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Table of Contents

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Über den Autor

 

 

Stefan Katgeli

 

 

Endzeit-Träume

Projekt Elysium

Band 1

 

Apokalypse-Roman

 

DeBehr

 

Copyright by: Stefan Katgeli

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2020

ISBN: 9783957537904

Grafiken Copyright by AdobeStock by: ©Corca, ©Delphotostock, ©anekoho, ©Антон Медведев

 

Kapitel 1

Samstag, 13. August 2022, Guildford, Surrey, UK

In dem kleinen Wäldchen außerhalb der Stadtgrenze zu Guildford herrschte Stille. Die Straße war vom Regen, der seit mehreren Tagen unerlässlich auf das Land prasselte, mit zahllosen Pfützen überzogen. Aus der Stadt kommend, näherte sich eine schwarze Taxilimousine und setzte etwa 300 Meter nach dem Ortsausgangsschild den Blinker links, um dem Hinweisschild <Zur Cunningham-Residenz> zu folgen.

Die Straße schlängelte sich eine schmale und hügelige Auffahrt entlang. Kurz darauf bot sich den Fahrgästen der Anblick auf ein prachtvolles Gebäude. Mit seinen vielen verzierten Türmen und Erkern glich es tatsächlich einem kleinen Schloss. Der rote Backstein rundete das Bild ab.

Das Fahrzeug hielt vor dem Eingangsbereich. Direkt gegenüber lag ein großer Vorgarten, der von einer Hecke aus Zypressen eingezäunt war. Vier Metallbänke mit Verzierungen an den Arm- und Rückenlehnen, aufgestellt jeweils im Winkel von 90 Grad zueinander, rahmten den Vorgarten ein. In der Mitte der Grünfläche stand ein großer Springbrunnen, geschmückt mit Löwenköpfen, aus denen dünne Wasserstrahlen herausschossen. Auf der Spitze des Brunnens stand ein Engel, der auf das Ambiente herabsah.

Pierre Martin stieg aus dem Taxi. Er hatte neben dem Fahrer Platz genommen und versucht, seine Englischkenntnisse während der 50-minütigen Fahrt vom Flughafen Gatwick mit Smalltalk aufzufrischen. Während der Fahrer das Gepäck aus dem Kofferraum lud, betrachtete Pierre das Haus etwas näher, drehte sich einmal um die eigene Achse und war vom Anblick, der sich ihm bot, angenehm überrascht.

„Mon dieu“, entfuhr es Claudine Martin, als sie aus dem Taxi stieg, auf dem Arm den gemeinsamen Sohn Nicola.

„Es erinnert mich an ein Märchenschloss“, flüsterte sie begeistert.

„Das macht dann bitte 55 Pfund, Sir“, wurde Pierre vom Taxifahrer aus seinen Gedanken gerissen. Er bezahlte und gab noch ein Trinkgeld. Der Fahrer bedankte sich und verließ das Anwesen.

„Das Haus habe ich mir doch etwas kleiner vorgestellt“, bemerkte Claudine. „Es hat nicht die Schönheit unseres Weingutes, aber dennoch kann ich dem Anwesen einen gewissen Charme nicht absprechen.“

„Da hast Du recht, Schatz“, gab er ihr zur Antwort. „Für ein britisches Anwesen wirklich nicht übel.“

„Lass uns bitte klingeln“, bat Claudine, „ich möchte aus dem Regen raus und Nicola wird mir etwas schwer auf dem Arm.“

Der vierjährige Junge hatte sich fest an seine Mutter geklammert.

Pierre nahm die beiden Koffer und die Familie näherte sich der großen Eingangstür. Bevor Pierre die Koffer abstellen konnte, um zu klingeln, öffnete sich die Pforte wie von Geisterhand und ein circa 1,90 Meter großer, kräftiger Mann mit grauen, kurzen Haaren, einem Schnauzbart und Butleruniform stand im Türrahmen.

„Guten Tag, die Herrschaften“, eröffnete er mit feinstem britischem Akzent.

„Willkommen in der Cunningham-Residenz. Sie müssen die Familie Martin aus Frankreich sein, nicht wahr?“

Claudine und Pierre sahen sich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Pierre antwortete schließlich: „Ja, so ist es. Laila Cunningham hat uns eingeladen.“

„Sehr wohl, Sir“, gab der Butler zur Antwort. „Mein Name ist Charles. Sie werden bereits erwartet. Bitte folgen Sie mir. Ich darf Sie auf Ihr Zimmer begleiten.“

Zur gleichen Zeit im ersten Stock des Hauses

Laila Cunningham stand am Fenster ihres Schlafzimmers im ersten Stock des Gebäudes und schaute in den Vorgarten hinunter. Sie beobachtete den Regen, dicke Tropfen prasselten gegen die Scheibe. Am Horizont bildeten die Wolken einen feinen, grauen Schleier.

Lailas Atem beschlug die Scheibe. Gedankenverloren zeichnete sie mit ihrem Zeigefinger ein Herz an die Glasscheibe. Sie dachte an ihren kleinen Joseph. Der Junge hatte den Regen so geliebt. Ihre Erinnerungen an ihren Sohn waren in diesem Moment sehr klar. Sie konnte ihn deutlich auf der Wiese unten im Garten sehen, wie er in seinem gelben Regenmantel und mit Gummistiefeln durch die Pfützen stapfte und sein junges Leben genoss. Sein Vater David war bei ihm. Beide sahen zu Laila auf und winkten ihr. Plötzlich stockte ihr der Atem und sie musste mehrmals blinzeln. Sie fokussierte ihren Blick – doch da unten im Garten war niemand! Die Realität holte sie wieder ein. Verzweifelt und traurig ließ sie ihrem Schmerz freien Lauf und begann zu weinen.

„Geht es Dir gut?“

Laila hatte sich durch das unvermutete Erscheinen ihrer besten Freundin Julia, welche plötzlich hinter ihr stand, erschrocken, wischte sich eilig ihre Tränen aus dem Gesicht, drehte sich um und lächelte Julia verschämt an.

