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Moidi Paregger
Claudio Risé

Die Saligen

Kraft und Geheimnis des Weiblichen

Übersetzung aus dem Italienischen
Wolftraud de Concini

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Edition Rætia

Zum Buch

Im gesamten Alpenraum lassen sich Sagen von Saligen finden, geheimnisvollen Frauen, die in engem Kontakt zur Natur stehen. Um diese – nicht zuletzt auf psychosozialer Ebene – höchst ausdrucksstarken und anziehenden Figuren vor dem Vergessen zu bewahren, sammelte und interpretierte die Sagenforscherin Moidi Paregger zusammen mit ihrem Mann, dem Psychoanalytiker Claudio Risé, Geschichten der scheuen, wilden, aber wohlwollenden Naturgöttinnen. Dabei versuchen sie, dem verlorenen weiblichen Anteil in Frauen und Männern auf die Spur zu kommen, um auf diese Weise wieder ein ganzheitliches Selbstverständnis und -erleben des Menschen zu ermöglichen.

Zu den Autoren

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Moidi Paregger, geboren 1954 in Meran, Klassisches Lyzeum, Studium der Medizin in Bologna. Nach mehreren Arbeitsjahren als Ärztin Eröffnung einer Privatpraxis in Allgemeiner Medizin nach homöopathischer und anthroposophischer Heilweise in Bozen.

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Claudio Risè, geboren 1939 in Mailand, Studium der Politikwissenschaften am Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales in Genf. Dozenturen in Mailand, Varese und Triest. Seit 1976 verstärkte Beschäftigung mit der Psychoanalyse und Arbeit als Psychotherapeut. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschlechterpsychologie, zudem Autor für die Tageszeitung „Corriere della Sera“.

© Edition Raetia, Bozen 2009

Titel der italienischen Ausgabe: Donne selvatiche, Sperling & Kupfer, 2006 Umschlagbild: Ida Prinoth
Grafisches Konzept: Dall’O & Freunde, Bozen
Gesamtherstellung: Fotolito Varesco, Auer

ISBN print: 978-88-7283-351-3
eISBN ebook: 978-88-7283-568-5

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com
Fragen und Anregungen richten Sie bitte an info@raetia.com

