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Table of Contents

Titel und Impressum

W I D M U N G

WENN DER WEISSE MANN...

P R O L O G

Bronn, April 1887

EPILOG

ANMERKUNG

HINWEIS

BILDANHANG

Spätromanisches Zackenportal der Bronner Kirche um 1230/40.

Der erste Entwurf des Hamburger Hauptbahnhofes musste überarbeitet werden, da Kaiser Wilhelm II. den Plan als „einfach scheußlich“ bewertete. Am 6. Dezember 1906 war die Eröffnung.

Hamburg - Bei den Mühren Straßenbild "Aus vergangenen Tagen"

Hamburg - Jungfernstieg um 1905. Der Name lässt sich auf eine alte Tradition aus dem 17. Jahrhundert zurückführen.

Cincinnati, Ohio um 1910 - Cincinnati liegt im Staaten-Dreieck von Ohio, Indiana und Kentucky. Im Jahr 1880 zählte die Stadt mehr als 255.000 Einwohner, von denen über 112.000 Deutschamerikaner waren.

ÜBER DIE AUTORIN

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Siglinde M. Petzl

 

 

 

 

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nach wahren Schicksalen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright by: Siglinde M. Petzl

Herausgeber: Verlag DeBehr

Erstauflage: 2016

ISBN: 9783957533135

Umschlaggrafik: Copyright by Fotolia by © Erica Guilane-Nachez

 

W I D M U N G

 

Dieses Buch ist all den Menschen gewidmet, die wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens unter Verfolgung und Diskriminierung zu leiden haben.

 

WENN DER WEISSE MANN IN FRIEDEN MIT DEN INDIANERN LEBEN WILL, SO KANN ER DAS. GEBT ALLEN MENSCHEN DAS GLEICHE GESETZ. GEBT ALLEN MENSCHEN DIE MÖGLICHKEIT, ZU LEBEN UND SICH ZU ENTWICKELN. ALLE MENSCHEN WURDEN VOM GROSSEN GEIST ERSCHAFFEN UND ALLE SIND BRÜDER.

HEINMOT TOOJALAKET (CHIEF JOSEPH - NEZ PERCE)

 

P R O L O G

 

Beim Lesen eines Zeitungsartikels in der Hersbrucker Zeitung anlässlich der Bombardierung von Velden vor 70 Jahren, die meine Mutter als 21-jährige, junge Frau miterlebte, erinnerte sie sich an einen Karton, der seit Ewigkeiten in einem Schrank im Keller herumstand und bat mich, ihn mitzunehmen.


Einige Monate später stellte ich beim Saubermachen das ganze Haus auf dem Kopf, durchforstete die Schränke, stopfte die Altkleider in einen Sack und stöberte weiter auf dem Speicher herum. In einer Box fand ich außer meinen zwei Barbies aus den späten 60ern, einem Teddybären und einer kleinen Babypuppe meine alten Bücher. Ich nahm den dicken Band von Margret Mitchell in die Hand. "Vom Winde verweht", flüsterte ich fast ehrfurchtsvoll und erinnerte mich daran, wie oft ich bis spät in die Nacht mithilfe einer kleinen Taschenlampe den Roman heimlich unter der Bettdecke gelesen hatte, um nicht dabei erwischt zu werden. Erst als ich das Buch von meiner Tante geschenkt bekam, entdeckte ich überhaupt, wie schön das Lesen war, wurde man doch in eine andere Welt hineingezogen. Ich blätterte kurz in Grimms Märchen, betrachtete danach auf einem Buchdeckel die lustigen Gesichter von Max und Moritz und fischte ein gelbes, abgegriffenes Buch heraus. Der Anblick des Struwwelpeters löste eine Flut von Erinnerungen aus. Mir fiel sofort ein, wie es der Pauline beim Zündeln erging und wie oft mir der Vater einst einbläute, nie Streichhölzer in die Hand zu nehmen. Neben einigem Krimskrams wie Zopfhalter, Armbänder, ein kleiner Spiegel, ein Beutel mit Murmeln, ein Fingerring aus einem Kaugummiautomaten, eine Mickymaus-Figur, die einst in einer Wundertüte steckte, Malstifte und einem Päckchen Wachsmalkreiden, war nichts Besonderes drin, außer vier Bleistiftzeichnungen. Mit einem Lächeln betrachtete ich die Porträts der Beatles, die ich in meiner Jugendzeit malte. Bevor ich die Kiste schloss, legte ich den Südstaaten-Roman auf die Seite, den wollte ich ein weiteres Mal lesen. Es kam mir in den Sinn, zwischendurch eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor ich mich der Schachtel von meiner Mutter widmen würde, die seitdem ungeöffnet in der anderen Ecke stand. Ich überlegte es mir anders, rückte den Karton unter die Lampe und setzte mich auf den Boden.

Beim Öffnen roch es nach altem Papier. Ganz oben lagen eine uralte Bibel und ein zerfleddertes Gesangbuch mit einer verbleichten, nicht mehr lesbaren Widmung. Die anderen Bücher schienen aus Mutters Jugendzeit zu stammen. Das erste hieß „Die schöne Melusine“, auf dessen Umschlag eine zierliche, junge Frau abgebildet war, deren sehnsüchtiger Blick auf ein Schloss in der Ferne gerichtet war. Das nächste war von Ina Alken und hatte den Titel „Warte noch auf mich“. Als ich es herausholte, blickte mir aus dem Karton von einem anderen Buchcover ein hübsches Frauengesicht mit großen Augen entgegen. Die untere Gesichtshälfte war mit einem beigefarbenen Spitzenfächer verdeckt, in dem der Titel „Die Kameliendame“ stand. Diesen Roman von Alexandre Dumas las ich als junges Mädchen mit großem Interesse, weil ich wusste, dass er seinerzeit einen Skandal auslöste. Den Band über Beethoven legte ich ebenfalls beiseite, bevor ich einen braunen Umschlag entdeckte, in dem sich etliche Schwarz-Weiß-Fotografien befanden. Auf dem ersten Bild war ein Pärchen abgelichtet, das sehr ernst in die Kamera starrte. Die Dame saß kerzengerade mit einem dunklen, hochgeschlossenen, in der Taille geschnürten Kleid auf einem Stuhl. Die behandschuhten Hände lagen in ihrem Schoß und hielten einen halb geöffneten Fächer. Der schnauzbärtige Herr mit Zylinder steckte in einem Frack und stand steif daneben. Sein linker Arm ruhte auf der hohen Lehne des Stuhls, mit der rechten Hand stützte er sich auf einen Stock mit einem auffallend großen, hellen Knauf. Neugierig geworden drehte ich das alte Porträt auf Pappe um, aber nirgends stand ein Datum oder eine Beschriftung drauf, um wen es sich handelte. Dann schaute ich mir die anderen Fotos an, die ausschließlich aus der Zeit des 1. Weltkrieges stammten. Auf Anhieb erkannte ich meinen Großvater Johann Oppel unter einer Gruppe von uniformierten Soldaten, die in einem Raum, heute würde man Fotostudio dazu sagen, abgelichtet waren. In der Mitte fiel mir ein Herr auf, der einige Jahre älter war, woraus ich schloss, dass es der Kommandant war. Nicht nur er, sondern auch seine Rekruten trugen weiße Handschuhe und hohe Stiefel, alle Männer waren mit einem Säbel ausgestattet. Steif, mit gerader Schulter, blickten die Soldaten in die Kamera, in deren Gesichter der Stolz abzulesen war, für das Vaterland kämpfen und es verteidigen zu dürfen. Auf der Rückseite des Bildes befand sich der Stempel des Fotografen „Photographisches Atelier LEOPOLD ORELLI, Landshut, Maximilianstrasse 1“.

