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Dres Balmer

Reh am Rapsfeld

oder eine Radreise rund um die Ostsee

Herausgeber: Velojournal – Magazin für Alltag und Freizeit

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Der Verlag dankt Veloplus für die Unterstützung.

Der Rotpunktverlag wird vom Schweizer Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2019 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch

eISBN: 978-3-85869-836-0
1. Auflage 2019

Im gedruckten Buch sind Fotos enthalten.

INHALT

Deutschland 1

Dänemark

Schweden

Finnland

Russland 1

Estland

Lettland

Litauen

Russland 2

Polen

Deutschland 2

Anhang

Rund um die Ostsee und angrenzende Gewässer, ein Fahrplan im Uhrzeigersinn

Bibliografie

DEUTSCHLAND 1

Manche Fragen sind wie der Beginn einer Reise. Du gehst mit offenen Augen und Ohren los und kommst von einer Frage zur nächsten. Immer weiter!

Lorenz Pauli

Tag eins

Lübeck – Puttgarden

Lübeck, Ende April. Im Hotel Jensen am Fluss Trave, wo ich übernachtet habe, gibt es ein schönes Morgenessen. Und ich finde wieder einmal, in Sachen Frühstück sei die Schweiz ein unterentwickeltes Land.

Ich möchte für mich und meinen Freund, den schöpferischen Bernhard, der mich auf dem letzten Stück der Rundfahrt hierher zurückbegleiten wird, für Ende Juni ein Zimmer reservieren. Bis dahin will ich den Transportsack für das Fahrrad hier im Hotel lassen, statt ihn um die ganze Ostsee herumzuschleppen. Der Mann an der Réception sagt, das gehe nicht. Ich fange an zu verhandeln, sage ihm, ich würde die zwei reservierten Zimmer gleich bezahlen, doch der Mann sagt, sie könnten den Velosack, der etwa so groß ist wie eine Schuhschachtel, unmöglich hier behalten, acht Wochen lang. Ich sage ihm, mit dieser Absage verlören sie zwei Gäste, doch das beeindruckt ihn nicht. Er antwortet kaltschnäuzig, da würden genug andere Gäste kommen und die Zimmer besetzen. Ich denke, der Mann habe schon am frühen Morgen viel Sauerkraut gegessen; aber ich weiß auch, dass Lübeck eine erfolgreiche Handelsstadt ist.

Ich mache mich auf die Räder und auf die erste Reise, von Hotel zu Hotel. Ich reise vom Hotel Jensen zum Hanseatischen Hof, von dort über Kaiserhof und Lindenhof bis zum Hotel Haase, möchte das Zimmer in zwei Monaten reservieren und bis dahin meinen schuhschachtelgroßen Velosack hinterlegen, verhandle von Hotel zu Hotel, doch überall, von Jensen bis Haase, werde ich wegen des Velosacks abgewiesen. Beim Velofahren von ungastlicher zu ungastlicher Herberge in der reichen Hansestadt Lübeck frage ich mich, wieso all die Gastgeber, welche diese Berufsbezeichnung nicht verdienen, so missmutig sind. Dann sage ich mir: Der Grund MUSS das Sauerkraut sein, die fressen frühmorgens alle nur Sauerkraut, Sauerkraut, verdammtes Sauerkraut! Es erlaubt ihnen zwar das Furzen, doch es macht sie sauer, verbietet ihnen das zweimonatige Horten meines kleinen Velosacks, sogar gegen angebotene Bezahlung! Manchmal bin ich in meinen Gedanken so gemein mit den Deutschen, dabei ist meine halbe Familie ja auch deutsch.

Da erblicke ich das Schild einer weiteren Bleibe, deren Name mir Mut macht: Sie heißt BALTIC, und da ich vorhabe, akkurat um das Baltikum herum zu radeln, könnte der Name ein gutes Vorzeichen sein. Ich steige die Eingangstreppe hinauf. Nach fünf Minuten habe ich mich an der Réception mit dem hilfsbereiten Mann aus Estland geeinigt, zahle das Zimmer, vertraue ihm den Velosack an, wir reichen uns die Hände und sagen uns Auf Wiedersehen in zwei Monaten.

