Cover

Table of Contents

Titel

Impressum

Widmung

Er beobachtet dich,

Wichtig

1. Der Schatten

2. Süßes Mädchen

3. Das Grinsen

4. Schreiben

5. Die Suche

6. Traum

7. Das Versteck

8. Die Heimkehr

9. Abgrasen

10. Du?

11. Der Lehrer

12. Schritte

13. Ermittlungen

14. Leise Schritte

15. Es klingelt

16. Kinderspiele

17. Veränderungen

18. Flüsternde Flure

19. Allein

20. Na, Du

21. Ist da jemand?

22. Hinweis

23. Das Kind muss weg

24. Michael

25. Aussichtslos

26. Robin

27. Die Anzeige

28. Wut

29. Betrunken

30. Verwischte Spuren

31. Die Eltern

32. Ein Kichern

33. Hass

34. Dünne Luft

35. Die Lesung

36. Kuckuck

37. Die Lesung, Teil Zwei

38. Das Büro

39. Endlich

40. Warum?

Mehr von Martin Jonas bei DeBehr

Über den Autor

 

 

 

Martin Jonas

 

 

 

IN

IHREN

GEDANKEN

 

 

 

 

Thriller

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Martin Jonas

www.martinjonasautor.de

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2022

ISBN: 9783957539656

Umschlaggrafik Copyright by: Jeka de Brant; www.herzblatt.photo

Bisherige Veröffentlichungen im Verlag DeBehr

Humor:

Glücksbärchis am Arsch – Ab heute wird zurückgef**** (2019)

Thriller:

HAB` DICH, KLEINES! DU BIST! (Luke Steiner Reihe – Band 1) (2020)

Die Bewerbung – Gefährlicher Weg (Luke Steiner Reihe – Band 2) (2021)

 

Für meinen Opa.

 

Er sagte einmal zu mir:

Egal was du machst,

sage dir immer wieder,

dass du der Beste bist.

 

Er beobachtet dich,

doch siehst du ihn nicht.

In deinen Gedanken

möchte er sein,

in deinen Träumen

sucht er dich heim.

 

Wichtig

 

Tada! Nun haben wir den Salat. Jetzt habe auch ich ein Vorwort geschrieben und nach reiflicher Überlegung, ich mag den Begriff Vorwort nicht, habe ich dieses komische Wort liebevoll in WICHTIG umbenannt.

Ich weiß, das macht es jetzt nicht zwingend besser, doch fühle ich mich damit einfach wohler. Aber kommen wir schnell zum wirklich wichtigen Teil. >>WICHTIG!<<

Bevor Sie die ersten Zeilen meines neuen Thrillers verschlingen, ich lege Ihnen nahe, das Buch am Tag, bei Sonnenschein und Vogelgezwitscher, auf einer hölzernen Parkbank oder auf der Wiese liegend, gerne auch sitzend, zu lesen, lassen Sie mich Ihnen bitte etwas erklären: IN IHREN GEDANKEN ist ein eigenständiger Thriller, der meine Luke Steiner Reihe nicht beendet, nur unterbrochen hat.

Warum?

Ich brauchte Abwechslung!

Mich ließ der Gedanke einfach nicht mehr los, etwas Neues zu schreiben. Einen Thriller ohne Luke Steiner in die Regale zu stellen.

Sollten Sie jetzt verwirrt sein, keine Sorge. Ihr Kopf sagt nun sicherlich: Ich muss sofort Band 1 und Band 2 der besagten Thriller-Reihe um den erfolgsgewohnten und ungehobelten Kriminalkommissar Luke Steiner gelesen haben; doch dies müssen Sie mit Ihrem Verstand selbst ausmachen.

Ich möchte hier nicht den Anschein erwecken, als stünden Sie in einem Buchgeschäft Ihres Vertrauens – und ich sei der schwitzige Verkäufer, der unbedingt ein Buch verkaufen muss.

Selbstverständlich dürfen Sie meine bisher veröffentlichten Bücher lesen, sollten Sie das noch nicht getan haben. Keine Frage!

Halt! Das ufert gerade aus. Wo waren wir?

Genau!

Nach einem etwas längeren Gespräch mit dem Verlag haben sich fast alle Beteiligten dafür ausgesprochen, dass auf dem Cover Psychothriller stehen muss – und nicht Thriller. Jedoch konnte ich diesem Gedanken irgendwie nichts abgewinnen.

Viele Nächte habe ich mir um die Ohren geschlagen. Thriller. Psychothriller.

Doch möchte ich Ihnen noch eins ganz schnell mit auf den Weg geben: Seien Sie bitte gnädig, und verzeihen Sie mir, sollten Sie nach Beendigung des Buches derselben Meinung wie der Verlag sein. Ich entschied mich nicht böswillig für das Genre Thriller und gegen Psychothriller.

Und wenn Sie mein Buch vielleicht gerade jetzt, in genau diesem Moment im Laden stehend, in den Händen halten, WICHTIG, angefangen haben zu lesen, klar, Sie sind jetzt schon fast am Ende dieser Zeilen, gehen Sie freudig, das Buch bezahlt versteht sich, aus dem Geschäft hinaus; direkt nach Hause und genießen Sie meinen neuen Thriller, der eigentlich ein Psychothriller sein sollte.

Drehen Sie sich nicht um.

Einfach weitergehen.

Lächeln Sie. Genau.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen!

Martin Jonas

 

1. Der Schatten

 

Seine Atmung wurde schwerer. Sein Opfer trug keine Abwehrverletzungen. Es hatte keinerlei Bemühungen unternommen, ihn aufzuhalten. Kooperation war sein einziger Gedanke gewesen, es hatte sich gefügt, in der Hoffnung auf Gnade. Die junge Frau war von ihm überrascht worden und hatte kaum eine Chance gehabt, sich zu wehren. Leblos trieb sie nun im kalten Wasser der Saale, weggeworfen wie Müll. Die weiße Bluse zerrissen und die Unterwäsche blutbeschmiert.

