9783863348090.jpg

INHALT

WAS, WENN ALLES GUT GEHT?

Wunderbar unperfekt – Selbstvertrauen

WUNDERBAR UNPERFEKT

ABENTEUER

Exit-Strategie

SCHERBEN

KLASSENTREFFEN

Doch geliebt

EIGENTLICH UNMÖGLICH

Das ist es wert

AUF DER LEITER

AM STRAND

Was der Sand erzählt

SELFIE

HALLO ANGST!

Sichere Seite

HEUTE GESCHLOSSEN

ZWISCHENZEITEN

Deine Zeit

WIR AMÜSIEREN UNS ZU TODE

IMMER WIEDER SONNTAGS

JA ODER NEIN

LEERE SCHUBLADEN

DEM EIGENEN URTEIL VERTRAUEN

Deshalb liebe ich die Dunkelheit

SO TUN ALS OB

TRÄUM NUR!

ICH WAR’S!

Du sagst Ja

ALLES HAT SEINE ZEIT

ZEIT ZU WACHSEN

Schlimmstenfalls wird alles gut

Umarmungen sind gratis – Vertrauen auf andere

FREUNDLICHKEIT

UMARMUNGEN SIND GRATIS

Du

VERTRAUEN IST BESSER

AM TISCH

FREUNDSCHAFT?

Ein Gedicht

ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE

Das Leben wächst

IST DAS GERECHT?

GROSSZÜGIG

FAMILIENGLÜCK

WER GIBT, DEM WIRD GEGEBEN

WAS IST DAS?

DU KANNST AUF MICH ZÄHLEN!

So wie du

IN BERLIN

DAS WIRD KLAPPEN!

GEWONNEN!

TAUSCHEN UND TEILEN

SCHWERE ZEITEN

Was uns zusammenhält

TRAUER IST LIEBE

DAS LEBEN DER ANDEREN

GETEILTE ZEIT

Das Glück der langen Strecke

IN BEWEGUNG

Du weißt schon wer

FAIR PLAY

MÖHREN AUF DEM MOND

Die Hummel fliegt – Gottvertrauen

NOCH HEUTE

Auf lange Sicht

DIE HUMMEL FLIEGT

Woran denkst du

WENIGER PLANEN, MEHR LEBEN

Plan B

VIELEN DANK FÜR IHR VERSTÄNDNIS

ENTSCHEIDUNGEN

DIE SCHATZKISTE

MITTSOMMER

Es gibt mehr

FETTER GOLDENGEL

WARTEN

Schreibst du mit an meinem Buch

KIRCHENFENSTER

WIE SCHMECKT GOTTVERTRAUEN?

BEGRENZTE ZEIT

Wann fängst du endlich an

TOM UND DIE ANDEREN

INNERE STIMMEN

NÜTZT BETEN?

Feuer ohne Glut

ANMERKUNGEN

WAS, WENN ALLES GUT GEHT?

Okay, die meisten machen die Erfahrung: Man steht nicht immer ganz oben, nicht im Beruf, nicht in der persönlichen „Lebensglücks-Bilanz“.

Was soll das überhaupt heißen: dass alles gut geht? Die Sache mit den schlechten Blutwerten klärt sich auf? Die neue Aufgabe in der Firma – ich bekomme sie? Was sich da anbahnt mit ihm, mit ihr, wird das große Glück?

Was soll das überhaupt heißen: dass alles gut geht? Die Sache mit den schlechten Blutwerten klärt sich auf? Die neue Aufgabe in der Firma – ich bekomme sie? Was sich da anbahnt mit ihm, mit ihr, wird das große Glück?

Stimmt, es gibt Sonntagskinder und Pechvögel. Den einen fällt alles zu, die andern fallen immer hin. Und die meisten erleben eine Mischung aus beidem. Eine Mischung aus Scheitern, Lieben, Verlieren, Glück und Schmerzen.

Ich finde, wenn alles gut geht, ist all das Teil meines Lebens. Dann habe ich Erfahrungen gemacht mit dem Kranksein, dann habe ich etwas gelernt, wenn ich Fehler gemacht habe, dann bin ich wieder aufgestanden, wenn ich mal ganz unten war.

