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Table of Contents

Titel

Impressum

VORWORT

DAS HAUS DES TOTEN KAPITÄNS

NORD-NORDWEST

DIE RACHE DES TOTEN ZÖLLNERS

EIN SYLTER PIRATENSTÜCK

SYLT, EIN TROCKENER KNUST AM ENDE DER WELT

DER ALTE DAMPFSCHLEPPER

MIT NIS PUK UNTER EINEM DACH

DEN KLABAUTERMANN GIBT ES NICHT!

DER TORFSCHIPPER

 

 

 

Kalle Hamann

 

 

 

Der Torfschipper

und mehr düstere Geschichten

über Küste und Seefahrt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by Kalle Hamann

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2016

ISBN: 9783957533142

Grafik Copyright by Fotolia by Dmitriy Sladkov

 

 

VORWORT

 

Das unheimliche Heulen des Sturmes in kalten Winternächten inspiriert zu mystischen Geschichten. Der häufige Nebel lässt Horizonte und Konturen verschwimmen. Auch die Wahrheit liegt oft im Nebel verborgen.

Alle Handlungen und Personen in diesen Geschichten sind frei erfunden.

 

DAS HAUS DES TOTEN KAPITÄNS

 Es war stockfinstere Nacht. Der Wind fegte mit Sturmstärke über die Felder und Knicks. Das Schilf, in dem ich saß, schlug mir ständig ins Gesicht. Der Wind zerzauste mein Haar und die feuchte Luft drang durch meine Jacke, meinen Pullover und letztlich durch die Haut. Ich schüttelte mich und wusste nicht, war es vor Kälte oder vor Furcht. Dann schallte auch noch der schaurige Ruf eines Uhus durch die Nacht. Zum wiederholten Male fragte ich mich, was ich in dieser eisigen Kälte in einer Neumondnacht im November hier machte. Meine Füße waren im Schlick versunken und es quietschte, wenn ich sie bewegte. Ich versuchte kein Geräusch zu erzeugen, musste aber die eiskalten, nassen Füße ab und zu bewegen, um sicher zu sein, dass sie nicht erfroren waren.

 Wieder der Uhu. Sein dämonischer Schrei war gerade verstummt, als die Kirchenglocke schlug. Ich zuckte zusammen, jetzt kam die Entscheidung. War es nur ein Hirngespinst, was ich bisher hier gesehen hatte, oder war es doch Realität? Keiner würde mir glauben, mir sowieso nicht, alle hielten mich für einen Spinner. Spökenkieker sagten sie oft zu mir; doch heute werde ich den Beweis erbringen.

 Als der zwölfte Schlag verstummte, hob ich die Kamera, richtete sie auf die Wasseroberfläche und schaltete ein. „Hoffentlich stört sie das leise Surren nicht.“

 Plötzlich fing das Wasser an zu blubbern. Die gesamte Wasseroberfläche brodelte, als kochte das Wasser, selbst der Morast unter meinen Füßen brodelte. Ich bückte mich und fühlte die Feuchtigkeit des Matsches; eiskalt. Als ich wieder aufsah, war der Teich vom Bodennebel eingehüllt, ich konnte gerade darüber hinwegsehen. Mir stockte der Atem. Vor Schreck vergaß ich, den Auslöser der Kamera zu drücken. Ich erblickte eine dunkle Gestalt, die triefend nass dem Teich entstieg und mit wankenden Schritten auf das Haus zuging. Dann noch eine und noch eine. Mir fiel meine Kamera ein und ich drückte auf den Auslöser. Das Surren schien so laut zu sein, dass mein Trommelfell zu zerplatzen drohte. Erst da bemerkte ich, dass es vollkommen windstill geworden war. Ich sah durch den Sucher der Kamera, erkannte aber nur dunkle, schemenhafte Wesen. Es stiegen immer mehr aus dem Wasser, ich hatte vergessen, sie zu zählen. Das Geräusch meiner Kamera schien sie nicht zu beeindrucken. Sie gingen mit ausladenden, wankenden Schritten auf das Haus zu, mit dem Gang der Seeleute, die es gewohnt waren auf schwankendem Deck zu gehen.

 Dann sah ich, dass im Haus, in einem der hinteren Zimmer, Licht brannte. Wie konnte das denn sein? Als ich letztens hereingeschaut hatte, war keine Lampe im Haus.

