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    Josef Scherz– Der Herzenfresser– Kriminalroman– Nach der wahren Geschichte eines Seriemörders im österreichischen Kaiserreich– Salomon

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Cover: JaeHee Lee

ISBN 978-3-90320-008-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

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VORWORT

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war eine bewegte Zeit. Ganz Europa war im Umbruch: Die katholische Kirche verlor zunehmend ihre Macht, die Lutherischen marschierten unaufhaltsam vorwärts, das Gedankengut der Aufklärung verbreitete sich und die Industrialisierung begann.

Im österreichischen Kaiserreich regierte Maria Theresia und nachfolgend ihr Sohn Joseph II, der als ›Reformkaiser‹ in die Geschichte einging. Er drängte den Einfluss der katholischen Kirche zurück, entzog dem Adel Privilegien und baute das staatliche Bildungssystem aus. Während die Reformen in den Städten bald wirkten, ging es auf dem Land nur mühsam voran. Hier bestimmten noch immer Glaube, Aberglaube und der unheilige Verbund von Geistlichkeit und Adel das Leben und die Schicksale der Menschen.

Dieser Roman führt in diese Zeit, mitten auf dem Land, und basiert auf einem der grausamsten Fälle der europäischen Rechtsgeschichte. Einige Personen haben tatsächlich gelebt, andere sind frei erfunden.

1

(Anno 1753) Es war stockdunkel. Auf Zehenspitzen schlich Pfarrer Johannes vorsichtig durch den Flur seines Pfarrhauses. Er achtete auf seine Schritte. Schon ein leises Knarren des Dielenbodens konnte ihn verraten. Dann hielt er inne, atmete kurz durch, um gleich darauf seine Ohren zu spitzen. Lange vernahm er keinen Laut, doch auf einmal ein Rascheln. Und nun sah er auch den zuckenden Lichtschein einer Kerze, die durch den Türspalt der kleinen Kammer am Ende des Flurs schimmerte. Er näherte sich lautlos und spähte in die Kammer.

So ist das also.

Ein stattlicher Mann und eine junge Frau küssten sich innig und ließen sich dabei sanft aufs Bett niedergleiten. Der Mann begann, die Frau auszuziehen und liebkoste sie dabei zärtlich überall, wo er sie entblößte.

Dieses unschuldige Ding mit diesem Hurenbock!

Das Herz des heimlichen Beobachters pochte heftig, und er atmete schneller. Ob er es wollte oder nicht, was er sah, erregte ihn. In höchstem Maß. Er war ja auch nur ein Mann, selbst wenn er Gott diente. Verwirrt griff er nach dem Kruzifix an seiner Brust und küsste es – immer wieder.

Vergib mir, oh Herr!

Doch Pfarrer Johannes war unfähig, sich dem Anblick der Liebenden zu entziehen. Zärtlich streichelte der Mann nun die vollen Brüste seiner Gefährtin, fing an, daran zu saugen und schien nicht genug zu bekommen. Gleichzeitig streichelte er sie zwischen den Schenkeln und versuchte sie zu öffnen. Sie wehrte sich nur matt, was den Liebhaber ermutigte. Nun führte er ihre rechte Hand an sein erregtes Glied. Sie stöhnten beide auf, und er schob sich über sie. Ihr entfuhr ein kehliger Laut.

Dem Pfarrer stand der Mund offen, Speichel rann aus den Mundwinkeln. Er fuhr mit der Rechten unter seine Kutte und verschaffte sich Erleichterung. Dabei flehte er lautlos: Bitte, bitte vergib mir, oh Herr!

Als es vorbei war, schlich er hinaus in den Hof und richtete seinen Blick in den sternenklaren Himmel dieser lauen Sommernacht. Der Duft von Veilchen aus dem Garten stieg in seine Nase, und fröhlicher Lärm hallte zu der kleinen Anhöhe hinauf, auf der das Pfarrhaus stand. Es war der Tag des alljährlichen Dorffestes von Turnau, einem gottvergessenen kleinen Ort in den steirischen Bergen.

†††

Pfarrer Johannes hatte sich wieder unter die Feiernden im Dorf gemischt. Mitten im Gedränge packte ihn jemand von hinten am Arm und riss ihn herum. Noch ganz benommen, fühlte er sich wie ertappt.

»Endlich treffe ich Sie, Hochwürden«, sagte Gutsverwalter Hubertus Lafer, »der Herr Graf und ich wollten um diese Zeit längst wieder auf dem Rückweg nach Kindberg sein. Wissen Sie, wo er steckt?«

Pfarrer Johannes tat überrascht.

»Keine Ahnung. Er wird sich schon irgendwo hier finden.«

»Eben nicht. Ich habe ihn schon überall gesucht. Seine Frau Agnes wartet zu Hause, sie ist hochschwanger, sie bekommt bald ihr viertes Kind.«

Pfarrer Johannes schaute sich suchend um: »Wissen Sie was, wir beide trinken noch etwas zusammen, und inzwischen wird er schon wieder auftauchen.«

Lafer entspannte sich nicht: »Ihr Wort in Gottes Ohr! Aber Sie kennen die Gräfin nicht. Eine schwierige Person. Sie wird die Schuld bei mir suchen.«

Der Pfarrer hob beschwichtigend die Hand und schob Lafer in eine übervolle, verrauchte Wirtsstube. Am Schanktisch bestellte er zwei Schnäpse, die prompt serviert wurden, und erhob sein Glas. Kaum spürte er das wohlige Brennen in der Kehle, lallte ihm ein Kerl aus der Menge zu: »Grüß Gott, die Herren! Wohl bekomm’s!«

Pfarrer Johannes zuckte zusammen und zog Lafer zu sich heran.

»Ich glaube, wir sollten besser wieder gehen.«

Doch es war zu spät.