Die meisten Menschen wissen: Es geht nicht immer gut. Aber wie deute ich das, was mir zustößt? Bei mir war es ein medizinischer Zwischenfall: Notfall-OP und Intensivstation. Da war nichts gut gegangen, sondern alles schiefgelaufen. Ich habe gelernt, wie verletzlich das Leben ist. Aber daran ist auch etwas gut gegangen.

Also: Mag sein, wenn Sie anfangen, in diesem Buch zu stöbern, ist alles gut. Und nächste Woche oder irgendwann im November geht etwas schief.

Eine von uns war verliebt und wurde enttäuscht. Vielleicht. Einer hätte eine Chance gehabt im Job und hat sie verpasst. Womöglich. Eine bekommt eine Diagnose und hat Angst. Kann sein. Irgendwo wird eine Weiche gestellt, vielleicht anders als erhofft. Doch wo das hinführt, ist offen.

Wenn so etwas kommt, dann wünsche ich uns allen, dass eine Hummel vorbeikommt. Brummt, torkelt, aber fliegt. Und zeigt: Die, die Vertrauen haben, kriegen neue Kraft.

Dann wünsche ich Ihnen, dass Sie nicht alles glauben, was Sie lesen über die Liebe oder diese Krankheit. Sondern selbst denken und Ihrem eigenen Urteil vertrauen. Dann wünsche ich Ihnen, dass ein anderer für Sie ein Engel wird, der Ihnen zuhört, Sie behütet und im richtigen Moment ein Rührei macht.

Und abends, wenn Sie in den Spiegel schauen, dann wünsche ich Ihnen einen Zettel, auf dem steht:

Im schlimmsten Fall geht alles gut.

Ach so: Sie fragen sich, was es mit der Hummel auf sich hat oder dem Rührei? Dann schlage ich vor, Sie lesen weiter. Denn es gibt viele gute Gründe zu vertrauen.

WUNDERBAR UNPERFEKT

„Was machst du denn da?“, ruft die Männerstimme Richtung Badezimmer.

„Ich föhne mir die Haare.“

„Morgens um vier? Warum?“

„Damit du denkst, ich sehe beim Aufstehen schon perfekt aus.“

So ähnlich geht eine Radiowerbung. Witzig? Blöd? Jedenfalls funktioniert sie. Vielleicht auch deshalb, weil sich tatsächlich viele so gern so perfekt zeigen.

Wie ich das manchmal satt habe: dieses schön geföhnte Leben! Alle zeigen ihr perfektes Social-Media-Lächeln, optimieren ihre Figur, ihre Hobbys, ihre Kinder, ihre Ernährung, ihre Meinung. Alles ästhetisch und moralisch vorzeigbar. Fehler? Mängel? Sind nicht vorgesehen. So gelangen wir alle ins Facebook- und Messenger-Paradies.

„Du, das mit dem Grillabend tut uns leid, da sind wir raus, wir haben ja komplett unsere Ernährung umgestellt.“

Na toll, schön für euch. Ich aber nicht. Ich habe Mängel, mache Fehler und esse nun mal nicht immer vom richtigen Baum.

Und das ist auch gut so. Ich finde, erst mit einem ordentlichen Fehltritt bekommt das Leben die richtige Würze. Das fing schon bei Adam und Eva an. Alles andere ist doch ziemlich fad. Nichts, worüber sich zu reden lohnt. Okay, mit meinen Fehlern käme ich vielleicht nicht ins Buch der Bücher, aber der Hölle eines Hochglanzlebens könnte ich schon entkommen.

Meine persönliche Mängelliste der letzten Woche geht ungefähr so:

Montag: Ich bin zu einer Fortbildung nach Berlin nicht ökologisch vorbildlich angereist, sondern geflogen. In der Ferienwohnung habe ich den Müll nicht getrennt. Lohnte sich nicht.

Mittwoch: Ein Blick auf die Waage zeigt, dass alle Bemühungen, mein Gewicht zu reduzieren, wieder gescheitert sind.

Donnerstag: Bandprobe. Ich spiele seit Jahren den E-Bass, ein Solo würde man der Welt aber bis heute lieber nicht zumuten.

Samstag: Als meine Tochter und ich allein zu Hause waren, habe ich nichts Frisches gekocht, Tiefkühlkost musste reichen.

Und das sind nur die konkreten Kleinigkeiten einer Woche. Es gibt da auch noch die größeren Dinge: Ich vernachlässige selbst gute Freunde und übergehe schon mal eine Kollegin.

