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Martina Borger
Maria Elisabeth Straub

Sommer mit Emma

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien

2009 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Xenia Hausner,
›You and I‹, 2008 (Ausschnitt)

Copyright © Xenia Hausner

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24047 4 (4. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60576 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

14. August

Immerhin haben sie nie ein Geheimnis daraus gemacht. Ich habe es immer gewusst, so lange ich denken kann, aber so richtig darüber geredet haben wir erst jetzt. Früher wurde es nicht besonders oft erwähnt, eigentlich immer nur kurz vor Weihnachten, wenn sowieso Stress angesagt war und M gefragt hat, ob P an das Geschenk für Amerika gedacht hat. Sie hat nie das Geschenk für Emma gesagt, immer nur das Geschenk für Amerika, mit dieser besonderen Stimme, der man anmerkt, dass sie sich ärgert, es aber nicht zeigen will. P hat dann immer übertrieben gegrinst und gefragt, ob sie eine Idee hat, worüber Emma sich freuen würde. Er hat Emma gesagt. Und sie hat ihn nur irgendwie bedeutungsvoll angesehen und ihren Kopf geschüttelt. Und er hat gesagt, na ja, dann guck ich mich mal um, oder so was Ähnliches.

Als ich klein war, fand ich es klasse, dass ich irgendwo noch eine Schw hatte. Ich habe mir vorgestellt, sie ist genauso wie ich, in allem. Sie sieht genauso aus, und sie denkt dasselbe wie ich, immerzu. Dass sie schläft, wenn ich schlafe, und dass sie Fenchelgemüse essen muss, wenn ich Fenchelgemüse essen muss. Ich hasse Fenchel, obwohl er schön aussieht, wenn er noch roh ist, und angeblich gute Laune macht, [6] wahrscheinlich, weil er gegen Blähungen hilft. Ich weiß noch, ganz früher, wenn ich irgendwo Stress hatte, im Kindergarten oder zu Hause, wenn ich heulen musste, dann habe ich mit ihr gesprochen. Heimlich. Und ich habe gewusst, ich bin nicht allein. Dass sie so was wie mein Klon ist, habe ich mir vorgestellt, obwohl ich damals natürlich noch nicht wusste, was ein Klon ist. Dass irgendeine fiese Fee sie irgendwie wegtransportiert hat, zack, nach Amerika, aus dem Kinderwagen raus, mitten auf der Straße wahrscheinlich. Ich war ganz schön blöd damals.

Es war gut, dass ich sie hatte, und nicht nur J, der mich meistens nur geärgert hat, große Br sind doch echt zum Kotzen. Naja, allmählich habe ich mich an ihn gewöhnt. Wenn man Glück hat, kann er inzwischen auch mal ganz nett sein, aber eigentlich immer nur dann, wenn sein Freund bei ihm ist, dann macht er auf cool, um gegen Can nicht abzukacken. Einmal haben die beiden mich sogar ins Kino mitgenommen, total dämlicher Science-Fiction-Schrott mit Geballer ohne Ende, aber immerhin. Wenn ich eine Schw hätte, ich meine, wenn Emma so richtig mit in unserer Familie leben würde, hätte ich es bestimmt leichter. Gemeinsam ist man stark.

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich M gefragt habe, warum ich eine Schw habe und sie nicht kenne, auf dem Gymnasium war ich jedenfalls noch nicht, aber wie sie Kinder machen, wusste ich natürlich längst, das haben sie J und mir ja dauernd erklärt. Warum Emma immer in Amerika ist und ich hier in München, habe ich gefragt. M hat rumgestottert und dann gesagt, ich soll P fragen. Er ist mit mir an die Isar gegangen, Enten füttern, und dann hat er mir [7] das mit seiner Freundin gesagt, dass es nur was Kurzes war, so zwischendurch mal eben, und dass er eigentlich nur M liebt. Dass so was vorkommen kann, hat er gesagt. Und dass ich es erst dann so richtig verstehen werde, wenn ich größer bin.

Manchmal habe ich mich gefragt, ob er vielleicht irgendwo noch andere Kinder hat und nur nicht rausrückt damit. Ob ich vielleicht noch 3 oder 4 andere Schw habe, irgendwo in Hongkong oder Karlsruhe, im Prinzip könnten es Hunderte sein, über die ganze Welt verstreut, früher ist er ständig auf Reisen gewesen, als er noch Autos und irgendwelche Fabriken und Maschinen fotografiert hat. In der Zeitung stand mal was von einem alten Baum, irgendwo in Schweden, eine Fichte, die haben sie vermessen, Kohlenstoff-Varianten und so was, die sind auf 9550 Jahre gekommen. Wie viele Samen macht so eine Megafichte im Jahr? Mal angenommen, nur 20 von den vielen Tausenden fangen pro Saison an zu keimen, und nur die Hälfte von denen schafft es, ein Baum zu werden. Dann hat diese eine Fichte 95 500 Nachkommen. Falls P alles in allem echt nur 3 gemacht hat, ist das eigentlich ziemlich armselig, aber ob ich 100 Schw haben möchte, ist auch noch die Frage.

Erst mal kommt Emma. Eigentlich sollten wir sie heute Morgen in London am Flughafen treffen, aber dann wurde durchgesagt, dass der Flug aus Los Angeles verspätet ist oder irgendwie umgeleitet werden muss, und P hat mit ihrer Mutter telefoniert und hin und her. M hat schlechte Laune gekriegt, sie hat gesagt, sie hat keine Lust, einen halben Tag im Flughafen rumzuhängen, und dass uns das Hausboot flöten geht, wenn wir nicht rechtzeitig zur Übergabe [8] dort sind. P hat gesagt, er regelt das alles, sie soll sich nicht aufregen. Er hat das Mietauto besorgt und uns hierher zur Marina gefahren, alles hat geklappt, obwohl sein Englisch von vorgestern ist, der Typ vom Bootsverleih hat dauernd nachgefragt, Can und J haben dann immer geantwortet, bevor P den Mund aufmachen konnte. M hat sich bei all den technischen Sachen total rausgehalten, aber ich habe ihr angesehen, dass sie vor Ungeduld fast geplatzt wäre. Manchmal denke ich, sie schämt sich für P, weil er nicht so schnell ist wie sie und kaum Geld verdient und in der Küche immer so ein Chaos macht. Aber neulich, als die Eltern von Can zu uns kamen, um alles zu besprechen, hat sie wie verrückt gestrahlt, als sie sich begrüßt haben. Sie kennen ja meinen Mann, hat sie gesagt, er ist hier der Hausmann und der Künstler. Jeder hat gesehen, dass sie hammer stolz auf ihn ist.

Jetzt ist er wieder unterwegs, um Emma abzuholen, und ich bin wahnsinnig aufgeregt, aber irgendwie weiß ich nicht, ob ich mich freue oder Schiss habe, wahrscheinlich beides.

Aber schon komisch, dass ich das erst so spät kapiert habe. Dass es da noch eine andere Mutter gibt und dass Emma nur meine halbe Schw ist. Klar habe ich verstanden, was P mir damals beim Entenfüttern erzählt hat, aber Verstehen und wirklich Verstehen sind zwei Sachen. Was das mit Emma tatsächlich bedeutet, in Wirklichkeit und für mich, das habe ich eigentlich erst gerafft, als sie anfingen, Fotos zu schicken, immer nach den amerikanischen Sommerferien. Und als ich gesehen habe, dass wir uns überhaupt nicht ähnlich sind, sie ist ein Strohhalm mit Haaren, [9] und sie spielt Tennis und macht Tai-Chi oder so was. J sagt, sie sieht rattenscharf aus, aber ich glaube, große Br finden alle Mädchen hübscher als die eigene Schw, das ist ein Naturgesetz. Mal davon abgesehen: Wenn Emma ein Flamingo ist, bin ich eine Assel.

