Cover

Table of Contents

Titel

Impressum

Vorwort

Teil I

WAS WÄR’ DER SCHLAF OHNE DEN TRAUM?

ICH BIN AQUILA – DER GEWALTIGSTE, DER MÄCHTIGSTE ALLER VÖGEL

OPERATION ADLER GEGLÜCKT

I WANT TO BREAK FREE

AQUILA, DU BIST JA PLATT WIE EIN PFANNKUCHEN

CARLA WAR ZURÜCKGEKEHRT AUF DIESE WELT

UND ES FOLGTE EIN LANGER, LANGER KUSS und Teil II

BERGE! DAS IST DOCH VOLL DIE ÄTZE!

SIE SCHIEN NUR NOCH IN EINSAMEN HÖHEN, DORT, WO DER FREIE ADLER FLIEGT

HÄTTEST DU GESCHWIEGEN

AUS EIGENER KRAFT OHNE TECHNISCHE HILFSMITTEL ZU FLIEGEN

SIE WIRD DAVONFLIEGEN. UND ICH HATTE SIE SO GERN.

SCHWEIGEN IST SILBER. REDEN IST GOLD.

ADLERAUGE, SEI WACHSAM!

OH, LIEBSTER ROMEO, MEIN ÜBER ALLES GELIEBTER ADLER!

DAS LICHT AM ENDE DES TUNNELS

MEHR SPANNUNG VON RAIMUND KARRIE BEI DEBEHR

 

 

Raimund Karrie

 

 

 

Aquila

 

Das fliegende Mädchen

 

 

 

 

 

 

 

ROMAN

 

 

 

 

Verlag DeBehr

 

Copyright by: Raimund Karrie

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2016

ISBN: 9783957533111

Umschlag-Grafik Copyright by Fotolia © Fernando Cortés

 

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn Ihr diese nun folgende Geschichte von Aquila und ihrer zauberhaften Welt lest, werdet Ihr auf die unglaublichsten Dinge treffen. Und auf zwei Menschen, die das zu tun vermögen, was für uns alle nur in unserer Fantasie und in unseren Träumen machbar ist, wobei zu erwähnen ist, dass wir auch tagsüber gelegentlich mal träumen (day dreaming).

Mit offenen Augen in einer langweiligen Stunde in der Schule zum Beispiel, also bei einem langweiligen Lehrer (langweiligen Stoff gibt es ja bekanntlich nicht). Dann lassen wir unsere Gedanken fliegen, endlos hoch und weit. Alles um uns herum existiert nicht mehr. Wir leben dann unsere eigene Welt, in der nur das Schöne und Gute Platz hat.

Wie nüchtern und arm die Realität ist, in die wir wieder zurück müssen! Wir wünschten uns, weiterträumen zu können, vor allem auch nach einem wunderschönen Traum des Nachts. Was uns bleibt, ist vielleicht ein Buch wie dieses hier, das wir zur Hand nehmen können mit einem Mädchen darin, das uns in seine fantastische Welt mitnimmt.

Und wenn wir uns dann so frei und gut fühlen wie dieses Mädchen, was wollen wir mehr?

Aquilas Leben besteht nicht nur aus Höhenflügen und permanenten Glücksgefühlen. Ganz im Gegenteil. Sie ist ja kein Fabelwesen, sondern ein Mädchen von zunächst vierzehn Jahren, das auch die Schattenseiten des Lebens kennenlernt. Hierbei gerät Aquila dermaßen unter psychischen Druck, dass sie zugrunde gehen würde, hätte sie nicht die Möglichkeit, dieser ihrer gemeinen und schäbigen Umwelt zu entfliehen. Mut und Tapferkeit sind ihre ständigen Begleiter in einer nicht selten höchst abenteuerlichen Welt.

Was sie da anpackt, packt sie richtig an, und dabei bleibt sie total cool.

Und ihr armseliges Leben mutiert zu einem Mega-Event.

Viel Spaß beim Lesen wünscht

Raimund Karrie

 

 

 

 

 

 

 

 

Teil I

 

 

 

Fantasie – Einbildungskraft

Die ungeahnte Welten schafft

Frei im Raum, frei in der Zeit

Begrenzt nur durch die Ewigkeit

Der Autor

 

WAS WÄR’ DER SCHLAF OHNE DEN TRAUM?

 

Was wär’ der Schlaf ohne den Traum?

Wär’ tot und kalt wie Eis

Wundersames gibt’s zu schaun

Doch Alp, du bist der Preis!

Sie schleicht um das glänzende Prachtstück herum. Ein Porsche Carrera! Ein Cabrio in strahlendem Blau.

 „So einen Flitzer werde ich nie besitzen. Wie die meisten anderen Mädchen auch nicht. Ein wahres Traumauto.“ So denkt sie ein wenig traurig.

 Sie zuckt zusammen. Träumt sie? Der Schlüssel steckt. Kurzer Blick nach links, kurzer Blick nach rechts. Dann ein Sprung und sie sitzt auf dem ledernen Fahrersitz. Sie streichelt das Lederlenkrad, überlegt kurz. Warum eigentlich nicht? Ihre Hand tastet zum Schlüssel. Und der Wagen erwacht zum Leben. Mit Sound vom Feinsten!

 Ihr Fuß berührt das Gaspedal. Der Gewaltige tut einen Satz nach vorne, fängt sich aber wieder und gleitet nun die Straße hinunter.

 „Das schaffe ich mit meinem Bike auch, locker schaff ich das.“ Ein Blick auf den Tacho. „Was denn? Schon achtzig km/h? Und wo bleibt der Geschwindigkeitsrausch?“

 Die Ortschaft liegt bereits hinter ihr. Jetzt kommt die vierspurige Bundesstraße. Na also! 110, 150, 190, 220 und – wer sagt’s denn? – 250 km/h. Sie glaubt zu schweben. Auf ihrem Bike hat sie mit 40 km/h mal Ähnliches gespürt. Doch dieses Feeling hier ist noch um einige Quantensprünge gewaltiger.