Inhalt

Vorwort

Die Saligen

Heute: eine verwirrte Wilde

Wie die wilden Frauen aussehen

Die Saligen und die Musik

Die „Jungfrauen“

Ihr Heim

Die geheimen Begegnungen mit den wilden Frauen

Die Saligen und die Tiere

Moderne Wilde und die Welt der Tiere: Brigitte Bardot und Josephine Baker

Elizabeth Costello und „Das Leben der Tiere“

Ihre Gaben

Das vitale Geschenk: der kostbare Samen

Das Geschenk des Webens und des Garnknäuels

Das Geschenk des Garnknäuels und die moderne Frau

Das kostenlose Geschenk

Die zeitgenössische Frau und das Geschenk Josephine Baker, eine wilde Frau

Glückbringende Gaben, Hochzeits- und Trauergeschenke. Die Blumen

Wer den Wilden Milch gibt, bekommt Gold

Die kostbaren Geschenke: Gold und Ringe

Das Buschweibchen

Die wilden Frauen und die Welt der Menschen

Ihre Herkunft

Die wilden Frauen und das Schlaraffenland

Adams Töchter

Rebellische Engel, Geister der Bäume

Die wilde Frau und die Ehe

Die Probe der Umwerbung

Das Geheimnis des Namens

Das Geheimnis der Saligen: ihre Herkunft

Der wilde Edric und seine verschwundene Braut

Die Macht und die verlorene Schönheit

Die Geschichte des Ritters Launfal und der schönen Tryamour

In der Gegenwart leben und die Zukunft kennen

Die wilden Frauen und die Ehefrauen ihrer Geliebten

Die Wilde als Heilerin der Ehe

Das Verbot der Kontrolle und des Besitzes

Die Freundschaft mit den freisinnigen Ehefrauen

Ratschläge und Hilfeleistungen der wilden Frauen

Die Aussaat

Die Probe der Gewinnsucht

Bohnen im Schnee säen

Die Zeiten des Erdreichs

Der Almhirt mit dem schönen Busen

Die Kornernte und die Heumahd

Die Tiere, die Milch und die Butter

Der Ruf aus dem Wald

Die Hochherzigkeit der Saligen

Die wilde Frau geht segnend fort

Die Salige geht verdrossen fort

Die Saligen und ihre Verbundenheit mit den Bäumen des Urwaldes

Wilde Frauen und wilde Männer

Der Mythos der wilden Jagd

Die zerstörerische Seite der wilden Frauen

Die Kraft der wilden Frau

Das Weiblich-Geistige der Natur

Wie man der wilden Frau begegnet

Die weibliche Kraft und die Naturelemente

Die „numinose“ Energie der Saligen

Wilde Frauen und heiliger Schauer

Die Salige als Urheberin von Wohlstand

Die wilden Frauen und das Licht der Natur

Die abgeschnittenen goldenen Haare

Die wilde Seherin

Die Frauen, die das Schicksal weben: Nornen und Walküren

Die wilde Frau als Anima

Die Ehrfurcht vor dem Geheimnis und seine Enthüllung

Der Konflikt zwischen Geheimnis und rationalem Denken

Der Konflikt Tradition-Moderne

Das Geheimnis der Mann-Frau-Beziehung. Der Konflikt zwischen Liebe und Besitz

Der Sinn der Begegnung mit der wilden Frau

Die christianisierte Wilde

Christentum und wilde Kräfte

Die christianisierte Sage

Die Germanisierung der wilden Frau

Hulda, die Königin der Saligen

Wilde Frauen und Stereotype

Naturgeister und Lebensenergie nach Rudolf Steiner

Die Wilde in uns befreien

Anmerkungen

Liebe Leser,

machen Sie es wie die Kinder: Schauen Sie sich in diesem Buch vor allem die Bilder an. Bilder? Aber wie, werden Sie sagen, da gibt es ja nicht ein einziges Bild! Das stimmt: Abbildungen sind keine da, aber Bilder viele, ja sehr viele. Es sind Bilder der wilden Frauen, die manchmal sehr schön sind, manchmal unheimlich. Und sie weisen uns einen Weg, eine Lebensart – ein Leben in Harmonie mit der Natur, mit unserer Natur als Menschen, Frauen und Männer. Sie leben in der Natur, die sehr viel größer ist als wir und die uns Energie, Richtung und Freude schenkt, wenn wir sie zu sehen und anzuhören verstehen.

Machen Sie sich nicht auf die Suche nach Konzepten und Interpretationen. Sie sind in diesem Buch enthalten und sind Ihnen hoffentlich nützlich. Aber zuvor müssen sie die wilden Frauen zu Wort kommen lassen, müssen sie in stiller Aufmerksamkeit betrachten. Wie Don Juan zu Castaneda sagt, wie es aber auch (wiewohl auf andere Weise) der Psychologe Carl Gustav Jung ausdrückt: „Am liebsten sehe ich; denn ein Mann der Erkenntnis kann nur sehend erkennen.“

Dieses Buch zeigt Ihnen Bilder, Bilder von Frauen, um Ihr Herz und Ihre Sinne zu berühren. Nicht wer verstanden hat, sondern – wie es im apokryphen Thomasevangelium heißt – „wer gerührt war, wird über alles herrschen“. Und damit ist das eigene Leben gemeint.

Die Saligen

 

Heute: eine verwirrte Wilde

Verena: Morgen wird sie 35. Eine beneidenswerte Karriere in einer männlichen Domäne: Sie ist für die Logistik auf einem der größten Flughäfen Europas verantwortlich. Sie ist intelligent, schlagfertig und berühmt, wird von Radio- und Fernsehsendern verfolgt. Ein intensives gesellschaftliches Leben, auch weil sie wenig schläft. Viel Sex, fast keine Liebe. Sehr viel Anspannung und Stress: Alles muss bestens funktionieren, auch das Unvorhergesehene muss berücksichtigt und unter Kontrolle gehalten werden.