Bei den Fotos vom letzten Sommer ist eins, da steht sie auf einer Düne, im Hintergrund sieht man das Meer, wahrscheinlich den Pazifik, mit Schaumkronen, und die Sonne scheint, und der Wind weht, und Emmas Haare flattern bestimmt einen halben Meter zur Seite, man sieht, dass sie Locken hat. Meine sind wie Schnittlauch. Wenn man uns in echt nebeneinander sieht, habe ich gedacht, werden alle uns immerzu vergleichen, weil wir Halbschw sind und fast gleich alt, das ist sowieso der Hammer. Und ich zieh 100 pro die Arschkarte, weil an mir nichts so toll ist wie an ihr.

Als ich Becky das Foto gezeigt habe, hat sie sofort kapiert, warum ich total die Panik hatte, und sie hat mir von dem Laden in der Hohenzollernstr. erzählt, wo sie immer Modelle suchen, zum Üben für ihre Lehrlinge, und dass es keinen Cent kostet. Ich hab bis zum letzten Schultag gewartet, damit ich mir nicht am nächsten Morgen von der ganzen Klasse die Sprüche anhören muss. Becky ist mitgekommen, und eigentlich wollte ich nur kinnlang, aber als ich dann vor dem Spiegel gesessen habe und das Mädchen mich gefragt hat, wie ich es haben will, hab ich gesagt, alles ab, ohne irgendwie nachzudenken. So ähnlich wie auf dem Dreimeterturm, als ich zum ersten Mal gesprungen bin.

Becky hat gesagt, ich bin verrückt, aber dann fand sie es cool. Es ist raspelkurz. Und dann hab ich mir auch noch das Leopardenmuster reinfärben lassen, wenn schon, denn schon. [10] Hat ewig gedauert, mein ganzes Taschengeld ist draufgegangen (50 € !!!), weil sie nur das Schneiden umsonst machen, aber jetzt seh ich wenigstens nicht mehr so aus, als würde ich versuchen, so auszusehen wie Emma, und schaffe es nicht.

Auf der Straße haben die Leute mir nachgeschaut, und Becky hat gesagt, sie will sich über die Ferien überlegen, ob sie ihre auch abschneidet. J fand es scheiße, war ja klar. Er hat getan, als müsste er kotzen, und gesagt, ich komm daher wie die letzte Punkerbraut, fehlen bloß noch Piercings in der Nase und im Mund. M hat fast geheult, als sie mich gesehen hat, die schönen schönen Haare, wie kann man nur! Und P hat mich gefragt, wie sich das anfühlt, wenn man fast nichts mehr auf dem Kopf hat, bei ihm fallen sie nämlich aus, oben in der Mitte kann man schon die Kopfhaut sehen. Er hat Schiss, dass da bald gar nichts mehr ist, deswegen lässt er sie an den Seiten umso länger werden, sie hängen ihm schon über die Ohren, außerdem werden sie grau. Ich finde, er sollte dazu stehen, dass ihm die Haare ausgehen, weil dieses So-tun-als-ob eh nicht funktioniert.

Die schönsten Haare, außer Emma wahrscheinlich, hat Can. Er ist überhaupt ganz okay. Ich finde es gut, dass er jetzt auch dabei ist, dann habe ich wenigstens Ruhe vor J. Als ich heute Morgen in der Wartehalle vorm Abflug ein bisschen geschrieben habe, wollte er wissen, ob es ein Tagebuch ist. Mein idiotischer Br hat verächtlich geschnauft und die Augen verdreht, aber Can hat gesagt, er findet es gut, wenn man Sachen aufschreibt. Warum, habe ich gefragt, und er hat eine Weile nachgedacht und dann gesagt, weil man beim Tagebuchschreiben die Chance hat, ehrlich zu [11] sein. Ich weiß nicht, warum J so bescheuert gelacht hat. Can hat doch recht.

Hier wohnen wir jetzt:

Abbildung

[12] 2

Den größten Teil der Kabine, die sie mit Daniel teilt, nimmt das Doppelbett ein. Die volantgesäumte Tagesdecke mit ihrem wilden Blumenmuster in Gelb, Rosa und Lila wirkt speckig, Luisa breitet ihr großes Badetuch darüber aus und legt sich hin. Sie würde gerne ihre Arme weit von sich strecken, mit gespreizten Fingern, aber sie will nicht mit der Decke in Berührung kommen, also legt sie ihre Arme neben ihren Körper. Sie schließt die Augen und atmet tief ins Kreuzbein. Sie muss sich unbedingt entspannen, aber es gelingt ihr nicht, ihre Gedanken zur Ruhe zu zwingen. Immer wieder taucht das Bild vor ihr auf, das sie monatelang vor sich gesehen hat.

Das Boot. Ein Hausboot in heiteren Farben, vertäut an einem idyllischen Uferplatz zwischen hängenden Weidenzweigen, die Sonne steht schon tief, die Luft ist seidig, und auf dem sanft bewegten Fluss tanzen goldene Lichtreflexe. Irgendwo flötet ein Vogel, Lea erkennt ihn an seinem Gesang und versucht, die kleine Tonfolge nachzupfeifen. Es ist gerade so angenehm warm, dass sie bis tief in die Nacht an Deck sitzen können, natürlich bei fish and chips an diesem ersten Abend, etwas anderes kommt gar nicht in Frage. Sie haben sich in ihrer schwimmenden Ferienbleibe bereits eingerichtet, jeder ist zufrieden. Nein, mehr als zufrieden. [13] Glücklich. Begeistert. Und sie sind auch schon ein Stück weit den Fluss hinaufgefahren, vielleicht nur eine Stunde; jetzt fachsimpeln Daniel und Jasper einträchtig über Bootsmotoren oder Schleusenmanöver, Lea schreibt eine hübsche Postkarte an die Großmutter, und sie selbst hat die Füße auf die Reling gelegt, nippt an einem netten Drink und ist wunderbar relaxed. Und dann geht der Mond auf, und es gibt nur noch ganz viel Natur und das Boot und ihre Kleeblattfamilie. Und die Aussicht auf zwei unbeschwerte Wochen auf dem Wasser. So hat Luisa sich diesen ersten Abend vorgestellt, während sie erschlaffte Muskulatur bearbeitete, Schlammpackungen verabreichte oder sich mit der Buchführung herumschlug.

Sie hat sich ein Klischee vorgegaukelt, einen naiven Wunschtraum, ausgerichtet an bunten Bildchen in den Prospekten, die natürlich immer nur den schönen Teil der Wirklichkeit zeigen. Außerdem hat sich ja schon vor einiger Zeit ergeben, dass sie nicht zu viert sein werden, wie sie es sich erhofft hatte. Warum also hängt sie immer noch einer Fiktion nach? Und warum war ihr vor allem diese erste gemeinsame Mahlzeit an Deck so wichtig, diese kleine fish-and-chips-Orgie?