Interessiert schaute ich die restlichen Fotografien durch und dachte bei mir, dass Großvater einst ein fescher Mann war. Nun kamen seine Sparkassenbücher zum Vorschein, alle stammten aus der Zeit der 20er-Jahre. Ich studierte sie eingehend und traute meinen Augen nicht, denn in einem Büchlein befand sich eine Reichsbanknote über "Zehn Millionen Mark". Mit den Fingern strich ich leicht über den blassgelben Schein, „Berlin, den 22. August 1923“ stand darauf. Natürlich, die Inflation war von 1914 bis 1923! Nachdenklich steckte ich das wertlose Papiergeld zurück und fischte einige vergilbte Dokumente aus der Schachtel. Ein Geburtsnachweis stammte von meinem Großvater Johann Oppel aus Velden, der andere von meiner Großmutter Katharina Oppel, geborene Möger. „Hungerhof“, murmelte ich, ohne mir vorstellen zu können, wo dieser Ort lag. In einem Ausweis aus den 40er-Jahren wurde ich fündig, denn statt "Hungerhof“ war unter dem Geburtsort "Rauhenstein“ eingetragen. Ohne lange überlegen zu müssen, kam ich drauf, dass es den Hof irgendwann nicht mehr gab und deshalb der andere Ortsname im Pass stand. Rauhenstein war mir bekannt, jedoch existiert auch dieser Ort heute nicht mehr. Aus einem Kuvert, das ich unachtsam öffnete, flatterten einige der unzähligen Briefmarken aus dem deutschen Kaiserreich heraus, die mich nicht wirklich brennend interessierten. Dann fiel mir ein schwarzes Büchlein auf, in dem die Anstellungen meiner Großmutter aufgelistet waren. Dass sie eine Zeit lang mit ihrer Schwester Babette in Dinkelsbühl arbeitete, war mir aus Mutters Erzählungen bekannt, dass sie vorher auf der Burg Hartenstein in Anstellung war, jedoch nicht. Ich lehnte mich an einen Balken und las schmunzelnd einen Eintrag.


„Katharina Möger war bis incl. 1. Febr. 1913 bei Herrn Architekt Jakober Besitzer der Burg Hartenstein in Stellung. Sie war treu und ehrlich, fleißig und kann bestens empfohlen werden.“

Das ausgestellte Zeugnis war fast lachhaft, wenn man bedenkt, wie die heutigen Zeugnisse verfasst werden. Voller Neugier blätterte ich um. „… war bei dem Unterfertigten seit Juni 1913 bis zum 12. Nov. 1915 im Dienste gestanden und hat sich während dieser Zeit durch seltenen Pflichteifer und Geschicklichkeit sowie durch Treue und Ehrlichkeit ausgezeichnet. Der Wahrheit gemäß bescheinigt dies Georg Strehl, Leiter des Pensionats, Dinkelsbühl.“


Amüsiert klappte ich das Büchlein zu. Einen Moment später fand ich das im Jahr 1945 ausgestellte Papierstück, an das meine Mutter infolge des Zeitungsartikels erinnert wurde. In Deutscher Schrift war akribisch aufgelistet, welche Einrichtungsgegenstände durch die Bombardierung dem Feuer zum Opfer gefallen waren. Sie selbst wurde durch ein offen stehendes Fenster von einem Splitter der Phosphorbombe getroffen, wobei sie beim Weglaufen am Rücken Brandverletzungen erlitt und ihre langen Haare versengt wurden. Ferner war mir bekannt, dass ihr Großvater durch den Hausbrand in der Eichgasse so schwer verletzt wurde, dass er einen Tag danach im Alter von 85 Jahren seinem Leiden erlag. Als Nächstes kam ein angesengter Holzbilderrahmen mit dem Hochzeitsbild meiner Großeltern zum Vorschein. Während ich mir einige Gedanken über die schreckliche Kriegszeit machte, ahnte ich noch nicht, was ganz unten in der Schachtel lag. Vorerst förderte ich eine flache Zigarrenschachtel zutage und klappte sie auf. Ich betrachtete zunächst ein Porzellandöschen mit einem vergoldeten Deckel mit der Aufschrift „Emmy Wetz Rouge Creme“. Ich schraubte es auf und staunte, wie gut erhalten die dunkelrote Schminke noch war. Als Nächstes nahm ich eine goldene Kette in Augenschein, an der ein schwarzgoldener Kugelanhänger mit einer Uhr hing. Meine Vermutung ging dahin, dass es sich wahrscheinlich um ein altes Familienstück handelte. In einem Schächtelchen entdeckte ich zwei Plaketten aus Kupfer, denen ich keine besondere Beachtung schenkte, weil etwas anderes meine Aufmerksamkeit geweckt hatte. In einem kleinen Seidensäckchen steckte ein Sanddollar, was mich sehr verwunderte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein Sandtaler, wie er auch genannt wird, nach Velden kam. Gedankenverloren legte ich alles in die Zigarrenschachtel zurück und machte den Deckel zu, zuletzt holte ich eine dicke Mappe aus dem Karton heraus. Dass es etwas Interessantes sein würde, spürte ich vom ersten Augenblick an.

Auf dem hellbraunen Pappumschlag stand mit schwungvoller Deutscher Schrift „Margarethe Lothes“ geschrieben, aufgeregt schlug ich sie auf. Ein dicker, vergilbter Papierstapel kam zum Vorschein, dessen nummerierte Seiten mit einer Schnur zusammengebunden waren. Wahllos schlug ich eine Seite auf, alles war in Deutscher Schrift verfasst. Einen Augenblick später fühlte ich in der Mitte eine kleine Erhebung. Zu meiner Überraschung lag zwischen den Seiten ein Briefumschlag. Verblüfft zog ich das Kuvert heraus und betrachtete es eingehend. Der Brief war im Jahr 1921 in Cincinnati, Ohio abgestempelt und an meine Urgroßmutter Margaretha Möger geschrieben worden. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Gedanken sortiert hatte. War es möglich, dass nicht nur von der Oppel-Seite Vorfahren meines Großvaters auswanderten, sondern auch Ahnen meiner Großmutter, deren Mutter sich vor der Heirat Lothes schrieb? Das musste ich unbedingt in Erfahrung bringen! In Gedanken versunken räumte ich alles ein. Mit der Mappe, der Zigarrenschachtel und den beiden Büchern ging ich in meine Wohnung zurück. Wie es aussah, würde nicht nur Beethoven, sondern auch Scarlett O’Hara noch eine ganze Weile darauf warten müssen, bis ich mir die Zeit für diese Bücher nehmen würde, denn ich konnte es kaum erwarten, mit dem Lesen des gefundenen Schatzes anzufangen. Um keine Zeit zu vergeuden, schlug ich voller Vorfreude die erste Seite auf. Die Aufzeichnungen begannen im Frühjahr 1887 …

 

Bronn, April 1887

 

Margarethe Lothes

Gedankenverloren stand Margarethe am Fenster und blickte in die Ferne. Während sich der Fuhrwagen mit ihrer kleinen Schwester immer weiter entfernte, waren die Hufschläge bald nicht mehr zu hören. Nach einem kurzen Besuch war Greta nun auf ihren Heimweg nach Rauhenstein. Sie hieß mit dem richtigen Vornamen Margaretha, wurde jedoch wegen der ähnlich klingenden Namen der Schwestern, die sich lediglich durch den letzten Buchstaben unterschieden, immer nur Greta genannt.