Immer noch in Lübeck, bin ich unterwegs auf einem jener teutonischen Radstreifen, die sich untertänig zwischen Trottoir und straßenseitig parkierten Autos durchschleichen. Ein Mann hundert Meter weiter vorne hat am offenen Kofferraum seines Autos zu tun, will einen Blumentopf oder etwas Ähnliches über den Velostreifen zum Trottoir schleppen, blickt aber nicht so genau auf meine Piste. Dafür schaue ich genau und bremse sanft ab, sodass der Blumentopf-Fußgänger mit seiner Fracht unbeschadet passieren kann. Da knallt mir von hinten eine junge Velofahrerin mit Musikstöpseln in den Ohren in mein Rad und verbiegt den Schlüssel, der im Schloss steckt, das wie immer im Rahmen eingehängt ist; die Verbiegung sehe ich aber erst später. Dazu pflaumt die junge Dame mich noch an, wie ich dazu käme, abzubremsen. Ich weise mit einer Armbewegung auf die Blumentopfaktion des Herrn da vor uns. Die Rammkuh hat nicht einmal die Musikstöpsel aus ihrem Kopf gezogen und ist schon verschwunden. Ich kann den Schlüssel zwar geradebiegen, doch ich traue seiner Festigkeit für die lange Reise schlecht, und deshalb kaufe ich im Kaufhaus Karstadt ein neues Schloss.

Endlich, etwa um zehn Uhr, fahre ich los. Zuerst geht es ganz gut, doch die Ausschilderung für Radler geht immer nur bis zum nächsten Ort und nicht über ihn hinaus, der angeblich so berühmte Ostsee-Radweg wird auf keinem Wegweiser erwähnt. Die Radroute geht immer wieder über Kieswege, verläuft im Slalom zwischen Campings, Minigolfplätzen, Schrebergärten, Friedhöfen, Kläranlagen und Kehrichtverbrennungsanlagen, sodass ich manchmal entnervt auf die Bundesstraße ausweiche, wo man gut und direkt fahren kann. Manchen deutschen Autofahrern behagt das aber gar nicht, sie machen Handzeichen, sie hupen und regen sich auf über meine Gegenwart auf ihrer Heiligen Straße. Die Germanen haben ihre mobile Apartheid zwischen Autofahrern und Radlern weitgehend vollendet, sodass die Autofahrer kaum je einen Velomenschen zu Gesicht bekommen. Das Autofahren und die Autostraße sind heilig, und in Heiligenhafen verfahre ich mich zünftig.

Das letzte Stück auf der Bundesstraße 207 / Europastraße 47 ist gut. Da gibt es einen Pannenstreifen, und den kann ich gebrauchen. Dann esse ich an einem Stand einen Hering mit Zwiebeln und Gurke in einem aufgeschnittenen weißen Brötchen. Ich glaube, das geschieht in Scharbeutz. Oder ist es in Grömitz? Scharbeutz oder Grömitz? Item, ich mag den Klang dieser geheimnisvollen Namen, und auf jeden Fall ist das der erste Hering auf dieser Rundfahrt. Das ist ein kleiner historischer Moment auf dieser Reise, die eine Reise der Kleinigkeiten, eine Fahrt von Nichtigkeit zu Nichtigkeit sein wird. Ich werde unterwegs, rund um die Ostsee, ganz sicher sechzig, neunzig oder sogar hundertzwanzig Heringe essen, und sie werden mich bei Laune halten. Von jetzt an werde ich mich nicht mehr durchwursteln und durchkrauten, sondern ich werde mich durchheringeln; die blöden Würste und das blöde Sauerkraut können weit hinter mir bleiben, bis ich mich wieder nach ihnen sehne.