Damit wird es nicht klappen, sie rechnet es zum x-ten Mal aus. Selbst wenn das Flugzeug tatsächlich zum angegebenen Zeitpunkt in Heathrow landet, wenn die Gepäckausgabe zügig abläuft und nicht eine Dreiviertelstunde dauert, wie bei ihrer eigenen Ankunft heute Morgen, und selbst wenn Daniel auf der Rückfahrt glatt durchkommt, was um diese Uhrzeit kaum zu erwarten ist, wird er es nicht schaffen, mit dem Kind vor halb zehn hier zu sein. Dann ist [14] der fish-and-ships-Laden vorne an der Hauptstraße längst geschlossen. Und auf diesem Boot gibt es keinen Backofen, in dem sie das Essen warmhalten könnte.

Egal. Es ist nicht wichtig. Sie können noch zwei Wochen lang fish and chips essen, es kommt auf diesen einen Abend nicht an. Sie sagt es sich wieder und wieder, und dennoch bleibt in ihr ein beharrliches Gefühl der Enttäuschung. Eine Weile noch hebt und senkt sie ihr Kreuzbein mit der Atmung, dann gibt sie auf. »Das Kind kann nichts dafür«, sagt sie laut und fährt zusammen, als draußen, wie ein spontanes Widerwort, ein krächzender Möwenschrei ertönt. Luisa öffnet die Augen und sieht gerade noch einen Schatten dicht am Fenster vorbeifliegen. Luisa mag keine Möwen, sie sind ihr zu laut, zu gierig und zu aggressiv. Und das Fenster müsste dringend geputzt werden.

Sie würde lieber liegen bleiben, aber sie steht auf und macht sich daran, den Inhalt von Daniels Reisetasche in den zweiten der beiden schmalen Einbauschränke zu stopfen. Die Schranktüren sind verzogen, sie kann sie nur mit Gewalt öffnen und schließen, jedes Mal gibt es ein hässliches Geräusch. Außerdem wird das ganze Zeug garantiert nach zwei Tagen modrig riechen. Der Kamerakoffer passt nicht hinein, überall wird er im Weg sein, wo sie ihn auch hinstellt. Sie deponiert ihn erst mal auf dem Bett, soll doch Daniel ihn irgendwo unterbringen, wo er nicht stört. Sie sprüht reichlich Parfüm in beide Schränke und dann, mit weit von sich gestrecktem Arm, in den Raum. Daniel wird sagen, es riecht wie im Puff.

Diese sogenannte master cabin ist wirklich ein Loch. Das Bett mit der schmuddeligen Decke, ein Miniwaschbecken, [15] die beiden Schränke und zwei kärgliche Regalbretter – es ist kaum Platz, die mitgebrachten Bücher aufzustellen. Und wo soll sie die leeren Gepäckstücke unterbringen? Natürlich hat sie den Grundriss des Bootes zu Hause genauestens studiert, sie hat sich auf eine Situation gefreut, in der sie sich nicht aus dem Weg gehen können, aber mit dieser Enge hat sie nicht gerechnet. Sie werden alle viel Geduld und Toleranz aufbringen müssen, aber sie will es positiv sehen. Enge bedeutet auch Nähe, Intensität, genau das, was sie sich erhofft.

Und außerdem. Wer weiß, wie oft sie noch zusammen mit ihren beiden Kindern Urlaub machen werden. Eher nie. Jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Es war schwierig genug, Jasper zu motivieren. Seine Zustimmung zu diesem Urlaub haben sie über Wochen durch Druck und Geldentzug und endlose Appelle an sein schlechtes Gewissen zu erkämpfen versucht, bis Daniel endlich auf die Idee kam, Can einzu-laden. Natürlich wollte daraufhin auch Lea ihre Freundin mitnehmen, nur gut, dass deren Eltern ihre Ferienpläne nicht mehr so kurzfristig ändern wollten, sonst wären sie jetzt zu siebt hier, das will sie sich lieber gar nicht erst vorstellen. Und Lea hat ja jetzt Emma, eigentlich hat sich alles ganz gut gefügt. Hoffentlich zeigt sich ihre Tochter ein bisschen geselliger als üblich und versteckt sich nicht ewig hinter ihren Büchern und ihrem Tagebuch. So unternehmungslustig sie offenbar zusammen mit Becky ist, auf deren Konto garantiert auch diese neue Frisur geht, so sehr verkriecht Lea sich zu Hause in ihrem Zimmer, liest und schreibt und schreibt und liest.

Luisa respektiert die Privatsphäre ihrer Kinder, sie schnüffelt nicht in deren Sachen herum. Nur ein einziges [16] Mal, etwa vor einem Jahr, hat sie nicht widerstehen können. Sie waren zu zweit auf dem Balkon, an einem Samstag, Luisa brütete über der Spezialtherapie für einen schwierigen Patienten, und Lea verspürte urplötzlich das Bedürfnis nach Eis. Das Tagebuch blieb aufgeschlagen auf den Steinplatten liegen, Luisa brauchte sich nur etwas vorzubeugen. Da stand, dass Lea am Tag zuvor in der Bio-Ex voll ungerecht nur eine Drei bekommen, auf dem Heimweg von der Schule einen Platten und auch der idiotische Jasper kein Fahrradflickzeug hatte. Harmloser Kinderkram, der Luisa auf unerklärliche Weise erleichterte, obwohl sie nie im Leben Hinweise auf irgendetwas Erschreckendes in den Aufzeichnungen ihrer Tochter erwartet hätte, oder auch nur Überraschendes. Wenn da gestanden hätte, Mami und Papa sind bescheuert, weil sie dies oder das verboten haben, hätte sie das nur normal gefunden. Sie weiß noch genau, wie sie selber war in der Pubertät, ihre eigenen Eltern waren der pure Horror.

Eigentlich hat erst Daniel das Verhältnis zum Guten gewendet, in seiner ruhigen und freundlichen Art. Seitdem er dabei war, kam es kaum noch zum Streit zwischen ihr und ihren Eltern, und jetzt ertappt sie sich manchmal sogar bei plötzlichen Anfällen von Sehnsucht nach ihrem Vater, der nun schon über vier Jahre tot ist. Er hat Daniel immer ganz besonders gern gehabt und ihm zu Luisas Verblüffung nie einen Vorwurf daraus gemacht, dass sie nicht verheiratet sind. Die Kritik kam immer nur von ihrer Mutter, die sich bis heute nicht damit abgefunden hat.

Luisa steht am verschmierten Fenster, schaut auf den grauen Fluss und lächelt in sich hinein. Beim ersten Besuch [17] hat Daniel ihrer Mutter Blumen mitgebracht, absolut altmodisch und ein bisschen zu aufwendig für den Anlass. Gelbe Freilandrosen, mitten im Winter. Ihre Mutter war entzückt und stopfte die Rosen in ein Ungetüm von Kristallvase, Luisa sah, wie Daniel innerlich zusammenzuckte, als das Arrangement hereingetragen und akkurat in die Mitte des Wohnzimmertischs gestellt wurde, auf einen Untersetzer mit geschwungenem Goldrand. Nach dem Tee gab es den zweitbesten Cognac, und ihr Vater befragte Daniel nach seiner politischen Einstellung. Daniel blieb ausnehmend höflich, und auf der Rückfahrt sagte er, Luisa könne froh und dankbar sein, solche Eltern zu haben.