Mit einem Schlag fühlte sich Margarethe in ihrem Elternhaus einsam und verlassen, keiner von der Familie war ihr wirklich geblieben. Mit einem bekümmerten Gesicht schaute sie über den Hof zur Scheune hinüber und erblickte den zugelaufenen Kater, der mit einem Mäuschen spielte.

Noch immer konnte sie nicht glauben, dass der Vater für immer gegangen war. Keine zwei Wochen war es her, als er sich auf den Weg machte, um auf dem Feld zu arbeiten und er war nicht mehr zurückgekehrt. Ein Nachbar fand ihn leblos in einer Furche liegen. Als einige Männer aus dem Dorf den Leichnam heimbrachten und auf das Bett legten, stand sie auf den Vater hinabblickend still da und versuchte verzweifelt zu begreifen, was geschehen war. Nachdem die Männer ihr Beileid aussprachen und bald darauf das Haus verließen, fiel sie in einen bitterlichen Weinkrampf. Noch am gleichen Tag traf Greta mit ihrem Mann ein. Da die Schwestern außerstande waren, etwas zu tun, kümmerte sich Johann um alles. Er fuhr mit dem Zweispänner die Leichenfrau nach Hause und bestellte auf dem Rückweg beim Schreiner den Sarg. Wie es in einem Dorf üblich ist, hatte sich die traurige Neuigkeit schnell herumgesprochen.

Während Margarethe den Kater beobachtete, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf.

Erst einige Tage war es her gewesen, als sie am offenen Grab des Vaters gestanden war und nichts dabei fühlte. Längst hatte sie sich die Augen ausgeweint. Wie in Trance war die Trauerrede an ihr vorübergegangen, wobei kein einziges Wort des Pfarrers in ihrem Gedächtnis hängen geblieben war. Bei den anschließenden Beileidsbekundungen hatte sie artig die Hand ausgestreckt und dankend genickt, aber am liebsten wäre sie nach Hause gerannt und hätte sich in eine dunkle Zimmerecke verkrochen. Niemand, außer Greta, konnte ahnen, wie es in ihrem Inneren aussah, wie zerrüttet und gebrochen sie sich fühlte. Bevor sich Pfarrer Rebele nach der Beerdigungsfeier verabschiedete, fand er tröstende Worte, schüttelte ihre Hand und sprach erneut sein tiefes Mitgefühl aus. Margarethe erinnerte sich, wie froh sie gewesen war, als alles vorüber war. Nach dem Leichentrunk in der kleinen Gastwirtschaft konnte sie endlich mit ihrer Schwester und dem Schwager heimgehen. Keiner von ihnen sprach ein Wort, während sie bedrückt zum Hof zurückgingen und das leere Haus betraten.

Die Mutter war bereits vor fünf Jahren gestorben. Von sechs Kindern waren ihr nur drei geblieben, Margarethe, Andreas und Greta. Die Älteste war Margarethe, zwei Jahre später wurde Anna geboren, die gleich nach der Geburt starb, dann vergingen fast drei Jahre bis Andreas das Licht der Welt erblickte, der bei der Geburt knappe acht Pfund wog. Margarethe war damals selbst erst fünf Jahre alt gewesen, aber sie hatte noch heute das Bild vor Augen, als die Hebamme freudestrahlend mit dem eingewickelten Bündel aus der Schlafkammer herauskam und Vater den strammen Jungen reichte. Danach entband die Mutter im Abstand von drei Jahren zwei Mädchen. Sophia lebte nur sechs Wochen, Hannah war eine Totgeburt gewesen. Bereits vor der Niederkunft spürte sie in der Nacht, dass irgendetwas nicht stimmte, deshalb achtete Margarethe während der Entbindung auf das winzige Fensterchen über dem Türstock der Schlafkammer. Während hinter der geschlossenen Türe die Stimme der Hebamme zu vernehmen war, wurde der kleine Verschlag geöffnet, damit die Seele des verstorbenen Kindes hinausfliegen konnte. Verängstigt hatte Margarethe den Blick ihres Vaters gesucht und die Luft angehalten. Auch er starrte nach oben, dann schaute er auf seine zum Gebet gefalteten Hände hinab und weinte. Am liebsten hätte sie tröstend die Arme um seinen Hals geschlungen, aber einen Augenblick später kam die Hebamme aus der Schlafkammer gestürzt und schickte ihn fort, um den Doktor zu holen. Nie im Leben würde Margarethe die folgenden schrecklichen Tage vergessen können, als der Arzt und die Hebamme um das Leben der Mutter bangten. Vom Verlust dieses Kindes hatte sie sich nicht mehr richtig erholt. Umso glücklicher war sie, als sich mit vierzig Jahren erneut eine Schwangerschaft einstellte und das Nesthäkchen Margaretha gesund zur Welt kam. Vom ersten Augenblick an nannte sie das Mädchen liebevoll Greta. Nach dieser Entbindung schien sie jedoch noch schwächer geworden zu sein.

Margarethes Bruder Andreas war vor zehn Jahren nach Amerika ausgewandert und seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Als er eines Tages seiner Mutter eröffnete, dass er auswandern wolle, war es ein harter Schlag für sie gewesen. Sie verstand nie, wie der eigene Vater seinem Sohn gut zureden und sogar noch dazu raten konnte, die Familie und die Heimat zu verlassen, damit er es im Leben einmal besser hatte. Während sie damals die schlimmsten Befürchtungen hegte und damit rechnete, wieder ein Kind zu verlieren, konnte Margarethe die Haltung des Vaters, der von früh bis spät auf den Feldern schuftete, gut verstehen. Selbst das frühere alte Köblerhaus, in dem sie wohnten, war nur gemietet. Egal wie die Ernte ausfiel, die Pacht für die Äcker und Wiesen musste immer pünktlich bezahlt werden, was bedeutete, dass meistens nichts weggespart werden konnte. Jedes Jahr war es von Neuem ein Kampf mit der Natur gewesen, die sich allzu oft launisch zeigte. Späte Fröste, Trockenheit, zu viel Regen oder Hagelschlag vernichteten einen großen Teil der Ernte. Als Kleinbauern blieb ihren Eltern nichts anderes übrig, als gleichzeitig ein Handwerk auszuüben. Deshalb war in der Stube ein Webstuhl aufgestellt, auf dem von Zeit zu Zeit gewebt wurde. Nachdem Andreas weggegangen war, musste Margarethe auf dem Bauernhof fleißig mithelfen. Ihr Bruder hatte von jeher an den landwirtschaftlichen Arbeiten keinen Gefallen gefunden und so klammerte er sich bei seinem Aufbruch in das ferne Land an die Hoffnung, irgendwo in Amerika als Uhrmacher eine Beschäftigung zu finden. Der Großvater brachte ihm das Handwerk beizeiten bei. Bereits in jungen Jahren konnte Andreas eine Uhr auseinandernehmen und die winzigen Teile wieder richtig zusammenfügen.