„Ja, alles in Ordnung“, erwiderte sie mit leiser Stimme und nickte.

Julia kannte Laila zwar erst seit zwei Monaten, aber sie konnte deutlich sehen, dass es Laila nicht gut ging, und nahm sie tröstend in den Arm.

„Du schaffst das schon. Ich bin bei Dir“, sagte sie.

„Ich danke Dir“, flüsterte Laila und erwiderte die Umarmung ihrer Freundin.

Die beiden hörten, wie sich ein Auto näherte. Zwischen den Bäumen, die die lange Hofeinfahrt zierten, kam eine Taxilimousine zum Vorschein.

„Das muss die Familie Martin aus Frankreich sein“, überlegte Julia.

Das Taxi hielt und als Erstes stieg ein großer Mann mit dunklen Haaren aus. Sein Gesicht war kantig, mit einer markanten Nase. Seine Haut hatte einen schönen Braunton. Er trug ein Paar blaue Jeans und ein helles Hemd, unter dem ein trainierter Körper zu erkennen war. Von der Rückbank kletterte eine ebenfalls große, aber schlanke Frau ins Freie. Sie hatte schulterlange, blonde Haare, und ihre Wangenknochen traten deutlich hervor. Sie trug einen kleinen Jungen auf dem Arm, der sich mit wachem Blick alles genau anschaute. Er kam mehr nach seiner Mutter, die blonden, kurzen, lockigen Haare und die himmelblauen Augen bohrten sich in Lailas Herz, als er ihr einen Blick zuwarf und ihr dabei lächelnd winkte.

„Charles wird sie auf ihr Zimmer bringen, richtig?“, wollte Julia wissen.

„Ja, genau. Ich vermute, dass die anderen Gäste auch bald eintreffen werden.“

Laila winkte dem kleinen Jungen zurück, der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf ihrem Gesicht.

„Ruh Dich noch ein Weilchen aus und mache Dich dann frisch“, schlug Julia vor.

Laila nickte. „Du hast recht! Die nächsten beiden Tage werden bestimmt sehr anstrengend.“

Julia schaute auf ihre Uhr: „Ich werde den Martins mal Hallo sagen.“

Ein paar Minuten später im zweiten Stock des Hauses

Die Fahrstuhltür öffnete sich und Charles, der zwei Koffer trug, ging voran.

„Bitte folgen Sie mir“, sagte er zu Claudine und Pierre. Sie gingen hinter dem Butler den spärlich ausgeleuchteten Flur entlang, dessen Wände gesäumt waren mit altertümlichen Bildern. Pflanzen, die zwischen den Bildern standen, sollten dem Flair der Ausstattung wohl etwas Freundlichkeit verleihen. Claudine bereitete dieser Flur Unbehagen, da sie sich grundsätzlich in dunklen Zimmern oder Gängen fürchtete und sie der Weg zu ihrem Zimmer an ein Geisterschloss erinnerte. Sie wartete nur darauf, dass die Personen auf den Gemälden an der Wand versuchten, sie anzusprechen.

An ihrer Zimmertür hing ein Schild in goldenen Lettern mit der Aufschrift <France>. Charles schloss das Zimmer auf und ging voran.

„Willkommen in Ihrer Suite, meine Herrschaften. Bitte fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.“

Pierre betrat hinter Charles das Zimmer und pfiff leise vor Erstaunen. Zur Linken befand sich ein großes Boxspringbett, zur Rechten ein begehbarer Kleiderschrank mit Spiegeln an der linken und rechten Schiebetür. Claudine trug Nicola zum Bett und legte ihn vorsichtig ab. Der Junge war inzwischen eingeschlafen und schien einen unruhigen Traum zu haben.

„Dies ist der Schlafraum“, fuhr Charles fort. „Hinter der Tür zur linken Seite finden Sie das geräumige Badezimmer. Zu Ihrer Rechten befindet sich ein Kinderzimmer hinter der Tür verborgen.“

Er ging auf die Fensterfront zu, die mit seidenen Vorhängen bedeckt war.

„Dieses Fenster liegt zur Rückseite des Hauses, Sie können von hier einen wunderschönen Ausblick in die Surrey Hills genießen“, schloss der freundliche Hüne seine Erklärung ab. Pierre steckte seinen Kopf kurz in das angrenzende Zimmer. Dort befand sich ein Kinderbett, über dem ein Mobile angebracht war. Hinter dem Bett, in der Ecke zum Fenster, befand sich eine Kommode mit Spielsachen, Kinderbüchern und allerlei Kuscheltieren.

„Das Haus ist unwahrscheinlich groß und das Grundstück muss riesig sein. Dies ist aber doch kein Hotel, oder?“, fragte Claudine, die auf dem Bett Platz genommen hatte und den Kopf ihres Sohnes streichelte.

„Nun Ma’am, dieses Anwesen fungierte tatsächlich einmal als Hotel“, erklärte Charles mit ruhiger Stimme. „Bis vor sieben Jahren ein Blitzeinschlag ein Feuer auslöste, das etwa die Hälfte des Hauses zerstörte.“

Charles strich sich gedankenverloren mit Daumen und Zeigefinger über seinen dicken, walrossartigen Schnauzbart. „Glücklicherweise ist an diesem schrecklichen Tage niemandem gesundheitliches Leid widerfahren. Da die Versicherung den Schaden aber nicht regulieren wollte, kaufte Mr. Cunningham dieses Anwesen, ließ das renovierungsbedürftige Haus komplett sanieren und machte es zu seinem Privatdomizil.“

Pierre und Claudine lauschten gespannt seinen Ausführungen.

„Sie meinen, David Cunningham hat dieses riesige Grundstück mit dem Haus einfach so gekauft, renoviert und ist dann hier eingezogen?“, fragte Pierre sichtlich irritiert.