Ich dachte, ich komme heute nur bis Heiligenhafen. Jetzt aber schaffe ich es bis Puttgarden. Die verkehrstechnische Bilanz: Lübeck–Puttgarden ist für Radfahrer nicht erkennbar durchgehend ausgeschildert, man würgt sich von Ort zu Ort durch. Die Landschaft ist oft schön. Kilometerlang liegen die Rapsfelder, die Alleen sind großzügig, und lustig sind die Fahrten durch ein paar Seebäder, schön die Aussicht auf die Ostsee, die spiegelglatt in der Windstille liegt. Ich sehe fast nur Radler auf ihren kleinen Spazierfahrten, unterwegs von ihrem Auto weg und zurück zu ihrem Auto, die meisten sind winterlich gekleidet, ein Rennradfahrer, auch Gümmeler genannt, saust in Langlaufmontur vorüber, auf der Bundesstraße sehe ich einen einzigen weiteren Gümmeler, und der ist sommerlich gekleidet, wie ich.

Ich bin sehr müde, die Müdigkeit ist auch noch von der gestrigen Anreise. Das Hotel kostet 95 Euro, und das finde ich sehr teuer. Klar, das kostet so viel, weil ich allein unterwegs bin. Warum bin ich allein unterwegs? Weil es sonst niemandem einfällt, auf dem Velo um die Ostsee zu fahren. Niemand weiß, was das genau sein soll, die Ostsee samt Baltikum und all den weitläufigen Meerbusen, und ich weiß das alles auch noch nicht.

Deshalb, genau deshalb, weil ich es noch nicht weiß und es nie genau wissen werde, bin ich ja unterwegs. Warum aber ist das Alleinsein doppelt so teuer, als wenn man in Begleitung reist? Das ist so, weil das andere Bett im Zimmer leer bleibt. Ich könnte um Mitternacht aufstehen, hinübergehen und im anderen Bett weiterschlafen, um so die fünfundneunzig Euro herauszuholen, doch das scheint mir rappenspalterisch, und um Mitternacht schlafe ich ohnehin am tiefsten. Das Rapsfeld unter dem Zimmerfenster ist riesig und leuchtet so gelb, dass einem die Augen brennen. Diese Rapsfelder sind bis jetzt, glaube ich, der stärkste Eindruck. Doch die Reise hat ja noch gar nicht richtig begonnen.

Um zwanzig Uhr leuchtet immer noch helles Sommerlicht. Das Hotel Dania, in dem ich bin, habe ich auf der Anfahrt schon von Weitem erblickt, denn es ist ein Hochhaus und mein Zimmer im achten Stock. Ich bin hier der einzige Gast. Bei der Kreuzung vorhin stand ein Wegweiser zu einem Camping, doch da war wieder einmal keine Distanzangabe. Das hat seine Logik, weil es den anreisenden Autofahrern egal ist, ob sie noch drei oder sechs Kilometer zu fahren haben. Dem müden Velofahrer aber ist das nicht egal, und wenn der Campingwart keine Distanzangabe auf seinen Wegweiser schreibt, hat auch er mit mir einen velofahrenden Gast weniger.

Die Fährhafenanlage schräg gegenüber ist menschenleer und gespenstisch, doch der Wirt beruhigt mich. Er sagt, es lege jede Stunde eine Fähre ab. Vom Hotelrestaurant im dritten Stock sehe ich über das Rapsfeld zum Hafen, dahinter leuchtet die Ostsee dunkel unter dem blauen Himmel. Schon hier ist so ein nordisches Licht. Dann erblicke ich zwischen dem Rapsfeld und dem Fährhafen einen schmalen Wiesenstreifen. Auf ihm grast ein Reh, hebt hie und da den Kopf und blickt über das Rapsfeld hierher zu meinem Hotelturm, mit einem Blick, dessen stechende Wachheit ich auch über die Distanz von hundertfünfzig Meter zu spüren glaube. Schmerzt denn das Rapsgelb die Augen des Rehs nicht? Es ist zwanzig nach acht und immer noch heller Tag.

Das Gulasch ist dreimal so zäh und dreimal weniger gut als das Gulasch einer Bekannten zu Hause, die sich auf diese Speise spezialisiert hat; außerdem fehlt hier der Sauerrahm. Die Portion aber ist riesig, ich lasse ein Drittel stehen und verzichte auf das Dessert, Mousse au chocolat, das der Kellner überschwänglich und mit Augenzwinkern gelobt hat. Wieso zwinkert der so mit seinen Augen, vor allem mit dem rechten?