Nach der Heirat ihrer kleinen Schwester fand der Webstuhl in der Stube der Schwiegereltern einen neuen Platz. Greta war mit siebzehn schwanger geworden und eh sie sich versah, war sie verheiratet gewesen und lebte nun auf dem Hof in Rauhenstein. Vor einem halben Jahr entband sie am vierundzwanzigsten Oktober die kleine Barbara und zwei Monate später war das Kindlein am Heiligen Abend gestorben. Die Schwestern waren froh, dass die Mutter dies nicht hatte miterleben müssen. Sie hätte die frühe Hochzeit ihrer jüngsten Tochter nicht so einfach wegstecken können, weil sich die Leute im Dorf darüber das Maul zerrissen. Aber sie wäre stolz auf Greta gewesen, weil sie sich den zukünftigen Schwiegereltern gegenüber, die streng katholisch waren, durchsetzen konnte und die Hochzeit in der evangelischen Jakobuskirche in Bronn stattfand. Johann war es egal gewesen, in welcher Kirche er Greta sein Jawort geben würde, schließlich war er an der ganzen Misere nicht ganz unschuldig gewesen. Hätte er sich geweigert, wäre Greta die Schande einer unehelichen Niederkunft nicht erspart geblieben. Überdies war die Mutter davor bewahrt geblieben, zusehen zu müssen, wie Greta nach dem Tod ihres zweimonatigen Säuglings litt. Ihr wäre das Herz gebrochen, denn sie wusste, was es hieß, ein Kind zu verlieren, dreimal hatte sie das Leid und den Seelenschmerz selbst ertragen müssen. Eigentlich rechneten die Schwestern fest damit, dass es wegen der frühen Schwangerschaft vom Vater ein Donnerwetter geben würde, aber er war sehr gefasst gewesen und als sich Johann sofort dazu bereit erklärte, Greta zu ehelichen, stand nichts mehr im Wege.

 

Margarethe verdrängte die Gedanken an vergangene Zeiten und wandte sich vom Fenster ab.

Die Schwester hatte die lange Fahrt auf sich genommen, um ihr wiederholt anzubieten, zu ihnen nach Rauhenstein zu ziehen, aber Greta hätte sich diesen Weg ersparen können, weil sie erneut ablehnte, denn hätte sie nachgegeben, würde es einen Esser mehr auf dem Bauernhof von Johanns Eltern geben. Unter keinen Umständen wollte sie jemanden zur Last fallen, denn sie war überzeugt davon, dass es auf die Dauer zu viel gewesen wäre. Johann hatte zwei ältere, noch unverheiratete Brüder und vier kleine Schwestern, die ebenfalls dort lebten und ernährt werden mussten. Ihr tat es sehr leid, dass Greta umsonst vorbeigekommen war, aber sie wollte und konnte der Familie das nicht antun. Außerdem mutmaßte sie, dass das Anwesen bestimmt nicht umsonst „Hungerhof“ hieß.

Auch Tante Elsa hatte ihr am Tag der Beerdigung vorgeschlagen, zu ihnen zu ziehen, um bei ihr und Onkel Ludwig in Nürnberg zu wohnen. Bronn war ihre Heimat, am allerliebsten wäre sie in ihrem Geburtsort geblieben, wo sie die Schule besuchte und mit den Klassenkameraden konfirmiert wurde, aber das ging jetzt nicht mehr, denn schon bald musste sie aus dem Haus raus. Würde sie sich unter all den fremden Menschen in Nürnberg wohlfühlen können? Hier auf dem Land ging es im Gegensatz zu den Großstädten gemächlicher zu, ferner kannte sie jeden einzelnen Bewohner persönlich. Sie schätzte die Dorfgemeinschaft und den Zusammenhalt, den es in Nürnberg sicher nicht geben würde. Erneut ließ sich Margarethe alles durch den Kopf gehen. Nachdem Mutter krank geworden war und es nicht mehr schaffte, sich alleine um den Haushalt zu kümmern, war sie von der Arbeit daheim geblieben, um sie zu unterstützen. Auch wenn sie in ihrem Beruf aus der Übung war, würde sie für sich selber sorgen können, denn sie hatte eine abgeschlossene Lehre als Schneiderin. Überzeugt davon, dass man das erlernte Handwerk nicht so schnell verlernen konnte, war sie in dieser Hinsicht sehr zuversichtlich, aber wo sollte sie so schnell eine Anstellung finden? Wäre es nicht gescheiter, Tante Elsas Angebot anzunehmen? Die Aussicht, in einer Großstadt wie Nürnberg in einer Schneiderei arbeiten und Geld verdienen zu können reizte sie sehr, denn sie malte sich aus, dass dort nicht nur alltägliche, sondern auch festliche Garderoben angefertigt und viel modernere Kleider genäht wurden, als hier in dieser ländlichen Gegend. Dies würde eine richtige Herausforderung bedeuten. Der Umzug in eine große Stadt würde jedoch ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellen. Sie war gerne unter Menschen, aber würde sie jetzt schon für einen Neuanfang bereit sein?

Weder Onkel Ludwig noch Tante Elsa, die Schwester ihres Vaters, kannte Margarethe so gut, als dass sie sich ein Urteil über sie erlauben hätte können, dennoch war ihr der Onkel nicht ganz geheuer. Irgendetwas an ihm hatte sie schon immer gestört, denn bei den letzten gelegentlichen Besuchen hatte Margarethe immer das Gefühl gehabt, von ihm beobachtet zu werden, aber das war sicher nur die Einbildung einer jungen Frau gewesen. Um nicht länger darüber nachzugrübeln, verbannte sie den Gedanken an Onkel Ludwig.
Gute zwei Wochen würden ihr zur Verfügung stehen, um das Haus auszuräumen und die Gerätschaften zu verkaufen. Um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass sie im Grunde genommen arm war, brauchte sie nicht lange zu überlegen. Ihr gehörte hier so gut wie nichts. Der Verkauf der Tiere hatte zwar etwas Geld eingebracht und die Veräußerung von Vaters Gerätschaften stand noch bevor, aber reich würde sie dadurch nicht werden.