Es war nicht sein erster Mord; auch nicht seine erste Vergewaltigung. Allerdings gab es einen Unterschied zu seinen anderen Opfern. Mit ihr wollte er nicht spielen. Das Sperma in ihrer Speiseröhre hielt er im Nachhinein für keine wohldurchdachte Aktion. Leider war es nun zu spät.

Von jeder seiner Puppen, wie er die Opfer nannte, behielt er ein Erinnerungsstück. Etwas Persönliches, damit sie ihm nicht gedanklich entgleiten würden. Bei der Toten im Wasser hatte er sich spontan für die frischlackierten Fußnägel entschieden.

Eine kräftige Böe heulte laut über Halles schlafende Dächer und krächzte durch die menschenleeren Gassen. Langsam, sehr schleichend, bauten sich mächtige graue Wolken vor der silbernen Scheibe am nächtlichen Himmel auf, und die vom Mondlicht angestrahlten hölzernen Riesen verschwanden in der ewigen Schwärze der Dunkelheit.

In einer einsamen Ecke eines schmalen Wegs, nicht breiter als zwei Meter, der Durchgang, der vor vielen Jahren geteert worden war, an einigen Stellen hatte sich das alte Kopfsteinpflaster erneut durchgekämpft, stiegen machtvolles Fauchen und weinerliches Jaulen empor.

Unzählige, vom Hunger geplagte, Straßenkatzen stritten sich zwischen altem Zeitungspapier und herumliegendem Abfall um eine tote fette Ratte. Der Kadaver, längst mit der dreckigen Straße vereint, gammelte vor sich hin. Übelriechende Haut, von Fäulnis befallen, spannte sich um die dünnen, teils zerbrochenen Knochen des Nagetiers und spielten mit den Sinnen der Katzen.

Schaurig schön war diese erfrischende Sommernacht.

Die Straßenlaternen, alte, fünf Meter hohe Damen der Zeit, hatten an jenem unüblich kühlen Sommerabend zu tun. Die metallischen Leuchten, beklebt von oben bis unten mit den wildesten Stickern und Tapes, leuchteten mit viel Anstrengung die Gehwege aus – und die wenigen Passanten, die noch zu dieser späten Stunde auf den Straßen unterwegs waren, schlenderten freudig durch die Nacht.

Tags zuvor prahlte das Thermometer mit einunddreißig Grad bis in die Nacht hinein. Schwitzige, seltene Schlafstunden lagen hinter den Bewohnern der Stadt. Das Klackern der High Heels auf den sich abkühlenden Gehwegplatten verlief sich in weiter Ferne und verschwand im bewölkten Sternenhimmel.

Wortlos.

Der Sommer fing durchwachsen an. Wenig Sonne, dafür regnete es ungewöhnlich viel für diese Jahreszeit.

In Halle und Umgebung, auch in Teilen des Saalkreises, wüteten schwere Sommergewitter. Doch hatten sich die Sonnenstrahlen einmal durch die Regenwolken geboxt, war die Hitze, die glühend zu Boden fiel, unerträglich. Treibhausfeeling waberte über dem Beton.

Selbst die frisch angelegten Wiesen und Blumenbeete im Stadtpark schafften es nicht, der abträglichen Wärme zu trotzen. Glut brannte auf die schutzlose Erde nieder.

Viele Stadtbesucher hielten an den wenigen sonnenstarken Tagen am Opernplatz Halle an, genossen den majestätischen Brunnen, tauchten die Füße in das erfrischende Nass und knipsten zahlreiche Fotos vom Blumenmeer, welches vor dem eindrucksvollen Brunnen in den schönsten Farben protzte. Diese Pflanzen hatten kein Problem mit der Hitze. Anders als ihre Bewunderer.

Dabei die Gesichter in Richtung Glutball gedreht. Die Sonnenbrille durfte nicht fehlen. Die wärmenden Strahlen genossen, die die Gemüter der Sommerfreunde kitzelten und die verregnete Negativität aufheiterten.

Der Opernplatz war bekannt für seinen schönen Blick, inmitten der Stadt. Und nicht weit entfernt präsentierte sich das berühmte Steintor-Varieté. Ein wahres Mekka für Liebhaber baulicher Meisterwerke.

Zahlreiche Stars aus der Musik-, Theater- und Comedy-Szene reichten sich im über 120-jährigen Gebäude das Mikrofon. Der Platz vor dem Varieté war ein geschätzter Treffpunkt für die ansässigen Studenten, die im beliebten Paulusviertel ihrem Tagwerk nachgingen. Gut besucht und selten leer.

Zu später Abendstunde feierten die jungen Leute ausgiebig am Steintor. Das kleine angelegte Grün war genau der richtige Platz dafür. Laute Musik, Alkohol und der Geruch von Marihuana. Nichts Ungewöhnliches an diesem Fleckchen.

Die Hallenser liebten ihre Treffpunkte, weltweit bekannt und jedes Jahr neue Gesichter anziehend. Instagram-User nutzten diese malerischen Hotspots für ihre zahlenüberhäuften Internet-Posts. Doch in den Nächten, wenn alles schlief, kroch das Böse aus den Löchern und vernebelte die Schönheit, die sich am Tage über die Örtlichkeiten gelegt hatte.

In jener Nacht schlich ein Fremder leise durch ein altes, wenig beleuchtetes Treppenhaus, im Schutze des Bösen. Die nächtliche Dunkelheit hatte sich längst über die Stadt gelegt. Stille umkreiste die schwarze Silhouette, die auf Zehenspitzen die Stufen erklomm.

Im Treppenhaus roch es nach muffigem Keller, Nudelsuppe und süßlichem Badezusatz. Die verschiedensten Duftwolken schwebten schlängelnd durch den Hauseingang, die Etagen und Flure. Die Blumenmuster, die mit Schwammtechnik angebracht, die gelbverputzten Wände zierten, durchdrangen selbst die Finsternis.

Jeder Schritt musste gut überlegt sein. Einzelne Treppenstufen knackten bei der leichtesten Berührung. Das wusste er. Das Geländer war frisch lackiert worden. Die Gitterstäbe waren in einem dunklen Braunton gestrichen, der Handlauf in einem glänzenden Rot. Die Stufen, abgenutzt und mit bröselndem PVC-Belag - unbehandelt ignoriert.