Verena ist müde am Vorabend ihres 35. Geburtstages, dieser Schwelle zur zweiten Lebenshälfte – wie die Psychologen sagen. Über dem Flughafen liegt dichter Nebel, die Sicht ist gerade noch ausreichend, dass er nicht geschlossen werden muss. Es ist verboten, sich zu Fuß auf die Startbahn zu begeben, ohne ein Verkehrsmittel. Sie weiß von diesem Verbot, übergeht es aber. Ihr liegt daran, dass die Fracht nach London, heikle Güter, die ihr der Bürgermeister persönlich anvertraut hat, reibungslos abgeht. So zumindest erklärt sie es der Sekretärin, die den Kopf schüttelt. Aber vielleicht will sie nur in diesen schwarzen Nebel eintauchen. Sie beeilt sich, geht rasch los. Der Führer des Drehkrans sieht sie erst, als Blut- und Fleischspritzer die Windschutzscheibe besudeln.

So stirbt Verena. Am Tag vor ihrem 35. Geburtstag.

Verena, diese Frau, die sich nur selten ablenken ließ, um den Abflug der Maschinen zu kontrollieren, hatte schon seit längerer Zeit den Kontakt zur Erde verloren. Der Flughafen war von großen Wäldern umgeben, aber sie ging nie hinein. Sie hatte immer zu tun. Verena, die Herrin der dröhnenden Motoren, hörte schon seit Jahren nicht mehr die Klänge der Natur. Die eleganten Tailleurs, die sie bei Tag trug, und die schicken Roben, in die sie sich abends zum Ausgehen kleidete, waren zu ihrer Motorengondel geworden, zu ihrer Uniform. Und was steckte darin? Eine erfolgreiche Frau, eine sehr unglückliche Frau. Eine Frau, die mehr Angst vor dem kommenden Tag hatte als vor dem schwarzen Nebel, in den sie hineineilte, um sich verschlingen zu lassen: ein für alle Mal.

Dieses Buch ist den vielen unglücklichen Frauen gewidmet, den Frauen, die nicht so glücklich sind, wie sie es verdienten, die sich auf denselben Hightech-Pisten des großen Erfolgs bewegen, sicheres Auftreten, hoher Verdienst und tiefste Einsamkeit, an der Verena gelitten hatte. Und auch den Männern, die diese Frauen lieben, denen es aber nicht gelingt, sie zu ergreifen, auf ihren Karren zu heben und heimzuführen.

Dieses Buch ist einem großen Teil von uns allen gewidmet.

Wie die wilden Frauen aussehen

In vielen Gegenden der Alpen werden Geschichten von wilden Frauen erzählt: vom Engadin bis Slowenien, von den dichten Wäldern um den Flughafen, auf dem Verena ihr Regiment führte, bis zu unseren norditalienischen Städten. Und überall werden sie als faszinierend schöne Wesen beschrieben.1

Diese ihre Schönheit müssen wir erneut entdecken; denn sie verweist uns auf andere Dinge, die größtenteils verloren gegangen sind, ohne die aber eine Frau nicht leben kann. Und ohne die ein Mann schlecht lebt.

Im Fassatal wird noch diese Geschichte erzählt:*

„Auf Campitello lebte ein Bauer, der zur Mahd auf die hohe Val Duron ging. Einmal, während er so im Schatten saß und sich ausruhte, sah er eine Gruppe von äußerst schönen Mädchen, die vom Pass herunterkamen und gerade auf seiner Wiese anhielten, um Kräuter und Blumen zu pflücken. Das Herrliche war, dass diese Mädchen wie aus Glas gemacht schienen, so durchsichtig waren sie. Die Sonnenstrahlen drangen durch sie durch, ohne aufgehalten zu werden, sodass die Mädchen keinen Schatten hatten.“2

Manchmal sind die Saligen weiß gekleidet – wie in dieser Sage:

„Im Bacher Wald in Untereggen bei Wälschnoven sieht man hie und da ein winzig kleines, überaus herziges Mädchen, in schneeweißes Gewand gekleidet.3 Es geht, ganz gleich ob bei Tag oder Nacht, ohne daß man es vorher bemerkt hätte, vor den Augen der Leute quer über den Weg waldeinwärts, hält sich gerne an den Waldbächlein und huscht, ohne daß sein Fuß irgendwo angienge, über die Wässerlein dahin.“4

Und mehr noch: „Laut einer Grenzlandsage hatte ein Waldbauer zu Höhenhart ein schönes blondes Mädchen zu sich in den Dienst genommen. Dieses Mädchen lebte nur von frischer Milch und hatte Hände so zart, daß man sie zu keiner anderen Arbeit als zum Flachsspinnen verwenden konnte.“5