Tag zwei

Puttgarden – Præstø

Die Sonne scheint glaub ich schon um fünf Uhr morgens. So genau weiß ich das nicht, weil ich keinen Zugang habe zur Uhrzeit. Mein Rapsfeld leuchtet wieder gelb, noch gelber als gestern explodiert es unter meinem Fenster. Und auch heute steht das Reh frühmorgens regungslos hinter dem Feld und blickt herüber zu mir. Das Reh ist fast wie ein Haustier. Oder ist das Reh künstlich? Es schaut so starr. Nein, jetzt beugt es den Hals nach unten und frisst Gras.

Beim Frühstück im Hotel Dania ist wieder ein außergewöhnlicher Kellner zugange, sehr lang gewachsen und mager. Im Service trägt er Chirurgenhandschuhe, und er ist von ausführlich wortreicher Höflichkeit, sagt immer wieder »mein Herr« und andere Sachen, wie sie nur noch in alten Sprachführern geschrieben stehen. Wo sonst und wer sonst sagt noch »mein Herr«? Sagt er vielleicht »mein Herr«, weil ich vorher »Herr Ober« gesagt habe? Wer sagt denn noch »Herr Ober«, wird er sich gedacht und beschlossen haben, mich mit »mein Herr« anzureden. Wir, er und ich, fallen vielleicht ein wenig aus der Zeit und lassen uns auf dieses Sprachspiel ein, das uns beide amüsiert. Ich glaube langsam, das Hotel Dania wird von einem Herrenklub geführt, und das fasziniert mich. Sie haben nicht eine Frau Oberin, sondern einen Herrn Ober. Und wie schaut es in der Küche aus? Sind dort Küchenmädchen oder Küchenburschen? Und wer macht die Betten der Gäste und wechselt die Leintücher? Haben sie nicht ein Zimmermädchen, haben sie einen Zimmerknaben? Ich schaue noch einmal nach dem Reh am Rapsfeld. Es ist verschwunden. Es muss also ein richtiges, ein leibhaftiges Reh sein.

Vor neun Uhr mache ich mich auf den Weg zur Fähre, stehe an der Kasse. Die Überfahrt kostet sechs Euro. Dazu gibt es einen Gutschein, den man auf dem Schiff eintauschen kann gegen ein Paket Zigaretten. Ich stecke den Gutschein ein.

Die Frau im Kassenhäuschen weist mich nach vorne, zum Pier hin, auf die Piste eins, dort ganz links, wo schon zwei Motorradfahrer mit ihren Fahrzeugen warten, sollte ich mich hinstellen. Noch ist das Signal auf Rot. Als es grün wird, dürfen die Zweiradfahrer als Erste durch, die Autos warten noch. Oh, da kommt auch noch ein mächtiger Eisenbahnzug von der rechten Seite auf Schienen angefahren, der auch auf die Fähre will. Von zwei Sicherheitsleuten werde ich aufgehalten, dann durchgewunken, der letzte ruft mir zu, ich solle im Schiff backbord bis ganz nach vorne fahren und das Velo dort abstellen. Ich überlege, ob backbord links oder rechts heißt, doch im Unterdeck steht zum Glück ein weiterer Fährmann, der mich mit einer Armbewegung nach links weist; backbord heißt also links.

Die etwas neblige Überfahrt dauert 45 Minuten, und alle Passagiere, Paare, die sich mit ihrem Wohnmobil zur Entdeckung Skandinaviens aufmachen, Eltern mit Kindern, die über ihr Handy gebeugt sind, und zwanzig Pfadfinder, scheinen sich zu langweilen, gegenseitig anzuöden. Mir ist nicht langweilig, weil ich mir diesen Film auf dem Fährschiff anschauen kann. Doch bald habe ich ihn zur Genüge gesehen. Ich gehe mit dem Zigaretten-Gutschein an den Kiosk und frage nach einer Packung Roth-Händle ohne Filter. Roth-Händle ist ein kräftiges Kraut, und mir gefällt auch die Grafik der rotschwarzen Packung. Roth-Händle ohne Filter aber hat die Kioskfrau nicht im Sortiment, weil, wie sie, die Kioskfrau, mitteilt, niemand mehr Zigaretten ohne Filter raucht. Dann frage ich nach filterlosen Reval, was hier, auf einer Ostseefahrt, ja seine Logik hat, denn Reval ist der deutsche Name von Tallinn. Doch auch Reval hat die Verkäuferin nicht im Angebot. Der Himmel hat sich überzogen, der Wind ist stark und so kalt, dass ich es auf Deck kaum aushalte. Die Fähre legt an, sie öffnen vorne die riesigen Tore. Ich darf das Schiff als Erster verlassen und bin ganz stolz. Bin ich jetzt in Dänemark, in Skandinavien? Noch bin ich da nicht sicher.

