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Mirko Bonné

Mein Fehmarn
Fehmarn mein

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Für Maximilian

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2017 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag Hamburg

Abbildung istock.com / mitza

Karte Peter Palm, Berlin

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-360-6

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-210-4

www.mare.de

Er det min barndoms drømte sommertime
splintret som i tidsforskudte lyn?

Inger Christensen

Ist das die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit,
zersplittert wie in zeitversetzten Blitzen?

Inhalt

1Untergänge

2Finger im Mund

3Der Tod auf Fehmarn

4Ein Zelt auf dem Meeresgrund

5Taubenperspektive

6Die versteinerte Gitarre

7Tunnel am Ende des Lichts

1 Untergänge

Die Reise zurück beginnt mit der Erinnerung an das lichte Dunkel hinter den geschlossenen Augen. Es ist die Erinnerung an ein Zimmer, in dem ein Junge im Bett lag. An diesem ersten Morgen auf der Ferieninsel weckte ihn früh ein geistergleiches und doch vertrautes Geräusch. Er lag da, hielt die Lider geschlossen, und noch eine ganze Weile lang kamen ihm seine Augen unnötig vor.

Für die Träume, die er in der ersten Nacht auf Fehmarn gehabt hatte, waren Augen ja auch unnötig gewesen. Er war außerdem überzeugt, alles, was in dem Zimmer von Bedeutung war, bestens zu kennen: Der Junge wusste, er hatte langes dunkelbraunes Haar und einen Stirnwirbel, den er verabscheute. Er wusste, er hieß Marko. Er wusste, dass Sommer war, der zehnte Sommer in seinem Leben. Es war August, und das Jahr nannten die Erwachsenen 1975.

Marko wusste, wo er war und welche Zeit für ihn anbrach. Er hatte auf dem Bauernhof auf Fehmarn, wo er zum ersten Mal gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Vater die Sommerferien verbrachte, zusammen mit seinem Bruder ein Zimmer, das »Mansarde« hieß. Dort lag er in seinem Bett, es war früh am Morgen, drüben an der Wand schnarchte Stipe leise, und bestimmt fiel warmes, pulsierendes Licht durch das Fenster.

Für Marko war das Jahr, als er zum ersten Mal nach Fehmarn kam, das, in dem sich alles geändert hatte. Er nannte 1975 deshalb »das Jahr, in dem alles anders wurde«.

Das Geräusch, das er hörte, war Taubengurren. Doch war dieses rollende und schnarrende Vogelgegurgel so laut, als säße die Taube nicht draußen auf der Regenrinne oder irgendwo in einer Kastanienkrone, sondern – und das war es in Wirklichkeit, was ihn die Augen fest zusammenkneifen ließ – als hockte sie auf der Bettdecke.

Marko war sich nicht sicher, hielt es aber für sehr wahrscheinlich, dass eine Taube gurrend auf seiner Bettdecke saß.

Fest stand: Etwas war da auf seiner Brust, etwas, das sich nicht bewegte. Es war schwer, und es hatte das Gesicht dieses anscheinend schlafenden Jungen genau vor sich. Es gurrte. Da nichts anderes auf der Welt gurrte, konnte es nur eine Taube sein.

Nein, er würde die Augen nicht aufmachen, sondern seinen Bruder um Hilfe bitten. Stipe war zwar ein gutes Jahr jünger als er, manchmal jedoch viel mutiger und meistens auch stärker und schneller, während Marko annahm, der etwas Klügere und Raffiniertere zu sein. Vielleicht aber stimmte das gar nicht.

Er wusste, die Chancen, Stipe allein durch Flüstern aufzuwecken, waren sehr gering.

»Stipe!«, flüsterte er, und weil nichts passierte, wiederholte er es, und dann noch mal. Er zischte so laut, wie es ging, ohne die Taube zu erschrecken.

»Stipe, bitte! Stipe!«

Nichts geschah, nur in seinen Gedanken.

Wie sollte sie hereingekommen sein?