„So ist es, Sir“, erwiderte der Butler freundlich. „Ihnen ist vermutlich nicht bekannt, dass die Cunninghams eine sehr vermögende Familie in Großbritannien sind.“

Claudine konnte ihre Verwunderung kaum verbergen und stieß ein leises „Mon dieu!“ hervor.

„Wenn Sie mich aber nun bitte entschuldigen möchten.“ Charles wandte sich zur Tür.

„Sie finden eine Willkommensnachricht in dem Umschlag auf dem Nachttisch dort drüben. Wenn Sie etwas benötigen, können Sie mich gern über das Haustelefon erreichen. Sollten Sie noch Fragen haben, stehe ich zu Ihrer Verfügung.“

„Vielen Dank, Charles“, erwiderte Pierre mit seinem breiten französischen Dialekt. Der Butler nickte höflich. „Das gemeinsame Dinner ist im Übrigen für 18 Uhr im großen Speisesaal angesetzt. Dann darf ich Sie jetzt allein lassen?“ Er verbeugte sich und verließ das Zimmer.

 

Kapitel 2

Samstag, 30. Juli 2022, Pomerol, Frankreich

Pierre stand auf der Terrasse seines Hauses und blickte über das Land. Die Sonne wärmte die Hügel und Täler seiner noch unfrisierten Weinberge. Die Reben standen kurz vor dem Laubschnitt, aber noch sollten sich die Beeren entwickeln, sodass Pierre den Besuch des <Frisörs> noch etwas hinauszögern wollte.

Dies war das Land seiner Familie, welches bereits seit Generationen von ihnen bewirtschaftet wurde. Der Hof befand sich im kleinen Ort Pomerol, dem Weinbaugebiet Bordelais. Vom höchsten Punkt des Gutes aus konnte man Bordeaux erkennen. Die Stadt erstrahlte zu dieser Tageszeit im hellen Sonnenlicht und Pierre war jedes Mal aufs Neue von diesem Anblick fasziniert.

„Claudine, ich gehe für ein paar Minuten auf den Hügel zu meinem Bänkchen. Zum Nachdenken.“

Er drehte sich zu seiner Frau um, die mit dem kleinen Nicola im Sandkasten spielte.

„Ja, in Ordnung. Wir warten hier auf Dich. Aber versprich mir, dass Du noch einmal versuchst, Matilde anzurufen?“, bat sie ihn.

Pierre ließ den Kopf sinken. „Schon gut, ich werde es probieren.“

Er ging die kleinen Steintreppen am Ende der Terrasse hinunter, überquerte das kurze Stückchen Wiese, durchschritt das mannshohe Portal der Efeuhecke und bog nach rechts ab auf den kleinen Pfad, hinauf zu seinem Lieblingsplatz. Die Sonne stand tief am Horizont und schien ihm direkt in das Gesicht. Er genoss die wunderbare Wärme, vor allem aber den Ausblick über die Berge.

An seinem Ziel angekommen, ließ er sich auf das Holzbänkchen sinken, welches er einst eigenhändig gebaut hatte, und atmete tief aus. Seit Nicola von diesen furchtbaren Träumen heimgesucht wurde, kamen Claudine und er kaum noch zu Ruhe. Er wünschte sich, allem zu entfliehen, und stieg dafür, so oft er konnte, auf diesen Hügel.

„Versprich mir, dass Du noch mal versuchst, Matilde anzurufen“, wiederholte er flüsternd Claudines Worte. Pierre schloss die Augen. Sie konnte nicht verstehen, dass dies für ihn nicht so einfach war.

Er lebte auf dem Weingut zusammen mit seiner Familie, seiner Frau Claudine und seinem Sohn Nicola sowie seinen Eltern Richard und Adele. Nicola war das erste und bislang einzige Enkelkind, und manchmal hatte Pierre das Gefühl, dass alle seine Familienmitglieder wie auf Eierschalen um das Kind herumtanzten, damit auch ja nichts geschehen möge.

„Der Teufel steckt in dem Kind“, sagte sein Vater immer wieder zu ihm, seit Nicola mit diesen Träumen angefangen hatte. „Ihr braucht einen Exorzisten!“

Richard war ein sehr gläubiger, aber auch sturköpfiger Zeitgenosse. Pierres Mutter war eine sehr geduldige und ruhige Frau. Sie wollte oder konnte sich gegen ihren miesepetrigen Ehemann nicht durchsetzen und schien sich in ihr Schicksal ergeben zu haben.

Pierres älteste Schwester Matilde war vor etwa sieben Jahren fortgegangen. Ihre Welt war nicht das Weingut, sie wollte Ärztin werden. Und so war sie damals, nach einem Streit mit ihrem Vater, mitten in der Nacht gegangen und hatte alles hinter sich gelassen. Niemand wusste, wo sie sich befand oder was aus ihr geworden war – bis vor wenigen Tagen, als Claudine bei ihrer Suche im Internet nach einem Kinderarzt auf „Dr. Matilde Martin“, ansässig in Paris, gestoßen war. Pierre hatte seiner Familie von dem Fund nichts erzählt.

Ruf sie am besten gleich an. Sie wird sicherlich wissen, was wir tun können, um Nicola zu helfen, so lag Claudine Pierre seit einigen Tagen immer wieder in den Ohren. Wie stellte sie sich das vor – einfach so seine Schwester anrufen, nach all diesen Jahren, so als sei damals nichts passiert! Er hatte Claudine nie erzählt, dass seine Schwester ihn um Hilfe gebeten hatte, sich gegen ihren Vater zu stellen. Doch das hatte er nicht tun wollen. Damals war Pierre noch zu jung, um sich gegen seinen alten Herrn wehren zu können. Und so war Matilde einfach aus seinem Leben verschwunden. Sie war fünf Jahre älter als Pierre und hatte sich schon damals nicht unterkriegen lassen wollen. Der Verlust der Schwester hatte Pierre sehr getroffen. Deshalb war die Bitte seiner Frau, Matilde zu kontaktieren, für ihn eine echte Herausforderung.