Aber ist es tatsächlich ein Wunder, dass ich verheiratet bin, überhaupt Freunde habe, Menschen, die klaglos mit mir zusammenarbeiten? Oder bin ich etwa doch im Großen und Ganzen okay?

Jeden Fehler, jede Unzulänglichkeit könnte man ja beheben, abmildern oder wenigstens verstecken. Aber warum? Fehler sind oft so markant, witzig und liebenswert. Es ist das Unperfekte, das Menschen so einzigartig macht. „Ich danke dir dafür, dass ich so wunderbar gemacht bin,“ heißt es in einem Gebet der Bibel. So spricht da jemand zu Gott. Kein Mr Right und keine Mrs Perfect, sondern ein Mensch. Könnte ich mir an den Badezimmerspiegel heften. Verschlafen, ungeföhnt, aber wunderbar gemacht. Danke, Gott!1

ABENTEUER

„Husky-Wanderung, Snow-Kiten, Wrack-Tauchen.“ Ein Freund hat mir eine Gutscheinbox geschenkt. Ich blättere durch den Katalog voller Abenteuer, die es zu erleben gibt. Eine ganze Welt einmaliger Erlebnisse und unvergesslicher Momente, so verspricht es der Klappentext. Eins darf ich wählen.

„Eisklettern, Elektro-Motocross, Extrem-Rafting.“ Klingt ganz schön aufregend. Manches kommt mir gefährlich vor. Auf den Bildern sehe ich einen Typen im Luftkanal mit Helm und Schutzanzug. Body-Flying. Eine Frau läuft geradewegs eine Glasfassade herunter, angeseilt. Einer fliegt, den Kopf voran, auf einem Luftkissen eine Skipiste herunter. Das würde ich mich nie trauen. Anderes könnte mich durchaus locken. „Grundkurs Kajak, große Höhlenexkursion, Canyoning bei Nacht.“ Klingt reizvoll. Durchschnittliche Fitness und körperliche Belastbarkeit werden vorausgesetzt. Trittfest und schwindelfrei soll ich sein. Den Teilnehmern werde einiges an Kraft, Geschick und Mut abverlangt, heißt es an anderer Stelle. Na gut. Soll ja auch ein einmaliges Erlebnis werden.

„Auto zertrümmern, Gleitschirmfliegen, Bungee-Jumping.“ Was treibt Menschen zu solchen Abenteuern? Psychologen sprechen von einer heimlichen Todessehnsucht. Einmal an die Grenze gehen, nur das Bungee-Seil im Rücken. Oder den Karabinerhaken. Aber wer das macht, sehnt sich doch eigentlich nicht nach dem Tod, sondern nach dem Leben, oder? Der möchte die eigene Lebendigkeit spüren. Wie das Adrenalin steigt. Wie das Herz schlägt und die Knie zittern. Das gibt diesen besonderen Kick.

„Feuerwehr-Workshop, CSI-Spurensuche, City-Thriller für zwei.“ Aha, manchmal wird auch der Kopf gefordert. Mitdenken, Mitfiebern, die Lösung finden. Auch das kann ganz schön abenteuerlich sein.

Doch je länger ich durch diesen Katalog blättere, umso mehr kommen mir Zweifel. Ist das ganz normale Leben eigentlich nicht aufregend genug? Wenn ich den Kick hier suchen muss, habe ich dann vielleicht verlernt, ihn anderswo zu finden?

Eine alte Freundin hat sich neu verliebt. Ihr pocht das Herz bis zum Hals. Auch so, ganz ohne Karabinerhaken. Mein früherer Lehrer geht in den Ruhestand. Er lernt jetzt Saxofon spielen und hat große musikalische Vorbilder. Ziemlich aufregend.

„Ferrari-Rundfahrt, Trabbi-Tour, Rennbob fahren.“ Klingt alles gut. Aber je länger ich darüber nachdenke, auf desto mehr andere Ideen komme ich. Wie wäre es damit: Einen Vater-Tochter-Tag machen, und sie darf wählen, was wir tun? Sich mit alten Freunden in dem neuen Bistro treffen? Jemanden anrufen, den ich seit zwei Jahren nicht mehr gesprochen habe – und gucken, was passiert.