 Das reicht erst einmal. Ganz gemütlich zieht der Wagen nun seine Bahn auf der schmalen Landstraße. Nur noch wenige Kilometer trennen sie von der Stelle, wo jetzt wohl schon der gute Mann sehnsüchtig auf sein Auto wartet. „Gleich werde ich ihm das gute Stück überreichen und mich vielmals bedanken. Doch bis dahin werde ich diese einmalige Fahrt noch genießen.“ Sie erfreut sich an dem tiefblauen Himmel über ihr mit der angenehm warmen Sonne hoch oben. Sie genießt den sanften Sommerwind, die Waldbäume rechts und links und … Sie haut auf die Bremse. Doch zu spät. Sie hat die Person noch erwischt.

 „Verdammter Mist! Was jetzt? Ich fahr mal erst zurück. Wo ist der verdammte Rückwärtsgang bloß? Das muss er sein.“ Schon macht der Wagen einen Satz nach hinten. Sie hält an, steigt aus und geht drei Schritte. Sie dreht den leblosen Körper. Und erstarrt. Sie hat soeben ein Mädchen überfahren.

 „Das darf doch nicht wahr sein! Ich raff es nicht. Das Mädchen ist ja Carla.“

 Vollkommen hilflos starrt sie auf den leblosen Körper.

 „Und jetzt? Mir glaubt doch keiner, dass die mir so einfach ins Auto gelaufen ist. Diese dumme Kuh. Ich hab doch gewusst, dass ich mit der noch mal Ärger kriege. Sieht fast so aus, als hätte sie das absichtlich gemacht. Trotzdem, ich muss was tun.“

 Also versucht sie es mit Wiederbelebungsversuchen. Glücklicherweise weiß sie noch jeden Griff genau. Hatten sie kürzlich erst im Kurs vom Roten Kreuz in ihrer Schule gehabt. Doch alle Versuche nützten nichts. Ihr Handy auch nichts, da wieder mal nicht aufgeladen. Und kein Auto auf dieser einsamen Landstraße. Was tun? Zunächst zieht sie den leblosen Körper von der Straße weg und legt ihn im Graben ab.

 „Und was nun?“ Sie hat die rettende Idee. Sie öffnet die Kofferraumklappe. „Großes Auto, kleiner Kofferraum.“ Sie wuchtet die tote Freundin da rein – „Gott, ist die schwer. Dagegen ist Bodybuilding geradezu ein Spaziergang!“ – und kutschiert sie in den nächsten Waldweg. Und siehe da: Unweit des Waldwegs erblickt sie eine Grube. Dahin schleift sie das Corpus Delicti, also das Beweisstück ihrer Tat. Schnell noch mit bloßen Händen Erde und Laub und Reisig darüber ausgebreitet. Und nichts wie ab.

 „Nein, so nicht!“, ruft sie sich zurück. „Ein Gebet soll sie noch bekommen.“

Auf dem Heimweg fühlt sie sich kein bisschen schlecht. Ganz im Gegenteil. Geradezu erleichtert fühlt sie sich. Zusehends wird ihr klar, dass sie eine große Belastung losgeworden ist. Carla war eine schlechte Freundin gewesen.

 „Nur der Tod konnte uns scheiden. Und das hat er in seiner Güte getan. Ich muss auch kein schlechtes Gewissen haben. Gut, ich hab zwar ein Auto entwendet, bin ohne Führerschein gefahren und hab Alkohol getrunken, also nur ein ganz wenig, aber deshalb ist mir diese dumme Kuh ja nicht vors Auto gelaufen.“

 Sie hantiert am Radio herum und trällert einen der Songs mit, ihren Lieblingssong, das heißt, eigentlich den Lieblingssong ihres Vaters, einen Oldie: „Drah dich net um, der Kommissar geht um …“ Ihre Stimmung könnte nicht besser sein.

 Doch – sie zuckt zusammen – Fragen tauchen auf, ganz unangenehme Fragen: „Wie erkläre ich die Beule an dem schönen Auto? Oh Gott, was ist, wenn Försters Hund die Leiche erschnüffelt? Und was erst, wenn …?“

 Sie schreckt hoch, sitzt in ihrem Bett, aufgeschreckt und klatschnass geschwitzt. Von Zeit zu Zeit hat sie Albträume dieser unheimlichen Art. Und allen ist gemeinsam, dass ihre Freundin Carla darin die Hauptrolle spielt. In regelmäßigen Abständen schauen sie bei ihr rein, wie gute Freunde es so tun. Nur sind diese hier alles andere als gute Freunde, jedenfalls kann sie sich nicht mit ihnen anfreunden, beim besten Willen nicht.

 Sie ist fast vierzehn Jahre jung und hofft mit zunehmendem Alter diese unerfreulichen Gesellen loszuwerden. Aber haben nicht auch Erwachsene Albträume? Ihre Mutter jedenfalls scheint davon nicht verschont zu sein. So wie die von Zeit zu Zeit des Nachts aufschreit. Hat sie vielleicht die gleichen Albträume wie ihre Tochter im Zimmer nebenan? Dann wäre es wohl an der Zeit, sie mal darauf anzusprechen. Oder lieber doch nicht?

 „Mama, was ich dich schon immer mal fragen wollte. Du schreist nachts immer so. Hast du da Albträume? So mit Spinnen – oder fährst du laufend Fußgänger tot? Oder …?“ Nein, lieber doch nicht fragen.

