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Jürgen Rüttgers

Mehr
Demokratie
in Europa

Jürgen Rüttgers

Mehr Demokratie
in Europa

Die Wahrheit über
Europas Zukunft

Tectum Verlag

Herausgegeben von
Bonner Akademie für Forschung und Lehre
praktischer Politik (BAPP) GmbH

Jürgen Rüttgers

Mehr Demokratie in Europa.
Die Wahrheit über Europas Zukunft

© Tectum Verlag Marburg, 2016

ISBN: 978-3-8288-6596-9
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3806-2 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlagabbildung: photocase.com © kemai (bearbeitet)
Umschlaggestaltung, Satz, Layout:
Norman Rinkenberger | Tectum Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen
der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

I. Der Untergang Europas findet auf Weiteres nicht statt

II. Die Folgen der Europäischen Revolution von 1989 / 90

Die Trennung von Staat und Nation

Legitimierung durch Demokratie

III. Wer ist das Volk?

Das Volk ist der Souverän

Das deutsche Volk will Europa

Jeder Deutsche ist gleichzeitig europäischer Bürger

IV. Europa ist ein Staat

Europa ist genauso demokratisch wie seine Mitgliedsstaaten

Was ist ein Staat?

V. Die Nation in Europa

Staat und Nation sind keine Einheit

Wer ist die Nation?

Staaten brauchen Werte

Nationen müssen offen sein

Gibt es überhaupt Nationalstaaten in Europa?

Europa und Nationen sind keine Gegensätze

Die Zukunft Europas

»Nation – ja, Nationalstaat – nein«

Europa sichert das Überleben der Nationen

VI. Wer ist Europa?

Schriftenverzeichnis

Zum Autor und Dank

Anmerkungen

I. Der Untergang Europas findet auf
Weiteres nicht statt

Obwohl die Briten mit Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) gestimmt haben, die britische Boulevardpresse das Ende Europas beschworen hat und manch deutscher Kommentator sich freudig in die Beschreibung der neuen Europa-krise gestürzt hat, ist »die Sonne dennoch wieder aufgegangen«, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert im Deutschen Bundestag festgestellt hat.

Eilfertig hatten Politiker in Europa nach dem Sieg der Europagegner eine Grundsanierung Europas, eine Neugründung, einen Kurswechsel, gar eine Revision der europäischen Verfassungsverträge gefordert. In Wirklichkeit gab es weder auf der Insel noch auf dem Festland einen Plan, wie denn ein solcher Austritt durchzuführen sei. Der Verursacher der Volksabstimmung David Cameron gab in schöner Offenheit im Unterhaus zu, erst einmal ohne zeitlichen Druck die Sachlage klären zu wollen. Er selbst wolle dann im Herbst zurücktreten, damit seine Partei bis dahin einen neuen Premierminister finden könne.

Auch die Gewinner des Brexit-Lagers sind uneins. Die vom inzwischen zurückgetretenen Nigel Farage gegründete Ukip will strenge Kontrollen der Zuwanderung und wirtschaftliche Abschottung. Der ehemalige Mayor of London Boris Johnson, der seinen alten Gegner Cameron stürzen wollte, versprach nach einem Wochenende in seinem Landhaus, dass sich nichts Wesentliches ändern werde. Alles bleibe wie zuvor, niemand müsse sich Sorgen machen, um dann zu erklären, dass er der falsche Mann für das Amt des Premierministers sei.

Übrig bleibt ein Großbritannien, das gespalten ist: In arm und reich, links und rechts, jung und alt, in Schottland, Gibraltar, Nord-Irland und London sowie Klein-England und Wales.

So viel ist klar: Der Austritt Großbritanniens führt nicht zu mehr Souveränität Großbritanniens. Kein Land Europas verfügt nämlich heute noch über die volle staatliche Souveränität. Jeder Staat ist Teil eines transnationalen Netzwerkes. Manche haben durch viel zu hohe Schulden ihre Souveränität an die Finanzmärkte abgegeben. Die Bundesrepublik Deutschland war schon nach dem 2. Weltkrieg wegen der Vorbehaltsrechte der alliierten Siegermächte nur teilsouverän. Kein westliches Land kann heute wirtschaftlich ohne andere Länder auskommen, schon gar nicht Großbritannien mit seinem internationalen Finanzzentrum in London.

Aber nicht nur Großbritannien ist gespalten. Auch die 27 verbleibenden Mitglieder der Europäischen Union finden keine einheitliche Grundhaltung, wie es in der Europäischen Union weitergehen soll. Dafür gibt es drei Gründe:

Viele Menschen haben Angst und sind zornig angesichts der scheinbar ununterbrochenen Abfolge immer neuer Krisen: Weltfinanzkrise, Eurokrise, Staatsschuldenkrise, Flüchtlingskrise. Und jetzt kommen noch neue große Herausforderungen auf Europa zu: Globalisierung, Digitalisierung, Wissensgesellschaft, Integration der Flüchtlinge.