„Das Wildweiblein am Bidmig und am wilden Rasten bei Steeg im Lechthal und die drei Fräulein zu Ehrenberg spinnen und weben Leinwand, werfen sie in die Höhe und hängen sie auf den Sonnenstrahl, um sie zu bleichen. Man sieht oft ihre Spinnrocken niederscheinen ins Thal, und oft trägt’s Windeln herab, denn sie hängen ihre Wäsche in der Luft auf.“6

„Auf dem Coglio, einem Hügelland bei Görz, das die Deutschen im Mittelalter ‚in den Ecken‘ nannten, erhebt sich nachts oft ein starker Wind, der die Versammlung der Nachtgeister ankündigt. In der Finsternis steigen die Vilen7 in das Tal hinab. Ihre durchsichtigen Gewänder glitzern wie mit Diamanten und Juwelen bestreut. Auf einem Wiesengrunde reichen sie sich die Hände und schreiten einen Reigen. Bei Sonnenaufgang verlieren sie ihren Schmuck; die Edelsteine lösen sich nach und nach von den wallenden Schleiern und werden zu Reif auf dem Wiesengrund.“8

Schon in diesen Erzählungen zeichnen sich einige Merkmale der wilden Frauen ab.

Helle, Leichtigkeit, Beziehung zu lichten Farben: Das Leinen wird auf die Sonnenstrahlen gehängt, um es zu bleichen, damit es weißer wird.

Transparenz, Licht, Mond, Tanz. Und der Kreis, die weibliche Totalität.

Nicht Konkurrenz zwischen Frauen, um den Beruf oder das Image, sondern der Reigen, den sie auf einer Wiese tanzen, in einer mondhellen Nacht. Formen der Schönheit, des Glanzes, der Kraft, des Frohsinns und der Harmonie, wie sie die schöne Wilde, von der in diesen Geschichten die Rede ist, den Frauen – und den Männern – bieten kann, die heute das Gefühl haben, sich von diesen Energien entfernt zu haben.

Die Saligen und die Musik

In den Sagen wird oft erzählt, dass die Saligen gern singen und tanzen. „Auf Mühlegg und beim Taufnerbrünnel tanzten die Saligen am liebsten. Sie waren prächtig gekleidet und sangen wunderschön zum Tanze. Da hätten die Burschen, die dies sahen, wohl auch gerne mitgetanzt, aber nur ganz braven wurde dies Glück zu Theil.“9 Oft ist der Gesang die Kraft, die eine tiefe Verbindung zwischen den Saligen und den Menschen herstellt. Und es sind der Gesang und die Musik, die sie in die Natur und in die Gemeinschaft der anderen wilden Frauen zurückrufen.

So wird in der Sage vom wilden Mädchen aus Trafoi (von der es mehrere Fassungen gibt) erzählt, dass die Saligen in den Vollmondnächten auf den Felsen saßen und sangen. Ein junger Bauer verliebte sich in eine von ihnen, und sie willigte ein, seine Frau zu werden. Als sie dann aber in einer Vollmondnacht den schönen Gesang ihrer Schwestern von den Berghöhen herabklingen hörte, überkam sie tiefe Traurigkeit, und sie ging wieder zu ihren Schwestern zurück, um mit ihnen zu singen.