 Bleibt allerdings der Verdacht, dass die Albträume von Mutter und Tochter identisch sein könnten, als nette Gabe dem Erbgut beigepackt. Würde das dann bedeuten, dass diese „guten Freunde“ ihr bis ans Lebensende erhalten blieben? Oder könnte sie diese aufdringlichen Kerle doch noch rechtzeitig abschütteln?

 Also, mit den Spinnenträumen ist ihr das tatsächlich gelungen. Da waren doch immer so grässliche Riesenspinnen auf sie zugekommen. Und jedes Mal vor dem Einschlafen hatte sie sich vorgenommen, diesen Exoten auf eine besondere Art zu begegnen. Das Rezept war ganz einfach. Wann immer diese Krabbler aufkreuzten, rief sie ihnen prompt zu: „Da muss ich ja mal laut lachen, ihr blöden Viecher, euch gibt es doch gar nicht in unseren Breiten!“ Und dann hatten sie sich in Luft aufgelöst. Bei unseren heimischen Hausspinnen half der Trick eher nicht. Aber das sind ja auch liebe Tierchen, die eher weglaufen. Und das tun sie im Traum so wie in der Wirklichkeit, meistens jedenfalls.

 Ja, ja, Spinnenträume, Rattenträume, Schlangenträume – sie alle kommen und gehen. Aber diese unheimlichen Carla-Träume, von denen einer ihr heute wieder einen Besuch abgestattet hatte, sie kommen immer wieder. Und sie bleiben. Da ist nichts mehr mit Weiterschlafen, da gibt’s keine Trickkiste, aus der mal schnell etwas rausgekramt wird, nein, hier verharrt der Horror und will auch am folgenden helllichten Tag nicht so richtig weichen. Am Morgen in der Schule zum Beispiel raubt er ihre Aufmerksamkeit und erfreut die Lehrer, die ja für ihr Leben gern haben, wenn man ihnen nicht zuhört und stattdessen von interessanteren Dingen träumt. Wenn die wüssten, was sich da gerade so alles abspielt in den Köpfen der ewig träumenden Schüler!

 In Geschichte bei Otto dem Großen – oder hieß der Karl? – auch egal – da wurde sie kürzlich wieder einmal unsanft aus ihren Träumen geweckt.

 „Gila, würdest du bitte wiederholen!“ Dann in strengerem Ton: „Gila, wir haben nicht ewig Zeit!“

 „Meinen Sie mich?“, hauchte es da verschlafen aus der Ecke der letzten Bank, worauf sie dann ruhig weiterträumte bei Otto und Co.

 Und am Nachmittag, da ging das Träumen glatt weiter, im Laden um die Ecke und im Supermarkt, wo sie über aufgestapelte Dosen stolperte und sogar zu bezahlen vergaß – ein wahres Kunststück bei den Aldis und Lidls! – und dann brachte sie auch noch Dinge heim, die man nun wirklich überhaupt nicht gebrauchen konnte.

 „Gila, was soll denn der Opa mit dem Hundefutter anstellen, wo es doch in unserer Familie gar keinen Hund gibt? Studentenfutter wollte er haben. Und was soll das denn? Pampers?“

 „Ja, für die Oma, oder?“

 „Für die Oma solltest du Papier, Klopapier mitbringen. Pampers für die Oma! Das ist schon fast eine Frechheit! Und die Seife sollte im billigen Drogeriemarkt gekauft werden und nicht in der teuren Apotheke.“ Die Liste der Fehlschläge am Tage infolge der Tiefschläge in der Nacht war stets lang und könnte noch beliebig fortgeführt werden. Und immer wieder das gleiche Gejammer.

 „Gila, Gila, was hast du nur im Kopf? Noch nicht mal einkaufen kann man dich schicken. Alles muss man selber machen.“

 Sie wusste nicht, welcher ihrer Albträume der Schrecklichere war. Im Augenblick war es wohl der mit der Leiche, der sie ständig heimsuchte. Nun sind Leichen an sich schon schrecklich genug, jedenfalls für den, der sich nicht professionell damit zu befassen hat. Wenn man allerdings mit ihnen umgeht, wie in unserem Falle geschehen, dann braucht man sich über Albträume nicht zu wundern, die dann so intensiv erlebt werden, dass man Minuten, vielleicht sogar Stunden später oder eben am Tag darauf noch das Gefühl hat, das Geträumte wirklich erlebt zu haben. Und so wird unserem Hirn vorgegaukelt, dass es hier tatsächlich etwas Schreckliches gegeben hat, das nun in weiteren Albträumen seine Erlösung sucht, aber nicht findet, zumal dann nicht, wenn einige Albträume, wie bereits vermutet, obendrein auch noch genetisch bedingt, also vererbt sein können.

Carla war ein einziger Albtraum. So auch wieder hier. Ort der Handlung: das Freibad. Sie steht mit Carla am Beckenrand. In der Nähe raufen sich Jungens in ihrem Alter, was sie nur so am Rande registriert. Doch dann plötzlich kriegt sie einen Stoß in den Rücken, verliert das Gleichgewicht. Sie sieht die Wasserfläche auf sich zukommen, die sie verschlingen wird mit Haut und Haar. „Das hier wird mein Ende sein, weil ich Blöde nicht schwimmen kann. Dumm gelaufen das Ganze. Was hab ich auch am Beckenrand des Schwimmerbeckens zu suchen!“ Es tut einen entsetzlichen Platscher. Danach Gluckern in den Ohren. Und es geht abwärts, abwärts in den Höllenschlund.

 „Wenn ich doch bloß schwimmen könnte! Wenn ich bloß schwimmen könnte! Aber warum denn nicht?“

 Und jetzt geschieht das Einmalige. Sie macht die Bewegungen mit den Armen und Händen, die sie immer beobachtet hatte, wenn Schwimmer nach einem Köpfer aus der Tiefe wieder hochkamen. Und siehe da, es geht aufwärts. Es wird heller und heller und draußen ist ihr Kopf. Noch zwei, drei Bewegungen wie zuvor und sie bekommt die Leiter zu fassen. Ihr Herz klopft wie verrückt und ihr ist gar nicht wohl zumute, obwohl sie sich so toll gerettet hat. Niemand schien das Ganze mitbekommen zu haben. Auch Carla nicht am Beckenrand? Schon seltsam!