Viele Unionsbürger fühlen sich angesichts dieser Veränderungen überfordert. Sie suchen ihr Heil in der Vergangenheit, der guten alten Zeit. Sie wollen sich den Zumutungen der Moderne nicht stellen. Überall in Europa versprechen Nationalisten und Globalisierungskritiker, der Weg zurück sei möglich. In der Geschichte der Völker gibt es aber keinen Weg zurück – unabhängig davon, dass die gute alte Zeit so gut auch nicht war: 2 Weltkriege, 60 Millionen Tote, Rassismus, Antisemitismus, Bürgerkriege, Eiserner Vorhang, Hunger, Wohnungsnot, Flüchtlinge und Vertriebene, Diktaturen in Mittel-, Süd- und Osteuropa.

Die Neue Züricher Zeitung weist mit Recht darauf hin, dass Europa mit Nationalismus und Provinzialismus angesichts solcher Herausforderungen nicht weit kommen werde. Auch noch so facettenreiche Abgesänge auf das Vereinte Europa helfen nicht weiter.

Dabei hat die Europäische Union eine demokratische Legitimation. Das europäische Volk hat mit der Europawahl von 1994, die neuen Mitgliedsländer durch ihren Beitritt die EU legitimiert. Durch den Einigungsvertrag, der am 3. Oktober 1990 in Kraft trat, und den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zur Bundesrepublik Deutschland trat auch das geänderte Grundgesetz und seine Präambel in ganz Deutschland in Kraft. Die Mitgliedschaft Deutschlands »als Glied in einem Vereinten Europa« ist mithin vom ganzen deutschen Volk verfassungsrechtlich legitimiert und mit der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 bestätigt.

Das große Europa der 28 Mitgliedstaaten war die Folge der Großen Europäischen Freiheitsrevolution, die am 3. Oktober 1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas führte. Ursprünglich sollte vor dieser friedlichen Wiedervereinigung eine Überarbeitung der europäischen Vertragsgrundlagen erfolgen. Vertiefung vor Erweiterung, hieß das Motto. Schnell stellte sich aber heraus, dass angesichts der Instabilität der östlichen Nachbarstaaten keine Zeit für eine große Reform der Europäischen Verträge bestand. Großbritannien unter Margaret Thatcher und Frankreich unter François Mitterrand hatten zudem Angst, dass im Herzen Europas mit dem wiedervereinigten Deutschland ein Hegemon entstehen würde, der seinen neuen Platz inmitten der Gemeinschaft der freien Völker des Westens irgendwann auch wieder verlassen könnte. Sie hatten Angst vor einem neuen deutschen Sonderweg. Um einen solchen neuen Sonderweg zu verhindern, wurde mit dem Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland(Zwei-plus-Vier-Vertrag) eine friedensvertragsähnliche Regelung für die völkerrechtlichen Fragen und mit der Einführung des Euro eine ökonomische Klammer für den gemeinsamen Binnenmarkt geschaffen. Auch die Erweiterungen der Nato um die Staaten Mittel- und Osteuropas war dem Sicherheitsbedürfnis der neuen EU-Mitglieder geschuldet. Beide Vertragswerke sollten das neue Europa einen. Heute glauben viele, dass beide Einigungsprojekte Europa mehr gespalten als geeint hätten.

Durch die Krisen hat sich jedenfalls die Lage in und um Europa entscheidend verändert. Dabei war die EU nicht Verursacher. Der Marktradikalismus war eine Folge einer falschen Politik, die auf dem Washington Consensus des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank beruhte. Als ökonomische Strategie wurde er inzwischen klammheimlich in den Akten ökonomischer Irrlehren abgelegt. Verursacher der Staatsschuldenkrise und der mangelnden Absicherung der Außengrenzen, die zu den großen Problemen des Flüchtlingszuzuges geführt haben, war die Politik der Mitgliedstaaten. Sie konnten sich nicht einigen. Dennoch war Europa als Reparaturbetrieb im Großen und Ganzen sogar ziemlich erfolgreich.

Jetzt gilt es, die Konsequenzen aus dem Brexit zu ziehen. Dabei wird es nicht ausreichen, ein paar Zuständigkeiten von Brüssel in die nationalen Hauptstädte zu verlagern. Europa muss jetzt krisenfest gemacht werden.

Viele Menschen in Europa haben Angst und sind wütend. Sie haben gesehen, dass der Staat Milliarden Euro zur Rettung der Banken aufbringen musste. Sie haben das Gefühl, dass sie dies z. B. durch die Nullzinspolitik bezahlen müssen. Sie spüren, dass durch Big Data und Roboter einfache Jobs wegrationalisiert werden. Sie sehen, dass preiswerte Wohnungen Mangelware geworden sind und fragen sich, wie es im Alter sein wird.