In der Zwischenzeit war es draußen duster geworden und es begann zu nieseln. Ohne lange zu überlegen, entschied sich Margarethe, sich ein bisschen Ruhe zu gönnen und erst morgen mit den verschiedenen Arbeiten zu beginnen. Das Aussortieren der Sachen würde eine längere Zeit in Anspruch nehmen, sogar von der Mutter hingen noch etliche Kleider im Schrank. Nachdem ihr seit dem Tod des Vaters der Appetit vergangen war, beschloss sie, gleich ins Bett zu gehen. Traurig, dass alles so unvorhersehbar gekommen war, stieg sie die Treppe zu ihrer Schlafstube hinauf, in der es fürchterlich kalt war. Fröstelnd zündete sie die Petroleumlampe an, deren Lichtschein sie blinzeln ließ. Mit verschränkten Armen schritt sie zum Fenster und blickte über den Hof. Gerade kroch die Katze durch das Loch in der Scheunentüre nach draußen. Eine Zeit lang beobachtete Margarethe den Kater, bis er einen großen Satz machte und um die Ecke verschwand. Von irgendwoher kam das gedämpfte Bellen eines Hundes, sonst war nichts zu vernehmen. Bedrückt zog sie die Vorhänge zu und wandte sich ab. Ihre Hoffnung, in den nächsten arbeitsreichen Tagen auf andere Gedanken kommen zu können, die sie von ihrem schweren Kummer ablenken würden, fiel gering aus. Nichtsdestotrotz würde sie sich in die Arbeit stürzen und es beharrlich versuchen. Während sie den Haarknoten löste, bemühte sie sich, nicht mehr an die gemeinsamen gemütlichen Abende mit dem Vater zu denken. Vor Kälte bibbernd schälte sie sich aus den schwarzen Sachen und schlüpfte in ein Wollnachthemd, die warmen selbst gestrickten Socken behielt sie an. Mit dem dicken Federbett bis unters Kinn zugedeckt, versuchte sie angestrengt, alle Gedanken abzuschalten, was Margarethe jedoch nicht gelingen wollte. Mit einem leisen Seufzer löschte sie die Lampe und starrte anschließend an die Deckenbalken. Nach einer halben Stunde war ihr immer noch kalt und sie bereute, keine Wärmflasche gefüllt zu haben. Dieser Gedanke veranlasste sie, erneut an ihren Vater zu denken, der bis ans Ende seiner Tage nicht auf die Messingwärmepfanne, die noch von der Großmutter stammte, verzichten wollte. Wie oft hatte sie ihm die Pfanne in den vergangenen Wintern mit glühenden Kohlen gefüllt? Abermals folgte eine weitere Nacht, in der sie keine Ruhe fand.


Am nächsten Morgen erwachte Margarethe mit Kopf- und Bauchschmerzen. Sie streckte sich, rief sich die vergangene, schlimme Nacht ins Gedächtnis und wunderte sich nicht darüber, dass ihr infolge der langen Grübelei heute früh der Schädel brummte.
Ein kurzer Blick aus dem Fenster genügte, um gleich wieder die Augen zu schließen. Dunkle schwere Wolken fegten über den Himmel hinweg, außerdem war es stürmisch geworden. Der heulende Wind rüttelte an den offenen Fensterläden und im Hof wurde die Scheunentüre krachend gegen die Wand geschlagen. Übernächtigt zog sie die Bettdecke bis über den Kopf. Einige Minuten später trommelte der Regen auf das Dach. Regentropfen wurden laut gegen das Fenster gepeitscht und liefen in Rinnsalen herunter. Das launische Aprilwetter passt genau zu meiner Stimmung, dachte Margarethe bekümmert, als sie die Augen öffnete und die Decke zurückschlug. Auf die Geräusche im Haus lauschend hielt sie inne. Noch hatte sie sich nicht daran gewöhnt, Vaters Schritte nicht mehr zu hören. Mit einer tiefen Trauer wischte sie eine Träne weg und stand auf. Es half nichts, viele Sachen waren zu erledigen, je eher sie damit anfing, desto schneller würde sie fertig werden. Das lange, schwarze Kleid lag achtlos auf dem Boden. Normalerweise hasste sie Unordnung, aber gestern Abend war ihr alles egal gewesen. Mit einem leisen Seufzer hob Margarethe es auf und schlüpfte hinein. Beim Zuknöpfen überlegte sie, was sie am besten als Erstes angreifen sollte, aber vorher musste sie etwas essen.

In der Küche war es kalt. Erleichtert stellte sie fest, dass im Korb genügend Holzscheite lagen. Im strömenden Regen in den Schuppen hinüber laufen zu müssen, hätte ihr nicht gefallen. Es war zu Vaters Lebzeiten das Normalste der Welt gewesen, dass es angeschürt und behaglich warm war, wenn sie aus ihrer Schlafkammer herunter kam. In Zukunft würde noch vieles anders werden, dachte Margarethe bitter und entfachte mit einem Kienspan das Feuer. Gedankenverloren holte sie die Kanne aus der kleinen Kammer, schüttete die Milch in einen Topf und schob ihn in die Mitte des Herdes. Bevor sie zum Sieden begann, pochte es laut an der Haustüre. Auf einen Besuch unvorbereitet, zuckte Margarethe erschrocken zusammen. Als erneut dagegen gehämmert wurde, lief sie neugierig in den Korridor hinaus und schob zaghaft den Türriegel zurück.

„Guten Morgen, Margarethe, deine Schwester hat mich vorbeigeschickt. Ich wollte dir die Werkzeuge und Gerätschaften deines Vaters abkaufen", sagte Herr Schmidt, sich über ihren überraschten Gesichtsausdruck wundernd.

„Oh, das hab ich ganz vergessen, einen Moment."

Margarethe lief hastig in die Küche zurück und schaffte es in letzter Sekunde, die kochende Milch auf die Seite zu ziehen. Einige Tropfen schwappten dabei über den Rand des Topfes und zischten auf der heißen Herdplatte. Sofort breitete sich in der Küche der Gestank nach verbrannter Milch aus. Verärgert über ihre Unachtsamkeit eilte sie zum Fenster hinüber und öffnete beide Flügel.

„Wenn es dir jetzt nicht passt, kann ich heute Nachmittag nochmals vorbeischauen", rief der Mann Margarethe zu, während er an die Haustüre gelehnt die Geräusche aus der Küche vernahm.

„Nein, ich komme sofort", erwiderte sie.

Sie fasste flink die langen Haare zusammen, band sich ein Kopftuch um und trat kurze Zeit später ins Freie hinaus. Herr Schmidt machte auf sie bereits einen ungeduldigen Eindruck. Im strömenden Regen liefen sie zusammen über den Hof zum Schuppen hinüber. Nachdem der Mann alles gesehen hatte, zog er seinen Geldbeutel heraus und zählte einige Geldstücke ab.

„Ich würde dir gerne mehr dafür geben, leider ist es mir nicht möglich", murmelte der Alte entschuldigend, als er Margarethe das Geld gab.

„Ich weiß, Herr Schmidt, ich bin froh, wenn ich das Zeug so schnell wie möglich los bin. Mir bleibt für meinen Auszug nur noch wenig Zeit", antwortete sie.

Bei diesem Gedanken musste sie sich schwer zusammenreißen, „Auszug“ hallte es in ihrem Kopf wider. Bedrückt sah sie den alten Mann mit einem gezwungenen Lächeln an. Sie kannte ihn seit Kindertagen und mochte ihn wegen seiner freundlichen Art. Zu Vaters Lebzeiten war Herr Schmidt regelmäßig auf den Hof gekommen. Manches Mal hatte Mutter ein Stückchen Kuchen für ihn übrig, das er auf der Stelle gierig verschlang. Es bereitete ihr stets Freude, wenn es ihm schmeckte und war frohgestimmt, wenn Herr Schmidt ein großes Lob über ihre Backkünste verlauten ließ.