Wie lange her? Bald zwanzig Jahre. In all dieser Zeit hat er sich nicht ein einziges Mal abfällig über den Kuhgeschmack ihrer Mutter und die Rechtslastigkeit ihres Vaters geäußert. Vielleicht hätte er es mal tun sollen? Ist es das, was sie an ihrem Mann stört? Dass er alles widerspruchslos hinnimmt und nie über die Stränge schlägt? Dass sie ihn so genau kennt? Dass er immer nur stillhält, abwartet, sich eingerichtet hat, nie ausbricht und voranprescht. Und mit seiner sogenannten Kunst seit Jahren nicht vorwärtskommt.

Sie merkt, dass sie immer noch den Zerstäuber in der Hand hält, und überlegt, wo sie ihn hinstellen könnte. Die Überdecke muss auf jeden Fall nach draußen, zum Lüften. Die Kinder müssen essen. Sie hat plötzlich das Gefühl, sich verlaufen zu haben. Was tut sie hier.

Sie deponiert den Zerstäuber unter dem Waschbecken und dreht den Hahn auf. Irgendwo im Bauch des Bootes setzt ein dumpfes Pumpgeräusch ein. Sie werden mit dem Wasser sparen müssen, wenn sie nicht jeden Tag an einer [18] öffentlichen Stelle anlegen und auftanken wollen. Aber auch das haben sie so gewollt: für eine Weile auf überflüssigen Luxus verzichten. Sie können im Fluss baden, nachts beim Licht von Petroleumlampen zusammensitzen, ihr Essen auf einem Grill zubereiten. Es gibt so vieles, was sie nicht brauchen.

Der Spiegel über dem Waschbecken hat von Ecke zu Ecke einen diagonalen Sprung und ist nicht größer als ein Frühstücksbrettchen, Luisa kann ihr Gesicht nur sehen, wenn sie die Knie biegt wie ein Affe. Eine Narbe zieht sich von ihrer Schläfe über die Nase zum Kinn, erst nach einer Schrecksekunde merkt sie, dass der Spiegel ihr einen Streich spielt.

Sie versucht, die falsche Narbe zu ignorieren und sich mit den Augen von Emma zu betrachten, die jetzt neben Daniel im Mietwagen sitzt. Worüber werden die beiden wohl miteinander reden? Und was für einen Eindruck wird das Kind von ihr haben, wenn sie sich nach über sieben Jahren wieder begegnen? Falls sich Emma überhaupt noch an die Begegnung im Tierpark erinnert, damals, bei der Schnitzeljagd an Leas sechstem Geburtstag. In Luisas Gedächtnis hat sich dieser Tag eingebrannt, sie erinnert sich genau an den Streit am Abend, die Kinder Gott sei Dank längst erschöpft im Bett, sie haben nichts mitgekriegt von ihrem Wutanfall, zumindest hofft sie das heute noch. Sie wolle weder Daniels Kebsweib noch sein Kuckuckskind je in ihrem Leben wiedersehen, hat sie damals geschrien, und schon fünf Minuten später die hässlichen Worte bereut. Ob Daniel sich an ihren Ausbruch erinnert? Sie weiß es nicht, sie hat nie gewagt, darauf zurückzukommen. Schlafende Hunde.

[19] Wie Emmas Mutter wohl inzwischen aussieht? Seit jener Begegnung im Tierpark nennt Luisa sie insgeheim die Krampfhenne, sie war rappeldürr, als hätte sie einen Hang zur Magersucht. Vermutlich ist sie permanent und nahtlos gebräunt von der kalifornischen Sonne und modisch up to date, teuer angezogen war sie schon damals. Ob sie wohl jemals so anstrengende Arbeitstage überstehen musste? Sich den Kopf zerbrechen, ob am Monatsende das Geld für die Gehälter der Angestellten reicht? Und nebenbei eine vierköpfige Familie ernähren und eine teure Altbauwohnung bezahlen? Und dazu noch Alimente für ein fremdes Kind? Luisa nimmt den Spiegel von der Wand und trägt ihn zum Fenster. Sie sieht so aus, wie sie sich fühlt, blass, müde, zweigeteilt.

So wird sie sich Emma nicht präsentieren. Sie wird sich zusammenreißen, freundlich und heiter sein. Emma ist unschuldig, und sie kommt nicht aus freien Stücken, sondern weil die Erwachsenen es so beschlossen haben, über ihren Kopf hinweg.

Luisa hebt ihre Mundwinkel und probiert ein warmherziges Lächeln. Dann wirft sie den Spiegel aufs Bett, zieht das Gummiband von ihrem Pferdeschwanz und schüttelt die Haare aus. Offene Haare machen sie jünger.

[20] 3

Der Verkehr auf der M11 ist mörderisch, viel schlimmer als am Vormittag. Er fühlt sich noch unsicher im Linksverkehr und kann trotzdem nicht damit aufhören, sie immer wieder anzusehen. Sie bemerkt seine schnellen Seitenblicke nicht, sie hat das Fenster halb heruntergelassen und schaut hinaus. Sie hat den Kopf so weit weggedreht, dass er außer der Linie ihres Kinns nichts von ihrem Gesicht sieht, nur die im Fahrtwind fliegenden Locken. Er ist sich sicher, dass sie sich unbehaglich fühlt, seit einer Stunde im Auto eingesperrt mit einem Mann, den sie kaum kennt und der ihr Vater ist. Und der schon viel zu lange geschwiegen hat, weil er nicht weiß, wie er es anstellen soll, ein Gespräch mit ihr zu führen, das jetzt angemessen wäre. Das anhaltende Schweigen quält ihn, er zermartert sich den Kopf, aber es fallen ihm nur banale Themen ein. Für banale Themen ist diese Situation zu speziell, also greift er schließlich zum Radioknopf.

»Verdammter Mist.«

Sie wendet den Kopf, ihre Augen glänzen, die Iris sind von ungewöhnlich hellem Grau, er muss an nasses Gestein denken. Eine Strähne fliegt ihr vors Gesicht, sie wischt sie mit schneller Bewegung beiseite und klemmt sie hinter ihr linkes Ohr.

[21] »Entschuldige«, sagt er. »Ich dachte, wir könnten ein bisschen Musik hören, aber das blöde Ding ist tot. Hatte ich vergessen.«

»Schon okay.« Sie lächelt ihn an, bevor sie den Kopf wieder zum Fenster dreht. »Ich hab’s gern mal ruhig.«

Sie ist schön geworden während der sieben Jahre, in denen er sie nicht gesehen hat, auf eine Art, die Fotos nicht wiedergeben können. Seit sie nach Kalifornien gezogen sind, hat Sophie ihm regelmäßig Bilder geschickt, immer nach den Sommerferien, in denen sie mit ihrem Wohnmobil offensichtlich kreuz und quer durch die Staaten und bis hinauf nach Kanada gereist sind. Emma in New Orleans, noch vor Katrina, Emma mit Luftballon auf dem Empire State Building, Emma vor den Niagarafällen, in blauer Schutzkleidung. Es hat ihn eigenartig berührt, das Heranwachsen seines Kindes aus der Ferne zu verfolgen. Wenn die Post mit den Fotos kam, hat er, um keine Heimlichkeiten aufkommen zu lassen, Luisa sowohl den Begleitbrief von Sophie als auch die Bilder gezeigt. Ein schwieriger Moment jedes Mal, auf den Luisa entweder mit freundlicher Gelassenheit oder mit verbissenem Schweigen reagiert hat, je nach Verfassung. Vor ein paar Tagen hat er sämtliche Fotos herausgeholt, chronologisch auf seiner Arbeitsplatte aufgereiht und die Veränderungen verfolgt, wie sich aus dem schlaksigen Gör mit mürrischem Gesichtsausdruck und Schultüte ein tennisspielender Teenager mit Zahnspange und kleinen Brüsten entpuppt hat, auf den letzten Fotos ein fast zu makelloses Geschöpf vor glitzerndem Ozean.