Als er die Lider aufklappte, so abrupt wie nur möglich, erblickte er nichts, was einer Taube ähnlich sah. Er hatte recht gehabt: Ein warmes, beinahe goldenes Licht fiel ins Zimmer. Und als hätten seine Augen Ohren, erkannte er jetzt auch sofort, dass das Gurren genauso wie das Licht von draußen kam. Die Taube oder die Tauben, wenn es mehrere waren, saßen auf der anderen Seite der Fensterscheibe. Sie gurrten und gurgelten, und ab und zu flatterte eine mit ihren Flügeln. Es war ihnen gleich, ob er schlief oder wach war, es war ihnen so gleichgültig wie seinem schnarchenden Bruder.

Marko hob den Kopf. Und vorsichtig spähte er so über den Bettdeckenrand und hinunter auf das schneebedeckte Inselgebirge seines zehn Jahre alten Körpers.

Nicht auf seiner Brust, aber knapp darunter und in den weißen Falten des Bettzeugs versteckt, lag das dicke Buch, das ihm am Abend aus den Händen gerutscht sein musste, als er, erschöpft und ausgelaugt von der nicht enden wollenden Autobahnfahrt vom äußersten Süden bis fast in den höchsten Norden des Landes, eingeschlummert war.

Zehn Stunden lang hatte die Fahrt vom Tegernsee bis nach Hamburg und dann weiter bis zur Ostsee gedauert. Marko war sie vorgekommen wie die Reise in ein neues Leben für Stipe und für sich.

Der bärtige Mann am Steuer war ihr Vater, er selbst und ihre Mutter behaupteten das, weshalb es wohl stimmte, doch erinnern konnten sich Marko und Stipe kaum an ihn. »Ab in die Falle, oder es kracht im Karton«, hatte er früher gesagt, als sie klein gewesen waren und er noch keinen Bart gehabt hatte. Und wenn sie dann noch immer nicht ruhig gewesen waren, hatte er damit gedroht, einen von ihnen in den Schrank zu sperren, zum Knochenfuchs, der dort im Dunkeln die Füße fraß.

Sechs, sieben Jahre lang hatten sie in ein paar bayerischen Dörfern und Städtchen am See ihr Leben ohne ihn geführt. Sie hatten viel Zeit mit den Großeltern verbracht, hatten vom Freund ihrer Mutter, den sie Onkel Werner nannten, schwimmen gelernt, waren zur Schule gekommen, hatten die Schule gewechselt, hatten immer andere Freunde und große goldene Gokarts und Bonanzaräder gehabt. Ihr Vater war nie aufgetaucht, angeblich, weil Onkel Werner ein alter Freund von ihm war. Konnte das ein Grund sein? Stipe war in einen Stacheldraht gerannt und hatte unterhalb des Auges genäht werden müssen, Marko war vom Sockel des Löwendenkmals in der Dorfmitte gefallen und hatte sich den Fuß gebrochen. Stipe wollte Profifußballer werden, und Marko war seit einem Urlaub mit ihren Großeltern am Mittelmeer fest entschlossen, als Matrose auf einem großen Segelschiff anzuheuern.

Ihr Großvater war gestorben. An dem Abend, als Deutschland Fußballweltmeister wurde, war er eingeschlafen und am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht. Und wenig später war auch Onkel Werner gestorben. Er hatte zu viel geraucht, sein Herz war stehen geblieben, und keiner hatte es wieder zum Schlagen bringen können. Ihre Mutter war vor Kummer ganz weiß und schmal gewesen.

»Ich bin neunundzwanzig und am Ende meiner Kraft«, hatte sie zu Marko und Stipe gesagt. »Euer Vater muss uns jetzt helfen.«

Das dicke Buch auf Markos Brust hieß zwar DIE PRACHTVOLLSTEN SEGELSCHIFFE DER WELT, doch mit einem kunstvoll eigens dafür gebastelten Aufkleber hatte Marko den Titel verändert, so wie er das ganze Buch in den letzten Monaten allmählich umgeformt und praktisch von innen zum Bersten gebracht hatte.

DIE PRACHTVOLLSTEN SEGELSCHIFFE DER WELT UND IHRE NACHTRÄGLICHE NEUERFINDUNG DURCH MICH lautete der wirkliche und wahre Titel des Buches, wobei Marko noch nicht abschließend entschieden hatte, was durch ihn neu erfunden wurde, nur die Segelschiffe oder doch die ganze Welt.