Pierre war wieder tief in Gedanken versunken und wippte nervös mit seinen Beinen. Dies tat er immer, wenn er intensiv nachdachte. Claudine verstand nicht, dass es für ihn nicht so einfach war, in dieser Sache über seinen Schatten zu springen. Schließlich war es seine Aufgabe gewesen, die Familie zusammenzuhalten und das Erbe seines Vaters anzutreten. Der hatte ihn für das Fortgehen seiner Schwester verantwortlich gemacht. Dieses Versagen ließ ihn sein Vater auch seither täglich spüren.

Hier ging es jedoch um seinen Sohn, und für ihn würde Pierre seinen Stolz vergessen. Er nahm das Telefon und wählte Matildes Nummer. Nach einigem Klingeln meldete sich die Mailbox. Er legte wieder auf.

„Warum sollte ich mit einem Computer reden?“, dachte er, steckte das Telefon wieder ein und lief die Treppe hinunter in den Garten, wo Claudine mit Nicola spielte.

Er durchquerte gerade das in den Efeu geschnittene Portal zurück in den Garten seines Hauses, als plötzlich sein Handy klingelte. Sein Atem stockte, als er die Festnetznummer der Arztpraxis seiner Schwester in Paris im Display las. Sie rief ihn zurück. Er starrte einige Sekunden unsicher auf das Telefon, bis er das Gespräch schließlich annahm und sich vorsichtig meldete: „Hallo, hier Pierre Martin, guten Tag?“

„Pierre? Oh mein Gott, bist Du das tatsächlich?“

Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung war ihm immer noch so vertraut. Er hatte mit seiner Schwester schon so lange nicht mehr gesprochen, aber ihre Stimme würde er unter eintausend anderen wiedererkennen. Er konnte hören, dass ihr das Sprechen schwerfiel und dass sie gegen die Tränen ankämpfte.

„Wie geht es Dir denn?“, fragte sie leise.

„Nun, ich wollte Dich unterrichten, dass Du Tante geworden bist … vor etwas mehr als vier Jahren.“

Matilde stieß einen spitzen Schrei aus.

„Wie bitte?“, rief sie in den Hörer. So laut, dass Pierre das Telefon vom Ohr weghielt und schmerzverzerrt seine Backe streichelte. Ihre spitzen Schreie, er erinnerte sich wieder.

Nachdem es für einige Sekunden still in der Leitung war, sagte Matilde, welche sich genauso schnell wieder beruhigt hatte: „Das ist ja wunderbar! Meinen herzlichen Glückwunsch, mein lieber Bruder.“

Pierre winkte seiner Frau zu und deutete auf das Telefon an seinem Ohr.

„Das ist Matilde“, formte er geräuschlos mit dem Mund aber so, dass Claudine von seinen Lippen lesen konnte. Sie lächelte zufrieden, lehnte sich auf ihrem Liegestuhl zurück und freute sich für ihren Mann. Sie war sicher, dass Matilde ihrem Sohn helfen konnte. Nicola fuhr auf seinem Bobbycar im Kreis über die Terrasse und nahm seinen Papa, welcher am Ende der Wiese auf und ablief, gar nicht wahr.

„Wie heißt denn Dein kleiner Schatz?“, ereilte Pierre die nächste Frage.

„Sein Name ist Nicola“, gab er stolz zu Antwort.

„Nicola, ihr habt ihn nach unserem Großvater benannt. Da hat sich Papa bestimmt gefreut.“

Pierre antwortete verlegen: „Ja, gefreut hat er sich, obwohl er nicht wirklich damit einverstanden war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann würde Dein Neffe eher ‚Nicolaus‘ heißen.“

Matilde musste laut lachen. „Oh Mann, Papa …“

Sie hielt einen Moment inne. „Geht es ihm denn gut und Mama auch?“

„Ja, mach Dir keine Sorgen. Beide sind wohlauf.“

„Bevor ich es vergesse, Pierre, wer ist denn die Mutter deines Sohnes?“

„Claudine, Claudine Simon, Du hast sie doch noch kennengelernt.“

„Echt, Du hast Claudine geheiratet? Donnerwetter! Hätte nicht gedacht, dass Du bei ihr eine Chance hast.“

Matilde war immer schon etwas frech und direkt gewesen, sie schien sich überhaupt nicht verändert zu haben. Beide mussten lachen.

„Ich weiß auch nicht“, erwiderte Pierre. „Möglicherweise hatte sie damals Mitleid und ist bei mir geblieben.“ Er überlegte einen kurzen Moment. „Und bei Dir Matilde, hast Du einen Mann an deiner Seite?“

„Ach weißt Du, ich habe mich mit Leib und Seele in mein Studium und meine Arbeit gestürzt, da hat das irgendwie mit Beziehung und so nicht wirklich lange funktioniert. Christian hat mich ja noch ein paar Mal hier in Paris besucht, aber für ewig war eine Wochenendbeziehung auf diese große Entfernung nicht möglich. Da er die Großstadt ja nicht mag, ging es dann relativ schnell zu Ende.“

Pierre lauschte gespannt und mit innerer Freude den Ausführungen seiner Schwester. Sie redete immer noch sehr viel und sehr schnell. Auf diesem Gebiet schien sie sich nicht geändert zu haben.

„Hey Pierre, bevor ich es vergesse“, fuhr Matilde fort, „mir tut es so leid, dass ich damals einfach abgehauen bin. Aber ich konnte einfach nicht mehr die ständigen …“

„Mach Dir keine Sorgen, Matilde, es ist alles gut“, beruhigte sie ihr Bruder.

Pierre hielt einen Moment inne. Er sah auf zur Terrasse, wo Nicola immer noch auf seinem neuen Bobbycar unterwegs war, welches er zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte. „Matilde, es gibt da eine Sache, bei der wir deine Hilfe brauchen könnten.“

„Wie jetzt, Pierre, Du brauchst meine Hilfe? Was liegt Dir am Herzen?“

Matilde hatte es vermisst, ihrem kleinen Bruder zur Seite zu stehen, aus schwierigen Situationen zu helfen und einfach nur die große Schwester zu sein.