DÄNEMARK

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.

Karl Valentin

Auf dem dänischen Festland erklärt mir eine Zöllnerin, wie ich auf die andere Seite der Autobahn und dort auf die Route nach Norden komme, und die Überführung ist gut ausgeschildert. Zuerst fahre ich auf der Straße, etwas weiter gibt es Velopisten, und ich benutze sie. Diese Pisten machen einen besseren Eindruck als die in Deutschland, und die dänischen Autofahrer scheinen weniger ruppig zu sein als die deutschen.

Ich finde den Weg Richtung Nykøbing. Da aber sind zwei Kilometer weiter eine Baustelle und eine Umleitung ausgeschildert. Wie üblich ignoriere ich die Umleitung und fahre geradeaus weiter, um mir diese Baustelle anzuschauen. So habe ich einen Moment lang Ruhe vor dem motorisierten Verkehr. Meine Straße steigt in einer sanften Rampe an zu einer Brücke, die über die Autobahn E 47 führt, nur, hoppla!, das waagrechte Mittelstück der Überführung, also genau die Brücke, ist weg, und ich stehe über einem Abgrund.

Vierzig Meter gegenüber, auf der anderen Seite, sehe ich den Aufgrund, denn wo ein Abgrund ist, gibt es auch einen Aufgrund, denke ich mir. Dazwischen, vier Meter unter dem Abgrund und dem Aufgrund, ist die Autobahn, doch auch auf ihr sind Bauarbeiten im Gange, und zwar dergestalt, dass die Autos nicht auf vier, sondern nur auf zwei Spuren fahren und sich kreuzen. Von meinem Aussichtspunkt aus schaue ich mir die Situation an. Ich rauche eine Sèche, das heißt Zigarette, beobachte den Verkehr während der siebenminütigen Sèche-Länge und sehe, dass nur wenige Fahrzeuge unterwegs sind. Außerdem gebieten ein paar Schilder eine Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h. Ich beschließe, über einen kleinen Umweg zu der Autobahn hinunter zu fahren und sie dann zu überqueren, um auf der anderen Seite, beim Aufgrund also, die Reise auf meiner unterbrochenen Straße fortzusetzen.

Ich bin jetzt am westlichen Autobahnrand bis auf die Höhe der abgebrochenen Brücke gefahren und beginne damit, die Taschen vom Velo zu nehmen. Da pfeift von hinten ein Arbeiter. Er spricht Deutsch und fragt mich, was ich da mache. Ich begrüße ihn zuerst und biete ihm eine Zigarette an. Er lehnt ab. Dann erkläre ich ihm mein Vorhaben, dass ich gedenke, Gepäck und Fahrzeug Stück um Stück über die Leitplanken auf die andere Seite zu schaffen und dort meine Ostsee-Fahrt fortzusetzen. Halb ablehnend und halb amüsiert schüttelt er den Kopf, lässt mich machen, und bei seinem Weggehen lacht und schüttelt er den Kopf weiter. Warum arbeiten die alle, wo heute doch der Erste Mai ist?

Im Gegenwind radle ich weiter gegen Osten, nach Nykøbing. Der Name amüsiert mich, weil er an deutschschweizer Dialekte erinnert, an Köbi oder so. Kurz vor dem Ort überholt mich ein Gümmeler; grußlos, dieser Sauhund in Schwarz. Ich bin sehr hungrig und fahre ins Zentrum. Dort sind Restaurants, und allenthalben sind Leute zu sehen, die ihre Lebenslust zeigen. Vor einer Beiz, draußen im Garten, bringt man mir ein sehr gutes Thunfisch-Sandwich, hammergut, und dazu gibt es Tuborg-Bier, Tuborg classic oder so ähnlich, und das ist halbdunkel. Nie würde es mir in der Schweiz einfallen, Tuborg-Bier zu trinken, hier aber trinke ich es.