Es war überhaupt nur ein Rohbau: fehlende Fußbodenbeläge, die Fenster nicht verputzt und eben – keine Lampen.

 Das heißt doch, in einem Raum hing eine Glühlampe am Kabel von der Decke. Es sah zumindest so aus, als ob es die Küche werden sollte, denn aus der Wand ragten Wasseranschlüsse heraus. Hier standen auch ein Kühlschrank verloren im Raum sowie ein Tapeziertisch mit einem Gaskocher drauf. Soweit ich mich erinnerte, waren in dem Raum, in dem jetzt Licht brannte, die Vorhänge zugezogen. Daher wusste ich nicht, was sich dahinter befand.

 Der Uhu schrie wieder, ich zuckte erschrocken zusammen. Dann erwachte ich aus meiner Starre, schaltete die Kamera aus. Jetzt bemerkte ich, dass der Nebel verschwunden war und der Sturm wieder mit unverminderter Stärke blies.

 Meine Beine waren eingeschlafen und meine Füße spürte ich vor Kälte nicht mehr. Mühsam watete ich aus Schlick und Schilf, schlich geduckt zum Haus. Ich wollte gerade durchs erleuchtete Fenster sehen, als ich einem Mann mit rauschendem Vollbart und wettergegerbtem Gesicht gegenüberstand. Ich bemerkte seinen freundlichen, ja beinahe schelmischen Gesichtsausdruck, seine Augen jedoch starrten ins Leere.

 Ich lege ein Lesezeichen zwischen die Blätter, klappe die Seiten zu und schaue auf das Manuskript. Dieser Jens Peter hat wirklich eine blühende Fantasie, kein Wunder, dass man ihn Spökenkieker nennt. Und dass einige ihn für verschroben halten, kann ich gut verstehen. Meine Gedanken schweifen zurück, zu dem Tag, an dem ich ihn kennenlernte.

 Wir wohnten schon einige Jahre in diesem kleinen Kaff in Nordfriesland. Wir hatten uns dort niedergelassen, weil wir die Ruhe und die Landschaft liebten. Als Seemann brauchte ich schließlich keinen Wohnsitz mit kurzem Arbeitsweg. Natürlich kannten wir schon einige Leute, aber einen ausgedehnten Freundeskreis hatten wir zu der Zeit noch nicht, da wir oft unterwegs waren. Auf meinen Seereisen begleitete mich meine Frau immer.

 Eines Tages saß ich alleine am Tresen der kleinen Kneipe. Irgendwann gesellte sich so ein langer, dünner Kerl dazu. Wallendes, helles Haar und eingefallene Wangen in dem langen, hageren Gesicht. Ich schätzte ihn auf etwa 45, obwohl er älter aussah. Sein faltiges Gesicht wirkte irgendwie streng, seine Augen wanderten neugierig hin und her. Der Anzug war nicht billig gewesen, aber alt und ungepflegt schlotterte er um seinen hageren Körper.

 Ich beachtete ihn nicht weiter, war mit meinen Gedanken ganz woanders, nämlich bei meinem bevorstehenden Einsatz auf meinem Lieblings-Containerschiff, auf dem ich schon drei Verträge absolviert hatte. Wieder sollte es nach Singapur, Hongkong, Tokio, Kobe und Los Angeles gehen. Ich zählte gerade nach, ob wir hier oder in Hongkong mehr Freunde hatten, als mir der Hagere die Hand hinstreckte: „Entschuldigung, Nielsen, Jens Peter Nielsen, störe ich Sie in ihren Gedanken?“

 „Kalle Hamann. Eigentlich schon, aber das macht nichts. Warum siezt du mich denn, hier duzen sich doch die meisten; ich heiße Kalle.“

 „Auch gut. Sag mal, gehe ich recht in der Annahme, dass Sie … ich meine, dass du Seemann bist?“

 „Ja, das ist richtig, aber wie kommst du denn da drauf?“

 „Na ja, ich habe dich schon öfter gesehen, doch dann bist du immer für lange Zeit verschwunden.“

 „Ich hätte ja auch im Knast sein können“, witzelte ich.