„Wir wissen nicht, was ist“, fuhr Pierre langsam fort. „Nicola hat seit einigen Monaten schon sehr unruhige Träume. Er murmelt irgendwelche Worte, welche wir nicht verstehen können. Es klingt fast, als würde er Englisch sprechen.“

Matilde lauschte gespannt den Ausführungen ihres Bruders. In ihrem Geiste formte sich ein unheimliches Bild.

„Diese Träumerei mit dem Murmeln dauert meist so fünf bis zehn Minuten. Er ist dabei sichtlich unruhig, wackelt mit seinen kleinen Händen und seine Augen wandern unter den Augenlidern von links nach rechts und zurück. Wenn er dann fertig ist, fällt er in einen sehr tiefen Schlaf und wird total ruhig, so als wäre gar nichts passiert.“

Matilde bekam Gänsehaut bei seinen Ausführungen. So eine Schauergeschichte hatte sie noch nie gehört.

„Jetzt warte mal, Pierre“, sagte sie schließlich. „Du sagst, der Junge bringt Worte aus der englischen Sprache hervor?“

„Na ja, zumindest klingt es für uns so“, gab er zur Antwort.

„Bringt ihr ihm denn englische Worte bei?“, fragte sie weiter.

„Nein, soweit wir das sagen können, hatte er mit der englischen Sprache noch keinen Kontakt.“

Matilde musste ein paar Sekunden überlegen. Spontan wusste sie tatsächlich keinen Rat. Das eben Gehörte klang wie aus einem Science-Fiction-Roman für sie.

„Also, ganz ehrlich, so spontan kann ich Dir weder einen Rat geben noch eine Diagnose stellen. Und schon gar nicht aus der Ferne.“

Matildes Worte ließen Pierre fast alle Hoffnung auf eine Lösung schwinden.

„Deswegen fände ich das Beste, ihr macht Euch auf den Weg zu mir nach Paris. Vielleicht fällt uns etwas zusammen ein.“

Pierres Gedanken überschlugen sich. So eine lange Reise mit dem Kleinen. Dann musste er seinem Vater beibringen, dass sie ein paar Tage verreisen würden. Er musste sich vorher aber noch darum kümmern, dass die Arbeit auf dem Gut seinen gewohnten Gang weiterging.

„Hey, Pierre, hörst Du mir überhaupt zu?“

Matilde riss ihn mit ihrer schrillen Stimme aus seinen Gedanken.

„Oh, bitte entschuldige. Das klingt wirklich toll. Wir kommen gerne zu Dir. Es wird bestimmt super, Dich endlich mal wieder zu sehen. Allerdings haben wir mit Nicola noch keine wirklich lange Reise unternommen. Aber wir kommen auf alle Fälle gerne zu Dir.“

Pierre spürte, dass sich Tränen in seinen Augen bildeten und er räusperte sich kurz, bevor er weitersprechen konnte.

„Ab wann kannst Du Dir denn für uns Zeit nehmen?“

„Also ich habe erwartet, dass Ihr mich morgen früh mit Kaffee und Croissants aus dem Bett klingelt!“

Beide mussten herzlich lachen.

„Nein, ich weiß nicht“, fuhr Matilde fort. „Wie wäre es am kommenden Wochenende? Könnt Ihr Euch einrichten, mich zu besuchen?“

Pierre überlegte einen Moment, bevor er antwortete: „Ich denke, das sollte funktionieren. Natürlich muss ich noch ein paar Dinge regeln und organisieren, aber kommendes Wochenende klingt prima.“

„Ich freue mich schon auf Euch, vor allem aber, meinen kleinen Neffen kennenzulernen. Auch unter diesen Umständen.“

Matilde stockte einen kleinen Moment. „Hier kommt noch ein Vorschlag: Nimm bitte eine Traumsequenz von Nicola auf und sende mir diese vorab per E-Mail. Ich will mal schauen, was ich heraushören kann.“

„Oh, o. k., in Ordnung, ich schaue mal, dass ich das gleich heute Abend noch erledige.“

„Alles klar, Brüderchen. Ich warte auf deine Nachricht und Du hörst von mir!“

Am nächsten Morgen saß Pierre alleine mit seinem Vater in der Küche am Frühstückstisch.

„Ihr drei wollt also verreisen, ja?“, sprach sein Vater ihn direkt auf den geplanten Ausflug an.

„Ganz recht, Papa, wir wollen einfach mal übers Wochenende weg. Wir brauchen mal Abwechslung, müssen aus dem Trott hier raus und mal etwas anderes sehen.“

Sein Vater blickte stumm in seine Tasse Kaffee und würdigte seinen Sohn keines Blickes. Richard war in seinen frühen sechziger Jahren. Seine Stirn sowie seine Kopfhaut waren von der ständigen Sonneneinstrahlung bei der Arbeit unter freiem Himmel nahezu ultraviolett gebräunt. Der kranzförmige Haaransatz schimmerte in hellem Grau. Durch die tägliche harte Arbeit in den Weinbergen wirkte er wie ein in die Jahre gekommener Bodybuilder.

„So, so, ihr macht Euch also aus dem Staub und Du überlässt dann die ganze Arbeit mir, ja?“, raunte Richard seinen Sohn an.

„Papa“, versuchte Pierre ihn zu beschwichtigen, „wir fahren Samstag ganz früh los und kommen Sonntagabend schon wieder nach Hause. Ich übergebe die Verantwortung Monsieur Petit, der wird mich vertreten. Das ist schon mit ihm besprochen und für Dich und die beiden Aushilfen wird sich in diesen zwei Tagen nichts ändern.“

„Na, das hast Du Dir ja fein ausgedacht“, grummelte Richard. „Wohin soll denn die Reise gehen, wenn man fragen darf?“

„Wir fahren mit dem Zug nach Paris.“

Innerlich kochte Pierre, doch er wollte seinem Vater nicht die Genugtuung geben, ihm seine Wut zu zeigen.