Er nahm das Buch in die Hände und strich über die Ränder und Kanten. Die Abbildungen, Ausrisse und Zettel, die er auf viele Seiten geklebt hatte, waren nicht überall sauber abgeschnitten und standen über. Aber das störte ihn nicht, sondern ließ das Buch lebendig wirken, so als würde es wachsen. Stipe schnarchte, und die Tauben vor dem Fenster, wo die Insel Fehmarn war, von der er noch nichts gesehen hatte, nur am vorigen Abend ihre tiefe Dunkelheit, gurrten. Es könnte alles auch ganz anders sein … Marko stellte sich vor, wie es wäre, wenn das Buch sich aufplusterte und gurrte und wenn von Stipe nicht das kleinste Geräusch käme und stattdessen draußen auf dem Dach oder in dem Baum, der heraufreichte bis vor das Fenster, die Tauben schnarchten.

Wenn er den Kopf ein wenig zur Seite drehte, sah er an der Tapete über dem Fensterrahmen eine wellenförmige blaue Borte. Darüber verlief ein grauer, an manchen Stellen dunkelgrauer Streifen, der Marko wie Nebel vorkam, Nebel über der See. Wo der Dunst dunkler wird, dachte er, sieht man vielleicht Land, eine Küste. Denn die Borte war nicht nur blau wie das Meer, es war auch ein Segelschiff auf die Tapete gemalt, nicht größer als auf einer Quartettkarte, ein Schoner oder eine dreimastige Bark mit, er zählte, sechzehn Segeln. Das Schiff segelte über die Wände des Zimmers, und Markos Blick folgte seinem Weg. Etwa in Höhe des Kopfes eines Erwachsenen schien es zur Tür hereingesegelt zu kommen, passierte Stipe, der anderthalb Meter darunter noch immer fest schlief, fuhr um die Ecke, hinter dem Kleiderschrank hindurch, kam wieder zum Vorschein und segelte weiter über dem Fenster entlang, um dann an der Wand zurückzukehren zur Tür, durch die es verschwand ins Treppenhaus des Bauernhofs, auf dem ihre Eltern zwei Zimmer gemietet hatten, eins für sich, eins für Marko und Stipe. Der Hof stand in der Dorfmitte von Hinrichsdorf, das zwar der kleinste Ort auf Fehmarn war, doch dafür genau in der Mitte der Insel lag.

Dreizehn Mal war die kleine Schonerbark auf der Tapete zu sehen, immer war es dieselbe, leicht geneigt, in voller Takelung, mit gesetztem Gaffel- und vier Stagsegeln, Flieger, Außenklüver, Klüver und Binnenklüver. Ein so frischer Wind blies, dass die Segel sangen und sich knallend blähten. Marko setzte sich auf. Das Schiff war in voller Fahrt. Er beschloss, dass es nur die Niobe sein konnte.

Zehn Tage lang fuhren sie umher in einem maßlosen Licht, über absolut plattes Land, immer wieder am Meer entlang, durch Geflimmer, durch die Stille, in der nichts zu hören war außer dem Grillengezirpe und dem leisen Surren des Motors ihres Citroën GS. Markos und Stipes Vater hielt währenddessen Reden am Steuer, und auf dem Beifahrersitz versuchte ihre Mutter, den Kummer und die schlechte Laune loszuwerden, was ihr immer öfter auch gelang. Stipe knuffte Marko oder boxte oder kniff ihn, oder sie spielten auf der Rückbank stumm und verbissen das von zwei weißen Lamborghini-Traktoren dominierte Treckerquartett. Durch die Seitenfenster und das Schiebedach strömte süße und zugleich salzige Luft herein, während sie durch nur aus Bauernhöfen bestehende Dörfer oder uralt anmutende blassrote Ortschaften kamen, die Blieschendorf, Teschendorf, Bojendorf, Todendorf, Gahlendorf oder Meeschendorf hießen, oder Gold, oder Orth. Kreuz und quer fuhren sie umher mit dem schneeweißen, lang gestreckten und flach über die Landstraßen und asphaltierten Feldwege fliegenden Wagen, den ihr Vater Simone nannte, nach seiner französischen Lieblingsschauspielerin Simone Signoret, und die Jungs Die Katze, nach einem Film mit Simone Signoret, von dem ihr Vater Tag für Tag immer aufs Neue immer das Gleiche erzählte.