Der Kerl hatte sich schon zu ihnen durchgedrängt und streckte Lafer die Hand entgegen. »Gestatten, Bräuer mein Name, Andreas Bräuer. Ich versuche mich hier neuerdings als Dorflehrer.«

»Angenehm«, entgegnete Lafer, schlug ein, stellte sich vor und fügte hinzu: »Die Schulpflicht für alle hat Sie wohl zu uns geführt. Wozu diese verrückte Idee unserer Kaiserin gut sein soll, weiß wohl nur sie selbst.«

Bräuer ignorierte die spitze Bemerkung, grinste nur säuerlich und schaute um sich: »Und wo ist unser hochehrwürdiger Graf? Schließlich ist er ja der Ehrengast auf dem Fest.«

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Lafer.

Pfarrer Johannes mischte sich nun ein: »Es war der Wunsch des Herrn Grafen, sich unter die Leute zu begeben.«

Bräuer runzelte die Stirn: »Aha, ganz allein?«

»Ja, ja, ganz allein«, antwortete Pfarrer Johannes.

Bräuer tat, als müsse er angestrengt überlegen, schnippte dann mit den Fingern: »Da fällt es mir justament wieder ein! Ich hab ihn gesehen. Da war er aber nicht ganz allein.«

»Wie, nicht ganz allein?«

Lafer war der süffisante Unterton nicht entgangen.

»Ach was«, sagte Pfarrer Johannes betont gelassen, »er war sicher nur in Begleitung von Maria, meiner neuen Magd am Pfarrhof … und … und hat sich von ihr ein wenig herumführen lassen. So, und nun wird Herr Bräuer wohl ohne uns auskommen müssen.«

Darauf zog er Lafer mit sich nach draußen.

»Was ist mit diesem Bräuer?«, fragte Lafer.

»Ach nichts weiter, nur ein unangenehmer Kerl«, antwortete Pfarrer Johannes und hätte sich dabei fast verschluckt.

†††

»Wir sollten uns wieder auf dem Fest sehen lassen, bevor es auffällt«, sagte Maximilian Graf zu Mürze zu seiner Bettgefährtin und schaute ihr liebevoll in die Augen. Dann erhob er sich und schlüpfte in seine schwarze Reithose.

»Dort sind um diese Zeit doch alle längst betrunken, und niemand kümmert sich darum«, entgegnete Maria, die aufgestanden war und nach seiner Hand griff. »Wie soll es mit uns weitergehn?«

Er entzog sich, knöpfte eilig sein weißes Hemd zu und fuhr in seine Stiefel. »Darüber muss ich nachdenken!«

»Nachdenken?«, fragte sie und bekam feuchte Augen.

Er wandte sich ihr zu, strich ihr über die Wangen und die langen blonden Haare. »Du weißt doch, ich habe Frau und Kinder.«

Nun rollten dicke Tränen über ihr Gesicht. Dieser Anblick war unerträglich für ihn. Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an seine Brust: »Beruhige dich doch. Ich verspreche dir, dass ich in Ruhe nachdenken werde, nach dem Fest. So, und jetzt zieh dich an und versprich mir, dass das hier unser kleines Geheimnis bleibt. Niemand darf davon erfahren.«

†††

Während in Turnau auch schon tagsüber gefeiert wurde, suchten nahe der kaiserlichen Hauptstadt Wien Johann Altmanner und seine schwangere Frau Rosa verzweifelt nach einem bestimmten Haus. Sie waren beide von ihrem langen Fußmarsch erschöpft, hungrig und durstig. Das wenige Hab und Gut, das ihnen gehörte, hatten sie in einem verschlissenen Rucksack verstaut, der jederzeit zu platzen drohte. Als sie schon aufgeben wollten, ratterte auf der staubigen Straße, irgendwo zwischen der Stadt und dem kaiserlichen Schloss Schönbrunn, eine prächtige Kutsche daher. Entschlossen stellte sich Altmanner mitten auf den Weg und brachte den Wagen abrupt zum Halten. Der höfisch uniformierte Kutscher ergriff seine Peitsche und schwang sie drohend: »Was fällt dir ein?! Aus dem Weg, oder du bekommst das hier zu spüren!«

Altmanner hob besänftigend seine Arme. »Ganz ruhig der Herr. Ich brauche nur eine Auskunft.«

Er hielt er einen Fetzen Papier hoch: »Ich suche ein Haus mit dieser Adresse?«

Der Kutscher überflog das Schreiben, lachte kurz auf und antwortete: »Brauchst dich nur umzudrehn, stehst direkt davor!«

Aus dem Inneren der Kutsche ertönte nun eine sonore Stimme: »Geben Sie diesen Bettlern eine Münze, und fahren Sie endlich weiter!«

»Sehr wohl Eure Exzellenz, aber ich habe keine Münze bei mir«, gab der Kutscher zurück.

Da beugte sich ein Mann im purpurnen Gewand eines Kirchenfürsten aus der Kutsche und musterte die beiden Gestalten auf der Straße mit scharfem Blick. Seine Augen blieben wohlwollend auf der schwangeren Rosa ruhen: »Na wenigstens belohnt der Herr euch armes Gesindel mit Fruchtbarkeit.«

Der Geistliche kramte in seinen Taschen herum und schnippte dann mit seiner behandschuhten Rechten, an der ein dicker Siegelring prangte, eine Münze auf den Boden. »Nehmt das als Zeichen meiner Barmherzigkeit, Gott sei mit euch!«

Dann gab er seinem Kutscher das Zeichen zur Weiterfahrt.

Rosa wollte sich schon bücken, doch Altmanner hielt sie zurück: »Lass gut sein! Alles, was uns noch geblieben ist, ist unsere Würde. Aber wenigstens wissen wir jetzt, dass wir hier richtig sind.«

Sie wandten sich dem gepflegten, einstöckigen Haus zu, das am ehesten an ein Herrenhaus erinnerte, wie sich die Leute auf dem Land gern ausdrückten. Die Fassade schimmerte in zartem Gelb, kunstvolle weiße Ornamente rahmten die Fenster. Ein paar Stufen führten hinauf zur herrschaftlichen Eingangstür aus schwerer Eiche. Jetzt, wo sie endlich am Ziel waren, war Altmanner plötzlich unsicher, ob sie es wirklich wagen sollten. In ihren staubigen, ärmlichen Kleidern, mit ihren ausgetretenen Schuhen sahen sie ja tatsächlich aus wie Bettler. Und völlig verschwitzt waren sie auch nach dem langen Marsch.