„Wir haben die Tickets bereits gebucht und unser Hotelzimmer ist auch reserviert.“

„Großartig, Ihr freut Euch sicherlich schon auf die Reise, nicht wahr? Was wollt Ihr Euch denn alles ansehen?“, fragte Richard weiter.

„Papa, was genau möchtest Du mir denn bitte sagen?“

Pierre durchschaute das Spiel seines Vaters.

„Ich weiß doch schon, dass Claudine mit Mama gesprochen hat. Tu bitte nicht so scheinheilig. Was genau ist eigentlich Dein Problem?“

„Du kannst mir nichts vormachen, Pierre“, polterte Richard, „Ihr wollt den Kleinen zu irgendeinem Arzt schleppen. Das passt mir einfach nicht. Es ist für mich unverständlich, dass hier niemand in der Lage sein soll, Nicola zu helfen. Und ich sage noch mal: Holt am besten einen Exorzisten!“

„Jetzt halte gefälligst deinen Rand, Papa“, begann Pierre zu schreien. Er konnte nun nicht mehr an sich halten.

„Ich will von Dir verdammt noch mal nicht mehr hören, dass man den Teufel aus dem Jungen austreiben solle! In welchem Jahrhundert lebst Du denn bitte? Ich habe den Verdacht, dass Dir deine sonntäglichen Besuche in der Kirche nicht so gut bekommen. Handelt es sich bei Deinen Äußerungen vielleicht um so eine Art Weihrauchschaden?“

Pierre redete sich in Rage und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Und wenn Du, alter Mann, nicht sofort damit aufhörst, meine Frau, meinen Sohn und mich ständig zu kritisieren, dann sage ich Dir was: Dann werde ich den Hof und das Gut verkaufen und dann ziehen wir hier weg und Ihr könnt sehen, wo Ihr bleibt, haben wir uns verstanden?“

Er starrte seinem Vater direkt in die Augen, ohne zu blinzeln, und er hatte die letzten Sätze bewusst langsam gesprochen, um Richard die Ernsthaftigkeit seiner Drohung darzustellen.

„Und wenn wir schon dabei sind, so nett zu plaudern, darf ich Dir abschließend noch verraten, wen wir in Paris besuchen.“

Er hielt einen Moment inne, hob die Hände wie ein Pastor auf der Kanzel und beendete seine Predigt mit dem Satz: „Wir fahren zu Matilde!“

Mit diesen Worten ließ er den total verdutzten Richard alleine am Tisch sitzen und knallte die Küchentür hinter sich zu.

Samstag, 13. August 2022, Guildford, Surrey, UK

Julia klopfte vorsichtig an die Tür mit dem Schild „France“. Nach einigen Sekunden wurde ihr von Claudine geöffnet.

„Bonjour, Du musst Julia sein, stimmt’s?“

„Ganz recht“, gab Julia mit einem Lächeln zurück. Sie streckte ihre Hand aus, um Claudine zu begrüßen. Diese erwiderte den Händedruck und deutete je einen Kuss auf die linke und rechte Wange bei Julia an. Dies tat es ihr nach.

„Ich hoffe, ich störe euch nicht. Darf ich einen Moment hereinkommen?“

„Natürlich“, erwiderte Claudine und gab den Weg frei. „Schön, Dich kennenzulernen.“

Julia trat ein und bemerkte, dass Nicola, welcher sich auf dem Bett zusammengerollt hatte, eine unruhige Schlafphase durchmachte und etwas Unverständliches zu flüstern schien.

„Wann hat es bei Eurem Sohn damit angefangen?“, wollte Julia wissen.

„Das kann ich gar nicht mehr genau sagen“, antwortete Pierre, der gerade aus dem Badezimmer kam. Auch er begrüßte Julia mit einem Händedruck sowie Küsschen links und Küsschen rechts.

„Es ist so schön, Dich endlich kennenzulernen.“ Pierre sah Nicola bei seinen Schlafbewegungen einen Moment schweigend zu.

„Ich glaube, es müsste ungefähr sieben oder acht Wochen her sein, zumindest seitdem wir mitbekommen haben, dass etwas nicht stimmt.“ Er senkte den Kopf und wirkte resigniert.

„Das kann ich nur zu gut verstehen“, erwiderte Julia. „Thomas und ich sind genauso ratlos wie Ihr. Wir begannen schon, an unserem Verstand zu zweifeln. Niemand schien uns helfen zu können.“

„Und dann habt Ihr auch Dr. Johnes getroffen, stimmt’s?“ Claudine sah Julia mit einem fragenden Blick an.

„Ganz genau“, bestätigte Julia. Sie schien genauso überrascht über diese Tatsache zu sein wie das französische Paar.

„Durch ihn haben wir dann Laila und David kennengelernt. Wir waren mit den Cunninghams für ein gemeinsames Abendessen auf diesem Anwesen.“

Pierre und Claudine lauschten gespannt.

Nach ein paar Sekunden Stille ergriff Julia wieder das Wort:

„Laila ist sehr dankbar, dass Ihr es möglich machen konntet, bei uns zu sein, und sie möchte, dass Ihr Euch hier wohlfühlt. Wir alle werden sicherlich von jedem sehr emotionale Geschichten hören. Aber wir wollen herausfinden, was genau mit unseren Kindern geschieht und wie wir die Situation lösen können.“

Claudine nickte beipflichtend.

„Das wünschen wir uns am allermeisten – endlich eine Lösung für das Problem von Nicola. Wir haben kaum noch Kraft, unseren Alltag zu bestreiten, weil wir selbst kaum noch Schlaf finden.“

„Ja, das geht uns ganz genauso“, erwiderte Julia.