In allen traditionellen Kulturen – und eben auch in dieser, aus der diese Sagen stammen – stellt der Gesang oft den Beginn des Opferritus dar. In einem gewissen Sinn vollziehen die Saligen schon bei ihrem Heraustreten aus dem Wald ein Opfer, einen sakralen Ritus, indem sie den Menschen ihr Wissen und ihre Energie überbringen. Und dieser Ritus beginnt mit dem Gesang. Marius Schneider bemerkt dazu: „Das Opfer ist die Grundlage jeder Schöpfung […] das nobelste, grundlegendste Opfer geht in klingender Form vom Mund aus und bietet sich als Beute dem Ohr dar […] nichts kommt zum Klingen, wenn ihm nicht ein Opfer vorausgeht.“10
Das Eingreifen der wilden Frauen in die Welt kann demnach – wenn man Schneiders Thesen interpretiert – als Ausdruck von drei aufeinanderfolgenden Kräften verstanden werden: „Die erste ist die Kraft der Stimme (der Gesang, die Worte); die zweite Kraft ist die Verwandlung und Materialisierung dieser gesungenen Kraft in Nahrungsenergie; die dritte ist die Zeugungsfähigkeit.“ Singen, essen und zeugen (das geistige, das vegetative und das sexuelle Leben) sind demnach drei Aspekte derselben elementaren Schöpfungskraft.11 In den in diesem Buch enthaltenen Sagen von den Saligen werden wir sehen, dass diese Frauen zuerst singen, sich dann um die körperliche und geistige Nahrung der Männer kümmern und sich schließlich fortpflanzen, um dann zu der elementaren Schöpfungskraft, von der sie abstammen, zurückzukehren. Doch alles beginnt mit dem Gesang. Schon D.H. Lawrence hatte gesagt: „Ears can hear deeper than eyes can see“ (Das Ohr kann tiefer hören, als das Auge sehen kann).12

Um einer wilden Frau – außer uns und in uns – zu begegnen, müssen wir gut die Ohren auftun und zuhören können.

Der Gesang, der Tanz und die Musik unter Frauen gehörten nicht zufälligerweise zu den charakteristischsten Ausdrucksformen des beginnenden Feminismus, als die Suche nach den im eigentlichen Sinn weiblichen Kräften, nach den Riten, in denen sie sich ausdrückten, und nach ihren Symbolen vor allem in den kulturell fortschrittlichsten Strömungen mehr ins Gewicht fiel als die Konkurrenz mit den Männern um die Macht. Auch dieser Tatbestand ist von der Konsumgesellschaft weggefegt worden, die alles zur Ware herabwürdigt. An die Stelle der Frau, die nicht nur die Reigen, sondern auch die weiblichen Ensembles klassischer Musik wieder zu finden suchte (was ihr teilweise auch unter großen Mühen gelungen war), ist in den letzten Jahren die pathetische Figur der Nachtclubtänzerin getreten, dieses jungen Mädchens, das halbnackt und gegen Bezahlung in Diskotheken tanzt: ein vom Mann enthülltes erotisches Objekt fern vom Rest der Welt, da sie in ihrem „Cube“ gefangen ist. Die Diskotänzerin, ein beredtes Bild des weiblichen Unbehagens unserer Zeit, ist eine Salige, die sich in der Großstadt verirrt hat, ohne Kleider und ohne Licht, mit einem Körper, der zu Selbstvernichtung tendiert, zu Anorexie, ja oft zu Drogen, die an die Stelle der Energie des Waldes, die es nicht mehr gibt, getreten sind. Es ist eine wilde Tänzerin, die ihre Gefährtinnen und deren Kraft verloren hat, die keine singende Energie mehr ausströmt und keine Seele mehr nährt. Dagegen zeigt sie ihren halbnackten Körper, einen selbstbeweglichen Halbkadaver, gegen etwas Geld und Konsumgüter: eben gegen all das, was die wilden Frauen entrüstet ablehnen; denn sie wussten nur zu gut, dass sie – wenn sie sie annahmen – ihre Freiheit und ihre besondere Kraft verloren hätten.

Die „Jungfrauen“

Die wilden Frauen werden oft als Jungfrauen, selige Fräulein oder „sealige Gitschn“ bezeichnet. In den traditionellen Kulturen wie der alpinen, aus der diese Sagen stammen, glaubt man oft, dass die Jungfrauen etwas Geheimnisvolles besitzen und ihre Macht über die Geschehnisse und Dinge der Erde ausüben. Wie die traditionelle germanische Kultur bezieht sich jedoch die alte Kultur der Alpentäler nicht auf die körperliche, sexuelle Jungfräulichkeit. Die wilde Frau ist Jungfrau, weil sie sich zurückzuhalten weiß und Geheimnisse hüten kann, weil sie etwas wahrt, was im Wachsen und Werden begriffen ist. Sie ist die Frau, die die Zukunft in sich trägt, da sie jung und psychologisch unversehrt und somit in der Lage ist, „eins mit sich selbst“ zu sein.