Er wäre froh gewesen, wenn sich alles doch noch als Irrtum herausgestellt hätte. Nachdenklich betrachtete er Rosa, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, aber trotz allem versuchte, seinem Blick liebevoll lächelnd zu begegnen.

»Wir haben ohnehin nichts mehr zu verlieren«, sagte er dann entschlossen, stieg die Stufen hinauf und klopfte an.

Eine Ewigkeit verstrich, bevor sich die Tür einen Spalt weit öffnete und eine Dame mittleren Alters mit dichtem blondem Haar, zu einer kunstvollen Frisur geflochten, herausschaute. Das Gesicht war sorgfältig gepudert, sie trug ein prachtvolles Kleid und duftete zart nach Rosenblüten. Misstrauisch beäugte sie Altmanner. Er konnte spüren, was sie dachte: Arme Leute vom Land, die es mit dem Betteln in der Stadt versuchen wollen. Gebe ich ihnen Almosen, kommen sie immer wieder.

»Wir sind keine Bettler«, beeilte sich Altmanner zu sagen, um dem unausweichlichen ›Wir-geben-nichts‹ zuvorzukommen.

»Ah so? Wer seid ihr dann?«

»Sind wir hier richtig bei Familie Ferdinand Ludowitz?«

Die Dame war sichtlich überrascht und bejahte mit einem Kopfnicken. Daraufhin überreichte er ihr ein versiegeltes Schriftstück mit den Worten: »Das soll ich euch geben!«

Sie löste das Siegel, überflog das Schreiben und rief dann sichtlich erregt ihren Gemahl Ferdinand zu sich. Ein gepflegter Mann mit feinen Gesichtszügen und gütigen Augen erschien kurz darauf. Er musterte rasch die Altmanners, die am Fuß der Treppe warteten, und las:

Mein lieber Freund Ferdinand!

Wenn Du dieses Schriftstück liest, werden Johann und Rosa Altmanner aus Turnau in der Steiermark vor Dir stehen.

Es sind brave Bauersleute, welche sich nichts zu Schulden haben kommen lassen und Hilfe brauchen. Ich verbürge mich für sie!

Wie alles hergegangen ist, können Dir diese Leute am besten selbst erzählen. Nimm Dir bitte die Zeit dafür.

Als ich damals von Wien weggegangen bin, hast Du mir versprochen, dass ich mich jederzeit auf Deine Unterstützung verlassen kann.

Ich hoffe, dass dieses Angebot auch für meine Freunde gilt.

Bitte hilf! Ich weiß, dass Du über ausreichend Einfluss verfügst.

Dein Freund
Andreas Bräuer

Ludowitz’ Gesicht hellte sich auf, er schmunzelte: »Andreas Bräuer, dieser alte Dickschädel und Weltverbesserer! Was macht er eigentlich?«

»Er versucht sich in Turnau als Dorflehrer«, antwortete Altmanner.

Ludowitz atmete tief durch, schaute fragend seine Gemahlin an, welche nur kurz nickte. »Tretet ein und folgt uns.«

Die Besucher wurden durch große Räume geführt, allesamt mit üppig verzierten, kostbaren Möbeln ausgestattet.

Überall an den Wänden hingen Gemälde von lieblichen Landschaften und Jagdszenen neben Portraits irgendwelcher Herrschaften. Alles blitzte vor Sauberkeit, und ein zarter Rosenduft lag in der Luft.

»Bitte nehmt doch Platz, Ihr seht sehr müde aus«, sagte Ludowitz freundlich.

Die Altmanners zögerten, doch der Hausherr deutete auf dick gepolsterte Stühle. »Bitteschön! Darf ich euch Tee und Kuchen anbieten?«

Sie zögerten abermals. Sie kannten diese Form der kultivierten Gastfreundschaft nicht.

»Etwas zu essen und zu trinken wird euch sicherlich guttun«, suchte der Gastgeber ihre Zweifel zu zerstreuen und lächelte freundlich.

»Vielen Dank«, brachte Altmanner verlegen hervor, »und entschuldigen Sie bitte unser Eindringen, aber in unserem Zustand …«

»Ihr braucht euch nicht zu entschuldigen. Meine Gemahlin Else und mich interessiert viel mehr, wer ihr seid und warum euch Bräuer zu mir geschickt hat. Nur so kann ich beurteilen, ob und wie ich euch helfen kann. Und sollte ich helfen, will ich später keine bösen Überraschungen erleben. Das hätte fatale Folgen für mich – in meiner Position.«

Seine Gattin hatte inzwischen Tee und Gebäck auf den mit Intarsien geschmückten Tisch gestellt. Altmanner ergriff vorsichtig eine Porzellantasse mit seinen geschundenen Händen. »Wo soll ich beginnen?«

»Ganz am Anfang!«, entgegnete Ludowitz.

Sein Besucher räusperte sich. »Das kann aber dauern.«

»Macht nichts. Wir haben Zeit!«

»Also gut. Meine Frau und ich hatten einen Bauernhof weit oben am Berg bei Turnau, einem kleinen Dorf, ein paar Kühe, Hühner und einen kleinen Wald. Es reichte für ein bescheidenes Leben.«

»Sie sind noch sehr jung«, warf Ludowitz ein.

»Ja, fünfundzwanzig. Aber ich hatte den Hof schon vor Jahren von meinen Eltern geerbt. Zu früh. Sie verbrannten hilflos, als während eines Unwetters der Blitz eingeschlagen war. Ich konnte mich gerade noch retten. Viele Leute vom Dorf sind zum Löschen herbeigeeilt, doch alles half nichts. Wir fanden unter den Trümmern nur mehr die verkohlten Leichen. Sie hatten sich im Todeskampf aneinandergeklammert. Mögen sie in Frieden ruhen.«

»Es muss sehr schlimm für Sie gewesen sein«, sagte Ludowitz mitfühlend.