 „Das kann ich mir weniger vorstellen. Aber was ich dich fragen wollte, kennst du den Klabautermann?“

 Er konnte nicht wissen, dass er mich ausgerechnet bei meinem Lieblings-Seemannsgarn erwischte, also legte ich los: „Und ob ich den kenne, ist ein alter Freund von mir, habe schon einige Schnäpse mit ihm getrunken, nur gesehen habe ich ihn zum Glück noch nicht.“

 „Wieso nicht und wieso zum Glück?“

 „Also Jens Peter, dann will ich dich mal aufklären. Du musst wissen, dass der Klabautermann unsichtbar ist. Er zeigt sich erst, wenn das Schiff dem Untergang geweiht ist und keiner der Besatzung eine Überlebenschance hat.“

 „Klasse, ich hab doch immer gewusst, dass es auch noch vernünftige Menschen gibt.“

 „Wie meinst du das denn jetzt?“

 „Ach, alle halten mich für einen Spökenkieker, dabei habe ich sehr viel nachgeforscht, und auch darüber geschrieben. Ich bin nämlich Schriftsteller.“

 „Ach was; ich schreibe auch, aber mehr zum Spaß, hauptsächlich Seemannsgarn und solche Geschichten.“

 Den zweiten Teil des Satzes schien er gar nicht gehört zu haben. Er war so aufgeregt, dass er einen Schriftstellerkollegen getroffen hatte, der auch noch an den Klabautermann glaubte, dass seine Augen vor Aufregung klimperten.

 „Du Kalle, das trifft sich gut. Ich möchte dir gerne den Anfang meines neuen Manuskripts zeigen, und hören, was du als Fachmann dazu sagst. Warte bitte einen Augenblick, bin gleich wieder da.“

 Bevor ich sagen konnte, dass ich kein Fachmann war, sondern nur ein Hobby-Schriftsteller, war er schon verschwunden. Aber wahrscheinlich bezeichnete er mich als Fachmann, da ich vorgab, den Klabautermann zu kennen. Ich musste grinsen.

 „Na, Kalle, hat Jens Peter dich ordentlich vollgelabert? Findet sonst ja keinen, der ihm zuhört. Soll ich dir noch ein Bier einschenken?“

 „Ja, Georg, eins kann ich noch haben. Aber sag mal, was war das denn für ein Knilch?“

 „Ach, weißt du, eigentlich ist der ganz intelligent, war früher mal Lehrer an der hiesigen Schule, hat den Kindern aber soviel Geistergeschichten und so’n Quatsch erzählt, dass er entlassen wurde. Das scheint ihn total verwirrt zu haben, jetzt nennt er sich Schriftsteller und sieht überall Gespenster.“

 Inzwischen hatte sich die Kneipe gefüllt. Da ich meiner Frau versprochen hatte, nicht so lange zu bleiben und noch vorm Abendbrot den Hund Gassi zu führen, bezahlte ich und ging. Nach ein paar Schritten war Jens Peter plötzlich neben mir und reichte mir einen Umschlag.

 „Ich wollte dich nicht vor den anderen kompromittieren. Wenn die sehen, dass du was von mir liest, halten die dich auch noch für einen Spinner. Hier ist meine neueste Geschichte, der Anfang davon. Ich würde mich wirklich freuen, deine Meinung darüber zu hören. Kannst dir ruhig Zeit lassen.“

 Dann war er aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Ich ging nach Hause und legte den Umschlag auf meinem Schreibtisch in die Eingangslade.

 Das ist jetzt über vier Monate her. Seit wir von See zurück waren, sortierte ich all die Post, die sich in der Zeit angesammelt hatte. Dabei fiel mir dieser Briefumschlag wieder in die Hände. Ach, Sünde, er ist ja kein schlechter Mensch, und ich habe ihm versprochen, es zu lesen und meine „fachmännische“ Meinung dazu zu sagen.

 Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung. Er tat mir leid. Wenn ich ihn zufällig träfe und sagen müsste, ich hätte noch keine Zeit dafür gehabt, dächte er sicherlich, auch ich hielt ihn für blöd.

Also nahm ich das Manuskript in die Hand und las weiter:

 Ich warf mich augenblicklich auf den Boden und atmete erleichtert aus. Dieser Mann schien mich nicht gesehen zu haben. Möglich, dass er aus dem hell erleuchteten Zimmer heraus nichts in der Dunkelheit draußen erkennen konnte. Er öffnete das Fenster, und Stimmen drangen nach draußen. Die Unterhaltung schien sehr angeregt zu sein, nur die Stimmen klangen seltsam hohl.