 

 

Kapitel 3

Freitag, 1. Juli 2022, London, UK

Thomas Schimmer saß ungeduldig im Auto. Er konnte es nicht leiden, wenn er auf seine Frau warten musste, stützte sich auf sein Doppelkinn, strich sich träumend mit den Fingerkuppen durch seinen Vollbart und starrte genervt auf das Display seines Leihwagens. Selbst jetzt, wo sie es eilig hatten, fiel ihr in der letzten Sekunde noch etwas ein, was sie vergessen hatte. Sie würden ihren Termin verpassen oder zumindest zu spät kommen. Thomas hasste es, sich zu verspäten. Vielleicht war er in diesem Punkt sehr deutsch, Pünktlichkeit war ihm sehr wichtig. Ihr kleiner Sohn Tim saß auf der Rückbank und wackelte zu der Musik, die Thomas angestellt hatte.

Als Julia ins Auto stieg, packte sie die letzten Unterlagen noch in ihre Handtasche.

„Wir können dann los“, ließ sie ihren Ehemann wissen. Thomas presste die Lippen zusammen und sagte nichts. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er bereits vor Wut kochte.

Konzentriere Dich einfach, dachte er nur bei sich, konzentriere Dich auf die Straße und lass Julia einfach machen.

Die zierliche Frau mit Stupsnase, brauner Kurzhaarfrisur und einer Hornbrille auf der Nase blickte auf ihre Uhr.

„Wann ist der Termin noch mal?“, fragte sie. Sie wirkte sehr nervös und versuchte, Thomas und sich selbst mit Smalltalk abzulenken.

„In bereits 22 Minuten, Schatz“, antwortete er trocken. „Ich glaube nicht, dass wir es schaffen, pünktlich dort zu sein.“

„Du machst das schon“, sagte sie und lächelte ihn an.

Thomas atmete tief ein und dachte: Ja, ich mache das schon. Er behielt seine Unruhe für sich und wollte Julia nicht unnötigerweise damit anstecken.

„Wohin fahren wir?“, wollte Tim wissen.

„Wir fahren zu Dr. Johnes, Liebling.“

Julia drehte sich zu ihm um.

„Ein Doktor?“, fragte Tim. „Will der mich piken? Bekomme ich dann Schokolade?“

Tim ging nicht gern zum Arzt, dort bekam er häufig eine Spritze. Aber wenn er tapfer war, bekam er immer Süßigkeiten, und tapfer war er jedes Mal, er weinte nie. Seine Mama hingegen weinte oft. Immer wenn Tim dann fragte: „Mami, was ist los mit Dir?“, lächelte sie ihn mit ihren blauen Augen an und sagte bloß: „Es ist nichts, mein Schatz. Mami geht es gut“. Sie war in letzter Zeit häufig traurig.

„Nein, Schätzchen. Dieser Doktor wird Dir keine Spritze geben. Versprochen.“

Als sie schließlich vor der Praxis standen, bekam Julia ganz weiche Knie. Sie waren bereits bei so vielen Spezialisten gewesen, aber keiner hatte ihnen helfen können. Tim ging es gut, körperlich und geistig. Er war ein quirliger, aufgeweckter, kleiner Junge, wie alle Kinder in seinem Alter, solange er wach war. Aber sobald er einschlief, wurde es für seine Eltern unheimlich.

In den letzten fünf Stunden, seit der Landung am Flughafen, musste sie sich von Thomas immer wieder anhören, dass dieser Quacksalber ihnen sicherlich auch nicht helfen könne, aber er war ebenso verzweifelt und klammerte sich ebenfalls an diesen letzten Strohhalm. Unzählige Stunden in zahllosen Wartezimmern hatten ihm die Hoffnung jedoch fast geraubt, jemals irgendwo Hilfe zu finden und zu verstehen, was mit Tim passierte, und zwar Nacht für Nacht, seit mehreren Wochen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, lächelte die zierlich blonde Arzthelferin die Familie freundlich an.

„Mein Name ist Julia Schimmer, wir kommen aus Deutschland. Das ist mein Mann, Thomas.“

Dieser nickte freundlich, während Julia ihrem Sohn über den Kopf strich.

„Schimmer … – da haben wir es ja.“ Die Dame hinter dem Tresen deutete auf das Wartezimmer. „Sie sind die letzten Patienten für heute. Bitte nehmen Sie noch Platz. Es wird allerdings noch einige Minuten dauern.“

„Gern“, antwortete Thomas freundlich. „Vielen Dank.“

Als Dr. Johnes die Familie Schimmer nach etwa einer Stunde Wartezeit in das Behandlungszimmer bat, war Tim im Arm von seiner Mutter eingeschlafen. Er war kurz davor in die R.E.M.-Schlafphase zu fallen, denn seine Augenbrauen begannen, leicht auf und ab zu wippen. Die Augen hinter den Augenlidern tanzten von links nach rechts, und seine kleinen Hände zuckten. Stumm beobachtete der Mediziner den Jungen.

„Er fängt bestimmt gleich wieder an“, flüsterte Thomas Julia hinter vorgehaltener Hand zu.

Dr. Johnes holte aus seiner Schreibtischschublade einen Notizblock und setzte sich auf den Stuhl neben Julia, die den kleinen Tim behutsam im Arm hielt.

Nach wenigen Sekunden murmelte der Junge etwas Unverständliches. Dr. Johnes blickte auf seinen Block und las das Wort „Three“ laut vor. Es klang in etwa wie das Wort, welches Tim im Schlaf soeben gesprochen hatte. Julia starrte den Doktor mit weit aufgerissenen Augen an. Tim murmelte ein weiteres Wort. Diesmal las der Arzt „Two“ von seinem Block vor. Und wieder klang es genau wie das Wort, welches Tim soeben gesagt hatte. Thomas traute seinen Ohren nicht.

„Was tun Sie da?“, wollte er wissen.

Doch Dr. Johnes unterbrach ihn mit einer Handbewegung und las zeitgleich mit Tim das dritte Wort vor: „Fire“.

Julia musste sich eine Hand vor den Mund halten, um nicht aufzuschreien.