„Vergelt’s Gott, Margarethe. Ich komm später mit dem Fuhrwerk vorbei und hole die Sachen ab", erwiderte er dankend.

Während er über den Hof zu seinem angebundenen Pferd zurückging, folgte sie ihm mit ihrem Blick.

Der erste Schritt war getan. Die Geldstücke in ihrer Hand betrachtend dachte sie daran, dass sie Herrn Schmidt am liebsten alles geschenkt hätte. Auch er war arm, aber sie wusste selbst nicht, wie ihr eigenes Leben in der Zukunft aussehen würde und es war sicherlich von Vorteil, einige Münzen auf der Seite zu haben. Etwas besser gelaunt kehrte Margarethe in die Küche zurück. Sie brockte sich altes Brot in die warme Milch und zwang sich dazu, alles hinunterzuschlingen. Dabei blickte sie durch das verschmierte Fenster auf den Hof hinaus. Große Pfützen hatten sich gebildet, auf deren Oberfläche sich das Wasser kräuselte. Als sie aufstand, um die Schüssel abzuspülen, stellte sie erleichtert fest, dass die Bauchschmerzen abgeklungen waren.

Am frühen Nachmittag nahm sich Margarethe Mutters Schrank vor. Sie roch an einem Kleid und bildete sich ein, einen leichten Seifenduft zu riechen. Im gleichen Moment fuhr ein Wagen auf den Hof. Sie verzichtete darauf nachzusehen, denn gleich darauf war zu hören, dass Herr Schmidt die Werkzeuge aus der Scheune holte und laut scheppernd auflud.

Währenddessen war Margarethe fertig geworden und stopfte den letzten Pullover in den Sack, den sie in den folgenden Tagen für arme Familien beim Pfarrer abgeben wollte. An Vaters Klamotten traute sie sich noch nicht heran, zu groß war ihre Trauer um ihn. Natürlich war ihr bewusst, dass es spätestens nächste Woche soweit sein würde, dennoch war sie froh, dass sie es noch ein bisschen aufschieben konnte. Im selben Moment fiel Margarethe Herr Schmidt ein. Sie rappelte sich hoch und zog den Vorhang beiseite. Er war nicht zu sehen, aber das Pferdegespann stand noch vor dem Schuppen. Als sie ins Freie stürmte, stieg er gerade auf den Bock. „Herr Schmidt, Sie haben die gleiche Statur wie mein Vater. Darf ich ihnen nächste Woche einige Kleidungsstücke vorbeibringen?", rief Margarethe außer Atem, während sie über den Hof eilte und näherkam.

„Ja, gerne. Wenn ich etwas für dich tun kann, lass es mich wissen", erwiderte der Alte.

Dabei bedachte er Margarethe mit einem fürsorglichen Gesichtsausdruck.
„Da würde mir gleich etwas einfallen. Sie kommen doch beim Pfarrhaus vorbei, könnten sie dort einen Sack für mich abliefern? Der Herr Pfarrer weiß bereits Bescheid."

„Selbstverständlich! Soll ich dir beim Tragen helfen?", fragte Herr Schmidt hilfsbereit und machte sofort Anstalten, vom Wagen herunterzusteigen.

„Nein, danke, bleiben Sie sitzen. Der Sack ist nicht schwer, es sind nur Anziehsachen drin."

Gleich darauf drehte sich Margarethe um und hastete davon. Im letzten Augenblick gelang es ihr gerade noch, zwei Wasserpfützen auszuweichen und kam dadurch ins Straucheln. Kurze Zeit später kam sie zurück. Mit einem Schwung hievte sie den Kleidersack auf den Wagen und achtete darauf, dass er nicht auf der scharfen Sense landete. Um durchs Geruckel des Fuhrwerkes eine Beschädigung des Sackes zu vermeiden, schob Margarethe einige Werkzeuge beiseite und rutschte die Säge ein Stückchen weiter weg.

„Vielen Dank, Herr Schmidt. Dann bis nächste Woche“, sagte sie zufrieden.

„Auf Wiedersehen Margarethe.“

Der alte Mann tippte nickend an seinen Hutrand. Im nächsten Moment schwang er die Zügel und trieb die Pferde an. Der Wagen fuhr mit einem heftigen Ruck an und rollte über den Hof.

Von Tag zu Tag wurde es im Haus leerer, zuerst sortierte Margarethe die unnützen Sachen aus, dann wägte sie ab, was sie zur Tante mitnehmen könnte. Obwohl manches noch brauchbar war, trennte sie sich schweren Herzens von den Dingen, die nicht in ihren Koffer passen würden. Erst gestern brachte sie dem Pfarrer zwei Säcke voll Haushaltswaren, Betttücher und Decken vorbei. Für die Verteilung an die Armen in seiner Gemeinde würde er Sorge tragen.

Nach einer Tasse Tee beschloss Margarethe weiterzumachen und sie nahm sich Vaters Schrank vor. Mit einem Druck in der Brust legte sie die guten Kleidungsstücke sorgsam in eine große Tasche. Dabei blinzelte sie eine Träne weg und schnupfte leise. Es war schrecklich, nach so kurzer Zeit seine Sachen ausräumen und weggeben zu müssen. Die vergangenen Tage würde sie nie im Leben vergessen können. Nach Vaters Tod war bereits am nächsten Tag der Aschinger auf den Hof gekommen, um die Tiere in Augenschein zu nehmen. Der Großbauer aus Pegnitz hatte ihr einen Preis für die beiden Kühe und das Pferd geboten, von dem sie nicht wusste, ob er angebracht war. Für die Viehpreise hatte sie sich zu Vaters Lebzeiten nie interessiert, sodass sie ihm vertrauen musste und schließlich einschlug. Nachdem der Bauer auch hier im Ort jedem bekannt war, ging sie davon aus, dass er sie nicht übers Ohr hauen würde. Am darauf folgenden Morgen schickte er zwei Knechte vorbei, die die Tiere zu seinem Anwesen trieben.

Seit der Bestattung befand sich Margarethe in einem eigenartigen Schwebezustand und kam Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Viele Dorfbewohner brachten ihr Mitgefühl zum Ausdruck, einige sprachen sogar davon, dass alles vorherbestimmt sei. Margarethe glaubte weder an das Schicksal noch an eine höhere Gewalt, auch wenn im Alten und im Neuen Testament viele Stellen darauf verweisen, dass das Leben jedes Menschen von Gott vorherbestimmt sei. Sie war anderer Meinung und der Ansicht, dass Dinge einfach passierten. Wie könnte Gott es wollen, dass sie nun alleine dastand!? Weniger einsam würde sie sich fühlen, wenn ihre kleine Schwester hier sein könnte, aber sie gehörte nun zu Johann und hatte ein anderes Zuhause bekommen. Zusammen könnten sie um den geliebten Vater trauern, sich gegenseitig Trost spenden und gemeinsam versuchen, den schmerzvollen Kummer zu bewältigen. Die Vorstellung, Greta an ihrer Seite zu wissen, der sie all ihre Ängste und Nöte anvertrauen hätte können, war zu schön. Bei diesen traurigen Gedanken gelang es ihr nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Mit dem Kleiderärmel trocknete Margarethe die nassen Wangen. Als sie das gute Hemd, das vom Vater nur sonntags für den Kirchenbesuch getragen wurde, zusammenlegte und in die Tasche schob, unterdrückte sie einen Seufzer. Seit dem Tod des Vaters wurde sie von dem Gefühl verfolgt, von der Einsamkeit erdrückt zu werden. Verzweifelt versuchte sie, diese Einbildung abzuschütteln und ließ es zu, dass ihre Gedanken zu Tante Elsa und Onkel Ludwig schweiften. In einer schlaflosen Nacht hatte sie endgültig den Entschluss gefasst, zu ihnen zu ziehen. Was sie dort erwarten würde, wusste sie nicht, zumindest würde sie nicht mehr alleine sein. An diesem Abend fiel Margarethe müde und erschöpft ins Bett. Sie hatte viel gearbeitet und war zufrieden mit dem, was sie geschafft hatte. Innerhalb von Minuten war sie in einen tiefen, wohltuenden Schlaf gesunken.