Die hölzernen Bordüren an den Wänden versprühten allerdings einen gewissen Charme. Eleganz und Grusel hatten sich vereint. Die Zeit schien hier stehengeblieben zu sein, hier fühlte er sich wohl.

Zum Glück kannte er sich in dem alten Gebäude gut aus und wusste genau, wo er hingehen musste. Das zarte Mondlicht, welches durch die bunten Fensterglasscheiben brach, leuchtete die Flure an, doch verblasste es in der musikalischen Nachtstunde schnell.

Das Brummen der umherschwirrenden Torkelkäfer, zusammen mit dem orchestergleichen Gezirpe der Grillen, die im hohen Gras nach einem sicheren Versteck Ausschau hielten, war für jeden Gartenfreund Musik in den Ohren. Doch nicht für den Fremden. Ihn störte der Lärm. Er huschte geräuschlos von Etage zu Etage und hoffte darauf, nicht entdeckt zu werden.

Im dritten Stock des Mehrfamilienhauses, der chaotischste Bereich dort, blieb der Unbekannte auf einmal stehen. Da war er wieder, dieser liebliche Geruch von Haarwäsche. Sein Collum verwandelte sich fast in einen schlängelnden Giraffenhals. Er schnupperte und stöhnte leise.

Kindershampoo.

Es waberte nach Erdbeere und Vanille. Bei dem betörenden Duft dehnten sich seine Nasenlöcher weit aus und die Gedanken fuhren Achterbahn.

Mit Inbrunst fuhr er mit der Hand die Wand vor sich entlang und stellte sich schräg angelehnt an die verputzte Einfassung. Geschützt von der Schwärze. Er war völlig weggetreten. Wie in Trance.

Berauscht von dem blendenden Duft der Königin der Gewürze, ertastete er blind die Luft mit den Fingern und streichelte sich mit der rechten Hand den Mund. Dabei streifte er mit Zeige- und Mittelfinger sanft über seine spröden, nach kaltem Qualm riechenden Lippen. Welch liebliche Atmosphäre!

Genau zu wissen, gleich am Ziel zu sein, den Ersatzschlüssel, den er heimlich hatte nachmachen lassen, fest umschlungen, steckte er langsam den Schlüssel in das Schloss, drehte zwei Mal nach rechts und öffnete behutsam die weiße Wohnungstür. Dabei schob er vorsichtig die Tür auf und drehte den Schlüssel nach links. Mit dem rechten Fuß trat er die vielen Kinderschuhe beiseite, die sich kreuz und quer vor der Schwelle stapelten. Ein wahres Tohuwabohu.

Den Wohnungsschlüssel der Familie hatte er sich nachmachen lassen können, weil er diesen bei seinem letzten heimlichen Besuch der Familie unbemerkt mitgehen ließ. Niemandem war der Verlust des Schlüssels aufgefallen. Keiner aus der Familie hatte ihn je benutzt. Wer weiß, ob sie überhaupt wussten, dass sie einen Ersatzschlüssel besessen hatten.

Behutsam drückte er die Tür immer weiter nach innen auf und steckte seinen Kopf in die Wohnung hinein. Er schaute nach links und rechts. Eine Wolke aus Bier und Wein, die aus der Küche züngelte, kitzelte seine ohnehin schon gereizte Nase.

Familiärer Abendduft lag in der Luft. Zu seiner Linken stand ein gelbliches Schuhregal, dessen Zweck von den Bewohnern der Wohnung ignoriert worden war. Auf der Ablage zierte ein kleines Deckchen die abgenutzte Oberfläche der Kommode. Auf dem vergilbten Blümchendeckchen stand eine blaue, vom Staub eingefangene Vase. Längst nicht mehr beachtet.

Gebremst von der Furcht, erwischt zu werden, vom Nervenkitzel fröhlich umschlungen, zog er den Schlüssel besonnen aus dem Schloss heraus, steckte ihn in seine Hosentasche und hielt dabei den Atem an. Erregt, wie er war, wollte er dennoch keinen Laut von sich geben.

Im Flur der Wohnung stehend, blickte er sich harsch um und schnupperte mit Genuss an den Jacken, die an der Garderobe vor ihm hingen. Nun schloss er langsam die Tür zur Wohnung zu und schaute sich neugierig weiter um.

Schon als Kind liebte er es, sich in fremden Wohnbereichen umzuschauen. Wenn er mit seinen Eltern bei Freunden zu Besuch war, wanderte er ungefragt durch die ihm unbekannten Zimmer und wühlte in den Schränken herum. Für ihn war das ein Spiel. Eine Art Schatzsuche.

Mit großem Interesse begutachtete er seine Funde und machte sich zugleich ein Bild derer, die dort hausten. Gegenstände aller Art formten in seinem Kopf ein Bild der Menschen, denen diese Besitztümer gehörten.

Münzen, alte Blech-Autos, eine zahlreiche Sammlung an teuren Porzellanfiguren – aber auch die Unterwäsche, Parfüms oder der Kühlschrank sagten viel über die Besitzer aus. Er liebte das Herumschnüffeln und er legte seine Neugierde nicht ab. Auch nicht, als er älter wurde.

In seinem versonnenen, sanften Streicheln über die an der Garderobe hängenden Jacken, hielt er kurz inne. Die Räumlichkeiten wurden durch das Laternenlicht, welches sich bis in die Wohnung gekämpft hatte, schwach erleuchtet. Der zarte Schimmer krallte sich an den Glasscheiben der zahlreichen Familienportraits und dem runden Spiegel, einem antiken Bleiglasmonster, das so gar nicht in den Raum passen wollte, fest. Die Reflektionen machten den Raum kaum heller, doch sah er genügend, um sich orientieren zu können.