Er hat sich darauf vorbereitet, seine Tochter perfekt zu finden. Dennoch irritiert ihn jetzt, wie wenig kindlich sie [22] wirkt. Auf den ersten Blick hätte er ihr Alter auf achtzehn oder neunzehn Jahre geschätzt, als sie durch die automatischen Türen in die Wartehalle kam, mit ihrer überdimensionalen Sonnenbrille und den Zeitschriften unterm Arm, den lässigen Bewegungen. Keine Spur von Unsicherheit oder Angst in ihrem Gesicht. Kein schweifender Blick, keine Suche nach dem Mann, der für ihre Existenz mitverantwortlich ist. Ohne nach rechts oder links zu sehen, ist sie mit ihrem Rollkoffer geradeaus marschiert, erhobenen Kopfes. Lange Beine, kurzer Rock, nackte Arme, die Jacke leger über der Schulter. Von den Blicken, die sie auf sich zog, nahm sie keine Notiz, offensichtlich ist sie daran gewöhnt.

Vor seinem inneren Auge taucht Lea auf, wie sie mittags mit ihm zum Auto gegangen ist, während Luisa und die Jungs sich im Boot einrichteten. Mit ihrem Rücken hat Lea sich an seinen Bauch gedrängt und ihn quasi rückwärts umarmt, weil sie sonst an ihm festkleben würde, wie sie sagte, ihre Saftbox war auf der Hinfahrt geplatzt, ihr Sweatshirt feucht und fleckig. »Ich finde es gut, dass man nur einen einzigen Vater haben kann«, hat sie gesagt. Und: »Grüß Emma von mir.« Er ist losgefahren und hat im Rückspiegel beobachtet, wie sie ihm nachwinkte und immer kleiner wurde.

»Übrigens. Ich soll dich von Lea grüßen. Sie freut sich auf dich.«

Sie dreht ihm wieder das Gesicht zu, wieder flattert die Strähne, wieder fasziniert ihn ihre Augenfarbe.

»Danke.«

Die Strähne wird ein weiteres Mal hinter das Ohr geklemmt. Der Kopf dreht nach links. Schweigen.

[23] »Wie geht es deiner Mutter?«

Den auf seine Frage folgenden Bewegungsablauf kennt er bereits so gut, als wären sie nie getrennt gewesen.

»Okay«, sagt sie. »Bisschen viel Stress. Wegen des Umzugs. Und Amos und so.«

Am Telefon hat Sophie ihm erzählt, dass sie mitten in einer hässlichen Scheidung steckt und zurück nach Deutschland geht, in Köln hat sie schon einen Job, aber noch keine Wohnung. Dass sie sich deswegen nicht um Emma kümmern kann, und dass sie im Moment auch nicht so gut mit ihr klarkommt. Er hat sich darüber nicht gewundert, Sophie war schon damals eine extrem launische Frau.

Endlich löst sich die zähe Autoschlange vor ihnen auf, er gibt Gas, überholt und verpasst um ein Haar die Abzweigung. Er kann sich mit knapper Not vor einem Laster wieder links einordnen, er muss sich besser konzentrieren.

»Bist du traurig, dass du aus San Diego wegmusst?«

»Köln ist bestimmt auch okay.«

Man hört ihr kaum an, dass sie wenig Deutsch gesprochen hat in den vergangenen Jahren. Man merkt es nur am R, das sie ein bisschen gurgelt.

»Schade, dass ihr nicht nach München zieht, dann könnten wir uns öfter sehen.«

Er meint es wirklich so, obwohl er dieses Kind nicht haben wollte und erleichtert war, als Sophie Deutschland verließ. Er war fassungslos gewesen, als sie schwanger wurde, er hatte ihr sogar Geld angeboten für einen Abbruch, aus Angst vor Luisas Reaktion.

»Ich glaube nicht, dass das deiner Frau gefallen würde.« Sie rutscht auf ihrem Sitz herum und streckt die Beine aus.

[24] Aus den Augenwinkeln nimmt er den Schimmer bräunlich-glatter Haut wahr und hat plötzlich Appetit auf Sahnebonbons. Der Rock ist wirklich sehr kurz, an Sophies Stelle hätte er Bedenken gehabt, Emma so in die Welt zu schicken.

»Ich hab mich sowieso gewundert, dass ihr mich eingeladen habt«, sagt sie. »Deine Frau kann mich doch garantiert nicht leiden.«

»Wie kommst du darauf?«

Im Stillen tut er einen spontanen Schwur: Er wird sie beschützen, er wird ihr endlich ein Vater sein, viel zu lange hat er sich davor gedrückt. Immer war er mit sich selber beschäftigt, mit Luisa und den Kindern, mit seinen Bildern und seiner ausbleibenden Karriere. Über Emma hat er wenig nachgedacht. Und so erwachsen sie auch tut, es muss extrem schwierig für sie sein, seiner Familie gegenüberzutreten, diesem eingespielten Team. Er ist voller Mitgefühl und voller Reue. Er hat sich benommen wie ein Arschloch.

»Denk ich eben«, sagt Emma leise.

Er nimmt die linke Hand vom Steuer und greift nach ihrer Rechten, sie ist warm und trocken und fühlt sich gut an. »Ich bin jedenfalls froh, dass du da bist«, sagt er. »Meine große Tochter.«

Sie legt den Kopf ein bisschen schief. »Danke.« Sie drückt seine Hand und lächelt und sagt: »Daddy.«

Er ist so froh über ihr Entgegenkommen, dass er laut auflacht. Mit einem Mal fühlt er sich großartig, und erst jetzt merkt er, wie sehr ihn die Angst vor den ersten Momenten der Nähe und vor dem Vorwurf, er habe keine Verantwortung übernommen, belastet hat.

»Erzähl mir von euch«, sagt sie. »Damit ich vorbereitet [25] bin. Ich weiß fast gar nichts, außer den Namen. Und dass Lea sieben Monate jünger ist als ich. Auf den Tag genau. Oder?«

Er nickt. Hat sie sich über diesen Altersunterschied Gedanken gemacht? Unser Versöhnungskind, hat Luisa einmal von Lea gesagt, eine entsetzliche Bezeichnung, obwohl sie den Tatsachen entspricht.

»Jasper und Lea«, sagt Emma, und es klingt so zufrieden, als hätte sie nach langem anstrengendem Marsch endlich das Ziel erreicht. »Meine Geschwister. Komisches Gefühl irgendwie. Seh ich ihnen ähnlich?«

Wieder lacht er unwillkürlich auf. »Überhaupt nicht. Finde ich jedenfalls.«

Er würde ihr gerne sagen, wie stolz er darauf ist, eine so hübsche Tochter wie sie in die Welt gesetzt zu haben. Aber das könnte distanzlos wirken, so gut kennen sie sich schließlich noch nicht. Außerdem will er Jasper und Lea gegenüber nicht illoyal sein.

Sie scheint seine Gedanken zu lesen. »Aber du und ich«, sagt sie, »wir haben schon Ähnlichkeit. Die Haarfarbe, und dass ich so groß bin und so dünn.«

»Du bist hübscher«, sagt er und lächelt. In diesem Zusammenhang ist das Kompliment unverfänglich.