 Ich traute mich, noch einmal aufzustehen und einen Blick in das hell erleuchtete Zimmer zu werfen. Es war gemütlich eingerichtet. An einem großen schweren Tisch, an dem etwa zwölf Stühle standen, saßen große Männer mit wettergegerbten Gesichtern, die meisten trugen einen Vollbart. Sie waren es, die das Gespräch führten. Drei weitere Männer saßen auf Sesseln in der Ecke vor dem rot glühenden Kamin und rauchten Pfeife. Auf dem Sofa neben der Raucherecke befanden sich noch drei Bärtige und sahen fern. An den Wänden hingen Bilder mit Schiffsmotiven. Auf dem Holzfußboden waren überall Wasserpfützen.

Mit vor Staunen offenem Mund stand ich vor dem Fenster. Ich nahm meinen Kopf etwas zurück, sodass der Lichtschein von drinnen nicht auf mein Gesicht fiel, ich aber trotzdem noch alles erkennen konnte.

 „Richtig schön hast du es hier, Kapitän Bergmann, aber ist das hier ein Trockendock?“

 Alle lachten, und ein großer, schlanker Mann mit glattem Gesicht ohne Bart stand auf und ging zum Schrank an der Stirnseite des Zimmers. Er öffnete die Schranktür und holte 18 Groggläser, einen großen Zuckerpott und zwei Flaschen Rum heraus. Er stellte alles auf den Tisch und sagte: „Hier liebe Freunde, helft euch selbst. Ich hole mal eben Wasser.“

 Der mit Kapitän Bergmann Angesprochene ging durch die Tür, wahrscheinlich in die Küche, und kam mit einem dampfenden Wasserkessel zurück. Nachdem alle Ihren Grog in den Händen hielten, verschwand Kapitän Bergmann wieder in die Küche und kam diesmal mit einem Kuchentablett und einem Messer wieder. Den Kuchen stellte er auf den Tisch, schnitt mehrfach in Quer- und Längsrichtung durch den Kuchen, nahm sich ein Stück heraus und biss hinein. Mit vollem Mund sagte er: „Hier Leute, den müsst ihr unbedingt probieren, Pflaumenkuchen, hat meine Frau gestern für mich gebacken, ist mein Lieblingskuchen.“

 „Mann, du bist vielleicht verwöhnt, meine Frau hat schon seit 400 Jahren keinen Kuchen mehr für mich gebacken.“ Alle stimmten in ein grölendes Gelächter ein, als wäre dies ein herrlicher Witz.

 „Du, sag mal, ich glaube, da draußen ist ein Mensch, habe da etwas am Fenster gesehen.“

 „Ach, was du immer hast, und wenn schon. Dies ist mein Haus und mein Grundstück. Wer hierher kommt, hat selber schuld. Und was auch immer er erzählen mag, es wird ihm keiner glauben. Die Menschen heute sind arrogante Ignoranten“, hörte ich diesen Bergmann sagen.

 Wieder brach schallendes Gelächter aus. Einer schien aufzustehen, um zum Fenster zu kommen. Mit einem Hechtsprung rettete ich mich in die Büsche. Einige Zweige brachen ab, andere zerrissen meine Kleidung und zerkratzen mir die Haut. Mit einem harten Schlag landete ich auf dem Boden und fühlte meinen schmerzenden Arm. Ich spürte etwas Warmes und Klebriges, blieb aber reglos liegen.

 „Ich glaube, du hast recht, ich habe eben auch etwas gehört, lass uns doch einmal draußen nachsehen.“

 Ich robbte weiter in die Büsche hinein und zerkratzte mir auch noch das Gesicht. Aber dann machte ich mich ganz klein und versuchte, kein Geräusch zu verursachen, denn die Tür ging auf. Einige dunkle Wesen kamen heraus und wanderten wahllos durch den Garten.

 „Siehst du, ich habe dir doch gesagt, hier ist keiner.“

 „Aber ich rieche Blut, Menschenblut.“

 Hier hört das Manuskript auf. Ich lege es weg, lehne mich im Sessel zurück, schließe die Augen und denke über das eben Gelesene nach. Plötzlich sehe ich das Haus, welches Jens Peter da beschreibt, vor mir. Ich kenne dieses Haus. „Ja, natürlich, dieses Haus kann schon zu so einer Geschichte inspirieren“, sage ich halblaut zu mir selbst.