Ob Stipe, während sie in der Katze saßen und über die Insel gondelten, ähnliche Gedanken geheim hielt wie er? Marko fragte sich das sehr oft. Denn auf Fehmarn ging mit ihm etwas Seltsames vonstatten. Er merkte zum ersten Mal, wie eine mit jedem Tag konkretere Vorstellung von einem zugleich vielfältigen und scharf umrissenen Ort Gestalt in ihm annahm – eine Insel in seinem Innern –, und schon bald spürte er, wie sehr er die Insel, die er sah und roch und über die er rannte, wie sehr er ihre Farben und Gerüche, die weiten Felder, auf denen Roggen und Hafer im Wind rauschten und Raps blühte, die Mohnblumen und Kornblumen, die versteinert wirkenden Bäume am Straßenrand, die Füchse, die er manchmal sah, die Krebse, die am Abend aus dem Meer kamen und über den Strand huschten, und die Wolken, die viel schneller, als er es kannte, über den am Horizont so oft rosigen Himmel trieben, wie sehr er das alles lieb gewann. An die Spielkameraden in dem oberbayerischen Dorf mit dem Denkmallöwen dachte er so gut wie überhaupt nicht mehr.

Gleichgültig, wie früh am Morgen es war, ob seine Eltern noch schliefen oder ob es unten im Esszimmer neben der Diele schon Frühstück gab, er sprang aus dem Bett, zog sich an und hastete gähnend, aber mit großen Augen aus dem Haus und über den Hof zu der hangarartigen Scheune, in deren »Fahrt«, wie der alte Bauer den sie durchschneidenden Korridor nannte, ein Angst einflößend riesenhafter Mähdrescher stand. Weil das hellgrüne Ungetüm über Nacht ein ganzes Feld abgeerntet hatte, tickte es leise vor sich hin. Durch die Scheune fiel das Morgenlicht, als hätte die Sonne dort auf dem Strohboden geschlafen.

Immer waren Richardsens schon wach und mit zahllosen Dingen beschäftigt. Der Alte kümmerte sich um die Ställe der Säue und ihrer Ferkel, seine Frau fütterte die Hühner oder lud wie am Morgen zuvor einen ihr bis unter den Busen reichenden Berg Schmutzwäsche in die im Seiteneingang der Scheune stehenden Waschmaschinen, eine für helle, eine für dunkle, eine für bunte Sachen. Wenn Marko dabei zusah, wie die dicke und schöne Frau Richardsen benutzte Handtücher, ölverschmierte Sweatshirts und bekleckerte Kittel in die Trommeln stopfte, dachte er jedes Mal, sie würde die Maschinen füttern, weil sie für sie wertvolle Tiere waren.

In der Küche hörte er die beiden Töchter das Frühstück für die Sommergäste vorbereiten. Im offenen Fenster stand das mit Klebeband umwickelte Transistorradio, in dem lauter Drähte steckten, weil es sonst stumm blieb.

»Butterfly, my butterfly, jeder Tag mit dir war schön …«

In den Hof und Garten dudelten Schlager hinaus, die drinnen Gesche und Dörte mitsangen, Lieder, die Marko dann den ganzen Tag verfolgten:

»Der Junge mit der Mundharmonika singt von dem, was einst geschah, in silbernen Träumen …«

War er selber nicht auch so traurig? Kein Tag, an dem er nicht an seinen toten Opa und den toten Onkel Werner dachte. Aber in diesem ersten Fehmarner Sommer, dem so viele folgen sollten, nahmen die Neugier und das Staunen ihn noch zu sehr gefangen. Traurig würde er erst zwei, drei Sommer später werden, aber das wusste er noch nicht. Im Jahr, in dem alles anders wurde, sah Marko zum ersten Mal im Leben einen echten Leuchtturm, einen, dessen Leuchtfeuer in der Nacht wirklich brannte! Sein Vater sagte, der Leuchtturm Staberhuk sei sogar weltbekannt, denn ein berühmter Maler habe früher darin gewohnt und ihn unzählige Male gemalt. Markos Vater redete gern von berühmten Dingen, berühmten Orten, berühmten Leuten. Er selber war Brotwagenfahrer, er fuhr das Brot aus der Fabrik zu den Supermärkten und räumte es dort in die Regale. Zu Stipe und Marko sagte ihre Mutter manchmal, sie sollten sich bloß nicht täuschen, ihr Vater sei ein berühmter Brotwagenfahrer. Es gebe Leute, sagte sie, die schliefen, und Leute, die die Betten machten.