»Und deine Frau? Hat die mich überhaupt schon mal gesehen? Ich hab echt alles vergessen von früher.«

»Luisa? Doch. Einmal. Als Lea sechs wurde, wir haben eine Schnitzeljagd gemacht, im Tierpark. Alle zusammen.«

Es klingt so, als seien sie und ihre Mutter damals eingeladen gewesen, dabei war es ein Zufall, dass sie sich an jenem Tag auf dem Abenteuerspielplatz begegnet sind. Er lässt es [26] so stehen und hofft, dass sie nicht nachfragt. Er denkt nicht gern an dieses Zusammentreffen zurück, vor allem nicht an Luisas Tränenausbruch in der folgenden Nacht und ihr überraschend ordinäres Geschrei. Sie war in Not, und er hat sie nicht trösten können. Jeden Tag hat sie von neuem mit der Chose angefangen, wochenlang.

»Im Tierpark? Echt? Auch meine Mom?«

»Ja. Ihr habt euch also alle schon mal getroffen.« Er grinst kurz in ihre Richtung, konzentriert sich dann wieder auf die Straße.

»Kein Schimmer«, sagt sie. »Wahrscheinlich irgendwie ins Unterbewusstsein gerutscht. Aber vielleicht macht es ja klick, wenn ich sie nachher sehe. Sie ist Ärztin oder so was, stimmt’s?«

»Physiotherapeutin. Mit eigener Praxis. Und vier Angestellten.«

Oder im Moment nur drei? Hat sie nicht neulich erwähnt, dass sie jemanden sucht? Daniel muss sich eingestehen, dass er es nicht genau weiß. Dabei bewundert er Luisa für ihre berufliche Karriere, aber er ist auch stolz auf sich selber, weil er ihrem Erfolg ganz bewusst nicht im Weg gestanden hat, immer hat er ihr und ihrer Arbeit den Vorrang gelassen. Dass er seit Jahren finanziell von ihr abhängig ist, hat er früher eher sportlich genommen, es war modern und zeugte von Aufgeklärtheit, wenn ein Mann zu Hause bei den Kindern blieb. Inzwischen fühlt er sich in dieser Rolle nicht mehr so wohl. Am meisten macht ihm zu schaffen, dass der Unterhalt für Emma vom gemeinsamen Konto abgebucht wird, auf das er selber kaum etwas einzahlt. Er verkauft kaum mehr als zwei oder drei Bilder pro [27] Jahr, und obwohl er inzwischen für die großen mindestens fünftausend verlangt, sind die Preise ein Witz, gemessen am Aufwand.

»Wie lange kennt ihr euch?«

»Im nächsten Oktober zwanzig Jahre.« Er wechselt die Spur, allmählich gewöhnt er sich ans Linksfahren.

»Wahnsinn. Meine Mom hat es nicht mal fünf Jahre ausgehalten. Dabei ist Amos ganz okay, finde ich. Und davor war sie schon mal verheiratet.« Ihr bräunliches Knie berührt seinen Oberschenkel.

»Ich hab Glück gehabt mit Luisa«, sagt er und nimmt sein Bein eine Winzigkeit zur Seite. »Wir sind aber nicht verheiratet.«

»Echt? Und warum nicht?«

»Wer braucht schon einen Trauschein. Wenn man sich liebt?«

»Stimmt.« Sie denkt einen Moment nach, dann stemmt sie beide Hände gegen den Autohimmel, dehnt sich mit einem kleinen Seufzer und sagt: »Ich glaube, ich werde auch nicht heiraten. Ich nehme mir ein Beispiel an dir.«

Er sieht eine glatte Achselhöhle und schaut schnell wieder auf die Straße. Soweit er weiß, rasiert Lea sich noch nicht, weder die Achseln noch die Beine, sie schminkt sich auch nicht, in ihrem Fach im Badezimmerschrank stehen außer Waschlotion nur ein Deoroller und irgendwas für die Haare, seit ihrem radikalen Haarschnitt sind auch sämtliche Spangen und Haarreifen verschwunden. Emma benutzt Make-up, sie ist viel zu blond, um von Natur aus so tiefschwarze Wimpern zu haben.

Er muss akzeptieren, dass sie kein kleines Mädchen mehr [28] ist, wie Lea. Er darf sich von diesem Körper nicht irritieren lassen, es ist der Körper seiner eigenen Tochter. Er braucht nur eine Gewöhnungszeit, morgen oder übermorgen wird er sie mit den gleichen Augen betrachten wie die beiden anderen. Ganz und gar väterlich.

Aber ist diese kleine Phase des Kennenlernens nicht etwas Wunderbares? Ein unerwartetes Geschenk? Er hätte nicht gedacht, dass sie ihm so offen und ohne Vorbehalte gegenübertreten würde und dass er mit ihr so ungezwungen reden kann, wie es ihm mit Jasper schon lange nicht mehr gelingt, mit Lea ist es sowieso etwas völlig anderes. Er will nicht, dass es schon bald zu Ende ist, die Harmonie soll andauern, sie brauchen noch Zeit für sich.

Er schaut auf die Uhr und sagt: »Hast du auch Hunger? Sollen wir irgendwo anhalten und einen Happen essen?«

»O Gott«, sagt sie erschrocken.

Irritiert schaut er zu ihr hinüber.

»Jetzt hab ich die Geschenke für euch vergessen. Fällt mir grad ein, die liegen zu Hause auf meinem Bett. Ich hab sie nicht eingepackt. Ich war so aufgeregt, weißt du?«

Er lächelt. »Wir haben alles, was wir brauchen. Hauptsache, du bist da.«

[29] 4

»Wenn du den ganzen Schrott hier neu erfinden müsstest. Wie würde das aussehen?«

Jasper fixiert den schillernden Ölfleck, der unter ihnen träge auf dem schmutzigen Wasser schaukelt. Neben ihm sitzt Can, beide haben die Hände aufgestützt und schlagen in unregelmäßigem Rhythmus mit den Füßen gegen die Kaimauer. Es ist fast windstill, der Himmel ist von gleichmäßigem Grau überzogen. Von einem der zahllosen Boote, die in Reih und Glied an den Stegen liegen, klingen Gelächter und Musik herüber.

»Neu erfinden? Wie meinst du das?«

»Na ja. Die Welt und so. Alles eben.«

»Wie Gott?«

»Wenn du an den Alten glaubst? Ich würde jedenfalls Geschichte abschaffen, als Erstes.«

»Schaff doch gleich die ganze Schule ab.«

»Treffer«, sagt Jasper. »Und England. Poff und ex.«

»Dann wärst du jetzt auch weg.«

»Quatsch. Vorher würde ich mich natürlich nach Frankreich beamen«, sagt Jasper. »Sète käm echt gut jetzt. Bestimmt geiles Wetter da. Sauheiß.«

Mit der ganzen Clique in Sète, davon hat er monatelang phantasiert, den ganzen Tag am Strand abhängen, endlos [30] am Wasser lang laufen, möglichst nur er und Natalie, ohne die anderen. Und nachts in die Disco. Jetzt hockt sie in ihrem dänischen Ferienhaus und er auf diesem beschissenen Kahn.

Er schaut rüber zur Darling 11, die ausgerechnet zwischen zwei frischlackierten Cremeschnitten ihren Platz hat. Die schmutziggrünen Aufbauten erinnern Jasper an ausgekotzten Spinat. An der Wäscheleine auf dem Hinterdeck hängt was widerlich Geblümtes, sieht echt aus wie ein Spießerboot, die Schaluppe.

