Dr. Daniel – Jubiläumsbox 9 – E-Book: 47 - 52

Dr. Daniel
– Jubiläumsbox 9–

E-Book: 47 - 52

Marie Francoise

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-341-8

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Zu jung, um aufzugeben

Roman von Marie-Francoise

  Dr. Robert Daniel war gerade im Begriff, in seine Praxis hinunterzugehen, als das Telefon klingelte.

  »Herr Doktor! Helfen Sie mir!« drang eine aufgeregte Frauenstimme an sein Ohr.

  »Wer ist denn da bitte?« fragte Dr. Daniel zurück.

  »Berthold«, brachte die Frau hastig hervor. »Katrin Berthold. Ich habe Schmerzen! Und Blutungen! Herr Doktor, ich darf dieses Baby nicht wieder verlieren!«

  »Bleiben Sie ganz ruhig, Frau Berthold«, forderte Dr. Daniel, und seine tiefe warme Stimme zeigte sogar am Telefon Wirkung. »So schnell wie beim letzten Mal kann es nicht mehr gehen. Sie sind schon in der dreiunddreißigsten Schwangerschaftswoche. Legen Sie sich bitte hin, und warten Sie, bis ich komme.«

  Kaum hatte Dr. Daniel das Gespräch mit Katrin beendet, da wählte er auch schon die Nummer der Steinhausener Waldsee-Klinik. Wie immer meldete sich dort die Sekretärin Martha Bergmeier, die gewissermaßen als Mädchen für alles fungierte.

  »Daniel«, gab sich der Arzt zu erkennen. »Frau Bergmeier, ich brauche sofort einen Krankenwagen. Schicken Sie ihn in die Tannenfleckstraße 14. Ich komme dann mit meinem eigenen Auto dorthin. Die Frau, die abgeholt werden muß, heißt Katrin Berthold.«

  »Ich habe alles notiert, Herr Direktor«, versicherte Martha.

  Dr. Daniel überhörte den hochtrabenden Titel, den er eigentlich gar nicht mochte, aber die gute Martha würde sich wohl nie davon abbringen lassen, ihn auf diese Weise anzusprechen – wahrscheinlich, weil sie Dr. Daniel so tief verehrte und der festen Meinung war, kein anderer würde sich mehr für den Posten eines Klinikdirektors eignen als er.

  »Anschließend rufen Sie bitte in München bei Dr. Sommer an«, fuhr Dr. Daniel fort. »Er soll sich auf einen Kaiserschnitt einrichten und den Frühgeborenen-Spezialisten informieren. Die Frau ist in der dreiunddreißigsten Schwangerschaftswoche.«

  »In Ordnung, Herr Direktor«, stimmte Martha eifrig zu.

  Dr. Daniel verabschiedete sich, dann drückte er den Knopf, der ihn direkt mit seiner Praxis im Erdgeschoß verband. Die junge Empfangsdame Gabi Meindl ging dort an den Apparat.

  »Fräulein Meindl, ich habe einen Notfall und muß unverzüglich nach München«, erklärte er. »Versuchen Sie die Patientinnen auf den Nachmittag zu vertrösten, oder schicken Sie sie in die Waldsee-Klinik.«

  »Wird gemacht, Herr Doktor«, versicherte Gabi, und Dr. Daniel wußte, daß es sie sicher einige Mühe gekostet hatte, einen tiefen Seufzer zu unterdrücken.

  Er hatte allerdings keine Zeit, sich darüber irgendwelche Gedanken zu machen, denn jetzt war Eile dringend geboten. Katrin Berthold hatte schon mehrfach komplizierte Schwangerschaften gehabt, von denen die meisten ohnehin in einer Fehlgeburt geendet hatten.

  Gleichzeitig mit den Sanitätern kam Dr. Daniel in der Wohnung der Bertholds an und wurde von der fünfjährigen Bettina stürmisch begrüßt.

  »Meiner Mami geht’s gar nicht gut«, erklärte sie mit kindlichem Ernst, legte ihren Kopf etwas schräg und sah zu Dr. Daniel auf. »Kannst du ihr helfen?«

  »Ja, Bettina, ich denke schon«, meinte Dr. Daniel, während er bereits das Wohnzimmer betrat, wo Katrin blaß und mit angstvoll geweiteten Augen auf dem Sofa lag.

  »Muß ich ins Krankenhaus?« fragte sie, und ihre Stimme bebte dabei.

  Dr. Daniel nickte. »Ja, und zwar nach München. Sie haben noch fast zwei Monate bis zum Geburtstermin, da wollen wir kein Risiko eingehen.«

  Katrin erschak sichtlich. »Aber was geschieht dann mit Bettina? Meinen Mann kann ich um diese Zeit nicht erreichen, und bis meine Mutter aus Stuttgart kommt…«

  »Keine Sorge, Frau Berthold, ich weiß jemanden, der liebend gern auf Bettina achtgeben wird, bis Ihr Mann nach Hause kommt«, beruhigte Dr. Daniel die aufgeregte Frau, dann gab er den beiden Sanitätern ein Zeichen.

  Rasch und geschickt hoben die beiden Männer Katrin auf die fahrbare Trage und brachten sie zum Krankenwagen, während Dr. Daniel ihnen mit der kleinen Bettina folgte. Die Kleine bekam kugelrunde Augen.

  »Darf ich da auch mitfahren?« fragte sie, und ihre Pausbäckchen röteten sich vor lauter Aufregung.

  »Ja, Bettina, ein Stückchen darfst du mitfahren«, antwortete Dr. Daniel liebevoll.

  Die Fahrt führte durch wenige Straßen bis zu dem Haus, in dem Darinka Stöber sich eine kleine Wohnung mit Bianca Behrens teilte. Darinka arbeitete in der Waldsee-Klinik als Krankenpflegehelferin und hatte ein besonderes Geschick im Umgang mit kleinen Kindern. Darüber hinaus war sie seit kurzem die Freundin von Dr. Daniels Sohn Stefan.