 „Was wäre, wenn ich nicht diese Schwimmbewegungen unternommen hätte? Ich wäre abgesoffen, ganz leise, unbemerkt. Später dann wär ich wieder aufgetaucht, so wie das alle Wasserleichen machen. Wäre auf dem Wasser getrieben. Vielleicht hätte man mich am nächsten Tag erst entdeckt. Scheußlich, scheußlich!“ So musste sie immer wieder denken. Auch diesmal war der Albtraum nicht mit dem Aufwachen vorbei. Oft gab es Fortsetzungen im darauffolgenden Traum und der Schock reichte, wie so oft zuvor, noch bis in den folgenden Tag hinein.

 Und doch! Ihre Albträume hatten auch etwas Faszinierendes an sich. Es hatte lange gedauert, bis sie das begriff. Der mit der Leiche sollte dann auch das perfekte Verbrechen werden und damit Ruhe und Frieden für ihre geplagte Seele. Ihr schlechtes Gewissen hatte ihr immer und immer wieder gesagt, dass es in jedem Falle kriminell gewesen war, was sie da getan hatte. Da half kein Wenn und Aber. Jedenfalls hätten Polizei und Richter das so gesehen. Man hätte ihr Mordabsichten unterstellt. Sie hörte den Staatsanwalt donnern: „Vergräbt man denn klammheimlich einen Toten? Das macht doch nur jemand, der Dreck am Stecken hat, oder wie sehen Sie das, verehrte Geschworene?“

 Sie sah das Kopfschütteln der Leute im Saal – unter ihnen Freunde und Bekannte – sie sah die enttäuschten Gesichter ihrer Eltern, auch die einiger Lehrer, die Haare zu Berge gesträubt. Sie hörte das Urteil des Richters, grollend und unbarmherzig: „Kaltblütiger Mord. Mordmotiv: Hass. Jugendarrest. Anschließend Sicherheitsverwahrung.“

 Das alles würde es nun nicht mehr geben, denn sie hatte die ideale Lösung gefunden. „Ich werde die Leiche wieder ausgraben und einfach dorthin schleppen, wo sie ja eigentlich auch hingehört, und ihr ein annähernd christliches Begräbnis geben. Und wo? Auf dem Friedhof natürlich. Da schnüffelt nicht Försters Hund, wie überhaupt Hunde auf Friedhöfen äußerst selten anzutreffen sind.“ Es gab da nur ein kleines Problem: Es musste ihr gelingen, diese perfekte Lösung in ihren Traum einzubauen. Wie ihr das dann schließlich gelang, wird wohl immer ihr Geheimnis bleiben.

 Ja, und mit dem anderen Albtraum wurde sie auch fertig. Den wurde sie auch los, denn sie hatte sich zu einem Schwimmkurs angemeldet. Auch da gab es viel zu tun, denn sie war passionierte Nichtschwimmerin. Wasser hatte für sie stets den gleichen Horror gehabt wie das Weihwasser für den Teufel. Ins Schwimmbad war sie bisher nur gegangen, um sich auf der Wiese faul in der Sonne zu rekeln – oder halt mal dumm am Beckenrand zu stehen und den Schwimmern bei ihren Künsten zuzusehen, im entsprechenden Abstand zum Becken natürlich, versteht sich.

 Nach einem halben Jahr war sie bereits die perfekte Schwimmerin, mit Freischwimmerabzeichen und Pferdchen. Es war ihr ein Rätsel, wie sie vorher nur solche Angst vor dem Wasser hatte haben können. Sie sprang freudig ins tiefe Becken, selbst vom Dreimeterbrett.

 „Wann gehst du denn endlich mal aufs Fünfmeterbrett?“, hatten ihre Klassenkameradinnen immer und immer wieder gefragt.

 „Aber da war ich doch schon.“

 „Klar doch. Bist aber nicht gesprungen.“

 „Hab aber schon mal Maß genommen. Muss mich erst mal an die Höhe gewöhnen. Und was ist mit euch? Wart ihr schon mal auf dem Zehnmeterbrett?“

 Es erübrigt sich fast schon zu erwähnen, dass der böse Traum mit der Angst vor dem Ersaufen immer seltener kam. Bald würde er für immer verschwunden sein, weil sie, wie jeder andere Schwimmer ja auch, selbst aus der Tiefe geradezu von alleine wieder hochkam. Das Wasser hatte somit am Tage wie auch in der Nacht seinen Schrecken verloren.

 Manchmal spielte der Traum auf hoher See. Da stürzte sie sich vom Rand des Kreuzfahrtschiffes in die Wellen. Das reinste Vergnügen!

 „Wenn das meine Freundinnen sehen könnten! Die mit ihrem blöden Fünfmeterbrett!“ Eines Tages war dann dieser böse Traum endgültig ausgeträumt. Aus der Traum, aus die Maus. Keine bösen Träume mehr?

 Doch! Einen gab es noch, doch der währte nicht lange. Sie steht auf einer hohen Klippe, etwa zwanzig Meter über dem Meer. Carla steht neben ihr. Die Aufwinde sind stark und erfassen sie. Plötzlich bekommt sie einen Stoß. Und dieser Stoß erfolgt von hinten.

Schon seltsam! Sie tut einen langen Schrei und lang ist auch ihr Sturz von der Klippe, endlos lang. Sie bekommt kaum noch Luft und ihre Sinne wollen schwinden. Doch dann geschieht das Unfassbare. Sie erinnert sich noch rechtzeitig an eine ähnliche Situation, ähnlich gefährlich und tödlich.