Dieses unerträgliche Gefühl der Trauer von damals kam hoch, das Altmanner unendlich gequält und beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte.

»Ich stand vor dem Nichts, doch die benachbarten Bauersleute haben mir Gott sei Dank geholfen, alles nach und nach wieder aufzubauen. Ich habe dann meine Frau Rosa kennengelernt und schon bald danach geheiratet. Seitdem haben wir gemeinsam den Hof geführt.«

Er warf Rosa einen liebevollen Blick zu.

Ludowitz nickte beeindruckt.

»Und die viele Arbeit? Nur ihr beide alleine?«

»Ja, zunächst, aber irgendwann stand eine verzweifelte junge Frau vor der Tür und suchte Obhut als Magd. Die hat uns Gott geschickt, meinte Rosa, und wir nahmen Maria bei uns auf.«

Altmanner schob sich ein Stück Kuchen in den Mund und schluckte hastig hinunter.

»Ein paar Jahre später lernten Rosa und ich den zugereisten Andreas Bräuer kennen. Er hat sich als Lehrer vorgestellt, der erste in unserem Dorf überhaupt!«

Ludowitz lächelte: »Jetzt wird es spannend. Freigeist Bräuer trifft auf gottesfürchtige Bauersleut! War es sehr schlimm mit ihm?«

»Er hatte keinen Respekt vor der Kirche und zweifelte sogar an Gott. Nur die Natur selbst sei die wahre Allmacht, erzählte er überall. Wir dachten zuerst, der Leibhaftige sei in ihn gefahren. Er tauchte dann sogar bei uns am Hof auf und redete auf uns ein. Wir haben ihn erst weggeschickt, doch er kam wieder und bot uns an, uns das Lesen und Schreiben beizubringen. Und damit er endlich Ruhe gab, haben wir zugestimmt, aber nur um die Bibel lesen zu können.«

»Und was war mit dieser Maria?«

»Sie wollte mit alldem nichts zu tun haben. Sie war der Meinung, es reicht, wenn unser Hochwürden, Pfarrer Johannes, lesen kann. Wir vom Volk sind dazu geboren, Gott und dem Adel zu dienen, meinte sie.«

Ludowitz räusperte sich lautstark. Altmanner wusste diese Geste gleich richtig zu deuten. »So war Maria eben. Aber am Ende hat sie es dieser Einstellung verdankt, dass sie nicht vertrieben worden ist, so wie wir!«

»Wie ist es dazu gekommen?«

»Rosa und ich haben immer öfter mit Bräuer beisammengesessen und über Gott und die Welt geredet, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben immer mehr unsere kirchlichen Pflichten vernachlässigt, immer seltener den Gottesdienst besucht. Bräuer hat uns mit seinen Gedanken verführt.«

»Was der Pfarrer im Dorf natürlich nicht goutierte!«, warf Ludowitz ein.

»Richtig! Er hatte Angst, auch andere im Ort könnten von diesem gottlosen Verhalten angesteckt werden. Und eines Tages hat er mich zu sich ins Pfarrhaus gerufen.«

Ludowitz zog die Augenbrauen hoch: »Was wollte er?«

Altmanner nickte, als ihm Tee nachgeschenkt wurde, nahm die feine Porzellantasse nun beherzter in die Hand und trank den Tee in einem Zug aus. »Er warf mir vor, dass er mich und meine Frau schon lange nicht mehr in der Kirche gesehen hätte, nur unsere Magd Maria. Angeblich machte er sich Sorgen, ob wir vielleicht krank wären?«

Ludowitz rieb sich die Hände: »Was haben Sie ihm geantwortet?«

»Ich verneinte und verwies auf die viele Arbeit. Er meinte, auch andere hätten viel Arbeit, vergessen dabei aber nicht ihre frommen Pflichten. Wie sonst sollten wir das Wort Gottes aus der Bibel vernehmen? Ich sagte dann, wir bräuchten es nicht zu vernehmen, wir könnten es auch selber lesen! Da war er ziemlich verblüfft und schrie mich an, selber lesen würde nicht den Gottesdienst ersetzen. Wir würden doch hoffentlich keine von diesen Lutherischen geworden sein?! Oder Naturgläubige?! Egal was, allesamt ganz üble Ketzer!«

Ludowitz schien nun amüsiert: »Schwere Vorwürfe, mein Herr! Auf alle Fälle reif für den Scheiterhaufen. Hat dieser Pfarrer Johannes nicht gefragt, wer euch das beigebracht hat?«

»Natürlich, aber ich habe es ihm nicht gesagt. Er war deshalb so zornig, dass er mich vom Pfarrhof gejagt hat. Es würde mir noch leidtun, vor Gott Geheimnisse zu haben! Aber er hätte ohnehin einen Verdacht.«

»Geheimnisse vor Gott?!«, rief Ludowitz aus, »da fehlen einem ja die Worte!«

»Aber damit nicht genug. Er hat dann in all seinen Predigten die Dorfbewohner vor uns gewarnt: Gott würde Ketzer und Frevler nicht dulden. Katastrophen würden hereinbrechen, Unwetter, Ernten würden zerstört, Krankheiten würden über alle kommen.

Die Turnauer haben allmählich einen weiten Bogen um uns gemacht. Wir sind sogar beschimpft und mit dem Tod bedroht worden. Dann hat der Pfarrer mich wieder zu sich gerufen und mir alte Schuldscheine vorgelegt.«

Ludowitz schüttelte den Kopf: »Schuldscheine? Welche Schuldscheine?«

Altmanner spürte, wie sein Hals trocken wurde vor Zorn. Er musste ein paar Mal heftig schlucken, damit ihm die Stimme nicht versagte.