  Der Arzt wunderte sich daher nicht sonderlich, als Stefan ihm die Tür öffnete und ziemlich verlegen war, sich so unverhofft seinem Vater gegenüberzusehen. Immerhin hatte Stefan heute früh am Morgen noch behauptet, schnellstens in die Klinik zu müssen, wo er als Assistenzarzt arbeitete. Nun hatte Dr. Daniel ihn also bei seiner kleinen Schwindelei ertappt, und Stefan rechnete immerhin mit einer diesbezüglichen Bemerkung seines Vaters.

  »Die Mutter der kleinen Bettina muß dringend in die Sommer-Klinik«, erklärte Dr. Daniel knapp, ohne auf die Anwesenheit seines Sohnes in Darinkas Wohnung näher einzugehen. »Sei so nett und bitte Darinka, sich ein wenig um das Kind zu kümmern. Ich werde Bettinas Vater informieren, sobald ich ihn erreichen kann.«

  »In Ordnung, Papa«, brachte Stefan noch etwas mühsam hervor, dann nahm er die Kleine kurzerhand auf den Arm.

  Dr. Daniel verabschiedete sich und eilte wieder zum Krankenwagen, der nun den Weg nach München einschlug.

  »So, Frau Berthold, versuchen Sie bitte, sich trotz all der Aufregung ein bißchen zu entspannen«, meinte er. »Ich muß Sie untersuchen.«

  Allerdings war das nur noch eine Formsache. Wie Dr. Daniel schon vermutet hatte, ließ sich die Geburt des Kindes nicht länger aufhalten.

  »Es hat heute früh angefangen«, stammelte Katrin und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Herr Doktor, ich habe das Kleine in den vergangenen Wochen schon gespürt… ich liebe es… bitte sagen Sie, daß ich es nicht verlieren werde.«

  »Dr. Sommer hat eine erstklassige Frühgeborenen-Intensivstation«, erklärte Dr. Daniel, »und darüber hinaus auch einen Spezialisten, dessen Namen man in München und Umgebung kennt.« Er schwieg kurz. »Natürlich wäre es besser gewesen, Ihr Baby wäre noch eine Weile dort geblieben, wo es um diese Zeit eigentlich noch hingehören würde, aber es ist lebensfähig und hat in der Sommer-Klinik die besten Chancen.«

  Daß er im Moment weit mehr um Katrins Leben fürchtete, verschwieg er dabei. Ihr Blutverlust war jetzt bereits enorm hoch, und Dr. Daniel vermutete, daß die Blutgerinnung wieder nicht funktionierte. Das war schon bei der letzten Fehlgeburt ein Problem gewesen, und das schlimmste war, daß der Grund dafür nicht herausgefunden werden konnte.

  Jetzt bog der Krankenwagen in die Auffahrt ein, die zur Notaufnahme führte, dann hielt er mit einem Ruck an. Die Türen wurden aufgerissen und die fahrbare Trage herausgezogen. Im nächsten Moment war auch Dr. Daniels langjähriger Freund Dr. Georg Sommer zur Stelle.

  »Wie sieht’s aus?« wollte er wissen.

  »Es eilt«, antwortete Dr. Daniel. »Der Muttermund ist fast sieben Zentimeter offen, darüber hinaus hat Frau Berthold starke Blutungen. Ich vermute, daß sich die Plazenta ablöst. Die Herztöne des Kindes holpern.«

  »Also Kaiserschnitt«, meinte Dr. Sommer. »Kommst du mit?«

  Dr. Daniel nickte und folgte seinem Freund zum Waschraum.

  »Sie wird Blut brauchen«, erklärte er, während er sich gründlich die Hände abschrubbte. »Die Blutgerinnung scheint wieder nicht zu funktionieren.«

  »Eine EPH-Gestose?« wollte Dr. Sommer wissen, doch Dr. Daniel schüttelte den Kopf.

  »Eben nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber sie wäre mir aus diesem Grund bei der letzten Fehlgeburt schon beinahe weggestorben, und eigentich hatte ich ihr auch von einer weiteren Schwangerschaft abgeraten.«

  Jetzt waren die beiden Ärzte fertig und ließen sich von einer Schwester die keimfreien Handschuhe überstreifen, dann traten sie an den OP-Tisch. Der Anästhesist hatte die Narkose inzwischen eingeleitet. Dr. Sommer ordnete eine Bluttransfusion an.

  »Geben Sie der Patientin zehn Milliliter partielles Thromboplastin intravenös«, fügte er hinzu, während er bereits die Hand ausstreckte und das Skalpell gereicht bekam.

  »Das wird nicht reichen«, prophezeite Dr. Daniel.

  Dr. Sommer sah ihn an. »Bist du sicher?«

  »Absolut sicher.«

  »Erhöhen Sie auf zwanzig Milliliter«, korrigierte Dr. Sommer seine Anordnung, dann setzte er rasch und geschickt den Schnitt. Dr. Daniel setzte die Wundhaken an, damit Dr. Sommer das Baby herausheben konnte. Wie aus dem Nichts tauchte in diesem Moment auch der Frühgeborenen-Spezialist Dr. Senge auf und nahm das winzige Baby entgegen.

  »Meine Güte, was ist denn bloß mit der Blutgerinnung los?« stöhnte Dr. Sommer. »Noch mal zehn Milliliter partielles Thromboplastin.«

  »Der Körper dieser Frau scheint mit jeder Schwangerschaft noch mehr aus den Fugen zu geraten«, meinte Dr. Daniel, während er seinem Freund assistierte, der jetzt die halb abgelöste Plazenta herausnahm.

  »Kammerflimmern!« rief der Anästhesist.

  »Was zu erwarten war«, murmelte Dr. Sommer, nahm von der OP-Schwester die Defibrillator-Paddel entgegen und drückte sie auf die Brust der Patientin.

  »Zurücktreten!« kommandierte er, dann drückte er den Knopf, der einen kurzen Stromstoß durch Katrins Körper jagte. Das gleichmäßige Piepsen des Monitors zeigte an, daß das Herz wieder normal arbeitete.

  »Die Blutung kommt allmählich zum Stillstand«, erklärte Dr. Daniel erleichtert.