 Sie öffnet die Arme. Sie bewegt sie. Und ihre Beine tun ein Übriges. Sie kann es nicht fassen. Erst langsam, dann immer schneller wird der freie Fall abgebremst. Und sie fliegt. Sie schwimmt in der Luft, beginnt zu kreisen, zieht ihre Schleifen und schwebt hoch über dem Meer. Die Winde werden schwächer. Dann noch zwei, drei Runden über der Wasseroberfläche, bis sie schließlich ganz sanft auf dieser landet und schwimmend, vollkommen unversehrt, das Land erreicht.

Mit einem strahlenden Lächeln wacht sie auf, noch immer fasziniert von diesem grandiosen Erlebnis.

Erst Stunden später findet sie wieder Schlaf. Noch ahnt sie nicht, wie dieser Traum ihr Leben verändern wird. Und das schon sehr bald.

 

ICH BIN AQUILA – DER GEWALTIGSTE, DER MÄCHTIGSTE ALLER VÖGEL

 

Während eines Urlaubs in den Bergen gelangte sie auf einer Wanderung weit in die Höhen empor. Sie war in Begleitung ihrer Freundin Carla. Carlas Eltern und ihr Bruder hatten sich mehr Zeit gelassen und waren noch nicht eingetroffen an dieser markanten Stelle mit der einmalig schönen Aussicht über das Tal unter ihnen und die Berge dahinter. Doch anstatt die herrliche Bergwelt zu genießen und den Blick über die markanten Dreitausender schweifen zu lassen, so wie es Carla tat, drehte sie dieser Panoramawelt sogar den Rücken zu. Etwas noch Faszinierenderes hatte sie in den Bann gezogen und entlockte ihr Schreie des Entzückens.

 Hinter ihnen befand sich eine steile Felswand von beachtlicher Höhe. Und in dieser Höhe bewegte sich etwas, löste sich aus der Wand heraus und schwebte jetzt über sie hinweg auf das Tal zu. Dann drehte es und jetzt sah auch Carla, was es da so Besonderes zu sehen gab. Ein riesiger Vogel mit weit ausgebreiteten Flügeln drehte seine Kreise über dem Tal. Mal verlor er an Höhe, mal gewann er wieder an Höhe. Er segelte, er kreiste, er schien fast stillzustehen, dann wieder wiegte er sich, gewann an Tempo, bremste ab. Er war der Herr der Lüfte. Souverän, erhaben, königlich, ein Meister in der Kunst des Fliegens. Jetzt nahm er wieder Kurs auf seinen Felsen. Hoch über ihnen schwenkte er in seinen Hafen ein. Eine ganze Weile verharrten beide Mädchen in Staunen, bis eines von ihnen die Sprache wiederfand.

 „Hast du das gesehen? Weißt du, was das war? Das war ein Adler. Mensch, Carla, Aquila war das, der stolze Herr der Lüfte, Herr der Berge!“ Sie schrie und tobte, streckte sich hoch, streckte sich runter, ihre Arme wurden Flügel und sie segelte um ihre Freundin herum. Mal beugte sie sich nach links, mal nach rechts. Sie war ganz Adler, sie war Aquila. „Achtung! Pass auf!“, schrie sie Carla zu. „Jetzt kommt der große Adler.“ Und „Aquila, Aquila, Aquila“, tönte sie unentwegt und bemerkte gar nicht, dass inzwischen Carlas Eltern und ihr Bruder angekommen waren. „Ich bin Aquila – der gewaltigste, der mächtigste aller Vögel. Alle anderen sind Geier und Spatzen!“ Dann formte sie einen Trichter um ihren Mund und rief den Bergen zu: „A q u i l a …, A a q u i l a …, A a a q u i l a!“ Und die Berge grüßten zurück: „A q u i l a, A a q u i l a …!“

 Ab dieser Zeit, für alle Zeiten, war sie Aquila. Ein neuer Adler war geboren, genauer gesagt, eine Adlerin, ein unbeholfenes Küken, die Eierschale noch hinter den Ohren, fast nackt, mit leichtem Flaum.

 „Wisst ihr denn überhaupt, welcher Sprache das Wort ‚Aquila‘ angehört?“, fragte Carlas Vater wichtigtuerisch und blickte prüfend von einem zum anderen, wobei sein Blick eindeutig verriet, dass er die Frage gerne von Aquila selbst beantwortet haben wollte. Die Antwort kam dann auch wie aus der Pistole geschossen und hätte jeden Lateinlehrer erfreut.

 „Aquila ist ein lateinisches Wort. Die Römer sprachen diese Sprache. Und heute gibt es noch eine Stadt in Italien, die Aquila heißt. Und die römischen Standarten zierte ein Adler. Selbst im Bundestag hängt ein Adler. So, jetzt wisst ihr’s. Noch Fragen?“

 „Also, der komische Vogel da im Bundestag scheint mir eher ein Geier zu sein“, lachte der Vater und Ronny, sein Sohn, prustete heraus: „Ja, ja, ein Pleitegeier!“

 „In der Tat, bei den horrenden Milliarden von Schulden!“, wusste die Mutter noch anzumerken und meinte weiter: „Sind halt unsere großen Vorbilder. Die Großbanken reiben sich die Hände bei den gewaltigen Zinsen. Mal sehen, wie das alles noch so enden wird.“ Eine Weile hingen sie noch ihren Gedanken nach, bis sie einer nach dem anderen wieder zu der bezaubernden Landschaft zurückfanden.