 Vor ein paar Jahren, als wir auf Haussuche waren, sah ich auch dieses Haus. Es war wohl nicht viel älter als die meisten Häuser in dieser Neubausiedlung, doch war es nie fertig geworden. Eigentlich ein schönes, großes Haus, am Ende der Straße. Danach kam ein Teich und dann fingen die Felder an. Von außen sah es fertig aus, aber durch die Fenster sah man, selbst von der Straße her, dass innen noch nichts verputzt war. Durch ein Fenster erblickte ich eine aufgestellte Klappleiter. Der Garten war nur halb angelegt, aber wieder total verwildert. Das Gras stand sehr hoch und in Saat. Die Büsche wucherten, sodass man kaum durchkommen konnte. Selbst auf der Auffahrt erkannte man an dem hohen Grass, dass hier schon lange kein Auto gefahren oder jemand gegangen war. Vor der Auffahrt war eine inzwischen rostige Kette gespannt.

 Das wäre das ideale Haus für uns. Aber keiner – auch kein Immobilienmakler – konnte mir sagen, wem das Haus gehört. „Wir versuchen schon seit ein paar Jahren, den Eigentümer zu finden, aber bisher erfolglos“, hörte ich von mehreren Anwohnern. Wir entschieden uns dann für ein anderes Haus am anderen Ende der Straße.

 Gewiss, ich komme immer wieder an diesem Haus vorbei, besonders im Herbst, wenn die Felder abgeerntet sind, gehe ich mit meinem Hund über die Stoppelfelder. Tosca ist eine richtige Wasserratte. Wenn ich nicht aufpasse, springt sie in jeden Teich, bevor ich sie stoppen kann. Auch in diesen Teich war sie schon einige Male gesprungen, aber sie benahm sich immer etwas seltsam. Wenn ich hinter ihr herging, stand sie am Ufer und sah mich sonderbar an, schuldbewusst dachte ich. Aber wenn ich es mir jetzt überlege, sieht schuldbewusst bei ihr anders aus. Einige Male sprang sie sogar erschrocken vom Wasser weg und lief sofort zu mir. Ich habe mir nichts dabei gedacht, sondern sie gelobt.

 Also klar, es ist sowieso Zeit für einen Spaziergang, sehen wir uns das Haus noch mal an. Will doch mal sehen, ob es mich genau wie Jens Peter inspirieren kann.

 Wir gehen die große Runde. Erst an einem anderen Teich vorbei, in dem Tosca sich richtig austoben kann. Ich werfe einen Stock hinein und Tosca springt mit einem riesigen Satz hinterher. Während ich ihr nachsehe, werde ich plötzlich von hinten angesprochen.

„Hallo, Kalle, lange nicht gesehen.“

 Ich drehe mich um und gebe Jens Peter die Hand. „Hallo, Jens Peter. Ja, das stimmt. Bin gerade von See wieder gekommen. Wie geht es dir?“

 „Ach Kalle, das ist eine zu lange Geschichte, habe im Moment nicht viel Zeit, aber sag mal, hast du mein Manuskript gelesen?“

 „Ja, natürlich. Finde ich eine ganz interessante Geschichte. Musst du unbedingt zu Ende schreiben. Wollte es dir schon längst zurückgeben, habe dich aber, wie du eben richtig sagtest, lange nicht gesehen.“

 „Das brauch ich nicht mehr. Behalte oder vernichte es, es war deine Kopie. Meine ist im Computer. Außerdem bin ich schon viel weiter. Aber ich möchte dich noch um etwas bitten. Außer dir kann ich keinem trauen. Bewahrst du diesen Schlüssel für mich auf? Falls mir etwas zustößt, musst du umgehend in meine Wohnung gehen und alles Material, welches du finden kannst, herausholen, bevor es in falsche Hände gerät. Kannst es auch selbst verwenden. Mich interessiert nur, dass es an die Öffentlichkeit kommt.“

 „Jetzt hör mal auf, was soll dir denn schon passieren? Du bist gesund und noch etliche Jahre jünger als ich.“

 „Man kann nie wissen, es passieren Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir keine Ahnung haben. Die Alten wussten viel mehr davon. Aber durch unsere sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnisse, oder besser gesagt durch unsere Arroganz, ist das alles in Vergessenheit geraten.“

 Damit drückt er mir einen Schlüssel in die Hand und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie mein Hund davondüst und wieder ins Wasser springt. Ich drehe mich um und pfeife sie heran. Sie kommt auch sofort. Ich lobe und streichle sie und nehme sie an die Leine. Zum Dank schüttelt sie sich und spritzt das matschige Wasser auf meine hellgraue Jeans. Als ich mich wieder umdrehe, ist Jens Peter verschwunden. Mit einem Schulterzucken lasse ich den Schlüssel in meine Tasche gleiten und gehe mit Tosca weiter.