Dann geht es weiter nach Norden, zum Teil mit umständlichen Velo-Umleitungen, die ich oft missachte. Jetzt scheint eine schüchterne Sonne. Ich durchquere weitläufige Landschaften mit immer ferneren Horizonten. Alles hier ist grüne Landschaft und grüne Landwirtschaft. Der Wind weht von rechts, und rechts ist ein Bauer mit seinem Traktor ein Feld am Eggen. Die Erde ist so trocken, dass der Wind Staubschwaden vom Traktor herüber zu meiner Straße trägt. Der Bauer sieht mich kommen und hält seinen Traktor an, sodass einen Moment lang kein Staub zu mir herüber fliegt. Und der Bauer wartet, bis ich vorbei bin. Dann legt er den Gang wieder ein.

Jetzt fahre ich im ätzenden Gegenwind. Ich erreiche Vordingborg, zweige rechts ab Richtung Møn. Dann verpasse ich die Stelle, wo ich nach Norden biegen möchte, versuche es mit einer anderen Kurve. Es geht jetzt durch eine abwechslungsreiche Hügellandschaft, ich weiß aber nicht genau, wo ich eigentlich durchfahre.

Da komme ich nach Præstø, sehe ein Camping ausgeschildert und folge den Pfeilen. Ich stelle das Zelt auf und gehe ins Dorf zum Nachtessen. Das Restaurant heißt Kaktus. Ich esse Spaghetti alla marinara. Die sind anständig, doch ich schaffe auch diese Portion nicht. Was ist mit mir los? Können die Deutschen und die Däninnen so viel mehr auf einmal fressen als ich Schweizer?

Um neun Uhr radle ich zurück zum Zelt. Ich bin auf dem Hund, logisch. Der Gegenwind ist kalt, meine Landkarte schlecht, und ich kann sie ohnehin nicht lesen. Also könnte ich die Karte zu Hause lassen und so Gewicht sparen. Die Nacht ist kalt. Ich verkrieche mich ins Zelt und bin froh, dass ich den wärmeren Schlafsack mitgenommen habe. Ich schlafe sehr gut.

Tag drei

Præstø – Kopenhagen

Ich erwache und möchte am liebsten schon aufstehen. Da sehe ich, dass es erst sechs Uhr ist, und schlafe noch eine Stunde. Es ist acht Grad kühl. Ich probiere zum ersten Mal den Kocher aus. Die Bedienung mit den Esbit-Tabletten und das Auflegen kleiner Zweigstücklein ist etwas umständlich, gelingt aber schließlich, und schon brodelt das Wasser. Mit dem neuen Zelt habe ich eine kleine Schwierigkeit, weil sich das Verbindungsstück von Längs- und Querfirst schlecht bewegen lässt. Wie immer ist die erste Packerei umständlich, von Mal zu Mal wird sie einfacher gehen. Der Himmel ist bedeckt, die Sonne nicht sichtbar. Die Straße führt zuerst durch die reine Landschaftsidylle, ich genieße die Fahrt über die weiten Felder, die lichten Wälder entlang, fühle mich in der Geografie gut aufgehoben. Ich gelange auf die Landstraße 105, und die führt schnurgerade über sanfte Hügel. Die Velopiste ist perfekt, und ich benutze sie, sehe sonst keine Radler. Ich bin etwa um halb neun losgefahren, nach elf Uhr bin ich in Køge und sehr hungrig. Am Hauptplatz sehe ich das Café Vanilla, und hinein mit mir. Ich bestelle und verschlinge einen Vanilla-Brunch, und der ist sehr solide.