Am nächsten Morgen fühlte sie sich besser. Endlich schien die ersehnte Sonne, was ihr einen kleinen Auftrieb gab. Während des Frühstückes dachte sie sich einen Plan aus, wo und wie sie weitermachen würde. Als Erstes beschloss sie, mit dem Keller fortzufahren, denn sie wusste, dass die Regale sowohl mit etlichen Marmeladengläsern, als auch mit eingeweckten Früchten und getrockneten Pilzen vollgestellt waren. Noch war sie unschlüssig, ob sie für den neuen Pächter einfach alles stehen lassen würde. Ferner waren einige Kisten zu durchsuchen. Ob sich darunter etwas Brauchbares befand, würde sich zeigen. Nach dem Aufräumen stieg Margarethe die Kellertreppen hinab. Hier war es zu duster, um zurecht zu kommen. Sie machte die Petroleumlampe an, die auf einem alten, wackeligen Tischchen stand und war erstaunt, als der Lichterschein auf eine ziemlich neu aussehende Schatulle fiel. Neugierig geworden klappte sie den Deckel auf. Sofort machte ihr Herz einen Sprung, denn die Briefe von Andreas waren darin aufbewahrt. Eine Zeit lang betrachtete Margarethe die abgestempelten amerikanischen Briefmarken, dann nahm sie das verschnürte Bündel heraus und stutzte, denn darunter lag ein Brief, auf dem ihr Name stand. Auf Anhieb erkannte sie Vaters ebenmäßige Handschrift. Völlig überrascht von ihrem Fund zog sie den alten, dreibeinigen Hocker an den Tisch heran und setzte sich nieder.

Vor Neugierde ganz kribbelig geworden, öffnete sie den Briefumschlag und faltete das Blatt Papier sacht auseinander.

Liebe Margarethe!

Ich wusste, dass Du früher oder später auf die Kassette stoßen würdest. Wir haben die Briefe deines Bruders alle aufgehoben. Wenn Du den Stoff herausnimmst, findest Du noch etwas!


Margarethe schaute in die Schatulle und nahm den kleinen Stofffetzen heraus, der ihr vorhin gar nicht aufgefallen war. Ganz unten war ein weiteres Kuvert. Beim Öffnen stellte sie verblüfft fest, dass Geld drin war. Verdutzt las sie weiter.

Das Ersparte gehört Dir ganz alleine, Greta hat ihren Anteil zur Hochzeit bekommen und Andreas hat mit dem Geld seine Überfahrt bezahlt.


Gedankenverloren senkte sie das Blatt und starrte einen Augenblick vor sich hin. Woher hatte ihr Vater nur das Geld? Sie dachte immer, dass sie so arm wären wie eine Kirchenmaus!

Verwundert richtete sie ihren Blick wieder auf den Brief.


Wir haben es schon lange für Euch gespart, Du kennst ja meinen Spruch: „Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not.“

Das Geld stammt größtenteils von meinem Vater. Er hat alles gespart, was er mit seinen Uhren verdiente. Es ist nicht viel, aber es ist hilfreich für einen kleinen Start. Vielleicht gehst du aus Bronn fort und ziehst in eine andere Stadt, um Deinen erlernten Schneiderberuf auszuüben.

Verkaufe die Tiere und die Gerätschaften, was Du nicht gebrauchen kannst, schenke her.


Wie kam er nur darauf, ihr einen Brief zu schreiben, dachte Margarethe. Sie schaute auf das Datum, es stand der 25. März darauf. Hatte ihr Vater gespürt oder gar gewusst, dass er bald sterben würde? Vater hatte den Abschiedsbrief vor ungefähr vier Wochen geschrieben! Warum hatte sie ihm nichts angesehen? Nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Schluchzend kramte Margarethe in ihrer Kleidertasche nach dem Taschentuch und schnäuzte geräuschvoll hinein. Er wusste es, ging es ihr durch den Kopf und gleich darauf verfiel sie in einen Weinkrampf.

Es dauerte eine Zeit lang, bis sie sich wieder etwas gefasst hatte und mit tränenverschleiertem Blick weiterlas.

Ich wünsche Dir einen besseren Ehemann, als ich es für Deine Mutter gewesen bin und hoffe, dass er einmal gut für Dich sorgen wird.


Dein Vater



Ungläubig starrte Margarethe auf die Zeilen. Wie konnte der Vater ihr gegenüber nur verheimlichen, dass er so krank war. Sie hatte zu keiner Zeit einen Verdacht geschöpft. Jetzt machte sie sich umso mehr schreckliche Vorwürfe. Nach einer Weile steckte sie den Brief zurück und betrachtete das Geld. Nun war sie nicht mehr arm! Innerhalb weniger Tage hatte sich ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Sie hatte keinen Vater mehr, kein Zuhause, das ihr immer sicher schien und jetzt war sie wie durch ein Wunder auf einmal zu Geld gekommen.

Am letzten Tag kam am frühen Morgen der Besitzer des Anwesens hereingeschneit und zeigte dem neuen Pächter das Haus, die Scheune und den Stall. Beide Männer musterten die junge Frau mit einem grimmigen Blick und sagten nicht viel zu ihr. Ohne sich nach der Besichtigung zu verabschieden, verließen sie kurze Zeit später den Hof. Margarethes Herz krampfte sich zusammen, während sie am Fenster stand und ihnen nachblickte, morgen würde sie für immer weggehen müssen.


Erst am Nachmittag heiterte sich ihre Laune etwas auf, als sie mit dem Nähen eines Brustbeutels fertig war und gerade den Faden abbiss, denn vor dem Haus blieb ein Zweispänner stehen und schon vernahm sie Gretas vertraute Stimme. Sofort steckte Margarethe die Nähnadel in das Nadelkissen, stand auf und lief eilig in den Korridor hinaus. Als sie die Haustüre aufriss, war ihre Schwester bereits vom Wagen abgestiegen und damit beschäftigt, das Kleid glatt zu streichen.

„Das ist aber eine Überraschung!“, posaunte Margarethe und strahlte über das ganze Gesicht.

„Wie geht es dir?", fragte Greta, als sie aufsah.

Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf Margarethe zu und musterte sie mit einem prüfenden Blick. Sofort fiel ihr auf, dass sie abgenommen hatte. Margarethe ließ es zu, von ihrer kleinen Schwester überschwänglich umarmt zu werden.

„Komm erst mal mit ins Haus. Wie soll es mir schon gehen, von heute auf morgen ist alles anders geworden!", erwiderte sie achselzuckend.

Greta trat ein und lief schnurstracks in die Küche. Inzwischen drängte Margarethe mit dem Fuß den Kater weg und schloss hastig die Haustüre. Mit schnellen Schritten war sie ihrer Schwester gefolgt.

„Was hast du denn genäht?“, fragte Greta, als ihr Blick auf den Tisch mit den Nähutensilien fiel.

„Einen Brustbeutel! Ich war ganz überrascht, weil mir Vater einen Brief geschrieben hat. Hast du gewusst, dass er Geld besaß?"

Margarethe nickte mit dem Kopf zum Schränkchen, auf dem die Schatulle stand, bevor sie hinüberging, den Umschlag herausholte und ihn ihrer kleinen Schwester entgegenhielt.

„Ja, das war mir bekannt, es stammte vom Großvater. Unser Vater sagte mir beim letzten Besuch, dass es dir gehören soll. Du brauchst Andreas und mir gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben, wir haben unseren Anteil auch bekommen. So viel ist es ja nicht! Tante Elsas Erbe war das alte Haus in der Weißgerbergasse in Nürnberg. Soweit ich weiß, hat es Großvater von einem Cousin geerbt. Jedenfalls hat er unserem Vater das Geld vermacht."

Mit feuchten Augen blickte Margarethe zum Fenster hinüber.

Die getigerte Katze war in der Zwischenzeit auf das Fensterbrett gehüpft und schaute neugierig herein.

„Wusstest du, dass unser Vater krank war?“, fragte sie zögernd.

Auf die Antwort gespannt drehte sie sich um und blickte erwartungsvoll in Gretas Gesicht.

„Nein, ich hatte wirklich keine Ahnung. Vater ist mir nicht mehr so kraftvoll vorgekommen wie früher, aber das ist ja normal, wenn man älter wird", entgegnete die Schwester, ohne zu schwindeln.

„Heute Morgen hat sich der neue Pächter den Hof angeschaut. Ich werde morgen zu Tante Elsa fahren."

Margarethes Stimme klang mit einem Mal noch trauriger. „Eigentlich hegte ich die Hoffnung, dass ich dich noch umstimmen könnte. Komm doch zu uns! Johann hat gesagt, dass wir für dich auch noch ein Plätzchen finden würden."

„Nein, mein Entschluss steht fest! So schlimm wird es bei Tante Elsa schon nicht werden, schließlich ist sie Vaters Schwester. Außerdem erwähnte sie, dass ich in einer Schneiderei arbeiten könnte, das wird bestimmt sehr aufregend."

„Sag der Tante nichts von deinem Geld. Die ist imstande und verlangt etwas für die Unterkunft, obwohl sie dich den ganzen Tag lang arbeiten lässt. Sie denkt bestimmt, dass unsere Eltern Großvaters Geld längst aufgebraucht haben!", riet Greta.

„Der Gedanke ist mir auch schon gekommen", murmelte Margarethe mit einem nachdenklichen Gesicht.

„Mit wem fährst du denn?"

„Der Ebert Paul nimmt mich mit, er fährt morgen früh eh in die Stadt. Das ist mir lieber als mit der Eisenbahn, denn er liefert mich direkt vor der Haustüre ab“, antwortete Margarethe.

„Hoffentlich gefällt es dir in Nürnberg. Dort wird alles anders sein als hier auf dem Land.“

„Ich werde mich bestimmt bald eingewöhnen.“

Margarethe konnte sich nur wünschen, dass es wirklich so leicht sein würde.

Bei einem Geräusch, das der Kater verursachte, blickte Greta zum Fenster. In der Zwischenzeit hatte sich der Himmel eingezogen. In der Ferne war ein Donnergrollen zu hören.

„Es tut mir leid, dass ich nicht länger bleiben kann. Ich muss los, das Gewitter wird bald hier sein, hoffentlich komm ich noch trocken bis nach Rauhenstein."

„Könntest du diese Tasche bei Herrn Schmidt abliefern, es sind Vaters Sachen.“

Margarethe zeigte mit dem Finger in die andere Ecke. „Natürlich! Ich wünsche dir viel Glück in deinem neuen Heim und lass dir von Tante Elsa nichts gefallen.“

Greta stand auf und umarmte Margarethe, dann hob sie die Tasche auf und trat ins Freie.

Mit den Tränen kämpfend, winkte Margarethe ihrer kleinen Schwester nach.

„Es wird schon alles gut werden, hoffentlich sehen wir uns bald wieder", murmelte sie leise, als sie dem davonfahrenden Gespann so lange nachblickte, bis es verschwunden war.

Velden, November 2015

Bevor ich weiterlas, wollte ich in Erfahrung bringen, was meine 91-jährige Mutter über Margarethe Lothes wusste. Ich nahm den Brief mit und machte mich auf den Weg.

„Du bist ja ganz aufgeregt, setzt dich erst mal hin, ich habe Kaffee gemacht", sagte sie mit einem musternden Blick.

Meine Mutter schenkte die Tassen voll und gab Milch hinein. Ich wartete, bis sie sich mir gegenüber hinsetzte und zeigte ihr unter Erwähnung der Mappe den Brief.

„Von einer Mappe weiß ich nichts, wer weiß, wie lange sie schon in diesem Karton liegt. Er stand seit Ewigkeiten auf dem Speicher, bis dein Vater ihn irgendwann herunterholte und in den Keller schaffte. Ich habe darauf bestanden, ihn vorerst aufzuheben und wollte zu gegebener Zeit die Sachen durchsehen und aussortieren, aber irgendwie ist er im Schrank zwischen den Koffern in Vergessenheit geraten."

Mutters erstaunter Blick war immer noch auf das Kuvert gerichtet. „Der Brief ist aus dem Jahr 1921 von unserer Auswanderin!"

„Ja, Margarethe Lothes erwähnte darin ihren Bruder Andreas. Ist dir bekannt, ob die beiden Kinder hatten?", fragte ich gespannt.

"Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, schließlich wurde ich erst 1924 geboren. Margarethe Lothes war meine Großtante, das heißt, sie war die Schwester meiner Großmutter. Wenn sich ein Gespräch um die Auswanderung drehte, habe ich bestimmt etwas davon aufgeschnappt, aber da ich noch ein Kind war, habe ich mir die Begebenheiten nicht gemerkt. Ich weiß nur, dass Andreas lange vor ihr eine Auswanderung anstrebte und nach Amerika ging. Wenn Nachkommen da wären, hätten sie sich wahrscheinlich längst mit den Verwandten in Deutschland in Verbindung gesetzt."

Das leuchtete mir durchaus ein. In Gedanken malte ich mir bereits aus, wie ich es anstellen könnte, die Cousins und Cousinen in Amerika auftreiben und in Kontakt treten zu können. Etwas enttäuscht stellte ich die nächste Frage. „Wusstest du, dass deine Großmutter mehrere Geschwister hatte? Die ersten Seiten habe ich bereits durchgelesen."