von Söhnen und Töchtern, Geschwistern und Eltern nie wieder umarmter Vermisster, Berichte über die Anzahl Leichen, die namenlos auf eine Bestattung warteten. Das Resultat war ein Gesetz, das allerdings erst 2012 und leider nur in abgespeckter Form verabschiedet wurde. Vor allem aber wurde eine Behörde gegründet, die in der Geschichte, die ich erzählen will, eine zentrale Rolle spielt: Die Regierungsstelle des außerordentlichen Kommissars für Vermisste UCPS (Ufficio del Commissario straordinario del Governo per le persone scomparse). Gleichzeitig entstand eine zentrale Datenbank namens RISC (Ricerca Scomparsi, Vermisstensuche), in der Informationen über nicht identifizierte Tote (PM-Informationen, von post mortem) und vermisste Personen (AM-Informationen, von ante mortem) gesammelt und nach Übereinstimmungen zwischen den beiden Kategorien durchsucht werden können. So sollte künftig vermieden werden, dass Menschen, die eine ihnen nahestehende Person verlieren, in Ungewissheit verbleiben. Sie sollen vom Ableben der betreffenden Person erfahren, ihr die letzte Ehre erweisen und mit der Trauerbewältigung beginnen können.

Anfangs dachte ich, dass man sich leicht vorstellen kann, welche Beklemmung jemand empfindet, der mit dieser Ungewissheit leben muss. Aber als ich mit dem fast versteinerten Gesicht einer Mutter konfrontiert war, deren Tochter zwanzig Jahre zuvor verschwunden war, wurde mir bewusst, dass die Gefühle, die Menschen in einer solchen Situation tatsächlich empfinden, weit von meinen Vorstellungen entfernt waren. Ich hatte diese Frau auf einer Tagung kennengelernt, und sie erzählte mir, bedächtig Wort an Wort reihend, dass es ihr viel lieber wäre, sie würde erfahren, dass ihre Tochter tot ist, anstatt keine Antwort zu haben; manchmal empfinde sie es als Strafe, dass sie die Hoffnung nicht verlieren könne: Eigentlich wisse sie, dass es kein Wiedersehen geben werde, trotzdem könne sie ihren Tod nicht akzeptieren, weil die Leiche nie gefunden worden sei. Die übermäßig dicke Puderschicht im Gesicht der Frau verriet, dass sie sich nur noch aus Gewohnheit schminkte, sie blieb gefasst, hatte weder Tränen in den Augen, noch zuckte ihr Gesicht von unterdrücktem Weinen. »Wenn ich mich abends schlafen lege, frage ich mich manchmal, ob sie noch lebt, wo sie ist, ob sie leidet, krank ist … oder ob ihre Leiche irgendwo in einem Bewässerungskanal liegt, wo sie dem Regen ausgeliefert ist«, sagte sie. Den Blick auf den Boden gerichtet, fügte sie hinzu: »Wie ein streunender Hund.«

Die Art, wie sie dieses »streunend« fast flüsterte, verriet eine so tiefe Trauer, dass mir keine sinnvolle Entgegnung einfiel. Ich schwieg eine ganze Weile. Schließlich durchbrach sie die Betretenheit großmütig, indem sie mir zulächelte und sich einem anderen Gesprächspartner zuwandte.

Verstorbene zu identifizieren, ist ein atavistisches Bedürfnis. Eine verstorbene Person berühren zu können, sich zu vergewissern, dass sie wirklich nicht mehr lebt, sie zu beerdigen, wenigstens ein letztes Mal zu versorgen. Schon die Neandertaler bestatteten ihre Toten und gaben ihnen Blumen mit ins Grab, und auch heute sind in jeder Kultur ähnliche Rituale üblich. Das Bedürfnis, Abschied zu nehmen, wird auch in zahlreichen literarischen Texten thematisiert. Eines der frühesten Beispiele ist die berührende Rede von Priamos, dem König von Troja, der Achilles um den Leichnam seines im Duell getöteten Sohnes Hektor bittet. Es gibt jede Menge Fachliteratur darüber, wie sich Ungewissheit über den Tod einer Person auf die Gesundheit der Hinterbliebenen auswirkt. Was in der englischsprachigen Literatur als ambiguous loss bezeichnet wird, als »uneindeutiger Verlust«, ist mit einer handfesten psychischen Erkrankung vergleichbar, die auch zu schweren körperlichen Beeinträchtigungen wie Depressionen, Alkoholismus und Immunstörungen führen kann.

Nicht ohne Grund verlangen die universalen Bestimmungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, dass Tote ihren Namen zurückbekommen und bestattet werden. Wie das in den verschiedenen Ländern und Kulturen in die Praxis umgesetzt wird, ist eine andere Frage. Die Verpflichtung, Leichen zu identifizieren, beschränkt sich in Italien leider nur auf ein paar trockene Zeilen in den Vorschriften der Kriminalpolizei und der Strafprozessordnung. Auch in anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus.

Die Identifizierung von Toten erfolgt jedoch nicht nur aus Gründen des Respekts, zum Schutz ihrer Würde und der (nicht nur psychischen) Gesundheit der Hinterbliebenen. Auf diese Weise lassen sich auch strafrechtliche, zivile und administrative Komplikationen vermeiden. Wie soll man Mordermittlungen aufnehmen, wenn man den Namen des Opfers nicht kennt? Wie sich um Rechtsnachfolge, Erbe und andere bürokratische Angelegenheiten kümmern, wenn es keine Gewissheit darüber gibt, dass eine bestimmte Person wirklich gestorben ist? Wie kämen Waisen und Witwen ohne die Sterbeurkunde zu ihrem Recht?

Die parlamentarische Anfrage aus dem Jahr 2007 führte zum Entwurf eines Gesetzes, das regeln sollte, wie mit nicht identifizierten Leichen zu verfahren sei. Zu diesem Zweck stellte die bereits erwähnte staatliche Vermisstenbehörde UCPS eine Arbeitsgruppe zusammen, mit der wir von der Universität Mailand von Beginn an eng zusammenarbeiteten und die sich dem Thema ebenso entschlossen und leidenschaftlich widmete wie wir. Damit begann unser »Bad« in der Realität, was die Situation nicht identifizierter Toter betrifft.