 Da die Felder bestellt sind, schlängele ich mich mit meinem Hund zwischen dem hochstehenden Korn und den Zweigen des Knicks hindurch, bis wir schließlich rückseitig an besagtes Haus gelangen. Zuerst gehe ich mit Tosca an den Teich und lasse sie von der Leine. Da dieses Wasser viel sauberer ist, als das Wasser im anderen Teich, wahrscheinlich ist dieser Teich ziemlich tief, hoffe ich, dass sie noch einmal reinspringt. Aber sie schnuppert am Wasser, macht eine Bürste und knurrt. Dann schnuppert sie noch einmal, macht einen Satz vom Wasser weg, dreht sich wieder um und bellt.

 „Na, dann eben nicht. Komm Tosca, wir sehen uns erst mal das Haus an.“

 Tosca kommt auch gehorsam mit, dreht sich aber noch ein paar Mal knurrend um. So sehr verwachsen der Weg zum Vordereingang des Hauses auch ist, gibt es hier hinten einen ausgetretenen Pfad. In der Hecke ist eine Lücke, durch die man bequem hindurchschlüpfen kann.

 ‚War bestimmt Jens Peter oder einige neugierige Kinder’, denke ich, als ich wieder dieses tiefe Knurren höre. Tosca ist vor der Hecke stehen geblieben und stellt die Nackenhaare auf, doch diesmal sieht sie zum Haus. Ich lasse sie gewähren und gehe alleine weiter. Die Dämmerung hat schon eingesetzt und es ist etwas diesig. Obwohl eben noch die Sonne schien, nehme ich es nur am Rande zur Kenntnis. Plötzlich bleibe ich überrascht stehen. Es sieht genau so aus, wie Jens Peter es beschrieben hat. Das große Fenster ist mit dicken Vorhängen verhängt. Durch das andere Fenster sehe ich die Wasseranschlüsse an der Wand, den Kühlschrank und einen Tapeziertisch. Auch ein Gaskocher steht dort und darauf ein großer Wasserkessel. Ich sehe durch die anderen Fenster und durch die Glas-Hintertür. Alle anderen Räume sind leer und unverputzt. In einem der vorderen Zimmer steht immer noch die Leiter, die ich früher schon dort gesehen habe.

 Jetzt bin ich mir sicher, dass es dieses Haus ist, welches Jens Peter inspiriert hat. Zufrieden gehe ich den Weg zurück, den ich gekommen bin. Aber Tosca ist nicht mehr da. Der Dunst über dem Teich hat sich inzwischen zu einem leichten Nebel verdichtet. Aber ich bemerke es kaum, da meine Sorge um Tosca größer wird. Ich rufe und pfeife, doch Tosca kann ich nicht entdecken. Jetzt bin ich ganz dicht am Teich, als ein heller Blitz durch die Dämmerung zischt, dicht gefolgt von einem kräftigen Donnerschlag. Erschrocken fahre ich zusammen. „Tosca, du Nervensäge, komm endlich, damit wir nicht auch noch nass werden!“ Nun laufe ich auf die Straße, und da sehe ich sie. Ganz gemächlich trottet sie nach Hause, ist schon beinahe außer Rufweite. Ich laufe ein Stück hinterher, bleibe dann stehen und pfeife wieder. Diesmal hört sie mich und dreht sich um. Aber sie kommt nicht zurück. Stattdessen setzt sie sich hin und wartet auf mich. „Immerhin, auch wenn es nicht die richtige Hundeerziehung ist, zu seinem Hund zu gehen, ich will aber nach Hause, bevor der Regen anfängt“, murmele ich in Gedanken verloren vor mich hin.

 Jedoch bleibt der erwartete Guss aus. „Schatzi, hier sind wir wieder, und zum Glück, haben wir es vor dem Regen geschafft“, rufe ich meiner Frau zu.