Zum ersten Mal hatte er den Hamburger Hafen gesehen und war, den Oberarm grün und blau geboxt von Stipe, durch den Elbtunnel unter einem Fluss hindurchgefahren. Er hatte noch nie zuvor eine so große Brücke wie die Hamburger Köhlbrandbrücke gesehen. Aber noch aufregender war es gewesen, als am Horizont das Meer aufgetaucht war und sein Vater die Katze auf die Fehmarnsundbrücke lenkte, die zwar nicht so groß wie die Köhlbrandbrücke war, dafür aber viel schöner. Stipe fand das nicht. Stipe hatte sowieso ein eher gespaltenes Verhältnis zu Fehmarn. Er hatte weglaufen, von der Insel runterlaufen wollen, als sie zum ersten Mal Aale sahen. In Lemkenhafen kamen eines frühen Morgens drei tief im Wasser liegende Fischkutter vom Nachtfang herein, und auf jedem der dickbauchigen Boote, die ganz aus Holz waren und an deren Rumpf lauter schwarze und schwarz-grüne Muscheln klebten, standen zwei Matrosen bis zu den Knien in einer schwappend silbernen Suppe aus nicht mehr lebendigen und noch nicht toten Aalen. Stipe sah das, drehte sich um und rannte.

Das schönste Erlebnis aber war, das fand auch er, dass sie gleich am ersten Tag auf der Insel zum Strand am Grünen Brink fuhren.

Markos Vater sang, als er die Katze in den Dünen parkte.

»Der Junge mit der Mundharmonika

singt von dem, was einst geschah …«

Und seine Mutter, mit ihrer klaren und hellen Stimme, die so gut wie nie sang, sie sang auch.

»… in silbernen Träumen …«

Und wieder der Brotwagenfahrer:

»… von der Barke mit der gläsernen Fracht,

die in sternenklarer Nacht

deiner Traurigkeit entflieht …«

Sie räumten Luftmatratzen, Proviant und fünfzig andere Sachen aus dem Kofferraum, und dann stoben die Jungs voraus durch den heißen und ganz feinen Sand, der nach Fisch und gammelnden Algen roch. Zum allerersten Mal blickten sie über die Ostsee. Da fuhren zwei große blaue Autofähren aufeinander zu und aneinander vorbei, als würden sie durcheinander hindurchfahren. In der Ferne, sehr schmal und grau, fast wie Nebeldunst, sah Marko die dänische Küste und wusste auf der Stelle, dass er sich nicht getäuscht hatte.

Die Tapete in Richardsens Dachzimmer, sie zeigte genau diesen Anblick.

Jedes Mal, wenn ich in den letzten vier Jahrzehnten für zwei Sommerwochen oder ein paar Tage im Herbst auf Fehmarn war, bin ich auf der Suche nach Erinnerungen nicht nur durch Burg gelaufen, den Hauptort der Insel, war nicht nur in den Feldern rings um Hinrichsdorf und an den Steilufern im äußersten Südosten am Leuchtturm Staberhuk unterwegs, sondern fuhr immer auch hinauf in den Norden, bis ich durch Gammendorf kam und nach ein paar Kilometern schließlich an die Beltküste, zum Niobe-Denkmal.

Auf einer planierten und gepflasterten Fläche mitten in den von spärlichem Gras bewachsenen Dünen steht dort ein etwa schulterhoher Findling auf einem steinernen Sockel. Über ihm ragt ein schmaler weißer, stets denke ich: eleganter, schöner Mast auf, mit nur einer Rah, dazu aber einer inseleinwärts zeigenden Spiere, die ihn als Gaffelmast ausweist. Außerdem wirkt der weiße Dünenmast voll getakelt, denn Stahltrossen ahmen Piekfall, Klaufall und andere Taue nach. Segel habe ich an dem Mast nie gesehen. Doch steht man dort in dem fast beständigen Wind und betrachtet das Niobe-Denkmal aus einiger Entfernung, dann gewinnt man den Eindruck, ein nicht sehr großes, aber auch nicht kleines Segelschiff sei hier so im Sand vergraben oder versunken, dass nur mehr der Gaffelmast heraussieht.