Diese Vorstellung finden wir auch in den Sagen, die im großen nordischen Edda-Epos erzählt werden. Auch die Kraft der Walküren beruht nicht – obwohl sie als Jungfrauen bezeichnet werden – auf ihrer körperlichen Virginität. Was dagegen in der germanischen und allgemein der nordischen Kultur zählt, ist ihre Unschuld, ihr Nicht-vom-Bösen-Berührtsein-und-keinen-Gefallen-daran-Finden: eine moralische, aber nicht notwendigerweise körperliche Unversehrtheit. Im deutschen Volksglauben ist diese Unschuld Trägerin einer besonderen Kraft: Wer unschuldig ist, ist zu mehr fähig als die anderen, kann sich gegen das Böse wehren und auch heikle Situationen lösen. Um eine Jungfrau zu befreien oder einen Schatz zu heben, bedarf es der Kraft der Unschuld.

Im Parzival verwaltet der vermählte Held das Gralsheiligtum gemeinsam mit den Trägerinnen des Kelchs, deren einflussreichste Repanse de Schoye heißt, „Freudenspenderin“. Diese Wertschätzung für die unter psychologischem Gesichtspunkt „jungfräuliche“ junge Frau ist die rechte Hingabe für das im Wachsen Begriffene, für die noch nicht befreiten Kräfte der Jugend und besonders des sich öffnenden Weiblichen. Ähnliche Energiefelder kommen auch in den traditionell-volkstümlichen Fruchtbarkeitsriten der Alpen zum Ausdruck, von denen viele auch in christlicher Form eine Fortsetzung erfahren haben.13

Die magische, Glück bringende Energie der wilden „Jungfrau“ finden wir auch in den in diesen Erzählungen mehrmals präsentierten Bildern der weißen Jungfrauen, der seligen Fräulein, der tanzenden und singenden Jungfrauen, die helfen, heilen, warnen, schenken und lieben. Sogar mütterliche Gottheiten wie Nerthus-Frea-Frigg werden zu jungfräulichen Helferinnen. Und die Jagd- und Waldgöttin Artemis, eine psychologisch der wilden Frau nahe stehende Gestalt der griechischen Mythologie, ist Mutter und Jungfrau zugleich. Sogar die mütterlichste aller Göttinnen, die Sonne, ist eine starke und unberührte Jungfrau.14

Ihr Heim

Die Wohnstätte der wilden Frauen befindet sich gewöhnlich tief im Felsen oder im Inneren der Erde. „In Höhlen leben bedeutet, eine irdische Meditation zu machen und am Leben der Erde im Schoß der Mutter Erde teilzunehmen.“15 Auch das vorliegende Buch über die wilden Frauen ist eine Art Meditation über die Erde und über das Naturhaft-Weibliche, das sie beseelt. So ist es sinnvoll, dass es sich in die unterirdischen Wohnstätten dieser Frauen begibt.

So heißt es in einer Sage:

„Zwischen Kropfbühl und Unterastlen, im Stinker genannt (Anmerkung: im Tiroler Ötztal), wohnten vor Zeiten wilde Fräulein. Sie hatten sich dort eine neun Stufen tiefe Höhle gegraben. Auch hatten sie einen eigenen Stein, auf dem sie sich sehen liessen und der deshalb Frauenstein hiess. Man sah sie oft auf demselben sitzen, wie sie ihre blonden Haare kämmten und schöne Lieder sangen. Nahte sich ihnen ein Mensch, so zogen sie sich schnell in ihre Höhle zurück.“16

Warum leben die wilden Frauen in Höhlen? Vor allem, weil Grotten und Höhlen Orte mit besonders viel Mana sind, dieser Kraft des Heiligen, dem die Saligen angehören – wie wir schon gesehen haben (Anm. 1) und wie wir noch sehen werden. Dass unter der Erde mehr Energie ist als über der Erde, war den traditionellen Kulturen, die diese Sagen hervorgebracht haben, schon immer bekannt. Nicht zufällig kommen Propheten und göttliche Gestalten, allen voran Jesus, in einer Grotte zur Welt, und in Grotten ziehen sich große Visionäre zurück (wie der Jünger Johannes, der Verfasser der Offenbarung), die gerade an diesen abgeschlossenen Stätten und dank der dort möglichen Selbsteinkehr große Weltvisionen haben. Der Psychologe C. G. Jung hatte sein Arbeitszimmer im Burgturm, den er sich am Ufer des Züricher Sees hatte bauen lassen, mit kleinen Fenstern und dicken Glasscheiben versehen, durch die das Licht von außen eindringen, man aber nicht die Seelandschaft sehen konnte. Um in sich und über sich selbst hinaus zu schauen, bemerkte er, dürfe man nicht zu viel das uns Umgebende anschauen. Die Höhle ist demnach eine Stätte der Konzentration auf die eigene Innenwelt und der Annäherung an die eigenen tiefen Energien.