 Es waren stets die Sommerferien, die Aquila mit dieser Familie dort in den Bergen verbringen durfte. Ihre Eltern hatten dafür kein Geld. Ihr Vater war als Gärtner bei ihnen angestellt und die Mutter putzte dort. Sie waren sehr wohlhabend, diese Leute. Sie waren wohl ein altes Adelsgeschlecht. Genaues war da nicht zu erfahren. Sie wohnten in einer prachtvollen Villa, die von einem kleinen Hügel hinunterschaute auf den von Aquilas Vater gepflegten Park, an dessen Ende ihr bescheidenes Gärtnerhäuschen stand.

 Aquila hatte sich inzwischen mit Carla angefreundet, das heißt, eigentlich hatte Carla sich mit Aquila angefreundet, oder noch besser gesagt, Carlas Mutter hatte diese Freundschaft ins Leben gerufen, denn Carla sollte doch wenigstens eine Freundin in ihrem Leben haben.

 „Sie ist ein äußerst schwieriges Kind“, so beklagten sich die Lehrer oft bei ihren Eltern.

 „Die ist so was von arrogant und egoistisch. Total nervig, einfach ätzend“, so redeten die Mitschülerinnen über sie und für die Jungens in ihrer Klasse war sie nur eine freudlose Zicke.

 „Du bist ein ungehorsames, freches und boshaftes Mädchen, ein richtiges Biest bist du“, so hörte man oft die Mutter schimpfen. Kurzum, sie hatte den Charme einer Klobürste, wie es mal ein Pädagoge liebevoll formuliert hatte.

 Der Einzige, der Carla mochte, war ihr Vater, was nicht sonderlich verwunderte, weil der meistens nicht daheim war. Sein Familienleben bestand in erster Linie aus der Jagd. Dann pflegte er noch den Reitsport. Sein Vergnügen suche er gelegentlich auch bei zahlreichen Damen, so erzählte man sich. Somit kannte er seine Tochter und den üblen Ruf, den sie hatte, eher aus zweiter als aus erster Hand. Und wann immer er von den Schandtaten seines geliebten Töchterchens hörte, war er höchst erstaunt und nicht in der Lage, dem lästigen Geplärr seiner Frau auch nur annähernd Glauben zu schenken. Erst kürzlich hatte Carla vom Zimmer nebenan ihre Eltern mal wieder streiten gehört.

 „Ich weiß nicht, was du da immer hast, Frau. Und wenn da mal was ist, das sind doch alles nur Kleinigkeiten. Schließlich steckt sie noch voll in der Pubertät.“

 „Genau, du sagst es. Nichts ist schlimmer als eine pubertierende Tochter.“

 Wann immer er auf diese pubertierende Tochter traf, war sie liebenswert, war wie eine Schmusekatze und wusste wie eine solche zärtlich zu schnurren und ihn zu umgarnen. Und so manches Mal erfuhr er auf diese Weise, was die böse Mama dem Töchterchen in ihrem Geiz so alles vorenthalten hatte, worauf er oftmals seine Brieftasche zückte und der so sträflich vernachlässigten Tochter ein ansehnliches Scheinchen in die Hand drückte, natürlich mit der selbstverständlichen Bitte, ja kein Wörtchen darüber verlauten zu lassen, vor allem nicht der Mutter gegenüber. Das war ihr gemeinsames großes Geheimnis und Carla war nicht so dumm, dieses Geheimnis in irgendeiner Weise auszuplaudern. Die Mutter fragte sich nur des Öfteren, woher denn das luxuriöse Fahrrad komme oder die neue Lederjacke. Das waren natürlich alles großzügige Leihgaben von Mitschülern, die liebevollere Eltern hatten als sie. Und weil sie so sehr an diesen schönen Dingen hing, durfte sie die am Ende sogar behalten, bis sie sie selber verschenkte und durch etwas Moderneres ersetzte.

 Sie gingen in dieselbe Schule, aber nicht in dieselbe Klasse. Carla war ein Jahr älter als Aquila und ging somit in die Klasse über ihr. Wenn Aquila ihre Freundin mal etwas Schulisches fragte, also eine mathematische Formel erklärt haben wollte oder eine Vokabel nicht wusste, zeigte Carla ihr wahres Gesicht.

 „Carla, kannst du dich noch an die Dreisatzrechnung erinnern? Da hast du doch im letzten Jahr die Zwei geschrieben. Am Montag schreiben wir ’ne Arbeit darüber.“

 „Nee, tut mir leid, hab alles vergessen. Musst halt im Unterricht aufpassen und nicht immer so vor dich hinträumen.“

 „Könntest du mir denn wenigstens die Arbeit vom letzten Jahr geben?“

 „Hab ich nimmer.“

 „Aber du hast mir doch versprochen, alle Arbeiten für mich aufzuheben, wenigstens die von den faulen Säcken, weißt du, den Paukern, die jedes Jahr die gleichen Arbeiten schreiben lassen.“

 „Ja, ja, weiß ich. Aber im Augenblick habe ich keine Zeit, die jetzt für dich rauszukramen. Musst du halt warten. Was kommst du auch immer auf den letzten Drücker.“

 Aquila hatte geduldig und vergeblich gewartet wie schon die Male zuvor. „Was ist das bloß für eine Scheißfreundin, die ich da habe. Dieses Miststück! Was hab ich schon alles für die getan! Letzte Woche erst. Hab ihr den Platten an ihrem E-Bike geflickt in der Hoffnung, auch einmal mit dem Rad fahren zu dürfen. Aber Pfeifendeckel! Die dachte nicht daran, diese undankbare Kuh. Warum bin ich mit der überhaupt noch befreundet? Mit der hab ich wirklich die goldene Arschkarte gezogen.“ So jammerte sie vor sich hin und rannte anschließend zu ihrer Mutter. Dort weinte sie sich einmal mehr bei ihr aus über so viel Egoismus und Gemeinheit.