Einige Bilder hätten etwas höher an der Wand hängen können, wie er fand. Manche Rahmen hingen schief, was ihn störte. Er mochte es gern einheitlich und ordentlich. Ungenauigkeit, Bilder, die schief an den Wänden hingen oder asymmetrisch angeordnete Dekorationen lösten Gewitter in seinem Kopf aus.

Noch einmal roch er beherzt an der dunkelblauen Kinderjacke. Er sog den unschuldigen Duft ein und schritt leise davon. Die Augen lustvoll geschlossen.

Stille Neugier führte ihn durch die Wohnung, und mit ausgestreckten Fingern wischte er leicht erregt die tapezierten Wände entlang. Dabei huschten seine Fingerkuppen über die kleinen Pickelchen der Tapete, über Bilderrahmen und Möbelstücke.

Leise pfiff er die Melodie eines ihm nicht fremden Kinderlieds, Der Plumpsack geht rum. Er pfiff und summte es vor sich hin. Nicht laut. Selbst kaum für ihn hörbar. Aber er genoss die Situation zunehmend.

Das Liedchen gefiel ihm sehr. Die laute Melodie in seinem Kopf, die vielen Kinderchen, die durch seine Hände gegangen waren und noch gehen sollten; niemals aber tat er den kleinen Seelen Böses an. Er fühlte sich überlegener denn je.

In der großen Küche zog der Eindringling einen gelb gepolsterten Stuhl zurück, stützte sich schnaufend mit beiden Händen auf der frisch abgewischten gelben Tischplatte ab, setzte sich an den Küchentisch im Landhausstil und atmete erleichtert aus. Gelb war wohl deren Farbe?

Der weiche Untergrund der Sitzgelegenheit war anschmiegsam und schläferte ihn fast ein. Er genoss das Gemütliche an seinem Hintern. Ein weiterer Duft liebkoste plötzlich seine Nase. Es roch nach Schnitzel und blumigem Spülmittel. Die beigefarbigen Wandfliesen harmonierten gut mit dem ländlichen Still der Küche und untermalten die Süße, die erneut seine Nase berührte. Riechen. Aufsaugen. Festhalten.

Am Küchenfenster flog ein Schwarm Tauben vorbei. Wohl aufgeschreckt, ungewöhnlich zu so später Stunde. Das Ticken der großen Wanduhr im Wohnzimmer durchbrach die nächtliche Ruhe ebenso, die vor wenigen Stunden in die Wohnung eingezogen war, und legte sich in der Küche in seinem Gehörgang nieder.

Zu schön war die atmende Stille. Noch aufheiternder für ihn waren die Geräusche, die aus dem Kinderzimmer drangen. Seine Ohren waren gespitzt.

Er hörte leichtes Rascheln und träumendes Winseln. Schon oft hatte er nachts Kinder in ihren Zimmerchen beobachtet. Er mochte das ständige Wenden der Kleinen, das Schwirren der Bettwäsche, das ängstliche Wimmern bei Albträumen. Es gefiel ihm sehr. Er wusste, wie sich die kleinen Wesen fühlten, ging es ihm fast jede Nacht doch genauso. Seine Bärchen-Bettwäsche war sehr flauschig, wenn auch mittlerweile zu winzig, um ihn vollständig zu umhüllen.

Die Tür zum Kinderzimmer war leicht angelehnt, und ein grünliches Nachtlicht beleuchtete schwach den schmalen Raum oberhalb des Fußbodens. Die Neugierde war groß.

Die Tür des Elternschlafzimmers stand einen breiten Spalt weit auf. Als wollten sie keine Ruhe genießen und würden sich um ihr Kind sorgen. Der Schlüssel steckte im Schloss.

Nicht lange überlegend nutzte er die Gelegenheit, linste kurz hinein und beobachtete die träumenden Eltern, sie schliefen tief und fest. Ahnten nichts Böses. Dann zog er die Tür heran und schloss sie von außen ab.

Perfide Gedanken kreisten saumselig in seinem Kopf herum, wie Geister in einem alten Schloss. Bevor er das Kinderzimmer betrat, spazierte er fröhlich zappelnd zum Wohnzimmer hinüber, als wäre er allein. Er wollte sich noch ein wenig genauer umschauen. Die Neugier überwog sein Vorhaben. Mit der verschlossenen Schlafzimmertür der Eltern fühlte er sich sicherer.

Zielgerichtet überschritt er die Türschwelle und setzte mit dem linken Fuß auf dem Wohnzimmer-Parkett auf. Es knackte kurz. Erschrocken stand er da und hielt erneut die Luft an. Hoffentlich hat das jetzt keiner gehört.

Das Geräusch der Uhr wurde immer lauter. Fette Schweißtropfen hafteten an seiner Stirn. Die Aufregung stieg bis ins Unermessliche, und sein Herz hämmerte wild in der Brust. Es sprang dabei in alle Richtungen. Zittern breitete sich in seinem ganzen Körper aus.

Der Wäscheberg vor ihm, die vielen Slips, an denen er roch und die sich weich an seine Wange schmiegten, machten es nicht gerade leichter für ihn. Kurz war er abgelenkt und träumte vor sich hin.

Selten brachte ihn etwas aus dem Konzept. Er war normalerweise die Ruhe in Person. Konzentriert und fokussiert.

Er liebte die einsamen Momente. Seine Hände waren schwitzig und die Gedanken an seine eigene Kindheit brachten ihn zurück. Zurück an einen längst in den Erinnerungen vergrabenen Ort.

 …

Schon früh sagte man dem Kind Grausamkeit nach. Der Junge war ein mit Ablehnung geprägter Killer, der einer unstillbaren Mordlust ausgeliefert war, die ihn beim Heranwachsen immer stärker einnahm.

Seine Augen strahlten in einem hellen Blau, und jeder verlor sich in diesem blendenden Schön. Sie täuschten und spielten mit dem Gegenüber. Sein Hobby wäre für andere erschreckend. Niemand würde verstehen, weshalb er gerne in fremden Schränken  herumsuchte. Von seinen anderen Talenten ahnten sie ebenso nichts. Deswegen schwieg er still.