  »Mein lieber Mann, das war knapp«, meinte Dr. Sommer, dann sah er seinen Freund an. »Ob sie die nächste Schwangerschaft überleben würde, ist mehr als fraglich.«

  Dr. Daniel nickte. »Ich weiß, und ich habe dir ja vorhin schon gesagt, daß ich ihr sogar schon von dieser Schwangerschaft abgeraten hatte, aber sie hat leider nicht auf mich gehört.«

  Dr. Sommer begann, die Wunde zu schließen. »Diesmal sollte sie es unbedingt tun.« Wieder sah er Dr. Daniel an. »Warum war sie überhaupt zu Hause? Eine solche Risikopatientin gehört doch eigentlich ins Krankenhaus.«

  »Du mußt mir gegenüber nicht den allwissenden Professor spielen, Schorsch«, entgegnete Dr. Daniel. »Ich kann keine Patientin zwingen, ins Krankenhaus zu gehen. Als Frau Berthold schwanger wurde, habe ich ihr dringend geraten, sich stationär in der Waldsee-Klinik aufnehmen zu lassen, aber sie hat es abgelehnt, weil sie ein kleines Kind zu Hause hat. Sie hat mir versprochen, sich zu schonen, und ich war jeden zweiten Tag bei ihr, um ihren Zustand zu kontrollieren. Bis heute früh hatten sich keinerlei Komplikationen ergeben.«

  Dr. Sommer war jetzt fertig und wandte sich der OP-Schwester zu. »Bringen Sie die Patientin bitte in den Aufwachraum. Ich kümmere mich gleich um sie.« Dann sah er Dr. Daniel an. »Du mußt dich vor mir nicht rechtfertigen, Robert. Es hat mich nur erstaunt, weil ich doch weiß, wie verantwortungsbewußt du normalerweise mit deinen Patientinnen umgehst. Und da du über die Risiken sehr genau Bescheid wußtest…« Er winkte ab. »Vergiß, was ich gesagt habe.« Er schwieg kurz, ehe er hinzufügte: »Komm, Robert, schauen wir, wie es dem Baby geht.«

  Das winzig kleine Mädchen lag bereits im Brutkasten.

  »Sie ist eine kräftige junge Dame«, urteilte Dr. Senge mit einem wohlwollenden Lächeln. »Nicht einmal eine künstliche Beatmung ist nötig.«

  »Das ist schön«, meinte Dr. Sommer und griff nach dem Inkubator, um ihn zu Tür zu fahren. »Dann werden wir Mutter und Tochter jetzt mal miteinander bekannt machen.«

  Katrin erwachte gerade aus der Narkose, als Dr. Sommer und Dr. Daniel mit dem Brutkasten an ihr Bett traten.

  »Mein Baby«, murmelte sie.

  »Wird schon geliefert«, erklärte Dr. Sommer lächelnd, während Dr. Daniel seiner Patientin half, sich ein wenig zur Seite zu drehen, damit sie ihr Kind sehen konnte.

  Katrin erschrak ein wenig. »Es ist… so klein.«

  »Aber kräftig und gesund«, entgegnete Dr. Daniel, dann drückte er sanft Katrins Hand. »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer kleinen Tochter.«

  Erschöpft von der Anstrengung ließ sich Katrin wieder zurücksinken, dann glitt ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht.

  »Ein Mädchen«, flüsterte sie. »Wie wird Uli sich freuen. Er wollte doch immer schon ein ganzes Haus voller Mädchen.« Mit dem letzten Wort aber schlief sie unter den Nachwirkungen der Narkose wieder ein.

  »Ein ganzes Haus voller Mädchen«, wiederholte Dr. Daniel ihre Worte leise. »Dieser Wunsch wird sich mit Sicherheit nicht erfüllen.«

*

  Es ging schon auf Mittag, als Dr. Daniel wieder in Steinhausen in seiner Praxis ankam.

  »War’s sehr schlimm?« wollte er von seiner Empfangsdame Gabi Meindl besorgt wissen.

  »Nicht schlimmer als an jedem anderen Montag auch«, entgegnete sie. »Heute nachmittag können Sie sich allerdings auf eine mittlere Invasion gefaßt machen.«

  Dr. Daniel seufzte. »Das hatte ich befürchtet.« Er holte aus seiner Brieftasche einen Zettel und legte ihn vor Gabi auf den Tisch. »Das ist die Telefonnummer, unter der Herr Berthold ab Mittag zu erreichen sein müßte. Versuchen Sie es bitte, und legen Sie das Gespräch dann in mein Zimmer.«

  Es dauerte keine zwei Minuten, bis die Verbindung zustande gekommen war, und Uli Berthold ahnte auch sofort, worum es ging.

  »Ist etwas mit meiner Frau?« stieß er angstvoll hervor.

  »Ihre Frau hat heute ein Mäd-chen zur Welt gebracht«, erklärte Dr. Daniel. »Die Kleine ist zwar ein Frühchen, aber ansonsten gesund und kräftig. Ihre Frau hat den Kaiserschnitt ebenfalls gut überstanden. Sie müssen sich also keine Sorgen machen.«

  Uli atmete hörbar auf. »Gott sei Dank.« Dann fiel ihm seine andere kleine Tochter ein. »Wenn Katrin im Krankenhaus ist – wo ist denn dann Bettina?«

  »Sie wird von unserer Krankenpflegehelferin Darinka Stöber versorgt«, beruhigte ihn Dr. Daniel.

  »Trotzdem werde ich versuchen, gleich nach Hause zu kommen«, versprach Uli, zögerte kurz und erkundigte sich dann: »Darf ich auch mit Bettina zu Katrin in die Klinik kommen?«

  »Ja, natürlich«, stimmte Dr. Daniel zu, der die herrschenden Gepflogenheiten in der Sommer-Klinik sehr genau kannte. »Wenn Sie diesen ersten Besuch bei Ihrer Frau aber lieber allein machen möchten, dann ist Darinka sicher gern bereit, Bettina auch am Nachmittag noch zu betreuen.«

  »Das ist nicht nötig, Herr Doktor. Bettina möchte ihr Schwesterchen sicher auch gleich kennenlernen.« Wieder zögerte er. »War es eine schwierige Geburt?«

  »Wie gesagt, Dr. Sommer und ich mußten einen Kaiserschnitt vornehmen, und…, ich will ehrlich sein, Herr Berthold, es lief nicht ohne Komplikationen ab. Sie erinnern sich wahrscheinlich, daß es damals nach der letzten Fehlgeburt bei Ihrer Frau schon Probleme mit der Blutgerinnung gegeben hat, und das war diesmal nicht anders.«

  »Aber Katrin geht es jetzt wirklich gut, nicht wahr?« vergewisserte sich Uli noch einmal.