Trau ich mich? Es ist nicht ohne Risiko, aber mit etwas Glück werden das unvergessliche Momente. Das Leben ist schon so bunt und vielfältig und herausfordernd. Mir sind so viele Fähigkeiten geschenkt worden: Dinge zu entdecken, Menschen zu lieben, etwas zu gestalten – mit meinen eigenen Händen oder mit meinen eigenen Gedanken. Was für ein Glück.

Jetzt schwanke ich noch zwischen Höhlenexkursion und Ferrari-Rundfahrt. Eins davon werde ich machen. Aber dann: Hinein in die wirklich großen kleinen Abenteuer des Lebens!2

Exit-Strategie

Hab mich lange Zeit gewunden
mit einem Zug bin ich schachmatt
mich zu lang schon abgefunden
es ist genug ich hab es satt

Mache Halt auf freier Strecke
steige aus und bleibe stehn
lauter Chancen um die Ecke
ich fange an mich umzusehn

Denn plötzlich warst da ja du
du kamst einfach so dazu
Du bist mein Jetzt oder Nie
Denn plötzlich warst da ja du
du kamst einfach so dazu
du meine Exit-Strategie

In der Gegenwart gelandet
als gehört ich nicht hierher
was mich dabei wirklich wundert
es gefällt mir sogar sehr

SCHERBEN

Ein lautes Klirren aus der Küche. Oh je, da ist etwas zu Bruch gegangen. Hier kann man nur noch die Scherben aufkehren. So ein Ärger!

Die meisten Menschen erschrecken richtig, wenn so etwas passiert. Für Kinder ist das oft ganz furchtbar: Ganz aus Versehen ist etwas runtergefallen. Ein Teller, eine schöne Blumenvase, ausgerechnet eins von den guten Gläsern. Dann zucken sie zusammen, beteuern, dass es doch keine Absicht war, und vielleicht fließen sogar Tränen, weil etwas kaputt ging. Man kann ja wirklich nur noch die Scherben zusammenkehren – aber es wird nicht wieder ganz.

Nun, der Schreck vergeht, Eltern und Kinder können sich beruhigen, es wird wieder gut. Es war ja nur irgendein Gegenstand, niemand ist verletzt. Und war es wirklich so schlimm? Gehört es nicht zum Leben dazu, dass mal etwas zu Bruch geht?

Wir Älteren denken vielleicht schon an andere Brüche. Unsere Scherben. All das, was uns nicht so gelungen ist, wie wir uns das vorgestellt hatten. Wenn wir anderen Menschen nicht gerecht wurden. Besonders denen, die uns nah sind. Wenn wir Hoffnungen und Träume pflegten, die dann doch nicht in Erfüllung gingen. Unsere Unzulänglichkeiten, unsere gescheiterten Pläne, unsere Scherben. Wie leben wir damit?

Eugen Roth hat einmal gedichtet, dass Menschen sich wünschen, Glück und Glas sei unzerbrechlich. Und dass die Wissenschaft das beim Glas schon fast erreicht hat.

Tja – und beim Glück? Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Und dennoch: Scherben bringen Glück, sagt ein Sprichwort. Wieso eigentlich? Steckt in jedem Bruch auch eine Chance? Beginnt dann etwas Neues? Kann sich unser Leben genau dann verändern – zum Guten?

Manchmal ist es so. Zum Beispiel, wenn ein großer Umzug ansteht. Da schwören die alten Nachbarn und Freunde, dass sie vorbeischauen und in Kontakt bleiben werden. So weit ist es ja nicht, wir besuchen euch mal, wir telefonieren. Aber wenn’s dann so weit ist, sind all die Schwüre bald vergessen. Mit der Zeit zeigen sich erste Risse. Ein einziger Besuch kommt zustande, seit Wochen hat keiner mehr angerufen. Es ist doch etwas abgebrochen. Aber es fängt auch etwas an: erste Kontakte, neue Freunde – und bald das gute Gefühl, an dem neuen Ort zu Hause zu sein. Und wer weiß, vielleicht werden die neuen Freundschaften anders gepflegt als früher – damit sie Bestand haben.