Schon zu Kindergartenzeiten schlug sich das stumme Kind meist allein durch. Nur wenige Freunde an der Zahl, und die, die stets nur kurz an seiner Seite waren, kehrten dem Spielkameraden mit dem seltsamen Humor nach und nach den Rücken. Verloren in den funkelnden Augen, dem Diabolischen hilflos ausgeliefert, folgten sie ihrem kindlichen Instinkt und mieden den Jungen. Sie versuchten es.

Das Kind wuchs heran und störte sich nicht mehr an dem Alleinsein. Später nannte es sich selbst: Die Personifizierung des Bösen. Er ertrug notgedrungen die häuslichen Misshandlungen jeglicher Art, physisch und psychisch, später folgte der sexuelle Missbrauch. Natürlich waren es schlimme Torturen für ihn gewesen; doch lernte er mit der Zeit, seine Emotionen zu unterdrücken, sie hinten anzustellen. Was blieb ihm auch übrig.

All die Demütigungen, Schläge und verbalen Verletzungen, die wie scharfe Glasscherben durch seine zarte, noch junge Haut glitten, wandelte er in Aufmerksamkeit um – sie sahen ihn, also liebten sie ihn auch. Das mussten sie. Hauptsache, die Eltern nahmen ihn wahr. Liebe und Zuneigung erfuhr das Kind nicht. Woher auch!

Seine Kindheit war farblos, bis auf das blutige Rot der Gewalt. Der fehlende väterliche Einfluss und die Abscheu der narzisstisch veranlagten Mutter, einer herrschsüchtigen Frau, brachen dem Kind schnell das moralische Genick und riefen eine falsche Vorstellung von Leben in ihm hervor.

Der Vater war ein elendiger Säufer, der in den Augen seiner Freundin nicht mehr als ein Versager war. Ein brutaler Frauenschläger, wie seine spätere Verlobte ihm des Öfteren an den Kopf geworfen hatte.

Vater

Jeden zweiten Tag fuhr der junge Mann nach der Arbeit in seine Stammkneipe und spielte mit den Freunden Skat, bis spät in die Nacht hinein. Üble Typen, denen man nicht über den Weg trauen konnte. Ungepflegt und vulgär im Ton.

Der Mann hasste seinen Job. Ständig musste er sich mit nervigen Kunden herumschlagen, die, wie er selbst immer sagte, zu doof zum Installieren eines Mobiltelefons waren. Dumme Menschen kotzten ihn an. Er hatte nichts für solche Individuen übrig.

In seinem Stammlokal konnte er bei Whisky und Bier abschalten. Seine Freundin und der neue Familienzuwachs kosteten ihm die letzten Nerven. Unzufriedenheit machte sich breit. In einer Nacht versoff er meist fünfzig Mark. Mal mehr, mal weniger.

In der Kneipe gab es kein Familienleben. Der frischgebackene Vater konnte in dieser schmuddeligen Bar, zwischen all dem Zigarettendunst und dem lauten Lachen der Gestalten, er selbst sein. Kein Verstellen, kein überspieltes Lächeln.

Oft lernte er Frauen kennen, die er ab und an auf dem Parkplatz mit in sein Auto nahm, um eine schnelle Nummer zu schieben. Ihm war egal, wie sie aussahen oder wie alt sie waren. Er konnte abschalten und den Familienstress für ein paar Minuten vergessen. Auch das tägliche Saufen gab ihm ein gutes Gefühl.

An manchen Tagen hasste er seine Lebensgefährtin und wünschte ihr den Tod. Ihre herablassende Art, sie wusste immer alles besser, dieser schroffe Ton ihm gegenüber, spülten eine unaufhaltsame Gier nach anderen Leibern in ihm hoch.

Er hinterfragte die letzten Jahre eindringlich. Die Zeit verflog, es gab schöne Momente, doch waren es nur wenige an der Zahl. Und jetzt war da dieses Kind, welchem er keine Liebe entgegenbringen konnte. Das Balg war in seinen Augen ein Störenfried.

Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er dafür gesorgt, dass sie es schon im Mutterleib verloren hätte. Er hatte sich diesbezüglich belesen und ab und an mit dem Gedanken gespielt, der Schwangerschaft ein brutales überraschendes Ende zu setzen. Es war nicht Erbarmen gewesen, ihr das Kind nicht aus dem Bauch zu treten. Eher Gleichgültigkeit, vielleicht auch Trägheit.

Der liebliche Blick des kleinen Würmchens, lachend nach seinen Fingern greifend, und doch wollte er es nicht behalten und aufziehen.

Zu Hause angekommen, bewegte er sich schleichend im dünnen Mondlicht in die Wohnung hinein, legte sich leise auf die Couch und schlief seinen Rausch aus. Er wollte sich nicht neben seiner intriganten Partnerin ins Bett legen.

Das Neugeborene wollte er auch nicht wecken. Bekam er dessen Geschrei mit, diesen ohrenbetäubenden Lärm, machte ihn dies rasend vor Wut. Er wollte doch nur schlafen. Seine Freundin zu hören, ihre Stimme in diesen Momenten wahrzunehmen, ihr Säuseln, das Getue mit dem Kind, waren für den jungen Mann um Welten schlimmer gewesen als das Kindergeschrei.

An den Abenden, an denen er Sex mit einer Fremden hatte, sprang er noch schnell unter die Dusche, bevor er sich auf die Couch schmiss. Seine Klamotten landeten in der Waschmaschine. Schon fast Routine für den Papa, dem gelegentlich die Hand gegenüber seiner Partnerin ausrutschte. Vor Wut und Unterdrückung. Mit Worten konnte er sich nicht wehren.

Mutter

Seine Mutter, eine ehemalige Schulkönigin und Schülersprecherin, die vor Selbstvertrauen nur so strotzte, verwandelte sich nach der Geburt ihres Kindes mehr und mehr zu einer bösartigen Glucke, Körperlichkeiten mit ihrem Gefährten mied sie.