 „Wie kommst du denn da drauf? Es ist klarer Himmel, habe eben noch den herrlichen Sonnenuntergang bewundert. Und du redest von Regen?“

 „Aber du musst doch eben den gewaltigen Donnerschlag gehört haben.“

 „Erzähl doch keinen Unsinn. Ich habe das Fenster offen, das hätte ich bestimmt gehört. Hier hat es nicht gedonnert.“

 Dabei belasse ich es. Wir machen es uns für den Abend gemütlich. Es ist schon weit nach Mitternacht, als wir uns entschließen, zu Bett zu gehen.

 „Ich gehe noch mal mit Tosca ums Haus, damit sie noch mal pinkeln kann, sonst weckt sie uns morgen so früh.“

 Als ich zurückkomme, sage ich: „Du Liebling, es ist eine herrlich klare Nacht. Die Sterne sind unwahrscheinlich hell; kein Mond stört den Glanz der Sterne.“

 „Heute ist ja auch Neumond, habe ich gerade im Kalender gesehen“, antwortet meine Frau.

 Etliche Monate sind vergangen. Jens Peter habe ich nicht mehr gesehen. Die Felder sind hart gefroren und man kann schön darauf mit dem Hund toben. Wieder gehen wir die große Runde an dem Bergmann’schen Haus vorbei. Auf einmal rennt mein Hund los, durch das Loch in der Hecke und auf das Haus zu. Vor dem Küchenfenster bleibt sie stehen und bellt. Ich hinterher und versuche, sie zurückzupfeifen. Auch wenn das Haus unbewohnt zu sein scheint, betrete ich normalerweise keine fremden Grundstücke. Mein Hund macht jedoch keine Anstalten zurückzukommen. Sie sieht zu mir herüber, dann dreht sie sich wieder zum Fenster um und bellt. Vorsichtig gehe ich auf das Haus zu. „Hallo, ist hier jemand? Ich will nur meinen Hund zurückholen“, rufe ich. Als keine Antwort ertönt, gehe ich hin und sehe durch das Fenster, welches mein Hund so fasziniert. Ich erkenne eine dunkle Gestalt, die am Boden liegt. Mit beiden Händen schirme ich die Augen ab und presse meine Nase an die Glasscheibe. Dann stockt mir der Atem. Durch die schmutzige Scheibe erkenne ich Jens Peter, der in seltsam verkrümmter Form auf dem Boden liegt. Er bewegt sich nicht. Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass er tot ist. Ich gehe zur Glastür und versuche, sie zu öffnen, aber sie ist abgeschlossen. Ich gehe einmal ums Haus, auch die Vordertür und alle Fenster sind zu und verschlossen. Jetzt greife ich zu meinem Handy und will die Polizei anrufen, dann fallen mir Peters beschwörende Worte ein: „Falls mir etwas geschieht, musst du umgehend in meine Wohnung und alles Material, welches du finden kannst, herausholen, bevor es in falsche Hände gerät.“

 Ich bin hin- und hergerissen zwischen meiner Pflicht als guter Bürger und meinem Versprechen. Eigentlich hatte ich ihm doch gar nichts versprochen, er hatte es einfach vorausgesetzt, mir den Schlüssel gegeben und war abgehauen, bevor ich annehmen oder ablehnen konnte. Immerhin, er hielt mich für den einzigen Vertrauten. Da auch noch eine gehörige Portion Neugier hinzukommt, bringe ich den Hund nach Hause und suche den Schlüssel. Ich stecke noch ein paar Gummihandschuhe aus der Küche ein und eile zu Jens Peters Wohnung. Es ist ein altes Mietshaus. Vorsichtig gehe ich die steile, quietschende Holztreppe nach oben und finde im Dachgeschoss eine Tür an der J. P. Nielsen steht. Der Schlüssel passt und ich gehe hinein. Die Wohnung sieht ihm ähnlich, unaufgeräumt und schmuddelig. Es riecht, als ob lange kein Fenster geöffnet wurde. Sie besteht nur aus zwei Räumen. Ein kleines Schlafzimmer mit einem Einzelbett – die Bettwäsche eher grau als weiß – einem Kleiderschrank und vor dem Fenster ein kleiner Schreibtisch mit einem Laptop. Der Tisch ist übersät mit Papieren, ganz und halb bedruckte Seiten, Blätter mit Skizzen von unförmigen Gestalten und Aufzeichnungen wie Tagebuchblätter. In der Küche steht dreckiges Geschirr. Die Essensreste auf den Tellern scheinen noch nicht alt zu sein.