  »Ja, Herr Berthold.« Dr. Daniel überlegte, ob er ihm sagen sollte, daß es besser wäre, wenn Katrin jetzt kein Kind mehr bekommen würde, entschied sich jedoch dagegen. Es war unnötig, bei Uli Berthold schon am Telefon sozusagen mit der Tür ins Haus zu fallen. Wenn sich Katrin erst von dem Kaiserschnitt erholt hätte, würde es noch früh genug sein, mit dem Ehepaar ein ernstes Gespräch zu führen.

*

  Zwei Jahre lang hatten Antoinette Barré aus Paris und Patrick Wieser aus Steinhausen vor Gericht um Yvonne gestritten. Jetzt war in letzter Instanz entschieden worden, daß Patrick das Sorgerecht für seine vierzehnjähirge Nichte bekommen sollte, und so stand die völlig verschüchtert wirkende Yvonne Barré an einem entsetzlich heißen Nachmittag – die Ferien hatten am Tag zuvor begonnen – mutterseelenallein auf dem Bahnsteig des idyllischen Vorgebirgsortes, wo sie auf ihren Onkel wartete, der sie von hier abholen sollte.

  Yvonne war ein ausgesprochen hübsches Mädchen mit langen

dunklen Locken und ausdrucksvollen blauen Augen. Die leise Melancholie im Blick und der tiefe Ernst auf dem schmalen, etwas blassen Gesicht weckten Mitleid und den Wunsch, sie liebevoll in die Arme zu nehmen und zu beschützen. In ihrer augenblicklichen Situation kam dann auch noch eine rührende Ratlosigkeit hinzu, die ihren Liebreiz noch verstärkte, während Yvonne immer wieder den Bahnsteig hinauf- und hinunterblickte. Sie konnte einfach nicht glauben, daß niemand hier war, um sie in Empfang zu nehmen. Der Zug, mit dem sie gekommen war, war schon vor einer halben Stunde wieder abgefahren, doch von ihrem Onkel war weit und breit nichts zu sehen.

  »Der wird mich doch nicht etwa vergessen haben«, murmelte sie, dann schleppte sie ihren Koffer in den Schatten des Bahnhofsgebäudes und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf die danebenstehende Holzbank fallen. Das fing ja wirklich ganz hervorragend an!

  Unwillkürlich mußte Yvonne an die Worte ihrer Tante denken. »Was fällt denen überhaupt ein, diesem Bauern ein Kind anzuvertrauen! Patrick hat doch noch nie Verantwortungsbewußtsein gehabt!«

  Antoinette Barré hatte den Bruder von Yvonnes Mutter noch nie leiden können, was Yvonne im Laufe der Zeit natürlich auch bemerkt hatte. Sie selbst konnte sich kein Urteil erlauben, denn sie hatte ihren Onkel Patrick noch nie gesehen.

  Wieder seufzte Yvonne, dann lehnte sie ihren Kopf gegen die Wand hinter der Bank und schloß die Augen. Wie immer, wenn sie unglücklich war oder Angst vor der Zukunft hatte, träumte sie sich in der Camargue zurück.

  Vor vierzehn Jahren war sie auf einem Gestüt in der schier unendlichen Weite der Camargue zur Welt gekommen – in eine Welt voller Pferde. Wenn ihr Vater später mit Freunden zusammengesessen hatte, hatte er mit Vorliebe erzählt, daß Yvonne früher zu reiten als zu laufen gelernt habe. Seine Frau hatte dann immer nur mit einem wissenden Lächeln den Kopf geschüttelt.

  Aber natürlich hatte Yvonne tatsächlich mehr Zeit im Pferdestall und im Sattel als irgendwo sonst verbracht. Zwölf Jahre lebte sie so, wie viele Mädchen in ihrem Alter es sich erträumen, doch dann schlug das Schicksal grausam zu.

  Bei der Fahrt zu einer Pferdeauktion wurden ihre Eltern in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt und starben beide noch auf dem Weg ins Krankenhaus. In einer einstweiligen Verfügung entschieden die französischen Behörden, daß Yvonne zu ihrer Tante, der unverheirateten älteren Schwester ihres Vaters nach Paris ziehen mußte. Von einem Tag auf den anderen änderte sich ihr Leben grundlegend.

  Hatte sie auf dem heimatlichen Gestüt ein riesiges Zimmer unter dem Dach besessen, so mußte sie jetzt in einem kleinen, finsteren Kämmerchen neben der Küche hausen. Bei ihren Eltern hatte Yvonne eine ganze Menge Pflichten gehabt, so hatte sie beispielsweise ihre Sute Belle Blanc selbständig versorgen müssen. Auch ihr Zimmer mußte sie selbst in Ordnung halten. Doch was Tante Antoinette von ihr verlangte, war noch sehr viel mehr. Sie mißbrauchte ihre Nichte im Grunde als Dienstmädchen. Zudem war sie streng und unnachgiebig. Yvonne wurde nicht selten wegen irgendwelcher Nichtigkeiten hart bestraft.

  Dann kam eines Tages der Brief eines Münchener Rechtsanwalts, und nun hörte Yvonne zum ersten Mal von Patrick Wieser – dem jüngeren Bruder ihrer Mutter. Natürlich hatte Yvonne gewußt, daß ihre Mutter ursprünglich aus Deutschland stammte, dann als knapp Zwanzigjährige den Franzosen Alain Barré geheiratet hatte, doch von einem Bruder war niemals die Rede gewesen.