»Das dachte ich auch! Angeblich hätten meine Eltern vor ihrem tragischen Tod eine beträchtliche Menge Geld von der Kirche für bestellte, aber nicht gelieferte Waren bekommen.«

»Welche Waren?«

»Das habe ich ihn auch gefragt. Er ist wieder wütend geworden und hat geschrien ›hör auf, hör auf, Gott zu hinterfragen! Das ist frevelhaft!‹ Das Einzige, was er mir zugestanden hat, war, dass alles wahrscheinlich nicht auf Unredlichkeit, sondern auf den unerwarteten und tragischen Tod meiner Eltern zurückzuführen ist und ich deshalb davon nichts weiß. Die Kirche hat aus Respekt ohnehin lange zugewartet, hat er gesagt. Doch auch die Kirche hat die eine oder andere weltliche Pflicht zu erfüllen und kann deshalb nicht auf etwas verzichten, was ihr zusteht. Da sie diese Waren aber nach so langer Zeit nicht mehr brauchen kann, soll ich einfach nur das Geld zurückgeben. Das ist der Wille Gottes, meinte er.«

»Sie hatten das Geld natürlich nicht?«, hielt Ludowitz fest.

»Natürlich nicht! Der Pfarrer hat nur gemeint, Gott ist barmherzig. Die Schulden werden mir im Tausch gegen den Hof gnädig erlassen.«

Altmanner traten Tränen in die Augen, und er fuhr sich mit dem staubigen Ärmel seines Hemds ins Gesicht.

»Ich habe dem Pfarrer geantwortet, dass der Hof mit allem, was dazugehört, doch viel mehr wert sein muss. Da hat er gesagt, dass ich mit Gott nicht verhandeln kann. ›Auch das ist schon wieder ein Frevel‹.«

»Und eure Magd?«

»Sie war für ihn von Anfang an unschuldig. Damit sie keine Nachteile erleiden muss, soll sie als Magd auf seinem Pfarrhof arbeiten.«

»Und da haben Sie Bräuer um Hilfe ersucht.«

»Ja! Er war schließlich der Einzige, der verstanden hat, was vor sich ging. Er meinte, die Kirche gibt ohnehin keine Ruhe und setzt alles daran, uns zu vertreiben. Mit dem Vorwurf, Lutherische zu sein, findet sie viel Gehör, hat er gesagt. Spätestens nach dem nächsten Unwetter wären wir unseres Lebens nicht mehr sicher. Er hat uns deshalb geraten, irgendwo neu anzufangen. Dann hat er uns Ihre Adresse und dieses Schreiben gegeben.«

Altmanner bemerkte, wie Ludowitz seiner Gemahlin einen fragenden Blick zuwarf und sie ihm darauf wohlwollend zuzwinkerte.

»Sehr schlimm, was euch beiden widerfahren ist«, sagte er dann. »Ich will mich dazu vorläufig nicht weiter äußern, aber ich werde euch helfen. Schon meinem Freund Andreas Bräuer zuliebe. In den kaiserlichen Hofställen brauche ich jemanden mit Kraft und Verstand! Jemanden, der es versteht, mit Tieren umzugehen, und der es versteht, zu arbeiten.«

Er hob mahnend den Zeigefinger: »Ich brauche aber niemanden, der mit seinem Mundwerk arbeitet und unbedachte Äußerungen macht. Wir haben einzig und allein den kaiserlichen Hoheiten zu dienen!«

Nun erhob er sich, öffnete ein Fenster und blickte nachdenklich hinaus. Er ließ sich Zeit, schien mit sich zu ringen. »Bräuer und ich kennen uns seit dem Studium. Wir waren beide fasziniert von den neuen Erkenntnissen der Wissenschaften, welche viele althergebrachten Lehrmeinungen und das bisherige Gottesbild ordentlich erschüttert haben. Uns verbindet eine tiefe Freundschaft, obwohl wir unterschiedlicher nicht sein können. Er hat es schon immer als seine Pflicht betrachtet, die Leute endlich aufzurütteln, zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Religiöse Gefühle hält er für Humbug, auch sieht er keinen Unterschied zwischen Glaube und Aberglaube. Ich bin da eher ein Mensch, der an die Kraft und Wirkung der gemäßigten Worte glaubt. Anders wäre es auch gar nicht möglich, hier zu überleben. Immer und überall lauert die Gefahr, dass sich die vielen Damen und Herren am Hofe über irgendetwas empören und jede Kleinigkeit zu einem riesigen Skandal auswalzen.«

Altmanner war erstaunt über diese offenen Worte seines Gastgebers ihm, dem kleinen Bauern gegenüber. Er hatte dies nicht erwartet, es gefiel ihm.

»Da ich davon ausgehen kann, dass ihr ohne Unterkunft seid, könnt ihr vorläufig bei uns im Gästezimmer bleiben.«

Ludowitz deutete mit gespielt ernster Miene auf das Bäuchlein der schwangeren Rosa.

»In Zukunft sind anstrengende Fußmärsche tunlichst zu unterlassen, schließlich wollen wir ja alle, dass ein gesundes Kind zur Welt kommt!«

2

(Monate später …) Vom mächtigen Gebirgsstock des Hochschwab wehte ein unangenehmer, kalter Wind. Ein Vorbote des nahenden Winters. Für November nicht allzu ungewöhnlich in dieser Gegend.

»Was stehst du da vor der Tür herum? Komm doch endlich herein«, sagte Pfarrer Johannes fröstelnd und hielt die Tür auf.

Maria reagierte nicht.

»Komm doch rein, mein Kind!«

Maria trat mit gesenktem Haupt an ihm vorbei in die Stube.

»Was ist denn los? Du wirkst so betrübt?«

Er versuchte sie am Arm anzufassen, doch sie zog ihn schnell zurück. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als nach seiner Köchin Edeltraud zu rufen. Sie eilte herbei und bemerkte sofort die angespannte Situation.

»Was ist denn passiert?«, fragte Edeltraud.

»Ich bin so traurig!«, schluchzte Maria und fiel ihr in die Arme.

»Aber was ist denn los?«, fragte Pfarrer Johannes mit betont ruhiger Stimme.

Maria antwortete nicht.