Die Arbeitslosigkeit ist in vielen Ländern zu hoch, die Jugendarbeitslosigkeit noch höher. Das Bildungsversprechen klingt hohl. Aufstieg durch Leistung ist nicht mehr garantiert. Zuwanderer werden oftmals als Konkurrenz und Bedrohung empfunden.

Die Kluft zwischen dem Volk und den Eliten ist größer geworden. Fast überall herrscht Elitenfrust.

Ein wirklicher Neuanfang in Europa erfordert, dass die Eliten den Menschen wieder zuhören und ihre Lebenswirklichkeit wahrnehmen. Überall, wo die Eliten abgehoben haben, wie z. B. in Großbritannien, in Frankreich, in Spanien und den Niederlanden, befinden sich die demokratischen Institutionen in einer Krise. Sie sind nicht mehr die Brücke zwischen Volk, Gesellschaft und Staat. Die Legitimität des Gemeinwesens hat abgenommen. Kein Staat und keine Demokratie wird auf Dauer bestehen, wenn es keine Identität gibt, die sich »aus dem geteilten Verständnis demokratischer Regeln, aus universellen Rechten, den Menschenrechten, aber auch aus einer Ethik, aus einem Wertehorizont gibt, den die Bürger teilen. Eine Demokratie lebt davon, dass die Bürger ihren eigenen Staat für etwas Besonderes halten und an ihm in besonderer Weise hängen.« (Charles Taylor).

Das gilt auch für die Europäische Union. Ohne mehr Demokratie und eine bessere Gewaltenteilung wird der Kitt, der Europa zusammen hält, bröckeln. Ohne die Überzeugung, dass Europa der Kontinent ist, in dem am besten in Freiheit, Frieden und Solidarität gelebt werden kann, gibt es keine Stabilität in Europa.

Navid Kermani, der große deutsche und europäische Schriftsteller hat in diesen Tagen von seinen Gesprächen mit Schülern über Europa berichtet.1 Er fragte sie: »Überlegt mal, was ein Europa der Vaterländer bedeuten würde, von dem die Rechtspopulisten immer reden: Wie viele von euch gehörten dann nicht mehr dazu? Und was ist mit den Schulen, in denen Deutschland für die wenigsten Kinder ein Vaterland ist? Glaubt ihr im Ernst, man könnte die alle aussperren oder sie zu Bürgern zweiter Klasse degradieren? Oder die würden von selbst gehen, und wohin auch?« Und er fügte hinzu: »Ich merke dann jedes Mal, wie es in den Köpfen der Schüler tickt, wie sie sich umschauen, wie sie nachdenken, auch Fragen stellen oder Widerspruch anmelden, es präziser haben wollen. Es entsteht sofort ein Gespräch, zumal die kulturelle Vielfalt der heutigen westeuropäischen Gesellschaft nur der Anfang ist.«

Kermani fragt die Schüler weiter: »Ob sie ernsthaft wollen, dass Homosexualität wieder diskriminiert würde und jemand ihnen vorschreibt, wen sie wann und wie zu lieben haben. Ob sie in der Schule ausschließlich deutsche Literatur lesen wollen, erklärt nur von Deutschen? Ob sie den Klimawandel für eine Erfindung halten, über die Einführung der Todesstrafe nachdächten oder die Gewaltenteilung abschaffen wollten?« »Was hat das mit Europa zu tun?«, fragen die Schüler dann zurück. »Das hat sehr viel mit Europa zu tun«, antwortet Kermani: »Schaut doch nur in die Programme der anti-europäischen Parteien, da geht es nicht nur um Islam und Ausländer, da geht es genau gegen die Gesellschaft, in der ihr aufwachst, gegen eure Lehrer, die liberal sind, gegen eure Bürgermeister, die sich für Flüchtlinge einsetzen, gegen den Klimaschutz, Minderheitenrechte, Gleichstellung und eure Lehrpläne, die deutsche Schuld nicht kleinreden, gegen euch, die ihr das heutige, ein endlich europäisches Deutschland seid.«

Navid Kermani zieht daraus den Schluss, dass Europa eine klare Definition benötigt. Er fordert auch, dass geregelt werden muss, was Europa leisten soll und was besser in den Mitgliedsländern entschieden wird.

Dieses Buch ist eine Antwort auf Kermanis Fragen, ein Versuch, die normative Wirklichkeit des Vereinten Europa zu beschreiben. Den anderen die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu überlassen, heißt, die Deutungshoheit über die Zukunft zu verlieren. Dann bekommen die Ewiggestrigen die Oberhand. Es ist an der Zeit, dass das europäische Volk seine Zukunft in die eigene Hand nimmt.

II. Die Folgen der Europäischen
Revolution von 1989 / 90

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