 „Ach, Kind, du weißt doch, warum wir uns mit den Vanderbruiks gut stellen müssen“, waren dann stets die Worte, die sie auch diesmal wieder zu hören bekam. „Sie geben uns Arbeit und damit unser tägliches Brot. Und denk doch auch an deine schönen Urlaube mit ihnen. Wir dürfen sie auf keinen Fall verärgern.“

 Sie hatte allmählich begriffen, dass hier ein großes Opfer zu erbringen war. Sie hatte sich in ihr Schicksal zu fügen, wusste sie doch, dass ihre Eltern und somit letzten Endes auch sie selbst von dem arroganten Pack von nebenan abhängig waren. Also versuchte sie einmal mehr, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und tapfer ihre unangenehme Rolle einer guten Freundin weiter zu spielen, wenngleich sie dieses Scheusal von Freundin oftmals lieber gegen die Wand geklatscht hätte.

 Carlas Bruder Ronny war gänzlich anders. Er war zwei Jahre älter als Aquila und hätte ihr bestimmt jederzeit geholfen, wenn er da gewesen wäre. Doch ihn bekam sie nur in den Ferien zu sehen, denn er besuchte ein Internat in Bayern, im schönen Frankenland. Am liebsten wäre sie da mal hingefahren. Sie fühlte sich sehr zu ihm hingezogen. Er war immer freundlich zu ihr und manchmal schaute er sie so seltsam an. Dann hatte er so etwas Trauriges in seinem Blick. Wie auch immer, seine großen braunen Augen hatten etwas Sanftes an sich. Sie fühlte sich einfach wohl in seiner Gesellschaft.

 „Wie können Geschwister nur so verschieden sein“, fragte sich Aquila immer und immer wieder, „so verschieden in Aussehen und Charakter?“

 Carla wich ihrer Freundin nicht von der Seite, wenn Ronny in der Nähe war, was sich besonders im gemeinsamen Urlaub zeigte. Ihr Verhalten mutete schon fast wie Eifersucht an, jedenfalls wollte sie Aquila für sich alleine. Auch bei Feten und Partys aller Art, wenn viele Gäste geladen waren und Carla nicht im Mittelpunkt stand. Dann hatte sie alle Mühe, sich mit ihrer Eifersucht zurückzuhalten. Der Neid stand ihr ins Gesicht geschrieben, wenn sie mit ansehen musste, wie beliebt Aquila bei ihren Freundinnen war. In solchen Augenblicken wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie isoliert war, hier und immer, verdammt, als Einzelgängerin durchs Leben zu gehen, gemieden von all denen, deren Freundin sie gerne gewesen wäre, die sie aber nicht wollten. So auch an Aquilas vierzehntem Geburtstag.

Der wunderschöne Park diente wieder einmal als Kulisse für die vielen tollen Spiele und den Geburtstagskaffee im Schatten der alten Eichen und Buchen. Fast alle ihre Schulkameradinnen waren erschienen, hatten sie mit Geschenken geradezu überhäuft. Das schönste Geschenk jedoch hatte sie von ihren Eltern bekommen: ein wunderschönes Smartphone mit der neuesten Technik. Es war ihr ein wenig peinlich, wie sie von ihren Freundinnen beneidet wurde. „Obendrein hat das gute Stück gewiss auch noch gewaltig Kohle gekostet. Da haben meine lieben Eltern ganz schön ihre Moneten zusammengekratzt“, musste sie immer wieder denken und nahm sich vor, demnächst eine noch liebere Tochter zu sein.

 Niemand vermisste das einsame Kind, das sich aus ihrer Mitte in eine Ecke gestohlen hatte und dort in sich hinein weinte. An solchen Tagen gehörte sie einfach nicht dazu und Aquila genoss auch diesmal wieder das zu tun, was sie sich immer wieder gewünscht hatte und was ihr Spaß machte: Einfach mal ausgelassen zu sein und sich ihres Lebens zu erfreuen zusammen mit all ihren Freundinnen.

 Als abends dann die Gäste verabschiedet waren, kroch Carla langsam aus ihrem Verlies und schlich zum Gärtnerhaus, wo das Geburtstagskind noch vor dem Haus auf der kleinen Bank saß und an den schönen Nachmittag zurückdachte. In Carlas Trauer hatte sich inzwischen Wut gemischt, Wut über ihre Freundin, die sie an diesem Tag so unbarmherzig vernachlässigt hatte.

 „Hast dich ja toll amüsiert“, zischelte sie und baute sich mächtig vor ihr auf.

 „Hatte ja auch allen Grund. War schließlich mein Geburtstag, oder?“

 „Und ich war Luft für dich. Sonst heißt es immer ‚Carla hier, Carla dort‘, aber heute hattest du ja genügend andere Freundinnen. Da kamst du gut ohne mich aus. Das kannst du von mir aus immer so haben. Heute warst du nicht für mich da, morgen und die nächste Zeit bin ich nicht mehr für dich da.“

 „Ganz wie du willst. Ich dräng’ mich dir nicht auf. Also, worauf wartest du noch. Schleich dich! Auf, mach die Fliege!“

 Carla zögerte noch einen Augenblick, als wollte sie noch etwas sagen, beließ es aber dabei, drehte sich um und ging langsam auf ihr Haus zu. Aquila glaubte, jemanden schluchzen zu hören und spürte, wie sie ihre harten Worte bereits bereute. Sie erhob sich und für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als wollte sie ihrer Freundin nachlaufen. Sie entschied sich jedoch anders, dachte noch einmal an den schönen Tag zurück, der nun so traurig geendet hatte.

 Für ihre Freundin hätte er beinahe tragisch geendet. Was Aquila an diesem Abend nicht wissen konnte und auch erst viel später erfahren hatte, war der spontane Selbstmordversuch ihrer Freundin. Und da dies nicht der erste dieser Art war, hatte man es auch nicht gewagt, sie wie ihre Schwester und ihren Bruder weit von zu Hause weg in ein Internat zu stecken.