»Du hast doch keinen Grund unglücklich zu sein«, sagte Pfarrer Johannes beschwichtigend und lenkte ab: »Wir sollten uns alle freuen, denn die Ernte ist in diesem Jahr besonders gut ausgefallen, die ganz großen Unwetter haben einen weiten Bogen um die Gegend gemacht. Gott hat uns dafür belohnt, dass diese gottlosen Altmanners verschwunden sind!«

Maria riss sich los und rannte aus der Stube. Edeltraud wollte ihr folgen, doch Pfarrer Johannes hielt sie zurück: »Lass mich machen! Sie braucht jetzt göttlichen Beistand.«

Edeltraud sah ihn mit großen Augen an und murmelte fast unhörbar: »So, so. Göttlichen Beistand.«

»Jawohl, göttlichen Beistand!«, sagte er betont, schickte Edeltraud in die Küche und vergewisserte sich im Flur, dass sie an ihren Arbeitsplatz zurückgegangen war. Dann suchte er Maria in ihrer Kammer auf.

»Ich will allein sein«, greinte Maria, die bäuchlings auf ihrem Bett lag, das Gesicht ins Kissen vergraben.

Er ignorierte ihren Wunsch, zog einen Hocker ans Bett und setzte sich. »Sag mir endlich, was geschehen ist? Ich bin schließlich auch dein Beichtvater. Ich werde nicht eher gehen, als bis du mir erzählt hast, was dir widerfahren ist.«

Maria drehte sich ruckartig um.

»Der Herr Graf und ich werden uns nicht mehr sehen. Es wird keine weiteren Treffen mehr mit ihm geben. Sein Stand erlaube es nicht. Ich verstehe das nicht. Ich liebe ihn doch, und er liebt mich. Ich weiß es, und ich spüre es.«

Pfarrer Johannes wurde zornig: »Du weißt wohl, dass das alles eine Sünde ist?!«

Sie verschränkte trotzig ihre Arme: »Hochwürden sprechen von Sünde?! Wenn das so ist, dann …«

»Aufhören!«, schrie er sie an und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.

Sie lachte auf: »Züchtigen Sie mich ruhig weiter.«

»Nicht ich habe dich gezüchtigt. Es war Gott. Er hat mich angeleitet.«

Daraufhin bekreuzigte er sich und rannte aus der Kammer nach draußen auf den Hof. Er atmete schwer und betrachtete seine Hände. Er konnte nicht glauben, was er soeben getan hatte.

»Hochwürden?«

Er reagierte nicht.

»Hochwürden?«

Widerwillig drehte er sich um: »Was ist, Edeltraud?«

»Gott sieht alles.«

Mit einem kräftigen Ruck stieß er die Köchin zur Seite und kehrte zu Maria in die Kammer zurück, die sich wieder aufs Bett gelegt hatte und schluchzte.

»Mein Kind, ich glaube, wir sollten miteinander reden.«

Er bemühte sich um einen gütigen Tonfall und strich ihr zärtlich übers Haar. Unwillig drehte sie sich weg. Das schmerzte ihn.

Maria zitterte nun am ganzen Körper, sie war bleich und wimmerte: »Ich fühle mich nicht wohl!«

Einen Moment später wurde sie ohnmächtig.

Nun war es Johannes, der erschrak. Hilflos tätschelte er ihre Wangen, um sie wach zu bekommen. An diesem schönen, bleichen Gesicht konnte er sich kaum sattsehen. Er hielt kurz inne, rief aber dann nach Edeltraud. Und diesmal war sie es, die ihn zur Seite schubste. Sie legte eine Hand auf Marias Stirn, beugte sich über ihre Brust und horchte, ob sie noch atmete.

»Sie braucht kalte Umschläge«, sagte sie dann, »wenn Hochwürden so gütig wären und schleunigst den Dorfbader holen könnten?«

»Den Dorfbader?«, fragte er ängstlich, denn er war es gewohnt, dass Edeltraud für alles immer selbst ein Heilkraut zur Hand hatte.

»Ja, den Dorfbader«, antwortete sie ungeduldig.

»Ich hoffe doch nichts Schlimmes?«

Anstatt zu antworten, bedachte Edeltraud ihn mit einem strengen Blick und bedeutete ihm, endlich zu gehen. Im Gehen hörte er Edeltraud noch sagen: »Oh mein Gott, warum lässt du das alles nur zu?«

†††

»Sie kommt wieder zu sich. Geht und lasst mich jetzt mit ihr allein«, vernahm Maria eine Stimme. Gleich darauf waren hektische Schritte und der dumpfe Knall einer zuschlagenden Tür zu hören.

Langsam öffnete sie ihre Augen und starrte zur hölzernen Decke ihrer Kammer. Da beugte sich jemand mit schmalem, faltigen Gesicht und braunem Vollbart über sie. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und gewährte ihr einen Blick auf Zahnlücken und allerlei gelbe und verfaulte Zähne, an denen Essensreste klebten.

»Hab keine Angst, Maria. Ich werde dich jetzt untersuchen«, sagte der Dorfbader und verbreitete dabei einen so üblen Mundgeruch, dass sie beinahe erbrechen musste.

Gekonnt öffnete er ihr Kleid und begann den Unterleib mit seinen kalten, rauen Händen abzutasten.

Manchmal zuckte sie ein wenig zusammen, was er mit einem wissenden Brummen quittierte. Er hatte offenbar einen Verdacht.

»Wann hattest du deine letzte Blutung, mein Kind?«

Als sie die Frage mit zitternder Stimme beantwortete, war die Sache für ihn klar: »Liebe Maria, du bist in anderen Umständen, du wirst Mutter!«

Sie konnte seinem schlechten Atem noch immer nicht ausweichen. Nun war es zu viel. Sie begann zu würgen. Er half ihr, sich aufzurichten, und sie erbrach sich.

»Ja, ja! Das ist jetzt ganz normal«, sagte er.

†††

Pfarrer Johannes hatte sich auf einen Stuhl in eine dunkle Ecke seiner Stube zurückgezogen und dachte in sich zusammengesunken nach. So sehr er sich auch bemühte, er konnte keinen klaren Gedanken fassen und starrte reglos auf den Boden. Erst allmählich fand er wieder zu sich. Er war die oberste Autorität im Dorfe. Er war es, der jedes Fehlverhalten schonungslos anprangerte, und nun würde ausgerechnet auf seinem Pfarrhof eine junge, unverheiratete Mutter mit einem Kind der Sünde leben. Noch dazu durfte der Kindsvater niemals öffentlich werden. Aber was, wenn sie es irgendwann doch verriet? Würden die Leute ihr glauben? Die Folgen wären unabsehbar. Sein Blick richtete sich auf das Kreuz an der Wand.