Vor der Weiterfahrt erblicke ich am Hauptplatz einen Liegeradfahrer aus Deutschland. Ich grüße ihn, und ich Fiesling, wie ich später denke, ertappe mich dabei, dass ich insgeheim seine radlerische Stärke abschätze, mich frage, ob wir im Gegenwind eine Seilschaft bilden könnten. Er ist auch unterwegs Richtung Stockholm, doch im Moment ist er noch daran, Pâtisserie zu essen. Ich beschließe den Aufbruch. Vielleicht holt er mich ja ein, dann können wir zusammenarbeiten. Ich rolle gemächlich weiter. Irgendwie fühle ich mich nicht so ganz in Form und rauche während der Pausen etwas nervös. Heute ist vielleicht die Ouvertüre zu den langen Geraden in Schweden, die ich erst auf der Landkarte gesehen habe. Na, dann halt. Wie soll ich mich innerlich auf sie einstellen, auf die langen Geraden, die vor mir liegen, hinauf nach Norden, dann wieder hinunter nach Süden? Der Wind ist gnädig, doch es ist kalt. Zum Glück bin ich warm angezogen, und ich brauche die warme Kleidung, unbedingt. Das Meer taucht nur hie und da kurz am rechten Bildrand auf. Diese Landschaft ist weit und unendlich, sie ist von einer gnadenlosen weiten Schönheit, und sie ist nicht zu fotografieren, sie ist nur mit den Augen, körperlich und seelisch zu erleben. Weil ich also nicht weiß, was ich fotografieren soll, fotografiere ich Kilometer- und Meilensteine.

Die Agglomeration Kopenhagen beginnt schon fünfundzwanzig Kilometer südlich des Zentrums, es sind anonyme Siedlungen. Schon fahre ich auf Stadtautobahnen. Genau im Moment, als ich zum ersten Mal ein Schild »Centrum« erblicke, gibt es etwas Sonnenschein, und der ist mir eine Freude. So bringe ich also den Sonnenschein nach Kopenhagen. Von meinem Liegeradfahrer fehlt jede Spur.

Die Stadt ist größer als erwartet und befürchtet. Der Betrieb ist wahnsinnig. Ich werde etwas nervös. Dazu kommt, dass hier die Velofahrer im Verkehr die nervösesten Menschen sind, manche sind einfach rücksichtslos. Dabei schwärmt man doch weiter südlich in Europa von der tollen Velostadt Kopenhagen. Doch sie ist mir genauso unangenehm wie die rüpelhaften Velostädte Amsterdam und Rotterdam, von denen auch so geschwärmt wird; und ich hasse die Fußgängerzonen in deutschen Städten, weil auch dort Velorowdies herumrasen.

Ich bin etwas ratlos. Vorher dachte ich ans Zelten, das vergesse ich nun. Warum bloß bin ich so müde nach einer so kurzen Etappe? Ich frage mich durch zum Bahnhof. Eigentlich darf man Velos nicht in die Schalterhalle schieben, ich tue es doch und sehe, dass es viele andere auch tun, und das beruhigt mich in meinem Unrecht.

Ich erkundige mich nach Zügen in Richtung Ystad, Schweden. Die Frau am Auskunftsschalter informiert mich, dass ich einen Zug Richtung Kristianstad nehmen und weiß ich wo umsteigen solle. Weil ich gehört habe, dass der Velotransport in den Zügen der verschiedenen schwedischen Bahngesellschaften umständlich ist, frage ich, ob ich das Velo auch nach Schweden hinein bis Kristianstad mitnehmen dürfe, und sie bejaht.

Jetzt habe ich schon Hintergedanken, gemeine Hintergedanken. Ich fürchte mich vor der riesigen Agglomeration Kopenhagen-Malmö, denke, ich könnte eventuell im Zug bis Kristianstad reisen. Die Informationsfrau druckt mir den Fahrplan aus, ich brauche zum Überlegen ein Bier, gehe um die Ecke in eine riesige Bar, wo alle am Saufen sind. Sind die Dänen lebenslustiger als die Schweden? Ich hoffe es nicht, das heißt, ich hoffe, die Schweden seien noch lebenslustiger als die Dänen. Aber eigentlich hoffe ich gar nichts, gehe schauen, hören, erleben. Ich gehe also um die Ecke in die Bar, um bei einem Bier DIE Entscheidung des jungen Jahrhunderts zu treffen.