Am Fuß des Gedenksteins sind auf einer Bronzetafel sechs so denkwürdige wie merkwürdige Zeilen und ein nichts als empörend anmutender Nachsatz zu lesen:

Am 26. Juli 1932 verunglückte 8000 m von

hier das Segelschulschiff NIOBE.

69 Offiziere und Mannschaften erlitten den Tod

für das Vaterland. In treuem Gedenken

wurde der Grundstein am 26. 7. 1933,

das Denkmal am 15. 10. 1933 feierlich enthüllt.

Es ist nicht nötig, dass ich lebe,

wohl aber, dass ich meine Pflicht tue.

Zwei Fragen stelle ich mir stets, wenn ich am Gammendorfer Strand das Niobe-Denkmal besuche: Was, wenn der Mast, den ich so oft schon berührt habe, wirklich von dem 1932 hier in Sichtweite untergegangenen Segelschiff stammte? Eine Frage, die mich an vielen, vielen Tagen meiner Kindheit und Jugend beschäftigt hat, eine, wie ich finde, bedeutsame poetische Frage. Der Unterschied zwischen dem abstrakten Ding in der Phantasie und dem vermeintlich realen, tastbaren Gegenstand wird darin deutlich. Was ist von Dauer?

Poetisch ist auch die zweite, die ich mir an dem Denkmal immer stelle, poetisch einerseits, politisch andererseits: Dass mein und irgendein Leben nicht nötig seien, dafür aber jede tumbe Pflichthuberei, wer maßt sich an, das zu behaupten oder gar zu bestimmen?

Am Mittag des 26. Juli 1932 sollte das zwölfmotorige Flugboot Do X, damals das bei Weitem größte Flugzeug der Welt, den Fehmarnbelt überfliegen. Eine Gammendorfer Schulklasse mit ihrem Lehrer hatte sich aus diesem Grund am Strand versammelt und beobachtete trotz des sich verschlechternden Wetters an diesem schwülwarmen Hochsommertag aufgeregt die See nördlich der Insel.

Die dänische Küste war von milchigem Dunst verhüllt, und das silberne Flugschiff mit seinen auf den Tragflächen angebrachten Propellergondeln tauchte nicht auf, stattdessen aber am Horizont sehr deutlich ein Schiff, das unter fast vollen Segeln rasch ostwärts strebte.

Die Niobe hatte über Nacht vor der Nordwestküste Fehmarns geankert. An Bord des Segelschulschiffs waren 109 Mann, vor allem junge Kadetten, die drei Wochen lang in der Kieler Bucht ausgebildet worden waren und nun auf See ihre Kenntnisse festigen sollten, daneben Offiziers- und Unteroffiziersanwärter, außerdem die aus rund 30 Seeleuten bestehende Crew und deren Kommandant Kapitänleutnant Ruhfus. Zielhäfen der Niobe waren unter anderem Warnemünde und Świnoujście, das damals noch Swinemünde hieß, geankert werden sollte aber auch vor Visby, dem Haupthafen der schwedischen Ostseeinsel Gotland.

Am Himmel, der über dem Fehmarnbelt so riesig erscheint, türmten sich zerklüftete Gewitterwolken auf, tiefgrau und unruhig. Die meisten der in den Dünen wartenden Jungs und Mädchen, die nach Schulschluss mit ihren Fahrrädern aus Gammendorf an den Strand gekommen waren, hatten längst die Geduld verloren. Es war kurz nach zwei. Es war ein Augenblick wie jeder andere, und nicht alle blickten noch immer in der Erwartung über die Wellen, das berühmte Dornier-Flugzeug würde plötzlich auftauchen und in Sichtweite vorüberfliegen. In Wirklichkeit warteten nur noch wenige. Und so sahen nur eine Handvoll Schüler und Schülerinnen und ihr Lehrer Björnsen in dem Moment übers Wasser, in dem der Dreimaster so unvermittelt verschwand, als hätte die See das Schiff verschluckt. Das Meer, sagten später fast alle übereinstimmend, sei völlig weiß gewesen.