In der Tiefe leben auch die wilden Frauen, von denen in dieser Sage die Rede ist. Ihre Wohnstätte erregt auch die Neugier der Menschen, die sie suchen, sie aber nicht erreichen können.

„Oberhalb dem Angerhof in Langtaufers wohnten früher sieben gar liebliche Salige, die Zarger Fräulein. Auf dem Anger, wo sie sich aufhielten, soll einst ein Schloß gestanden sein, das jetzt versunken ist. Die Fräulein ließen sich nur zur Abendzeit sehen, manchesmal gingen sie auch an den benachbarten Höfen, Lorett und Angerhof, vorbei. Sie grüßten die Leute gar freundlich und huschten hurtig vorüber. Ein Jäger wollte einmal dem Aufenthaltsort der Fräulein nachspüren; er ging zum Anger und fand dort im Boden ein großes Loch. Als er mit dem Ladestock die Tiefe der Höhle messen wollte, entglitt ihm dieser, und erst nach einiger Zeit hörte er ihn in der Tiefe auffallen. Es war dies wohl der geheime Zugang zu den Wohnstätten der Zarger Fräulein.“17

Ein Loch ist natürlich keine Tür. Es ist – wie die weibliche Öffnung – immer offen, aber man kann sich nicht immer hinein begeben. Es bedarf der Einladung der Frau, des Rufs der Saligen, der manchmal erfolgt (siehe S. 28 „Die geheimen Treffen mit den wilden Frauen“), aber nicht immer; denn die Salige, eine Jungfrau, hat Gefallen daran, kann aber auch ohne auskommen, da sie „eins mit sich selbst“ ist.18

Außerdem ist die Grotte – wie im Übrigen ja auch die Vagina – ein auf die Welt geöffnetes Auge. Julien Green schreibt in Mitternacht: „Der zehnjährige Reisende weiß, dass an der Öffnung zu den Höhlen ein Blick leuchtet.“ Wenn der Patient in der sandplay therapy, der Sandspieltherapie, ein Loch in den Sand gräbt, handelt es sich oft um ein erstes Auge, das sich aus dem Unbewussten heraus auf die reale Welt zu öffnen beginnt. Die wilde Frau, die undurchdringlich ist, wenn sie es will, durchdringt dagegen die Welt mit ihrem Blick, der aus der Höhle nach außen kommt, auch wenn sie sich dorthin zurückgezogen hat.

Dieses tiefe, weibliche, auf die Welt geöffnete Auge neigt aber dazu, sich zu schließen, wenn die Frau – wie es heute geschieht – sich mehr als anzuschauendes und zu bewunderndes Objekt präsentiert, als Bild zum Betrachten, nicht aber als schöpferische Kraft, als Blick und Strahl, der die umliegende Wirklichkeit durchdringt und beleuchtet.

Einigen aber gelingt es, den Wohnstätten der Saligen näher zu kommen – was alles andere als leicht ist.