  Yvonne hatte zuviel Angst vor ihrer Tante, um sie nach ihrem unbekannten Onkel zu fragen, doch aus einigen Gesprächsfetzen, die sie in ihrem kleinen Kämmerchen mitbekam, erfuhr sie, daß Patrick etliche Jahre auf einer Ranch in Montana gelebt haben mußte. Trotzdem konnte sie noch immer nicht verstehen, warum ihre Mutter nie etwas von ihm erzählt hatte. Aber noch viel weniger konnte sie die Verbissenheit begreifen, mit der dieser ihr völlig fremde Onkel um sie kämpfte.

  Der Rechtsstreit ging bis zur letzten Instanz, denn auch Yvonnes Tante wollte nicht nachgeben – vermutlich wegen der nicht unerheblichen Erbschaft, die ihre Nichte als Volljährige machen würde. Der Erlös aus der Versteigerung des Gestüts, das ihren Eltern gehört hatte, war auf ein Treuhandkonto gekommen, über das Yvonne von ihrem achtzehnten Geburtstag an würde verfügen können.

  Doch das alles tröstete das einsame Mädchen nicht im geringsten über den Verlust der geliebten Eltern hinweg. Vielleicht wäre es für Yvonne ein bißchen leichter gewesen, wenn sie wenigstens Belle Blanc hätte behalten dürfen, doch die Stute war – wie alles andere – verkauft worden. Aber selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, wo hätte Yvonne das Pferd in einer Stadt wie Paris auch unterbringen sollen?

  Wieder seufzte sie tief auf, als sie jetzt sehr einsam und ängstlich vor dem wie ausgestorben wirkenden Bahnhof saß und darauf wartete, wie ihr Leben hier in Deutschland von nun an aussehen würde. Schlimmer als bei ihrer Tante konnte es zwar eigentlich kaum werden, aber die hatte Yvonne wenigstens gekannt, während Patrick Wieser für sie ein völlig Fremder war.

  Nicht ein einziges Mal war er nach Frankreich gekommen, dabei hatte Yvonne so sehr gehofft, daß sie ihn zumindest sehen könnte, bevor sie zu ihm reisen mußte. In den letzten Tagen vor ihrer Abreise hätte ihr sogar der Blick auf ein Foto genügt, doch Patrick Wieser war für sie wie ein Gespenst – unsichtbar und aus diesem Grunde entsetzlich furchteinflößend.

  »Na, Kleine, wirst du denn nicht abgeholt?«

  Die Stimme des Bahnbeamten riß Yvonne aus ihren trüben Gedanken. Sie sah zu dem freundlich lächelnden Mann auf, dann zuckte sie die Schultern.

  »Ich weiß nicht. Mein Onkel wollte kommen.« Ohne es zu wollen, stiegen Yvonne plötzlich Tränen in die Augen. »Vielleicht hat er es sich anders überlegt und will mich gar nicht mehr haben.«

  Jetzt hatte sie endlich ausgesprochen, wovor sie sich schon seit ihrer Ankunft hier fürchtete – nein, eigentlich schon viel länger, nämlich seit der Entscheidung des Gerichts, denn nicht einmal bei dieser Gelegenheit hatte es ihr Onkel für nötig befunden, sie zu besuchen… sich bei ihr vorzustellen oder sie wenigstens einmal anzurufen. Er hatte lediglich ein Telegramm geschickt. Erwarte Dich zu Beginn der Ferien. Patrick. Das war auch schon alles gewesen.

  »Na, na«, versuchte der Bahnbeamte das Mädchen zu trösten. »So schlimm wird’s nicht gleich sein. Vielleicht verspätet er sich ja nur.« Er schwieg kurz. »Wie heißt du denn?«

  »Yvonne«, brachte sie mühsam hervor. »Yvonne Barré.«

  Ein wenig erstaunt sah der Beamte sie an. Offensichtlich wunderte er sich über das akzentfreie Deutsch, das dieses Mädchen sprach, obwohl es dem Namen nach eine Französin sein mußte.

  »Und wie heißt dein Onkel, Yvonne?« hakte er dann nach.

  »Patrick Wieser.«

  »Patrick Wieser!« wiederholte der Bahnbeamte, dann lachte er. »Das ist also dein Onkel. Na, Yvonne, da mußt du dir keine Sorgen machen, daß er dich nicht haben will. Patrick liebt Kinder, er hat nur meistens so viel um die Ohren, daß er gelegentlich einmal etwas vergißt. Aber da können wir…« Er stockte, als von der Straße her Pferdegetrappel erklang. »Hör mal, Yvonne, das wird er sein.«

  Doch als das kleine Wägelchen mit dem Pony vorne dran um die Ecke bog und vor dem Bahnhof stehenblieb, sprang nicht der von Yvonne erwartete Onkel, sondern statt dessen ein Mädchen in ihrem Alter herunter und lief auf den Bahnhof zu.

  »Entschuldigt«, japste es. »Ariko hat unterwegs ein Eisen verloren, sonst wäre ich pünktlich gewesen.« Dann huschte ein Lächeln über das runde, sommersprossige Gesicht. »Hallo, Yvonne, herzlich willkommen.« Sie schaute Yvonne prüfend an. »Verstehst du überhaupt deutsch?«

  Yvonne nickte. »Ich wurde zweisprachig erzogen.«

  Das Mädchen atmete befreit auf. »Das ist gut. Ich bin übrigens die Kerstin.«

  Auf den Gedanken, daß dieser Name Yvonne vielleicht nichts sagen könnte, kam sie gar nicht erst. Statt dessen deutete sie auf den großen Koffer. »Ist das dein ganzes Gepäck?«

  Yvonne nickte. Dieses fröhliche, unkomplizierte Mädchen brachte sie ein wenig durcheinander. In den letzten beiden Jahren war sie bei ihrer Tante mit Fröhlichkeit nicht gerade überhäuft worden.

  Kerstin ließ sich nicht anmerken, ob sie über Yvonnes Wortkargheit erstaunt oder gar verärgert war, sondern schnappte sich kurzerhand den Koffer und wuchtete ihn auf das kleine Wägelchen. Dann schwang sie sich auf den Kutschbock, wartete, bis Yvonne ebenfalls aufgestiegen war, und winkte dem Bahnbeamten gutgelaunt zu, bevor sie mit der Zunge schnalzte, um das Pony anzutreiben. Ariko trabte auch sofort gehorsam los. Er und Kerstin schienen ein eingespieltes Team zu sein.