Oh mein Gott! Was soll ich nur tun? Hilf mir!

Da klopfte es an die Tür.

»Ja bitte?«

Edeltraud trat mit einer flackernden Kerze ein und stellte sie auf den Tisch.

»Hochwürden sitzen so ruhig im Dunkeln. Ist ihm nicht ganz wohl zumute?«

Ihre Stimme hat einen gefährlichen Unterton.

»Ich will mit Gott alleine sein«, zischte er und faltete die Hände, als wolle er sich einem stillen Gebet hingeben. In Wahrheit war ihm nicht danach zumute.

Die sonst so bockige Edeltraud folgte seinem Wunsch und wandte sich zur Tür.

»Halt!«, rief er ihr nach, »niemand darf erfahren, was hier los ist.«

Sie drehte sich um.

»Hochwürden, die Schwangerschaft wird sich aber auf Dauer nicht verbergen lassen, und jeder wird sich fragen, wer wohl der Vater ist.«

Er zuckte zusammen.

»Könnte man das Kind nicht …«

»… wegmachen lassen?«, beendete sie empört den Satz und bekreuzigte sich. »Was für eine Sünde! Außerdem ist Hochwürden wohl nicht bewusst, dass es sich hierbei um eine ziemlich brutale Methode handelt, bei der auch für die werdende Mutter Todesgefahr besteht. Oder will Hochwürden die eine Sünde mit zwei Toten tilgen?! Und das vor dem Angesicht Gottes?«

Sie wies auf das Kreuz an der Wand.

»Was weißt du schon von Gott, du einfältiges Weib? Hier im Dorf bin ich es, der weiß, was Gott will! Hier handele ich nach seinem Willen.«

Edeltraud stürmte zornig aus der Stube und schlug die Tür hinter sich zu.

Pfarrer Johannes war wohl zu weit gegangen. Wieder einmal.

Diese Weiber sind das reinste Unglück auf Erden.

Er erhob sich und begann nervös auf und ab zu gehen. Er hasste es, wenn der Holzboden unter jedem seiner Schritte knarrte, und er hasste es, wenn er dabei im schwachen Kerzenschein seinen eigenen Schatten an der Wand wie einen bösen Geist umherwandeln sah.

Es muss doch noch eine Lösung geben!

Lieber Gott, bitte hilf mir doch!

Er versuchte sich zu konzentrieren, und nach einer Weile erhellte sich sein Gesicht.

»Ja, so könnte es gehen!«, murmelte er und schaute auf das Kreuz. »Ich danke dir, oh Herr!«

†††

Am nächsten Tag ging es Maria schon etwas besser. Pfarrer Johannes rief sie zu sich in die Stube und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Er selbst zog es vor, stehen zu bleiben. Mit strenger Miene baute er sich vor ihr auf.

»Du wirst also ein Kind der Sünde gebären.«

Vor Scham verbarg sie das Gesicht in ihren Händen.

Er wandte ihr den Rücken zu und starrte aus dem Fenster.

»Du hast mit deinen Reizen verführt, nur um deine niedrigen Gelüste zu befriedigen. Du hast damit eine große Sünde begangen. Du hast dich vom Teufel leiten lassen.«

Die Worte schlugen auf sie ein wie Fausthiebe. Sie begann zu schluchzen.

»Halte dich zurück!«, forderte er scharf, »dein Geheule nützt dir nichts. Du kannst es nicht mehr ungeschehen machen.«

Er drehte sich wieder zu ihr um, baute sich abermals bedrohlich vor ihr auf und schrie: »Auf einem Pfarrhof ist kein Platz für eine elende Sünderin! Du trägst ein Kind der Schande in dir. Gott wird dich dafür bestrafen. Und wenn es ihm gefällt, bricht auch noch über uns alle, über das ganze Dorf, ein Unglück herein.«

Sie sackte in sich zusammen.

Plötzlich sagte er mit sanfter Stimme: »Aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, Gott gnädig zu stimmen. Du hast es in der Hand.«

Sie schaute zu ihm auf, zog ein kleines Tüchlein unter ihrer Schürze hervor und schnäuzte sich.

»Wie könnte ich Gott gnädig stimmen? Was muss ich dafür tun?«

»Hm … ja … du musst … heiraten. Und zwar so früh wie möglich. Das Kind muss in aufrechter Ehe geboren werden-«

»Heiraten?«, wimmerte sie. »Aber Hochwürden wissen doch, dass es völlig ausgeschlossen ist, den Kindesvater zu heiraten.«

Abrupt drehte er sich wieder um. »Ich weiß, ich weiß. Aber ich … eh … Gott hat jemanden für dich.«

Sie seufzte: »Ich soll einen völlig fremden Mann heiraten?«

»Du wirst wohl ein Opfer bringen müssen«, sagte er schroff, »Gott will es so. Es gibt da jemanden, der sich nach einer Frau sehnt, aber zu schüchtern ist, eine anzusprechen. Er hat es mir einmal bei passender Gelegenheit gestanden. Du brauchst einen Mann, und dieser Mann sucht eine Frau. Gott führt auf diese Weise zusammen, was zusammengehört.«

»Ich kann das nicht«, heulte sie auf.

Er fuchtelte wild mit seinen Armen.

»Das ist doch die Höhe! Willst du dich etwa dem Wunsch Gottes verweigern? Begreifst du nicht, du dumme Gans? Du kannst Gott damit milde stimmen. Wenn schon nicht für dich, dann tue es wenigstens für das Dorf. Du musst für deine Sünden die Verantwortung übernehmen.«

»Was verlangt Gott denn da von mir? Warum habe ich die Last dieser Sünde alleine zu tragen? Warum nicht auch der Kindesvater?«

Er lief hochrot an und spuckte bei jedem seiner Worte: »Weil der Kindesvater ein hilfloses Opfer deiner Reize geworden ist. So ist das.«

†††

Wahrscheinlich hat der liebe Gott meine innigen Gebete erhört und alles wird gut, dachte Maria.