»Liebling zwei«, sagt er abfällig, beugt sich vor und spuckt ins Wasser. »Doch voll madig, so einen abgefuckten Kasten Liebling zu nennen. Und wieso eigentlich zwei?«

»Na ja? Vielleicht gibt es ja ein halbes Dutzend von diesen abgefuckten Kästen. Liebling eins bis sechs. Weil die Typen hier zu faul sind, sich Namen auszudenken.«

»Quatsch. Liebling kann immer nur einer sein, du kannst nicht sechs Lieblinge gleichzeitig haben. Wahrscheinlich ist Liebling eins abgesoffen, und jetzt ist es nur eine Frage der Zeit, bis der zweite Liebling da drüben auch weggluckert.«

»Schiffe sind weiblich«, sagt Can.

»Eben. Die Liebling. Total daneben. Wo bist du in den Ferien gewesen? Auf der Liebling zwei.«

Sie schweigen und schauen ins Wasser. Dann sagt Can: »Komisch eigentlich. Ich meine, dass Schiffe immer weiblich sind.«

»Flüsse sind es auch.«

»Nur die kleinen. Der Rhein, der Orinoko, der Amazonas. Der Nil. Na, und der Po.«

[31] »Der Ganges.«

»Nur bei uns. In Indien ist er weiblich.«

»Wer. Der Ganges? Die Ganges?«

»Unsere Nachbarn waren da«, sagt Can, »letztes Jahr. Oben an den Quellen, im Himalaya. Die sind total heiß, da baden die drin, die Inder. Die beten den Ganges an, glaube ich, er ist ein Gott für sie.«

»Was jetzt. Gott oder Göttin.«

»Göttin. Sie nennen den Ganges die Ganga.« Can hebt seine Beine, stellt die angewinkelten Füße übereinander und peilt über die Spitze seines Turnschuhs. »Siehst du den Turm da drüben? Wie weit weg, was schätzt du?«

Jasper sucht das jenseitige Ufer ab. »Das Teil da hinten auf dem Hügel?«

»Na?«

»Und wie willst du das kontrollieren?«

»Vielleicht weiß ich’s einfach besser als du.«

»Klar«, sagt Jasper. »Du mal wieder. Vierzehn Komma drei?«

»Meilen oder Kilometer?«

Jasper zögert. »Meilen«, sagt er dann.

»Exakt«, sagt Can.

Wieder starren sie eine Weile schweigend ins Wasser. Dann stöhnt Jasper auf. »Die Liebling«, sagt er. »Poff.«

»Jetzt warte doch mal ab. Vielleicht wird’s gar nicht so schlimm.«

»Glaubst du doch selber nicht.« Jasper reibt sich die bloßen Unterarme, er hat Gänsehaut, es ist kühl geworden. Auf einem der Hausboote kreischt ein Kind auf, jemand klopft irgendwo Metall gegen Metall. »Wenn wir [32] wenigstens schon unterwegs wären«, sagt er. »Alles nur wegen dieser amerikanischen Tennismaus.«

»Poff«, sagt Can.

»Genau. Poff«, erwidert Jasper. »Weißt du, was ich echt scheiße finde? Dass meine Mutter mir nicht erlaubt hat, wenigstens eine kleine Runde zu drehen. Als wenn ich nicht wüsste, wie man so einen Kahn bewegt. Doch lachhaft.«

»Geiles kleines Rennboot könntest du herlegen. Ich mein, wenn du sowieso alles neu erfindest.«

»Und einen Heli, der bringt uns dann nach Sète.«

»Jetzt? Oder vor einem Jahr?«

»Zeitreise, ey. Gute Idee. Sag mal, hast du zufällig was dabei?«

Can klopft auf seine Hosentasche. »Zufällig. Oder glaubst du, ich lass das auf dem Boot?«

 »Okay, okay«, sagt Jasper. »Aber meine Mutter schnüffelt echt nicht rum.«

»Und deine Schwester?«

»Vergiss meine Schwester. Die weiß sowieso Bescheid. Seilen wir uns kurz ab?«

»Wir haben gesagt, wir bleiben in der Nähe, oder? Dein Vater kann jeden Moment zurück sein.«

»Na und? Wir vertreten uns nur mal eben die Beine, nur mal kurz um den Schuppen da hinten. Jetzt mach schon.« Jasper steht auf, vergräbt seine Hände in den Hosentaschen und wippt ungeduldig in den Knien. »Wenn er inzwischen kommt, gibt’s doch erst mal stundenlanges Tralala mit der Amimaus und meiner Mutter. Bis die sich eingekriegt haben, sind wir längst zurück.«

»Ich glaub nicht, dass wir das hinkriegen«, sagt Can und [33] nickt zur Darling 11 hinüber. Lea ist mit einem Eimer an Deck aufgetaucht und winkt ihnen zu, sie sollen kommen.

»Fuck«, sagt Jasper.

[34] 5

immer noch 14. August

Nur ganz schnell, weil wir gleich in den Ort gehen, fish and chips essen. M hat gesagt, dass wir jetzt nicht länger auf P und Emma warten. Sie hat sich geschminkt und ihre Perlen an die Ohren gesteckt, ich glaube, sie hat auch Schiss. Mein idiotischer Br und Can müssen sich saubere T-Shirts anziehen, damit Emma keinen falschen Eindruck bekommt, und mich hat sie gezwungen, mein Sweatshirt einzuweichen, vor ihren Augen, in einem total gammligen Eimer, damit es bei Emmas Ankunft 100 pro aus dem Verkehr gezogen ist. Sie glaubt echt, dass ein sauberes Sweatshirt einen besseren Menschen aus mir macht. P stören meine Klamotten nie. Ob er wohl so viel meckern würde wie M, wenn er das Geld verdienen würde und nicht sie?

In dem Buch, das ich vor der Abreise gelesen habe, steht, wie der Name Känguru entstanden ist. Als James Cook nach Australien kam, sah er jede Menge komische Tiere auf ihren Hinterbeinen rumhüpfen, und er hat einen Aborigine gefragt, auf Englisch natürlich, wie diese Tiere heißen, how do you call these animals wahrscheinlich. Der Aborigine hat Känguru gesagt, das ist Aboriginesprache und bedeutet, ich verstehe nicht. Und James Cook hat gedacht, die Tiere heißen so. Und jetzt heißen sie so. Bis später.

[35] PS. Ich bin total gespannt auf Emma!!! Außerdem sterbe ich vor Hunger!

[36] 6

Auf dem Rückweg spielt sie mit den beiden Schlüsseln in der Tasche ihrer dicken grünen Strickjacke, ihre Kleidung riecht nach Fisch und Frittierfett, aber nicht unangenehm. Neben ihr trottet Lea, immer einen Schritt hinterher. In einiger Entfernung laufen Jasper und Can mit der Taschenlampe voraus, deren Strahl sie sinnlos durch die Dunkelheit fahren lassen. Blitzartig erhellt er die Fassade eines Andenkenshops, die überquellende litterbox neben einer Holzbank, bohrt sich wie ein Disco-Laserstrahl in den sternenlosen Nachthimmel, um abzukippen und einen schwankenden Lichtkegel auf den gepflasterten Gehweg zu werfen, alles in hastigem Hin und Her. Es ist nicht so dunkel, dass sie den Weg nicht finden würden, und wenn Luisa wüsste, dass es ihr Sohn ist, der die Lampe trägt, würde sie ihn auffordern, die Batterie zu sparen.