  Fasziniert betrachtete Yvonne die hübschen Vorgebirgshäuschen, an deren Balkonen in verschwenderischer Pracht Geranien und Petunien blühten. Kerstin schien hier wohlbekannt zu sein, denn sie grüßte ständig nach allen Seiten, und ebensooft winkten Kinder und Erwachsene ihr vom Straßenrand aus zu.

  »Bist du eigentlich meine… Kusine?« wagte Yvonne schließlich zu fragen.

  Erstaunt sah Kerstin sie an, dann lachte sie. »Ach so, du meinst, ob ich die Tochter von Patrick und Alexandra bin? Nein, leider nicht.« Sie schwieg kurz. »Versteh mich nicht falsch, ich komme gut mit meinen Eltern aus; sie sind schwer in Ordnung, aber Patrick und Alexandra… das wäre schon auch nicht schlecht.«

  Sie hatte die letzten Worte in so schwärmerischem Ton geäußert, daß Yvonne warm ums Herz wurde. Vielleicht traf sie es mit ihrem Onkel ja doch sehr viel besser, als sie zu hoffen gewagt hatte.

  Das Ponywägelchen verließ jetzt Steinhausen, und nach einer Weile bog es in einen schmalen Pfad ein. Nahezu eine halbe Stunde ging es durch Wald und Feld, dann sah Yvonne in der Ferne riesige Stallungen und ein weißgetünchtes Haus auftauchen, das sie an Wildwestfilme aus dem Fernsehen erinnerte. Später passierten die beiden Mädchen ein großes, gemauertes Tor mit einem reichverzierten schmiedeeisernen P in der Mitte.

  »Willkommen auf Patricks Ranch«, erklärte Kerstin und fügte mit einem aufmunternden Lächeln hinzu: »Hab’ keine Angst, du bist hier bei den nettesten Menschen weit und breit.«

*

  Seit einer halben Stunde sah Patrick Wieser unentwegt auf die Uhr.

  »Was ist denn da bloß los?« murmelte er. »Sie müßten doch schon längst hier sein.«

  »Vielleicht hättest du Yvonne doch lieber selbst abholen sollen«, wandte seine Frau ein.

  »Unsinn«, wehrte Patrick ab. »Ich habe mir das genau überlegt, Alexandra. Erstens macht es Yvonne vermutlich weit mehr Spaß, im Ponywagen anstatt in meinem Auto zu fahren, und zweitens ist Kerstin ein Mädchen in ihrem Alter und kein wildfremder Onkel für sie.«

  Mit einem nachsichtigen Lächeln sah Alexandra ihn an. »Das ist auch so ein Punkt, Patrick. Ich kann mir gut vorstellen, daß das Mädchen entsetzliche Angst vor diesem Neubeginn hier hat. Du hättest sie doch zumindest einmal besuchen und dich vorstellen können.«

  »Das konnte ich eben nicht!« entgegnete Patrick mit Nachdruck. »Wenn ich Antoinette nur gesehen hätte, es wäre mir unerträglich gewesen. Ich kann mir gut vorstellen, was sie der Kleinen in den vergangenen zwei Jahren alles angetan hat. Es dürfte auf der ganzen Welt wohl kaum einen Menschen geben, der für die Erziehung eines Kindes, das gerade seine Eltern verloren hat, ungeeigneter wäre als Antoinette.« Er schwieg kurz. »Außerdem… vielleicht bin ich für Yvonne ja gar kein Fremder. Es könnte immerhin sein, daß Diane ihr einmal von mir erzählt hat.«

  »Kannst du dir das wirklich vorstellen?« fragte Alexandra skeptisch. »Nach allem, was geschehen ist? Immerhin hast du mir erzählt…«

  Patrick winkte ab. »Schon gut. Heute weiß ich auch, daß ich Diane meine Hilfe nicht hätte versagen dürfen. Aber damals…, fünfzigtausend Mark waren für mich schon eine ganze Menge Geld. Natürlich hätte ich es gehabt, aber…«

  »Aber du wolltest ja unbedingt nach Montana.« Alexandra wurde ernst. »Ich an der Stelle deiner Schwester hätte dir wahrscheinlich auch nicht verzeihen können. Sie und Alain hätten beinahe das Gestüt verloren.«

  Patrick seufzte, dann fuhr er mit einer Hand durch seine dichten dunklen Locken. »Was glaubst du, wie oft ich mir deswegen schon Vorwürfe gemacht habe? Aber es ließ sich nun mal nicht mehr rückgängig machen. Ich bin nur froh, daß sie das Gestüt trotz allem noch halten konnten – und nicht nur das. Ihre angeknackste Ehe kam durch Yvonnes Geburt auch wieder in Ordnung. Darüber hinaus erlebte das Gestüt in den Jahren danach einen ganz enormen Aufschwung.« Erneut machte er eine bedeutungsvolle Pause. »Vielleicht kann ich meinen Fehler von damals nun auf andere Weise wiedergutmachen – nämlich, indem ich Yvonne zu mir nehme und wir beide ihr die Eltern ersetzen, so gut es geht.«

  Jetzt lächelte Alexandra. »Das wird uns nicht schwerfallen, schließlich haben wir uns immer Kinder gewünscht.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Eigentlich schade, daß Yvonne schon so groß ist.«

  Patrick kannte die Sehnsucht seiner Frau nach einem Baby, und damals, als Dr. Daniel ihr keine Hoffnung auf ein eigenes Kind mehr hatte machen können, hatten sie sich schon fast zu einer Adoption durchgerungen, waren dann aber aus irgendeinem Grund wieder davon abgekommen.