Pfarrer Johannes hatte sich in den letzten Tagen rar gemacht, und auch sonst hatte alles seinen üblichen Lauf genommen. Nur diese lästigen Kreuzschmerzen und diese Übelkeit erinnerten sie immer wieder daran, dass sehr wohl alles anders war als sonst. Gelegentlich musste sie sogar ihre Arbeit unterbrechen, um sich in ihre Kammer zurückzuziehen. Sie achtete aber stets darauf, nicht allzu lange abwesend zu sein. Weder Pfarrer Johannes noch der liebe Gott sollten Anlass zur Klage haben.

Als sie sich wieder einmal ausruhte, klopfte es heftig an die Tür ihrer Kammer und Edeltraud trat aufgeregt ein.

»Maria, ein Mann ist soeben hier aufgetaucht und trifft sich mit unserem Herrn Pfarrer in der Stube!«

Maria fuhr erschrocken auf.

»Wer ist es?«

»Ich hab ihn nicht genau gesehn«, antwortete ihr Edeltraud zögernd.

Maria glaubte ihr nicht. Wahrscheinlich wollte sie sie nur vor der furchtbaren Wahrheit verschonen. Sie begann zu schluchzen: »Was ist das für ein ungerechter Gott, der so etwas zulässt?«

»Maria, versündige dich nicht«, warnte Edeltraud und bekreuzigte sich, »Gott ist allmächtig und weiß, was er tut.«

»Warum verschließt er dann seine Augen vor meinem Unglück?«

»Gott sieht dein Unglück, weil er alles sieht. Du musst ihm einfach vertrauen. Er hat sicherlich nur Gutes mit dir vor.«

In diesem Augenblick rief Pfarrer Johannes nach Maria, worauf sie sich schwerfällig erhob und sich die Tränen aus den Augen wischte. Edeltraud warf ihr einen liebevollen Blick zu.

»Fürchte dich nicht.«

Mit gesenktem Haupt schlich Maria hinüber in die Pfarrstube und würdigte weder Pfarrer Johannes noch diesen Mann eines Blickes. Sie sollten ruhig spüren, was sie dachte.

»So mein Kind, setz dich zu uns an den Tisch«, sagte Pfarrer Johannes – und nach einer kurzen Pause fragte er den Mann: »Na, was sagst du zu ihr?«

»Ein … ein ganz schönes Weib«, antwortete dieser stark lispelnd.

»Siehst du, Gott hat deine Gebete erhört und schenkt dir gerne dieses Weib«, sagte der Pfarrer.

Sie hörte mit immer noch gesenktem Kopf, wie Pfarrer Johannes ihrem künftigen Mann auf die Schulter klopfte. Ihr wurde klar, dass sie nicht weiter so tun konnte, als ginge sie das alles nichts an und wagte aufzuschauen.

Ein kleiner, unscheinbarer Mann lächelte ihr entgegen. Sein Gesicht war sonnengegerbt, sein dunkles Haar hing in fettigen Strähnen bis zu den Schultern herab. Über der Oberlippe wuchs ein kümmerlicher Bart. Seine Kleidung war abgetragen, hier und da zerrissen und dürfte schon länger nicht mehr gewaschen worden sein – so wie der Kerl selbst. Er verbreitete den Geruch von abgestandenem Schweiß, Stall und kaltem Rauch. Es war ihr nicht möglich, sein Alter einzuschätzen.

»Ich werde mich persönlich um die Hochzeit kümmern«, sagte Pfarrer Johannes. »Zuvor solltet ihr euch aber schon ein wenig im Dorf zeigen. Gemeinsam. Die Leute sollen schließlich sehen, dass ihr zusammengehört und Brautleute seid.«

Bei diesen Worten senkte Maria wieder den Kopf und begann bitterlich zu weinen. Pfarrer Johannes ließ sich nicht beeindrucken und wandte sich wieder dem Mann zu: »Wirst sehen, die wird schon noch. Aber jetzt geh hinaus vor das Pfarrhaus und warte, ich komm gleich nach.«

Als der Mann verschwunden war, sagte Johannes: »Na, was sagst du zu deinem zukünftigen Gemahl?«

Ihr gruselte bei dieser Vorstellung.

»Wer ist das überhaupt?«

»Rudolf Reininger.«

Sie hatte von diesem Reininger bisher nur gehört, doch das war schockierend genug gewesen. Im Sommer lebte er als Hirte auf der Turnauer Alm, und die Leute im Dorf erzählten, dass er in seiner Einsamkeit ein Eigenbrötler geworden sei. Einige behaupteten sogar, dass er gar keine Frau bräuchte, weil er es ohnehin mit seinen Tieren treibe.

»Ausgerechnet Reininger soll als mein Ehemann herhalten und als Vater meines Kindes ausgegeben werden?«, fragte sie verzweifelt.

»Beruhige dich, mein Kind! Ich weiß, was die Leute über ihn reden. Doch er hat mir hoch und heilig versprochen, dass dies nur Gerüchte sind. Er spricht mit Tieren, aber nur, weil er sonst niemanden hat, der ihm zuhört.«

†††

»Hast ja selbst gesehen. Maria ist eine fesche und liebe Frau. Du musst gut auf sie aufpassen. Und vergiss nicht, es ist dein Kind, das sie gebären wird. Die wahre Vaterschaft geht dich nichts an. Wehe dir, du hältst dich nicht daran, dann Gnade dir Gott. Hast du das verstanden?«, mahnte Pfarrer Johannes und legte seinen Arm freundschaftlich auf Reiningers Schulter, worauf dieser nur aufgeregt nickte.

Pfarrer Johannes wusste, dass es Reininger in Wahrheit egal war, denn er würde froh sein, bald ein Weib an seiner Seite zu haben, bei ihm auf der Turnauer Alm in seiner armseligen Hütte.