Sie hat nach den fish and chips noch ein zweites stout getrunken und findet jetzt nichts mehr dabei, dass sie die Tür am Heck verschlossen hat, als sie vorhin losgegangen sind. Man hat ihnen bei der Übergabe der Darling 11 zwei flache Schlüssel an einem Schlüsselring ausgehändigt, kann sie etwas dafür, dass Daniel nicht daran gedacht hat, einen davon mitzunehmen? Sie selber hat auch nicht daran gedacht, aber sie muss ja auch kein Kind vom Flughafen abholen.

[37] Zu Hause, gestern Nacht, als Lea und endlich auch Jasper schlafen gegangen waren und sie und Daniel, wie immer in letzter Minute, ihre Reisetaschen gepackt haben, hat er sich bei ihr bedankt. Er hat sie großherzig genannt, weil sie sich so spontan bereiterklärt hatte, Emma einzuladen. Sie hat leichthin abgewiegelt, aber in Wahrheit ist sie seiner Meinung. Nicht viele Frauen würden das Nebenkind ihres Mannes mit auf einen Familienurlaub nehmen. Daniel glaubt, sie hat seinen Betrug längst verwunden, hat ihm verziehen, ein für alle Mal. Lange genug ist er damals mit eingezogenem Schwanz herumgeschlichen, was Luisa einerseits mit Genugtuung erfüllt hat, ihr andererseits auf die Nerven gegangen ist. Wahrscheinlich gibt es nach einem Vertrauensbruch für den Missetäter keine richtige Methode des Verhaltens oder Wiedergutmachens. Ein Bruch ist ein Bruch ist ein Bruch.

Aber es stimmt, dass sie Emma gegenüber keine besonderen Vorbehalte hat, ihr anhaltender Zorn, von dem Daniel nichts ahnt, richtet sich gegen die Frau, die in ihre Ehe eingebrochen ist und mit allen Mitteln versucht hat, ihr den Mann wegzunehmen. Dass die Krampfhenne damals so schnell schwanger wurde, war mit Sicherheit ein Erpressungsversuch. Unverzeihlich. Und wenn sie jetzt in Schwierigkeiten ist, kümmert das Luisa eigentlich einen Dreck. Dass sie dennoch bereit war, Emma einzuladen und damit deren Mutter zu helfen, hat andere Gründe, über die Luisa im Moment nicht nachdenken möchte.

Sie hat Urlaub, sie wird sich um ihre Familie kümmern, sie wird die beiden Wochen genießen, und nicht zuletzt wird sie ihr angeschlagenes Verhältnis zu Daniel in Ordnung [38] bringen. Wenn sie nur ausgeruht ist, wenn sie Zeit füreinander haben, wird sie seine Qualitäten wieder schätzen lernen und seine kleinen Schwächen vielleicht sogar liebenswert finden können.

Sie hält inne, legt ihren Arm um Leas Schultern und wechselt den Schritt, um im Gleichtakt mit ihrer Tochter weiterzugehen. »Wir werden es wunderbar haben, mein Schatz. Morgen scheint bestimmt die Sonne.«

»Jedenfalls müssen wir irgendwohin, wo man schwimmen kann.« In Leas Stimme schwingt ein vorwurfsvoller Unterton mit, Luisa wird ihn ignorieren. »Hast du gesehen, wie dreckig das Wasser ist, da im Hafen? Ich hab zwei tote Fische gesehen, Bauch nach oben. Außerdem ist mir ein bisschen schlecht. Dir auch?«

»Du kannst dich gleich hinlegen«, sagt Luisa, zum ersten Mal an diesem Tag fühlt sie sich entspannt und optimistisch. »Es war anstrengend heute. Und vielleicht hättest du nicht so viel von der fettigen Mayonnaise essen sollen.«

»Von Mayonnaise ist mir noch nie schlecht geworden.«

»Es gibt Mayonnaise und Mayonnaise«, sagt Luisa und zieht Lea enger an sich. »Das ist nun mal so. Du isst hundert Äpfel, und sie sind alle prima, und dann erwischst du einen, der hat einen Wurm.«

»Man kann Mayonnaise nicht mit Äpfeln vergleichen.«

»Du weißt, was ich meine. Dass es im Leben immer mal irgendwie schiefgehen kann. Vorübergehend. Wenn man das von vornherein einplant, kann man sich Enttäuschungen ersparen.«

»Machst du das so? Du planst schon ein, dass irgendwas schiefgeht?«

[39] »Na ja. Ich plane es nicht direkt ein. Aber ich weiß, dass es passieren kann. Und weil ich es schon weiß, theoretisch, ist es dann vielleicht nicht so schlimm.«

»Aber wie kannst du wissen, was alles passieren kann. Wenn jetzt ein Meteorit einschlägt zum Beispiel. Genau hier. Das geht wahnsinnig schnell, der zischt nur so runter, und alles verglüht.«

Luisa fragt sich, ob sie selber als Kind Angst vor einem möglichen Meteoriteneinschlag gehabt hat, sie kann sich nicht daran erinnern. Sie hat Angst vor Schlangen gehabt und vor schwarzen Kapuzenmännern, die nachts draußen hinter den Büschen lauerten oder auch im Haus, hinter der Kellertür, und später dann vor unsichtbarer atomarer Verseuchung, als ihr Vater überlegt hat, einen strahlensicheren Raum zu installieren und ihre Mutter endlose Vorräte anschaffte. Aber Meteoriten?

»Klar beobachten sie den Himmel immerzu«, sagt Lea. »Aber vielleicht kommt mal einer runter, der ist so schnell, dass sie uns gar nicht warnen können.«

»Du hast nicht im Ernst Angst davor, oder?«

»Wir würden zusammen sterben«, sagt Lea. »Alle. Auf einen Schlag. Wär doch gar nicht so schlecht. Wenn schon, denn schon.«

Luisa bleibt stehen. Dass Lea solche Gedanken hat, schockiert sie. »Wieso denkst du an so etwas!«

Lea geht ungerührt weiter. »Wieso nicht?«

Luisa setzt sich wieder in Bewegung und schließt zu Lea auf. »Weil es so negativ ist. Ich meine, in deinem Alter, das ganze Leben liegt doch vor dir. Und die Wahrscheinlichkeit ist gleich null, mit dem Meteoriten, das musst du zugeben.«

[40] Lea lässt nicht locker. »Jedem kann alles passieren, jederzeit, an jedem Ort. Dann ist es doch eigentlich egal, ob du das vorher eingeplant hast oder nicht.«

Luisa unterdrückt einen Seufzer, sie will keine seufzende Mutter sein. Sie würde gerne das Thema wechseln, dieses Gespräch geht ihr auf die Nerven, es macht sie ungeduldig. In letzter Zeit geht es ihr mit Lea oft so, und mit Jasper und Daniel läuft es nicht viel besser. Aber hat sie sich nicht vorhin noch vorgenommen, Geduld aufzubringen und Toleranz?

»Okay«, sagt sie und bemüht sich, ihre Stimme leicht klingen zu lassen. »Und was willst du mir damit sagen?« Der Umgang mit ihren Patienten hat sie gelehrt, dass freundliches Nachfragen beruhigend wirkt.

»Keine Ahnung«, sagt Lea, während sie um den großen Hafenschuppen biegen, der grobe Schotter knirscht unter ihren Füßen. »Ich hab es mir nur gerade mal vorgestellt. Darf man das nicht?«