Nicht ohne Grund, denn sie wusste von den zahlreichen Affären ihres Freundes; doch wollte sie für die Familie, die Aufrechterhaltung der Verlobung kämpfen und den Schein des Glücks bewahren. Selten gelang ihr dieser Spagat. Doch dachte sie dabei nur an sich. Sie erfüllte sich einen Lebenstraum auf eigene, hohe Kosten. Das Kind hielt sie wie ein Schutzschild vor sich.

Mit den Tagen, die ins Land strichen, wurde ihr zunehmend klarer, mit wem sie da unter einem Dach lebte. Sie schaffte den Spagat nicht mehr. Sie stand vor einem sich lange zuvor ankündigenden Scherbenhaufen. Ihr Lebensgefährte hatte kein Interesse mehr an ihr. Alles ging den Bach runter. Sie sah die Fehler aber nicht bei sich selbst.

Arroganz begleitete sie auf Schritt und Tritt. Wo sie auch hinging, einfach aufkreuzte, musste jeder ausweichen - auch zu Hause. Sie verstand die kleineren Wutausbrüche ihres Partners nicht. Vor dem Spiegel stehend, sagte sie sich oft: Ich bin doch perfekt! Was hat der nur?

Sicherlich war ihr bewusst, dass sie an einigen Tagen zornig war. Daran waren aber immer die anderen schuld. DAS KIND. Sie selbst sah sich gerne in der Opferrolle.

Wenn ihr Freund betrunken von der Bar-Tour heimkehrte, wartete sie ab, bis er sich müde auf dem Sofa niederließ, huschte dann auf Zehenspitzen in den Wäscheraum – holte seine noch ungewaschenen Hemden wieder aus der Waschmaschine heraus und roch voller Eifersucht daran. Manchmal entdeckte sie unübersehbare Lippenstiftreste an den Krägen; eindeutige Flecken.

Sie war bestimmend, kontrollierte alles; doch fürchtete sie das Hintergehen ihres künftigen Verlobten. Obwohl es ihr längst klar war. Selbst legte sie sich aber nicht ins Zeug, für eine Besserung der Beziehung. Sie trug ja keine Schuld. Warum also etwas verändern! Die Augen hielt sie meist verschlossen vor der Realität.

Mit den Jahren der Verzweiflung und des Mutterseins wurde sie kühler und abgestumpfter, auch ihrem Kind gegenüber. Sie kniff dem Kleinen des Öfteren liebevoll in die geröteten Pausbäckchen, und im gleichen Moment hasste sie ihren Nachwuchs für dessen Aussehen. Du siehst aus wie dein bescheuerter Vater!

Herrschend stellte sie sich vor dem Kleinen auf. Alles, was das Kind machte, war falsch. Die Liebe zu ihrem Partner, einseitig längst erloschen. Der eigene Sohn, ein immer lächelndes Geschöpf, selbst nach Schlägen, die er sich fast täglich von seiner Mutter einfing – veränderte sich.

Anfangs war sie, wie jeder Mensch, auf der Suche nach Zufriedenheit und Glück. Es lag nicht an dem schönen Zuhause, welches sie gerne gehabt hätte, später bekam. Sie hatte das ideale Gewicht; war zufrieden mit ihrem Körper. Doch hatte sie sich den perfekten Partner anders vorgestellt.

Sie betrachtete sich mit Selbstliebe und Akzeptanz. Beim Shoppen neuer Kleider ließ sie bewusst den Vorhang der Umkleidekabine einen etwas größeren Spalt weit auf; in der Hoffnung, dass ein Fremder sie heimlich beim Umziehen beobachten würde.

Sie ergötzte sich an den sabbernden Blicken der Männer, die vor den Kabinen auf ihre einkaufsfreudigen Frauen warteten und sie mit schmutzigen Fantasien begafften. Vollgepackt mit Tüten und vollen Taschen.

Wenn sie sich betont, langsam die anprobierten Hosen auszog, so tat, als wüsste sie nichts von den gierigen Augen; bedeckte eine leichte Gänsehaut der Freude und Lust ihren Körper.

Sie wollte die endlose Suche nach Befriedigung nicht aufgeben. Sie konnte nicht loslassen. Auch nicht dann, als man ihr wieder wehtat.

Der Vater des Kindes war ihr doch irgendwie wichtig gewesen, trotz des Leides, welches er ihr zufügte. Lief es gut zwischen den beiden, interessierte sie sich nicht für andere Männer. Meistens.

Dem Jungen war nicht klar, weshalb er schon wieder eine geschmiert bekam. Es kam sehr oft vor, dann entschuldigte er sich für Fehler, von denen er nicht einmal ahnte, welcher Art sie gewesen sein könnten.

Das misshandelte Kind sprach oft der eigenen verzweifelten Mama in diesen Momenten Mut zu, sie könne ja nichts für ihre Wutausbrüche. Ausweichend zuckend vor jeder Handbewegung, dennoch die Mutter liebend.

Ein Faustschlag.

 

2. Süßes Mädchen

Kurz geschüttelt und die Erinnerungen an die eigenen, längst vergessenen und weitverdrängten Kindheitstage wieder verbannt, legte er die Schlüpfer zurück auf den Wäschehaufen. Nie wieder durfte die Kiste der Erinnerungen geöffnet werden. Das Böse sollte verborgen bleiben.

Unkontrolliert hatte sich seine Hand den Stoff gekrallt. Schon wieder.

Gerade als er zum Kinderzimmer schleichen wollte, entdeckte er ein Foto von einem blonden Mädchen, welches in einem weißen, mit Blumen verzierten Bilderrahmen auf dem Telefonschränkchen platziert stand. Er kannte das Bild noch nicht. Das Kind, das darauf abgebildet war, ähnelte einer früheren Klassenkameradin von ihm. Seinem ersten Opfer. Weit über zwanzig Jahre her. Das Mädchen auf dem Foto lächelte genauso süß.

Felicity war ein zartes Kind gewesen. Sie war schlank und liebte Sport. Mit ihrem blonden, schulterlangen Haar und den schmeichelnden Sommersprossen auf der Nase, stach sie aus der Masse der Kinder heraus. Sicherlich trugen ihre langen Beine auch dazu bei.