„Bei Graun im Obervinschgau steht ein Mittelgebirg, die ‚Salge‘ genannt. Hier sollen in alter Zeit die Salgfräulein gehaust haben. Sie wohnten unter diesen Steinblöcken in weiten, prachtvollen Räumen und waren den Menschen hold und freundlich. Sie waren gewöhnlich guter Dinge, nur hie und da und besonders bei schlechtem Wetter, gieng ihnen die gute Laune aus. Oft sassen sie Abends, weissgekleidet auf dem ‚grossen Stein‘ unter dem alten Lärchbaume und sangen allerlei Lieder. Als sie eines Abends wieder so sangen, gieng ein Hirt vorüber, der von dem schönen Gesange so bezaubert wurde, dass er stille stand, sich auf einen Stein setzte und tief in die Nacht hinein den Salgfräulein zuhorchte, bis sie mit dem untergehenden Monde verschwunden waren. Da kam er erst wieder zu sich, dachte an sein junges Weib und an seine Herde und kehrte nach Hause zurück. Seitdem er aber die Salgfräulein gesehen hatte, blieb er einsilbig und schwermüthig, denn die schönen Fräulein giengen ihm stets im Kopfe um. Ohne seinem Weibe je ein Wort davon zu sagen, gieng er oft auf die Salg, um dem Gesange zu horchen. Endlich wurden die schönen Fräulein mit ihm vertrauter, führten ihn in ihre prächtigen Kammern und zeigten ihm ganze Herden von Gemsen, die sie als ihre Hausthiere hegten. Seitdem kam der Bauer öfters auf die Salg in Heimgart und blieb oft länger aus. Dies bemerkte sein Weib bald und allerlei eifersüchtige Gedanken erwachten in ihr. Sie machte ihm über sein häufiges Wegbleiben die bittersten Vorwürfe und beschloß, der Ursache seiner nächtlichen Gänge auf die Spur zu kommen. Als er eines Abends wieder weggehen wollte, um, wie er sagte, eine verlorne Geis zu suchen, that das Weib gar zärtlich mit ihm, umarmte ihn und bat ihn recht inständig, ja bald wieder zu kommen. Während dem hatte sie aber, ohne daß er es bemerkte, einen Faden an einen seiner Jackenknöpfe befestigt, behielt aber den daran hangenden Knäuel zurück. Als der Bauer eine Strecke gegangen war und schon ein gutes Stück Faden vom Knäuel abgewickelt hatte, verließ auch sie das Haus und folgte dem leitenden Faden, der sie zur Salg führte. Dort traf sie ihren Mann mitten unter den Salgfräulein an, die ihm Lieder vorsangen. Wie sie dies sah, fieng sie an zu weinen und zu klagen, verwünschte den Tag ihrer Hochzeit und die Salgfräulein. Da verschwanden die Salgfräulein unter den Steinen und wurden seitdem nie wieder gesehen. Der Bauer lebte auch nicht mehr lange.“19

Die Grotte, besonders die der wilden Frauen, ist ein Ort der Ruhe, Stille und Geborgenheit, eine Stätte, an der man wieder zur Sicherheit des Mutterleibs findet. Wenn Unordnung, Verzweiflung, Protest und Besitzanspruch dorthin eindringen, wird die Ruhe vertrieben und der Ort entweiht. Er verliert sein Mana, seine Energie, und bietet nicht mehr Zuflucht, Schutz und den vollen, integren Besitz seiner selbst. Diese Welt der Energie muss, um sich erhalten zu können, das Geheimnis achten – und dieses Thema finden wir als zentralen Punkt in der Gestalt und der weiblichen Kraft der Saligen.

Die unterirdische Welt ist die Welt des geheimen Schutzes. „Richten wir uns in der unterirdischen Welt ein“, sagen die zwei spielenden Kinder in Virginia Woolfs Roman Die Wellen, „nehmen wir von unserem geheimen Land Besitz […] das ist unser exklusives Universum.“ Die Ausschließlichkeit der unterirdischen Höhle ist der regenerierende Raum, in dem wir alle zu neuer Kraft und zu unserem innersten Wesen finden können. Doch um in die Tiefe der Grotte hinabzusteigen, müssen wir auf das Universum an der Oberfläche verzichten, auf die Gesellschaft des Zur Schau Stellens und des Images mit ihren Objekten ohne Blick, die künstlich beleuchtet werden, aber kein inneres Licht besitzen.

* * *

„Die ‚seligen Weiber‘, auch wilden Weiber, hausen (auch) in den Felswänden von Oberplatten auf dem Ritten gegen Signat hin, wo sie auch ein Felsenloch bewohnen.“20

Der Felsen wird in diesen Sagen zur Urmutter. In seinen Schluchten pulsiert das Leben des naturhaft-weiblichen Heiligen: eine Auffassung, die den wichtigsten Vorstellungen des Heiligen zu eigen ist. Das Verlassen des Felsens, dieses Bildes göttlicher Kraft, wird von ihnen als tödliche Sünde angesehen – wie es auch im Deuteronomium (32, 18) heißt:21 „An den Fels, der dich gezeugt hat, dachtest du nicht mehr.“

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