  Sehr zärtlich und liebevoll nahm Patrick seine Frau in die Arme und drückte sie an sich. »Natürlich wäre es schön, wenn Yvonne noch kleiner wäre, und das wäre wohl auch besser für sie, denn so könnte sie den Tod ihrer Eltern vielleicht leichter verkraften, aber sie ist nun mal vierzehn Jahre alt, das läßt sich nicht ändern. Trotzdem wird sie für uns bald wie ein eigenes Kind sein.«

  »Hoffentlich«, murmelte Alexandra, dann sah sie ihren Mann mit plötzlicher Angst im Blick an. »Wenn sie uns nun aber nicht leiden kann?«

  Lächelnd schüttelte Patrick den Kopf. »Das halte ich für völlig ausgeschlossen. Wir lieben Kinder, und wir haben noch mit keinem Kind echte Schwierigkeiten gehabt. Kerstin, Tina, Florian und Chris sind doch fast öfter hier als zu Hause. Warum sollten wir in dieser Hinsicht also ausgerechnet mit unserer Nichte Probleme haben?«

  »Vielleicht hast du recht…«

  Der klappernde Hufschlag eines Ponys unterbrach Alexandra.

  »Da sind sie ja endlich!« rief Patrick und war im nächsten Moment draußen.

*

  Yvonne war noch nicht richtig von dem Wägelchen heruntergeklettert, da stürzte ein braungebrannter junger Mann aus dem Haus auf sie zu, riß sie in seine Arme und wirbelte sie wild herum. Yvonne sah nur ein Paar tiefblaue Augen, dunkle Locken, die sich widerspenstig nach allen Seiten drehten, und einen gepflegten Schnauzbart in dem fröhlich strahlenden Gesicht.

  »Yvonne! Herzlich willkommen, Kleines!«

  Dann stellte er sie wieder auf den Boden und betrachtete sie eingehend.

  »Du bist ganz das Ebenbild deiner Mutter«, stellte er zufrieden fest.

  Völlig verschüchtert angesichts dieser stürmischen Begrüßung stand Yvonne da und wagte kaum, ihm ins Gesicht zu sehen.

  »Du bist ja wohl verrückt, Patrick!«

  Mit diesen tadelnden Worten kam Alexandra auf die beiden zu, nahm Yvonne liebevoll in den Arm und küßte sie auf die Wange.

  »Hallo, Yvonne«, begrüßte sie das Mädchen, und ihr warmherziges Lächeln erinnerte Yvonne dabei an ihre Mutter. »Schön, daß du da bist.« Dann wandte sie sich an Patrick. »Wie kannst du das Kind nur so erschrecken?«

  Ein wenig hilflos zuckte er die Schultern. »Das wollte ich doch gar nicht… ehrlich, Alexandra. Ich habe mich nur so gefreut, sie endlich zu sehen.«

  Mit einem nachsichtigen Lächeln schüttelte die hübsche junge Frau den Kopf, dann nahm sie Yvonne bei der Hand und führte sie ins Haus.

  »Du bist sicher erschöpft von der langen Reise«, meinte sie. »Oben im Badezimmer kannst du duschen, und bis du fertig bist, richte ich dir eine Kleinigkeit zu essen her.«

  »Danke, Tante Alexandra«, brachte Yvonne ein wenig mühsam hervor.

  »Die ›Tante‹ laß mal weg, Yvonne. Sag einfach Alexandra zu mir, ja?«

  Sie konnte nur nicken. Diese herzliche Begrüßung, die freundlichen Worte, das Gefühl, wirklich willkommen zu sein, machten ihr ein wenig zu schaffen. Nach den lieblosen Jahren bei Antoinette Barré konnte sie sich nicht so rasch an dieses völlig andere Verhalten, das ihr hier entgegengebracht wurde, gewöhnen. Vielleicht wartete sie aber auch nur ab, ob die Freundlichkeit von Dauer sein würde. Tief im Innern hatte Yvonne befürchtet, auch hier unwillkommen zu sein und nur wegen ihrer beachtlichen Erbschaft geduldet zu werden.

  Ihre Tante in Paris hatte schließlich auch nie ein Hehl daraus gemacht, daß ihr an dem Mädchen persönlich nichts lag – lediglich die finanzielle Unterstützung und die Aussicht, von Yvonnes Erbe einen stattlichen Anteil abzubekommen, hatten sie derart verbissen um ihre Nichte kämpfen lassen. Im übrigen hatte sie Yvonne für vollkommen verwildert gehalten, nur weil sie auf einem Gestüt in herrlicher Freiheit und Ungezwungenheit aufgewachsen war. Sie hatte dem Mädchen immer nur »Schliff« beibringen wollen, wie sie sagte, Härte und Strenge hatten Yvonne in den vergangenen zwei Jahren so abstumpfen lassen, daß sie mit Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit momentan nichts mehr anzufangen wußte.

  Alexandra schien zu spüren, was in Yvonne vorging, denn sie legte ihr sehr sanft einen Arm um die Schultern.

  »Du wirst dich bei uns schnell eingewöhnen, Yvonne«, versprach sie. »Es gibt hier ein paar Mädchen und Jungen in deinem Alter. Ihr werdet viel reiten und eine Menge Spaß miteinander haben. So, und nun mach dich ein wenig frisch, ja?«

  Mit Mühe brachte Yvonne ein Lächeln zustande, dann ließ sie sich von Alexandra ins Bad begleiten. Sie duschte länger, als es nötig gewesen wäre, weil sie immer noch Angst vor dem Zusammensein mit Alexandra und Patrick hatte. Doch schließlich konnte sie nicht mehr länger warten. Sie atmete tief durch, dann öffnete sie die Badezimmertur, spähte vorsichtig nach allen Seiten und ging nach unten.

  Alexandra hatte die Tür zu der riesigen Wohnküche offengelassen, damit sich Yvonne in dem großen Haus nicht verlaufen würde. Doch ihre stille Hoffnung, Alexandra möge allein sein, wurde nicht erfüllt. Patrick hatte sich offensichtlich gerade etwas zu trinken eingeschenkt und setzte sich nun an den großen rechteckigen Tisch.

  Erst jetzt fiel Yvonne auf, wie sehr er ihrer Mutter ähnelte, allerdings mußte er beträchtlich jünger sein. Diane Barré wäre dieses Jahr fünfundvierzig geworden, Patrick war dagegen höchstens Mitte dreißig. Doch Yvonne hatte nicht mehr länger Zeit, ihn zu betrachten, denn in diesem Moment bemerkte er sie.