Felicity war Klassenbeste und im Schultheater bekam sie stets eine der Hauptrollen zugesprochen. Sie sah in jedem etwas Gutes und war oft am Lachen. Mit Witzen unterhielt das hübsche Mädchen die Klasse. Lustige Sprüche waren an der Tagesordnung. Eine kesse Heranwachsende, frech und wild. Für manche zu wild.

Ein halbes Jahr lang saß er im Biologieunterricht hinter ihr und saugte ihren blumigen Duft auf. Ihr Haar roch jeden Tag so frisch, wie eine Frühlingswiese. Von allen Mädchen aus der Klasse roch sie am besten, sah auch am hübschesten aus. Wenn da nicht dieses eine Detail gewesen wäre.

Ihr heimlicher Verehrer schloss oft die Augen und konzentrierte sich fest auf seinen feinen Geruchssinn. So manifestierte er das Gefühl, welches den Körper durchschoss, wenn sich beide nahe sein konnten. Dieser süße Duft! Schon früher fand er Gefallen an Kindershampoo.

Der Drang, seine Klassenkameradin zu berühren, ihr ganz nahe sein zu können, wuchs Tag für Tag. Manchmal lebte er in einem Wachtraum, der ihm sehr wirklichkeitsnah schien. Dabei musste er aufpassen, dass er Realität und Fiktion nicht durcheinanderbrachte. Es dauerte oft einen kurzen Moment, bis er wieder in der Wirklichkeit angekommen war. Zu schön war sein Fantasiegebilde. Oft waren seine Finger dem Ziel ganz nah.

Er beobachtet sie. Jeden ihrer Schritte studierte er ein. Nach der Schule war sie meist mit ihrem grünen Roller unterwegs. Traf sich mit Freundinnen oder kaufte sich ihre Lieblingssüßigkeiten. Ständig trug sie diese viel zu kurze Joggingjacke, die über dem Bauchnabel aufhörte, passend zu der grauen, engen Trainingshose, die viel erahnen ließ.

Felicity wusste nicht, dass jemand aus der Klasse ihr auf Schritt und Tritt folgte. Dem jungen Mädchen war nicht klar, dass sie von fremden Augen begafft und in Gedanken gepeinigt wurde. Dafür wusste er es umso besser. Sie war seine dunkle Obsession.

Ihm gefiel ihre Optik. Das einzig Angenehme an dem frechen Ding. Er mochte Felicitys Charakter absolut nicht, fand sie zwar attraktiv und niedlich - und doch heckte er einen tiefen Gräuel gegen das aufgeweckte Mädchen.

Die Abneigung ihr gegenüber stieg mit jedem Lächeln, mit jeder weiteren Eins, die sie schrieb. Ihre Art war das Letzte. Bei fast jedem Test, nach jeder Arbeit, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und fürchtete die Note Sechs; und jedes Mal bekam sie eine Eins.

Sein Hass auf dieses Getue war übermächtig, ihre Schönheit überzeugte ihn allerdings, weiterhin zu schauspielern. Eine Stimme in seinem Kopf sprach in diesen Momenten zu ihm: Lass sie nicht gehen.

Sie war so ein hübsches Mädchen, mit den vielen Sommersprossen und den spitzen Wangenknochen.

Langsam, nur sehr zaghaft und ungeübt, stellte er seine Falle auf. Er saß wieder in der Reihe hinter ihr und ließ mit Absicht einen Stift zu Boden fallen. Felicity, freundlich lächelnd, hob ihn auf und kreuzte beim Umdrehen seinen Blick. Verwundert schaute sie ihm in die Augen, welche sie fest fixierten, und hielt seinem Blick kaum stand. Er meinte, in ihrem Gesicht eine Art überraschte Faszination zu erkennen. Die Unterrichtsstunde war fast vorbei.

Felicity biss an seinen Haken an, ohne es zu merken. Dieses stechende Blau. Sie spürte nicht, dass er keinerlei guten Gedanken an ihr ließ.

Ihr Gegenüber war ruhig, charmant und angenehm. Etwas zurückhaltend, was ihr irgendwie imponierte. Sie mochte Freundschaft mit ihm schließen. Von dem mephistophelischen Vorhaben, sie entführen zu wollen, mit ihr zu spielen, wie mit einer willenlosen Puppe, wusste das süße Mädchen mit den vielen Sommersprossen auf der Nase und dem Bühnen-Talent nichts. Auch nicht, welchen hässlichen Gräueltaten er täglich ausgeliefert war. Geschickt konnte er die Hämatome verdecken. Und Mutter wusste genau, wo auf ihrem Sohn ihre Faust nicht landen sollte, das Gerede der Leute wäre ihr unangenehm gewesen.

In der Pause trat er auf sie zu.

>>Hallo!<<, flüsterte er leise.

>>Hi!<<, antwortete Felicity keck.

>>Ich … Du sitzt vor mir<<, sagte er mit stotternder Zunge.

>>Ich weiß! Das sehe ich ja. Du bist der Ruhige<<, antwortete Felicity mit einem fetten Grinsen in ihrem Gesicht. Sie fand ihn allerliebst.

>>Ka … Ka … Kannst d … du mir in Bio helfen?<<

 >>Klar. Gerne. Soll ich zu dir nach Hause kommen?<<, fragte sie mit einem zauberhaften Lächeln.

>>Du kannst aber natürlich auch zu mir kommen!<<

Kurz ausgepustet.

>>Komm lieber zu mir, ich ha… habe sturmfrei!<<, stammelte er.

Die Adresse genannt, hielt sich Felicity diese gedanklich fest. Der Junge war überrascht darüber, dass seine Klassenkameradin so schnell angebissen hatte, er nichts weiter in die Wege leiten musste. Ein effektiver Schachzug.

In seinem Kopf schwirrten Gedanken umher, die ein Dreizehnjähriger niemals haben sollte. Voller Mordlust und dem blutrünstigen Drang, Felicity mit einem Küchenmesser langsam die Kehle aufzuschlitzen, stand er freundlich lächelnd vor ihr.