Oder wenn eine Beziehung kaputt geht. So sagt man das ja: Eine Ehe ist „in die Brüche gegangen“. Manche machen noch einmal einen neuen Anlauf, versuchen, die Scherben aufzulesen und die Risse zu kitten – oder noch einmal ganz neu zusammenzukommen. In der Eheberatung wird ziemlich bald danach gefragt: Geht es noch um eine neue gemeinsame Zukunft oder eher um eine faire Trennung? Oft gelingt es nicht, das Gemeinsame zu aktivieren, die Liebe zu beleben, den Neuanfang zu wagen. Dann sind die Verletzungen zu groß und Menschen bleiben beschädigt zurück.

Ein Dichter der Bibel sagt: Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben (Psalm 34,19). Manchmal ist das der Kitt: Wenn ich daran glaube, dass Gott noch zu mir hält. Dass ich etwas Neues anfangen kann, das ich vielleicht noch finden muss. In einem Gottesdienst mit vielen Kindern haben wir mal zwei bunte Vasen zu Bruch gehen lassen. Erst war’s ein Schreck. Dann haben wir über Scherben nachgedacht. Und schließlich haben die Kinder in einem großen, mit Sand gefüllten Rahmen aus all den Scherben ein buntes Mosaik gelegt. Etwas völlig Neues war entstanden.

Eine Frau erzählte mir von ihrer Scheidung. Damals war sie sehr verletzt gewesen und hatte manche Träne geweint. Aber im Rückblick habe ihr die Trennung gutgetan. Sie hätte sonst nie ihren Beruf wieder ergriffen, viele gute Freundinnen und Freunde nicht kennengelernt, manche Reise nicht gemacht. Man sieht es ihr an: Stärker und selbstbewusster ist sie geworden. Nicht obwohl, sondern weil damals etwas in die Brüche ging.

Scherben bringen Glück? Vielleicht nicht sofort, vielleicht nicht immer. Aber manchmal schon.3

KLASSENTREFFEN

Klassentreffen, 25 Jahre danach: ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Was ist aus allen geworden? Beruf und Familie – alles top? Wenigstens vorzeigbar?

Als ich die Einladung bekomme, erst recht, als ich die Namen auf der Liste lese, zittern mir kurz die Knie. Man wird ja plötzlich wieder 16. Alles ist wieder da: Das Ungenügen, der Horror, die Sehnsucht. In Gedanken drehe ich mich schon wieder nach Tina um.

Andererseits: Ich hätte schon Lust, den anderen zu zeigen, dass aus dem schüchternen Jungen aus Reihe drei doch ein ganz passabler Typ geworden ist. Monika hat bestimmt einen Porsche-Fahrer geheiratet und kümmert sich rührend um ihre mindestens drei Kinder. Florian hat wahrscheinlich das dritte Start-Up und die vierte Frau. Hendrick? Reihenhaus und Rasenmäher, jede Wette.

Will ich da wirklich hin?

So ein Klassentreffen ist nun mal die große Biografie-Show. Silvester ist ein Klacks dagegen, das tut nur kurz weh. Ein Jahresrückblick, was ist das schon? Aber so eine Bilanz nach 25 Jahren, das ist eine Art letztes Gericht, oder? Da sollte man nicht nur die Weichen gestellt haben, sondern bitteschön irgendwo angekommen sein. Und zwar am besten nicht auf dem Abstellgleis.

Also gut, ich fahre hin. Eine Kneipe, dunkelbraune Eichenmöbel, im Hintergrund 80er-Jahre-Musik.

„Heeey …“ rufe ich betont lange, weil ich partout nicht weiß, wer vor mir steht. Willkommen in der Smalltalk-Hölle.

„Wie geht’s?“

„Privat super: meine Frau liebt mich, meine Kinder hören auf mich, mein Konto beruhigt mich.“

Schenkelklopfen, Gelächter.

„Und beruflich?“

„Ist gerade ein bisschen stressig, aber ich will nicht klagen.“

Mein Haus, mein Boot, mein Auto – das gilt hier tatsächlich als gesetzt. Mein Garten, mein Mann, meine Kinder, das geht natürlich auch. Nur eins ist klar: Man muss beruflich erfolgreich und privat glücklich sein. Scheitern ist nicht vorgesehen. Obwohl doch bestimmt jede und jeder hier im Raum vom Leben mindestens einmal überrascht, überrumpelt oder übergangen worden ist.

Wann gelte ich etwas? Muss ich versuchen, einem bestimmten Bild gerecht zu werden? Wer urteilt über mich und wann bin ich auf Gnade angewiesen? Eigentlich sind das religiöse Fragen. Nur dass nicht Gott urteilt, sondern die anderen.