  »Yvonne! Komm doch herein.«

  »Ja, Onkel Patrick«, flüsterte sie gehorsam. Trotz der Ähnlichkeit mit ihrer Mutter jagte er ihr ein wenig Angst ein.

  Er griff nach Yvonnes Hand und zog das Mädchen neben sich auf die Eckbank.

  »Sag mal, Kleines, fürchtest du dich etwa vor mir?«

  Yvonne senkte den Kopf und schwieg, doch Alexandra antwortete an ihrer Stelle.

  »Darüber bauchst du dich nun wirklich nicht zu wundern, Patrick. So, wie du Yvonne vorhin überfallen hast. Sie kennt dich doch überhaupt nicht und…«

  In diesem Moment begann Yvonne zu weinen. Sie wollte es gar nicht und schämte sich auch ganz entsetzlich dafür, aber es gelang ihr nicht, den Tränen Einhalt zu gebieten. Ohne viel Worte nahm Alexandra sie in die Arme und streichelte beruhigend ihren Rükken, bis sie endlich aufhören konnte zu schluchzen.

  »Fühlst du dich jetzt wohler?« fragte sie mit einem liebevollen Lächeln, während sich Yvonne verlegen die Nase putzte und ihre Tränen abwischte. Alexandra wartete die Antwort ihrer Nichte gar nicht erst ab, sondern stellte ein Glas kalte Milch und einen Teller voller Kekse auf den Tisch.

  »Das wird fürs erste genügen«, meinte sie. »In einer Stunde gibt’s ohnehin Abendbrot.«

  Yvonne nickte, dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen.

  »Onkel Patrick, ich bin normalerweise keine Heulsuse«, erklärte sie. »Es tut mir leid, daß ich mich gerade so aufgeführt habe. Ich weiß gar nicht…« Sie konnte nicht weitersprechen, weil die aufsteigenden Tränen sie schon wieder im Hals würgten.

  Sehr behutsam legte Patrick eine Hand auf ihren Arm. Yvonne spürte die verhornten Schwielen, die von harter Arbeit herrührten, und unwillkürlich schauderte sie, als sie sich vorstellte, er würde mit dieser Hand so zuschlagen, wie Tante Antoinette es oft getan hatte.

  »Du mußt dich für nichts entschuldigen, Yvonne.« Seine ruhige Stimme verscheuchte Yvonnes angstvolle Gedanken. »Du hast den Tod deiner Eltern noch nicht verarbeitet, und hinter dir liegen gewiß zwei schlimme Jahre. Alexandra und ich wären regelrechte Barbaren, wenn wir dafür kein Verständnis hätten. Und was den ›Onkel‹ betrifft«, jetzt lächelte er, »so fühle ich mich dafür doch noch ein bißchen zu jung. Ich möchte, daß du mich einfach nur Patrick nennst, einverstanden?«

  Yvonne nickte, und dann brachte sie plötzlich auch ein Lächeln zustande – ein Lächeln, das von Herzen kam.

*

  Gleich nach dem Abendessen nahm Patrick seine Nichte bei der Hand.

  »Komm, Kleines, ich habe eine Überraschung für dich.«

  Erstaunt folgte Yvonne ihm. Was für eine Überraschung mochte das wohl sein? Schließlich hatten sie sich doch vor ein paar Stunden erst kennengelernt.

  Über zwei Treppen brachte er Yvonne ins ausgebaute Dachgeschoß des Hauses. Hier befand sich nur ein einziges riesengroßes Zimmer, und als Yvonne eintrat, hatte sie für einen Moment das Gefühl, als würde ihr Herz stehenbleiben. Das war ja ihr Zimmer! Das Bett stand unter der Dachschräge, wo es immer gestanden hatte, und im Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand waren alle ihre Bücher untergebracht. Die unzähligen Pferdebilder, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten und eingerahmt hatte, hingen an den Wänden, und auf dem Bett saßen die Puppe und die beiden Teddybären, die sie durch ihre Kindheit begleitet hatten. Yvonne war zumute, als wäre ein Stück ihrer Heimat wiedergekehrt – einer Heimat, von der sie geglaubt hatte, sie wäre für immer verloren.

  »Patrick…«, konnte sie nur stammeln, dann fiel sie ihrem Onkel spontan um den Hals. Vergessen war die Angst, die sie noch vor wenigen Stunden vor ihm gehabt hatte.

  »Dieses Zimmer hier und noch ein paar andere Kleinigkeiten waren das einzige, was ich für dich retten konnte«, erklärte er. »Allerdings lag darin vermutlich auch der Grund, weshalb das Gericht dich mir zugesprochen hat. Ich konnte glaubhaft nachweisen, daß du dich hier mehr zu Hause fühlen würdest als in Paris.« Er schwieg kurz. »Ich hätte auch gern deine Stute für dich hierhergeholt, aber als ich das Gestüt in der Camarque erreichte, waren die Pferde bereits weg.«

  Yvonne nickte traurig. Der Verlust von Belle Blanc tat ihr immer noch weh. Dann blickte sie zu Patrick auf.

  »Wenn du sogar in Frankreich warst… warum hast du mich dann nicht besucht?« wollte sie wissen. »Ich wäre so froh gewesen, wenn ich wenigstens einmal mit dir hätte sprechen können, bevor ich hierher reiste.«

  Er nahm ihre Hände und hielt sie fest. »Ich weiß, Kleines, und es hat mir im Herzen weh getan, dich so im Ungewissen zu lassen, aber ein Besuch in Paris hätte uns beiden nur geschadet.« Er machte eine kurze Pause. »Ich kenne Antoinette sehr gut, daher kann ich mir vorstellen, wie sie dich behandelt hat. Wenn ich ihr begegnet wäre, hätte ich für nichts garantieren können. Ein Wort hätte das andere gegeben – und das hätte sich ungünstig auf meine Bemühungen auswirken können, das Sorgerecht für dich zu bekommen. Das aber war mir wichtiger als alles andere.«

  »Warum?« wollte Yvonne wissen und setzte gleich darauf hinzu: »Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, warum du so verbissen um mich gekämpft hast, obwohl du mich doch gar nicht kanntest.«