 Aquilas Vater hatte sofort gemerkt, dass mit seiner Tochter etwas nicht stimmte.

 „Sag, Kleines, ist was mit dir? War es kein schöner Geburtstag gewesen heute?“

 „Doch, doch, aber ich bin jetzt müde. Ich glaub’, ich geh in mein Zimmer und leg mich schlafen.“

 „Was? Um diese Zeit schon? Schau mal auf die Uhr! Komm doch mal zu mir her und sag mir endlich, was los ist. Wir beide haben doch keine Geheimnisse voreinander, oder?“ Vater und Tochter waren ein Herz und eine Seele. Geheimnisse hatten sie noch nie voreinander gehabt. Er jedenfalls nicht. Und so begab sie sich zu ihm, setzte sich auf seinen Schoß, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. Ihr Vater streichelte ihr Haar und ihr Gesicht, wobei er die Tränen in ihren Augen bemerkte. Sie erzählte ihrem Vater alles. Sie berichtete von dem wunderschönen Geburtstagsnachmittag, kam dann auf die Probleme zu sprechen, die sie ständig mit Carla hatte, und schließlich auf den Wortwechsel mit ihrer lieben Freundin an diesem Abend. Ihr Vater hörte sich das alles in Ruhe an, nickte manchmal nahezu verständnisvoll und sah ihr zum Schluss geradewegs ins Gesicht. Sein Blick war ernst und was er nun sagte, sagte er langsam und sorgenvoll.

 „Gila“, er nannte sie bei ihrem Vornamen, „Gila, ich kann deinen Ärger verstehen. Trotzdem muss ich dir sagen, du hättest so nicht mit ihr sprechen dürfen. Du hast das Mädchen verletzt.“ Aquila sprang auf und ehe sie etwas zu sagen vermochte, fuhr ihr Vater fort: „Selbst wenn ich einräume, dass ihre Worte ebenfalls verletzend waren, ja, ja, das tu ich, bleibe ich dabei. Du hast sie verletzt, und zwar so, dass ihr nichts anderes übrig blieb als zu gehen. Du hast sie geradezu aus ihrem eigenen Haus rausgeschmissen, doch, doch, denn unser Gärtnerhaus und das ganze Gelände drum herum gehört immer noch ihnen, wir dürfen nur hier wohnen. Ja, so ist das, mein Kleines.“

 „Ich gehe nicht hin und entschuldige mich, wenn du das meinst, Papa, auf keinen Fall. Die soll mal über ihr Verhalten nachdenken. So geht das sowieso nicht weiter. Ich will so eine nicht als Freundin. Ich hab mir bis jetzt so viel gefallen lassen. Ich bin’s leid, endgültig leid.“

 „Ich kann nur hoffen, dass sie dann zu dir zurückkommt. Andernfalls haben wir ein Problem, es sei denn, du überlegst es dir noch einmal.“ Des Vaters Stirn zeigte Sorgenfalten, wie Aquila sie noch nie bei ihrem Vater gesehen hatte. Er strich sich durchs Haar, schaute sie noch einmal sehr ernst an und verließ den Raum, langsam, fast strauchelnd, wie ein alter Mann.

 Am folgenden Tag sprach dann auch die Mutter mit ihrer Tochter ein ernstes Wort, doch die zeigte sich unversöhnlich. Allerdings gab die Mutter nicht so schnell auf. Schon im Kindesalter war Aquila, und das besonders in schwierigen Zeiten, alle Liebe ihrer Mutter zuteil geworden. Und so geschah es auch an diesem Tag. Sie drückte ihre Tochter und streichelte sie. Dann sprach sie zu ihr leise und verständnisvoll und ihre Worte klangen wie Musik, als sie eine kleine Geschichte wagte.

 „Es gibt da eine wunderschöne Geschichte“, begann sie, „die ich dir mal gerne erzählen möchte. Sie handelt von einem großen Adler und einer kleinen Maus. Sie kannten sich von klein auf und waren mit der Zeit Freunde geworden. Der Adler hatte sich zu einem starken und mächtigen Vogel entwickelt, während die Maus klein und unbedeutend geblieben war. Der Adler thronte in einem gewaltigen Horst hoch oben in den Bergen, genoss die edelsten Speisen, Kaninchen und anderes Kleingetier, während die Maus in einer mickrigen Höhle wohnte und sich nur von Würzelchen ernährte. Aber die Maus hatte etwas, was der mächtige Adler nicht hatte: Sie hatte Freunde. Mit diesen Freunden hatte sie viel Spaß. Sie trafen sich oft und spielten die schönsten Spiele miteinander. Der Adler durfte dabei sein, doch weil man ihn, den König der Lüfte, nicht genügend wahrnahm an solchen Tagen, war er enttäuscht, beleidigt, erzürnt und verbittert. Wann immer er nicht der Größte war, sah er sich in seinem Stolz verletzt und zog sich schmollend zurück. Das Schlimmste für ihn war, dass das die Mäuse nicht im Geringsten störte und sie auch ohne den großen Vogel viel Spaß hatten. Und was sagt uns diese Geschichte? Wer arrogant ist und sich für den Größten hält, hat keine Freunde. Und: Was kann die Maus dazu, dass der Adler so ist? Das ist allein seine Schuld, ist sein Problem. Deshalb muss die Maus doch nicht betrübt sein. Der Adler hat ihr doch nichts getan. Er hat sich nur selber geschadet. Und wenn er am Ende noch so viel schimpft und der Maus die Schuld geben will, das geht der Maus doch, du weißt schon …“

 „Ja, am Arsch vorbei. Trotzdem – für mich hat der Adler die Maus beleidigt und das muss sich die Maus nicht gefallen lassen, oder?“