Die Vorstellung von Kandidatinnen und Kandidaten auf einer Synode, also einem Kirchenparlament, ist übrigens nicht so weit entfernt von den Erfolgsgeschichten auf dem Klassentreffen: 52 Jahre, seit 24 Jahren verheiratet (die Zahl muss unbedingt genannt werden), drei Kinder, Abteilungsleiter. Oder: 45 Jahre, seit 15 Jahren verheiratet, eine Tochter, Leiterin einer Beratungsstelle (darunter geht es eigentlich nicht). Lauter protestantische Hochglanzbiografien.

Niemand würde ans Pult treten und sagen: „Ich bin 54, das zweite Mal geschieden, meine Tochter aus erster Ehe spricht zurzeit nicht mit mir. Aber ich habe Hoffnung.“ Oder: „Ich bin 38 und habe eine chronische Krankheit. Ich bin schon heute auf Hilfe angewiesen. Beziehungen sind schwierig für mich. Aber wenn ich sterbe, dann mit einem Lächeln. Denn ich glaube.“

Vertrauen haben. Hoffnung. Plötzlich gibt es einen Unterschied zwischen dem äußerlich sichtbaren Leben mit Erfolg oder Misserfolg und der unsichtbaren Kraft, die mich in Wirklichkeit leben lässt. Die mich trägt, ganz gleich, was ich äußerlich vorzuweisen habe. Plötzlich wird mein Leben zu einem verdankten Leben.

Ich versuche einen Moment, mir das auf dem Klassentreffen vorzustellen: „Woran glaubst du?“ „Wer hat dir davon erzählt?“ „Was hat dich überzeugt?“ „Wofür bist du dankbar?“ „Wann hast du am meisten gezweifelt?“

Gut, solche Fragen eignen sich vielleicht nicht mehr für Smalltalk. Aber wenn’s ein bisschen mehr sein darf, wären das ziemlich spannende Fragen. Und wahrscheinlich würde sich schnell herausstellen, dass nicht der Kontostand oder die Zahl auf der Waage über das eigene Leben entscheidet. Auch nicht die Krankheit oder die gescheiterte Beziehung. Sondern die Frage, ob ich Vertrauen habe. Ob ich vielleicht sogar in irgendeinem Winkel meines Lebens immer noch 16 bin. Ob ich mich ansehen kann als einen, bei dem noch nicht alles zu spät ist, sondern alles möglich. Weil ich Vertrauen habe. Und da immer noch einer ist, der an mich glaubt und irgendetwas mit mir vorhat.

Doch geliebt

Du hörst dich manchmal klagen
wenn es nicht weitergeht
du willst dann nicht versagen
hoffst, dass sich manches dreht

Im Rückblick siehst du alles
so klar wie früher nie
wer sagt denn was normal ist
wer führt denn hier Regie

Was der Plan ist
wer kann das schon sagen
ob es irgendwo doch einen gibt
Du kannst weiter
das Leben befragen
solang du fühlst
ich bin doch geliebt

Das Schicksal lässt dich raten
schachmatt in einem Zug
Du schaust ihm in die Karten
die Zeit vergeht im Flug

In dieser Kurzgeschichte
bist du die Hauptperson
für dich das Allerbeste
das wäre ne Option

Willst du darauf vertrauen
gibt’s hier ein Happy End
Dann darfst du schon mal schauen
was jetzt noch keiner kennt

EIGENTLICH UNMÖGLICH

„Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern“, sagt Astrid Lindgren, die bekannte Kinderbuchautorin. Eine amüsante Vorstellung, aber es soll tatsächlich Menschen geben, die ab und zu so etwas Verrücktes tun. Etwas, das sich nicht gehört. Das eigentlich unmöglich ist. Kinder klettern auf Bäume – aber alte Weiber?

Wenn ein neues Jahr beginnt, ist Zeit für gute Vorsätze. Aufhören zu rauchen. Auf sein Gewicht achten. Mehr Zeit mit der Familie verbringen. Das sind die Klassiker unter den guten Vorsätzen. Warum nehmen wir uns eigentlich nicht vor, einmal im Jahr etwas Verrücktes zu tun? Etwas völlig Unmögliches.