 Ich habe ein schlechtes Gewissen. Vielleicht vernichte ich wichtige Spuren, die der Polizei weiterhelfen könnten. Aber dann denke ich an Jens Peter: „Mich interessiert nur, dass es an die Öffentlichkeit kommt.“

 Also werde ich alles erst einmal durchsehen, und dann entscheiden, was ich der Polizei gebe. Ich werde einfach behaupten, dass er mir dies alles vor ein paar Tagen gegeben hat.

 Wie ein Dieb ziehe ich mir die Gummihandschuhe an. In einer Schublade im Küchenschrank finde ich ein paar leere Einkaufstüten. Ich stopfe die Papiere hinein, den Laptop und alles was auf dem Schreibtisch liegt. Dann öffne ich nach und nach die Schreibtischschubladen. In der einen liegen einige Euros und viele Rechnungen. In der nächsten liegen zwei Multimediakarten, wie sie in Camcordern verwendet werden. Diese stecke ich auch ein. Eine weitere Lade ist voll mit Zeitungsausschnitten, die ich ebenfalls in meine Plastiktüten packe. Den Camcorder finde ich auf dem Kleiderschrank. Obwohl er beschädigt wirkt, lege ich ihn dazu. Sonst finde ich nichts von Bedeutung. Ich blicke noch mal zurück, um mich zu vergewissern, dass ich alles andere so gelassen habe, wie es war. Dann schließe ich die Tür ab und gehe mit klopfendem Herzen die Treppe herunter. ‚Wenn mich jetzt jemand sieht und später der Polizei erzählt, dass ich hier war, habe ich ein Problem.‘ Aber ich gelange ungesehen auf die Straße und gehe schnurstracks nach Hause. Dort verstecke ich die Plastiktüten in meinem Schuppen, schnappe mir Tosca, und rufe meiner Frau zu: „Liebling, ich gehe noch mal mit dem Hund.“

 „Aber du warst doch eben erst mit ihr los. Wo warst du übrigens, hast mir nicht mal gesagt, dass du weggehst.“

 „Ich musste nur noch schnell was aus der Stadt holen, deshalb hatte ich unseren Spaziergang abgebrochen. Doch Tosca braucht noch Bewegung. Bin wohl nicht vor einer Stunde zurück.“

 „Na ja, dann viel Spaß ihr beiden.“

 Diesmal gehe ich ohne Umwege zu dem Haus und gleich ans Küchenfenster. Alles ist unverändert. Jens Peters Leiche liegt noch immer so verkrümmt da. Ich nehme mein Handy und rufe die Polizei.

 Es dauert sehr lange, bis ich das Polizeiauto vor dem Haus anhalten höre. Ich gehe um das Haus herum und rufe: „Hier hinten bin ich. Kommen Sie bitte hierher.“

 Zwei Polizisten zwängen sich durch das Gestrüpp. „Wie sind Sie denn bloß hier durchgekommen?“

 „Da führt ein Pfad vom Teich herauf, der ist einfacher. Mein Hund rannte plötzlich los und auf das Haus zu. Dort fing sie an zu bellen und wollte nicht zurückkommen. Also musste ich sie holen, und machte dabei diese grausame Entdeckung. Das ist Jens Peter Nielsen, der da drin liegt. Alle Türen sind verschlossen, deshalb konnte ich nicht nach ihm sehen, aber er hat sich seitdem nicht bewegt.“

 „Sie kennen diesen Mann, ist er ein Freund von Ihnen?“

 „Freund ist wohl zu viel gesagt, aber jeder hier im Ort kennt Jens Peter Nielsen.“

 „Es nützt nichts, wir müssen erst mal sehen, ob ihm noch zu helfen ist. Hans rufe du mal den Notarzt und die Spurensicherung.“

Sodann sammelt der Polizist einen Stein auf und wirft ihn gegen die Scheibe, während sein Kollege zum Auto zurückgeht.

Die Scheibe ist stabil und hält. Der Polizist nimmt einen größeren Stein und wirft mit aller Kraft. Trotzdem muss er noch dreimal werfen, bevor die Scheibe bricht. Dann steckt er seine Hand durch das Loch, greift den Schlüssel, der von innen steckt, und schließt die Tür auf. Er geht hinein und ich folge ihm, vorher lege ich noch den Hund ab.