Was zum Untergang der Niobe an jenem Tag führte, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Doch was ist schon zweifelsfrei geklärt. Es gab 40 Überlebende, unter ihnen war auch der Kapitän, und genau wie die Jugendlichen und ihr Lehrer, die acht Kilometer entfernt das Verschwinden des Schiffs mit ansahen, gaben viele der Kadetten, Matrosen und Offiziere, die mit dem Leben davonkamen, zu Protokoll, dass der Segler binnen Sekunden kenterte, unter Wasser gedrückt wurde und nach nicht einmal einer Minute in der Ostsee versank. Dass die Niobe bei voller Fahrt etwas gerammt haben könnte, etwa ein U-Boot oder ein unsichtbar unter der Wasseroberfläche treibendes Wrack, scheint somit ausgeschlossen – ein Leck hätte Alarmsignale zur Folge gehabt, und das Schiff wäre viel langsamer gesunken.

Am Morgen hatte Kapitänleutnant Ruhfus den Wetterbericht für den Fehmarnbelt erhalten: Frische, böige Südost- bis Südwestwinde, zunehmende Bewölkung bei leichtem Niederschlag, mäßige bis gute Sicht. Die Vorhersage von 11:30 Uhr lautete: Gefahr auffrischender Südwestwinde.

Die Niobe war noch keine zwanzig Jahre alt. Allerdings hatte sie bereits vier Mal den Namen gewechselt. Sie hatte nach einem Mann, einem Ort, einem Stern, einer Sagengestalt und einem Vogel geheißen. Sie war rund 50 Meter lang, rund neun Meter breit und hatte einen Tiefgang von knapp sechs Metern. Ihre Wasserverdrängung betrug 675 Tonnen. Als Morten Jensen war sie 1913 im dänischen Frederikshavn vom Stapel gelaufen, war nach Norwegen verkauft worden und hatte dort im Nordmeer als Tyholm Stürme der Windstärken 10 und 11 durchsegelt. 1916 war sie als Holzfrachter auf dem Weg nach England von einem kaiserdeutschen U-Boot aufgebracht und prisengerichtlich eingezogen worden. Unter dem Namen Aldebaran wurde sie kurzzeitig als Hilfsfeuerschiff genutzt, dann 1921 an die Reichsmarine verkauft und umgetauft in Niobe. Während einer kurzen Zeit als Charterschiff erhielt sie ihren fünften und wohl schönsten Namen, aber die Schwalbe, wie sie nun hieß, sollte schon im Jahr darauf erneut Eigentum der Marine werden. 1922 wurde sie grundüberholt und von einem Viermastgaffelschoner umgebaut zu einer dreimastigen Jackass-Bark. Seither hatte sie zehn Jahre lang als Segelschulschiff den Namen einer der tragischsten Frauen- und Muttergestalten der griechischen Mythologie getragen.

Um 13:50 Uhr passierte die Niobe im Abstand von einer halben Seemeile das Feuerschiff Fehmarnbelt. Über die Insel fluteten Gewitterwolken, und auch auf See nahm der Wind zu. Bei leichtem Regen ließ Kommandant Ruhfus sicherheitshalber die Obersegel bergen und Ölzeug ausgeben. Kurz brandete Jubel an Bord auf, denn unvermittelt – niemand hatte die Mannschaft davon in Kenntnis gesetzt – flog die Do X in geringer Höhe vorbei. Dann, pünktlich kurz vor 14 Uhr, stiegen die Kadetten der Backbordwache zum Unterricht in ihren Wohnraum unter Deck. Wegen der schwülheißen Temperatur erging die Erlaubnis, die Bullaugen offen stehen zu lassen.

Das alles hatte er wieder und wieder in dem Bildband gelesen. In DIE PRACHTVOLLSTEN SEGELSCHIFFE DER WELT waren nicht nur Schiffe beschrieben, die durch ihre Eleganz und Windschnittigkeit auffielen, sondern auch solche, die Rätsel aufgaben. Ein rätselhafter Untergang wie der der Niobe