Felicity reden zu hören, war eine Qual für ihn. Er hasste ihre quäkige Stimmenfarbe. Sie stumm vor sich sitzend zu sehen dagegen, ein Traum. Die Sache mit Felicity würde wie Weihnachten und Ostern zusammen. Welche Vorfreude!

Abzuwarten, war ein Kinderspiel für ihn. Seine gesamte Kindheit hatte er auf Geduld aufgebaut. Er redete selten, doch beobachtete er sein Umfeld genau. Die Augen verrieten so einiges, wenn nicht sogar alles.

Er war ein Meister der Manipulation. Der Junge las die Menschen anhand ihrer Körpersprache wie kein Zweiter. Zu sehen, wie andere Menschen auf seine Worte hereinfielen, ihm blind vertrauten, erfreute den Heranwachsenden besonders. Er fühlte sich stark und gerissen wie ein Fuchs.

Der Abend war perfekt. Die Mutter war mit ihrer Freundin im Kino. Der Vater durchzechte wieder einmal die Nacht. Besser konnte es nicht laufen, für den Jungen mit den magischen Augen.

Entschlossen, seinen Wünschen endlich Freiheit zu geben, nutzte er die Gunst der Stunde und bereitete alles für Felicitys Besuch vor. Akribisch. Nichts sollte schiefgehen. Der Preis seines Versagens wäre zu hoch. Kein Detail des heimtückischen Plans durfte ausgelassen werden.

In der Küche, neben dem roten Toaster, stand der zubereitete Mix aus Ketamin, verdünnt mit Cola. Die Beschaffung des Narkosemittels war kein Problem für ihn gewesen. Dealer zwängten einem ihre Ware förmlich auf und verrieten die tollsten Geheimnisse, wie man jemanden gefügig machen, ihm Wunden zufügen konnte, ohne, dass das Opfer Schmerzen verspüren würde – für eine finanzielle Gegenleistung. Einige hielten jedoch nichts vom Geldlichen, egal, wie pekuniär schlecht ihre Lage auch war. Ein junger Körper war freilich eine Goldgrube.

Er wollte Felicity mit dem Trink leicht betäuben. Die Klassenkameradin sollte bei Bewusstsein bleiben, alles mitbekommen; doch keinerlei Schmerz empfinden. Das war ihm wichtig.

Dieser gefährliche Cocktail spielte in einem Film, den er bei seinem Vater in der Sockenschublade gefunden hatte, eine tragende Rolle. Für den Jugendlichen die perfekte Vorlage. Er war fasziniert von dem Streifen. Snuff-Filme galten lange als Mythos.

Am Abend des baldigen Geschehens verspürte er ein Kribbeln in seiner Leistengegend, welches sich schlagartig im ganzen Körper ausbreitete. Der Gedanke daran, Felicity das Leben zu nehmen, ihren letzten Atemzügen beizuwohnen, was für ein Geschenk.

Ihr Umfeld war ihm egal. Die Gefühlslage, in der er die Eltern von Felicity stürzen würde, dass abrupt beendete junge Sein des Mädchens, selbst sein eigenes Umfeld – spielten keine Rolle.

In Gedanken ratterte er den Abend vor und zurück. Er war aufgeregt. Er sah lediglich sich und die Zwänge in seinem Kopf, die er bisher nur in geistigen Filmen ausgelebt hatte, fast real, aber doch unterdrückt. Die Vorstellungen mussten endlich Wirklichkeit werden.

Dann war die Zeit gekommen.

Sowie sie mit ihrem rechten Zeigefinger auf den leuchtenden Plastikknopf der Klingel drückte, die Schwelle in die Wohnung überschritt, entgleiste Felicity gnadenlos in ihr Verderben.

Mit breitem Grinsen stand er wohlgemut im schwach beleuchtenden Flur vor ihr, begrüßte die Klassenkameradin freundlich und bot ihr sofort ein Glas von seinem ganz speziellen Mix an. Die Silhouetten an den Wänden des schlauchförmigen Flurs schienen ein Eigenleben zu entwickeln.

Dankend und nicht hinterfragend, griff sie zum angebotenen Getränk und nippte an dem Gebräu im grünlichen Glas.

>>Das schmeckt komisch, irgendwie bitter und süß zugleich! Was ist das?<< Sie verzog das Gesicht, doch ihre Höflichkeit bezwang den Argwohn. Leichte süßliche Säure rollte ihre Kehle hinunter. Ein seltsames Zeug hatte er da gemixt.

>>Dein Untergang!<<, hauchte er leise und stupste mit der linken Hand gegen das Glas.

>>Trink aus! Trink weiter …<<

Felicity schluckte. Sie leerte unter Mühen das Glas, setzte sich, sich umblickend, auf die Couch im Wohnzimmer und schlug die Beine übereinander.

Neugierig beäugte sie die Familienfotos an der Wand. Die Wohnungseinrichtung war rar, doch schick. Es wirkte etwas leb- und lieblos; als stünde man kurz vor einem Umzug. Der Cocktail wirkte schnell.

Angespannt vor Aufregung, stand der Junge vor der Couch und schaute fokussiert auf Felicity herunter, die noch immer die Familienfotos seitlich hängend anglotzte, mit halb zugekniffenen Augen und einem milchigen Blick. Langsam zählte er bis zehn. Er wartete auf das eine Signal – und da war es.

Das junge Mädchen mit dem strahlenden Lächeln sackte zu Boden und fing laut mit Lachen an. Ihr war schwindelig. Alles drehte sich. Ihr Körper wurde zu einer fremden Hülle, die auf ihre Befehle nicht mehr zu reagieren schien. Doch sie feixte weiter.

Zielsicher trat er auf das halb weggetretene Mädchen zu, griff ihr unter die schwitzigen Achseln und half ihr auf. Er zog sie rückwärts vom Wohnzimmer in das Kinderzimmer. Ihre Fersen schliffen über den kuscheligen Kunstfellteppich. Weich fühlte sich der Untergrund unter ihren Füßen an. Sehr weich.