„Seien Sie beide bitte absolut still!“, ermahnte der Arzt die Eltern flüsternd.

Julia und Thomas sahen sich an. Beide konnten jeweils in den Augen des anderen Ratlosigkeit und Angst erkennen. Im Verlaufe der nächsten zwei Minuten sprach der Doktor jeweils etwa zeitgleich sechs weitere Worte zusammen mit Tim. Worte, die alle in der richtigen Reihenfolge auf dem Notizblock standen.

“Three – two – fire – zero – two – harbor – one – one – bridge”, las Dr. Johnes.

Julia stockte der Atem und starrte mit weit aufgerissenen Augen den Mediziner an. Sie war so geschockt von dem gerade Geschehenen, dass sie kaum atmen konnte. Thomas fixierte seinen Sohn. Der Junge hatte diese unverständlichen Phrasen in den letzten fünf Wochen jede Nacht immer wieder geflüstert, jedoch hatten weder Julia noch er jemals einen Sinn in den Worten erkennen können. Nachdem Tim im Schlaf die Worte geflüstert hatte, wurde sein Atem wieder ruhig und er begann, leise zu schnarchen.

„Ich kann Ihnen zwar nicht helfen, die Ursache zu finden, aber Sie sind nicht die erste Familie, die mich mit diesem Problem aufsucht“, sagte der Doktor, während er sich vom Stuhl neben Julia wieder erhob und sich in seinen Schreibtischsessel zurückfallen ließ. In den Gesichtern von Julia und Thomas spiegelten sich Verzweiflung und Resignation, allerdings auch ein Funke von Hoffnung. Bisher hatten sie noch nicht von weiteren betroffenen Kindern gehört.

„Was meinen Sie bitte mit ‚nicht die Ersten‘? Wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass es tatsächlich noch ein anderes Kind gibt mit dieser Störung?“

Thomas’ Hände zitterten. Er fixierte die Augen von Dr. Johnes, ohne zu blinzeln, und spürte, dass sein Puls raste.

„Und woher wissen Sie überhaupt, dass Sie uns nicht helfen können, verdammt?“

„Jetzt lass doch bitte den Doktor ausreden“, raunzte Julia ihren Ehemann an. Doch Dr. Johnes war offensichtlich in Gedanken versunken. Er starrte auf den Bilderrahmen neben seinem Bildschirm und tippte mit dem rechten Zeigefinger nervös auf den Schreibtisch.

Nach etwa zehn Sekunden pochte Thomas mit seiner Faust auf den Tisch, so als hätte er an eine Tür geklopft: „Dr. Johnes?“

Der Mediziner blinzelte, blickte auf und starrte Thomas direkt in die Augen.

„Es gibt da eine Familie hier in London“, begann er. Dr. Johnes sprach sehr langsam und flüsterte beinahe. „Deren vierjähriger Sohn weist genau dieselben Schlafstörungen auf wie ihr Kind.“

Auf Julia wirkte der Doktor wie in Trance. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.

„Wie bitte?“, entfuhr es ihr.

Dr. Johnes fuhr fort: „Der kleine Joseph sagt im Schlaf genau die gleichen Worte wie Ihr Sohn.“

In Thomas’ Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es gab also noch eine Familie, die das Gleiche durchmachte wie sie selbst? Wie konnte so etwas möglich sein?

Julia war die Erste, welche ihre Fassung wiedergewann. „Aber wer …?“ Dies war alles, was sie herausbekam.

„Es tut mir leid“, fuhr Dr. Johnes ihr ins Wort. „Ich hätte Ihnen das gar nicht sagen dürfen. Es fällt unter meine Schweigepflicht“, erklärte er.

Thomas war nie der ruhigste Zeitgenosse. Er sagte stets, was er dachte. Und in diesem Moment explodierte er. „Sie wollen uns allen Ernstes erzählen, dass Sie uns nichts sagen dürfen? Und das nach der Zirkusnummer, die Sie hier gerade abgezogen haben?“ Er rang mit seiner Fassung.

Als sein Vater zu brüllen anfing, wachte Tim vor Schreck auf und begann zu weinen. Julia sah ihren Mann wütend an.

„Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie wir uns fühlen? Was wir seit Wochen Nacht für Nacht durchmachen? Wir finden selbst kaum noch Schlaf. Wir versuchen verzweifelt, zu verstehen und zu begreifen, was das Kind wohl vor sich hinflüstert. Und dann kommen wir zu Ihnen. Und jetzt sagen Sie uns, Sie können uns nicht helfen?!“

Dr. Johnes hatte Thomas während dessen Wutrede mit ausdruckslosen Augen angesehen. Er wirkte vollkommen ruhig und gefasst. Dann verließ er wortlos den Raum und schloss die Tür hinter sich. Als Thomas sich wieder beruhigt hatte, standen ihm Tränen in den Augen. Der kleine Tim schluchzte noch immer.

„Weil Du Dich mal wieder nicht beherrschen kannst!“, flüsterte Julia wütend.

Thomas sah sie nicht an. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und lief wie ein aufgescheuchter Tiger im Sprechzimmer auf und ab. Julia hielt Tim immer noch fest im Arm und wiegte ihn, und langsam beruhigte sich der Junge wieder. Thomas blieb am Fenster stehen und schaute mit leerem Blick in den Londoner Nachmittagshimmel.

„Es tut mir leid, Schatz“, sagte Thomas nach einer Minute der Stille. Seine Stimme wirkte gebrochen. „Ich kann einfach nicht mehr.“ Er drehte sich zu Julia um und sah sie mit Tränen in den Augen an.

„Ich wusste nicht, wie ich mich hätte beherrschen sollen bei dem, was hier gerade passiert ist. Fragst Du Dich denn nicht, was hier los ist?“

Thomas ging auf seine Frau zu und kniete sich vor sie hin. Er streichelte behutsam den Kopf seines Sohnes.

„Wir haben bereits ein Kind verloren und ich habe das Gefühl, dass wir Tim auch noch verlieren könnten.“