DAS KAMASUTRA

Vorwort des Herausgebers

Das meist-missverstandene Buch aller Zeiten ist vermutlich das Kamasutra. Die indische Liebeslehre, geschrieben vor rund 1700 Jahren, wurde und wird nur allzu gern als bloße Sammlung von Sexstellungen missdeutet. Dabei ist dieser Klassiker der Liebesliteratur wesentlich mehr: Ein Einblick in die hinduistische Philosophie, ein Ratgeber zur Gestaltung von Partnerschaft, ein Wegweiser auf der Suche nach dem Glück. In Zeiten platter Pornographie auf allen Kanälen ist das altehrwürdige Lehrbuch aktueller denn je und ein wirksames Gegengift gegen sinnlose Sexualisierung.

Sie werden in dem Buch viel mehr als nur neue Sexstellungen entdecken. Denn das Buch behandelt die ganze Palette des menschlichen Liebeszirkus: Lust, Liebe, Schüchternheit, Werbung, Ablehnung, Verführung, Manipulation, Partnerwahl, Ehe, Ehebruch, Dreiecksbeziehungen, käufliche Liebe, und sogar den Gebrauch von Drogen beim Sex.

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»Wer über Sex schreibt, sollte sich nicht ständig dadurch ablenken lassen«, sagte sich eines Tages der indische Philosoph und Denker Vatsyayana Mallanaga, verordnete sich für eine Weile Enthaltsamkeit und schrieb das bis heute rigoroseste Buch über Sexualität. Als sein Werk fertig war, wählte er die Wortzusammensetzung Kamasutra, eine Kombination aus »Kama« (= Verlangen) und »Sutra« (= Lehrbuch). Für die etablierte brahmanische Priesterschaft, die damals asketische Praktiken und eine Verleugnung der Sexualität predigte, war das ein Schlag ins Gesicht. Das Kamasutra war also schon bei seinem erstmaligen Erscheinen im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein Skandal-Buch.

Vatsyayanas Ziel: Die Versöhnung von Körper und Geist, das Anerkennen von Sexualität als Weg zur Spiritualität. Neben diesem philosophischen Unterbau zeichnet sich das Buch aber vor allem durch die unverblümte Sprache und konkrete Sextipps aus, die es zum ersten Klassiker der Ratgeberliteratur werden ließen. Der Autor wollte, dass seine Leser nicht nur über Sex nachdachten, sondern all die Möglichkeiten und Stellungen, die er erklärte, tatsächlich ausprobierten. Er beschrieb klar und deutlich sämtliche Sexstellungen, die er gesammelt hatte, katalogisierte Penisse nach Länge und Dicke und Vaginen nach Tiefe und Flachheit. Er gab Tipps, welche davon am besten zusammenpassten. Er schrieb über weibliche Ejakulation genauso wie über Schläge und Gewalt beim Liebesspiel, und gab dazu eine Aufstellung der wollüstigen Schmerzenslaute beim Liebesakt. Alles in allem war der indische Denker, von dem man sonst kaum etwas weiß, sextechnisch seiner Zeit um viele Jahrhunderte voraus.

Obwohl das Buch 1884 bei seinem europäischen Erscheinen in London, stark entschärft worden war, wurde es sofort zu einem Skandalbuch und verkaufte sich großartig. Aber f(w)indigen Verlegern war das nicht genug: Sie nahmen immer mehr philosophische Aspekte des Werkes heraus und stellten – nach dem Motto »Sex sells« – die üppig bebilderten Sexstellungen in den Mittelpunkt. So kommt’s, dass wir heute bei Kamasutra nur an Stellungen denken. Sie auch? Also gut, dann hier drei ausgewählte Luststellungen:

 

Unterwerfung unter den Nagel. Von Hinten: Die Frau legt den Oberkörper möglichst flach auf die Unterlage und streckt den Po heraus. Er, stehend hinter ihr, dringt in sie ein und kann sich mit seinen Oberschenkeln auf ihrem Hintern aufstützen. Ausgeliefertsein und Passivität für die Frau, für viele Frauen erregend. Für Männer sowieso.

Das Spalten des Bambus. Von Vorne: Sie liegt auf dem Rücken, er ist über ihr. Ein Bein legt sie über seine Schulter, das andere streckt sie aus. Zwischendurch Beinwechsel. Schnelleres Kommen für sie.

Besteigung. Im Stehen: Sie legt ihre Hände um seinen Hals, hält sich fest und schwingt die Beine um seine Taille. Er hält ihren Hintern und presst sie gegen eine Wand, während er sie hart nimmt. Für die schnelle Nummer im Lift oder in der Umkleidekabine.

Mehr dazu im Kapitel 13 und 14, sowie in der Bilderstrecke am Buchende.

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Das Kamasutra ist alleine in Deutschland dutzendfach übersetzt und veröffentlicht worden, unter anderem von der indischen Schriftstellerin Sandhya Mulchandani und dem Psychoanalytiker Sudhir Kakar, die schon im Vorwort klar machten: »Das Fleisch war nie der Feind des Geistes.«

Redaktion eClassica