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Table of Contents

Titel

Impressum

Es kommt eine Zeit...

Prolog

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

EPILOG

Über die Autorin

Danksagung

Mehr von Spannung Anke Ernst bei DeBehr

 

 

 

 

 

 

 

Anke Ernst

 

 

 

 

 

 

 

Ich werde euch alle

holen

 

 

Der zweite Fall für Kommissar Willstädter

Ein Dresden-Krimi

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Anke Ernst

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2020

ISBN: 9783957537591

Bildquelle: Titelbild - Mann mit Axt: Jaqueline Rath | Skyline Dresden: Fotolia © FSEID | Blut: Fotolia © Nik_Merkulov

Grafische Gestaltung und Layout Bucheinband: ihr designstudio, Ernst-Willkommen

Auf ein Wort …

Ich betone an dieser Stelle: „Ich werde euch alle holen – Der zweite Fall für Kommissar Willstädter“ ist ein Kriminalroman.

Die Handlung und die in diesem Buch mitwirkenden Personen sind absolut frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufälliger Natur.

 

Es kommt eine Zeit im Leben, in der man sich von allem Übel löst und von Menschen, die es verursacht haben!

Verfasser unbekannt

 

Prolog

 

Mai 1988

Alle Schüler der vierten Klasse standen bereits stramm, als Lehrer Hempel sich der leicht geöffneten Tür näherte. Auf dem oberen Türrand hatten Kai, Max und Sven einen Schuhkarton platziert, der bis zum Rand mit Konfetti gefüllt war. Jeder konnte sich im Geist ausmalen, was gleich passieren würde. Wie immer öffnete der Mathelehrer schwungvoll die Tür des Klassenzimmers. Im gleichen Atemzug fiel der Schuhkarton herunter und landete genau auf dem Kopf des Lehrers. Überall lag das Konfetti verstreut im Raum. Sämtliche Schüler lachten über den Lehrer und zeigten mit dem Finger auf ihn. Am lautesten tönte Kais Stimme heraus. Der Zehnjährige hielt sich den Bauch vor Lachen. Wütend warf Lehrer Hempel den Schuhkarton in seine Richtung. Mit großen Schritten lief er auf Kai zu und baute sich vor ihm auf. Die wenig verbliebenen Haare hingen ihm über die Ohren und auf seiner kahlen Stirn hielten sich hartnäckig mehrere Papierschnipsel. Die äußere Erscheinung des Lehrers gab ein amüsantes Bild ab, allerdings war niemandem mehr zum Lachen zumute. Schlagartig wurde es still, totenstill.

Nur das wütende Keuchen des Lehrers war zu hören. Selbst Kai zuckte erschrocken zusammen. Für einen Moment wagte er nicht einmal mehr zu atmen. Das unangenehme Schweigen fühlte sich nahezu bedrohlich an. Obwohl es im Klassenzimmer warm war, überfiel Kai ein eiskalter Schauer.

„Du findest das also lustig?“, stellte Lehrer Hempel fest und beäugte ihn erbost.

Es dauerte einige Sekunden, ehe der Schüler antwortete.

„Das sollte ein Spaß sein“, stammelte er ängstlich zusammen.

„Komisch, ich höre gar keinen Lachen.“

Kai fühlte sich absolut nicht wohl in seiner Haut und Schweißperlen bildeten sich in den Achselhöhlen.

„Hört euch diesen Witzbold an. Er meint, er könnte mir das Wasser reichen. Mit einem alten Schuhkarton und buntem Konfetti. Was für eine glorreiche Idee? Kam die von dir?“, bohrte der Mathelehrer erzürnt nach und sah ihm tief in die Augen. Dieser Blick ging Kai durch Mark und Bein.

„Ja“, nuschelte der Junge in seinen nicht vorhandenen Bart hinein und fing an zu weinen.

„Ich kann dich nicht hören.“

„Ich war das“, bestätigte Kai seine Aussage erneut unter Tränen.

„Was wolltest du damit bezwecken?“, fragte Lehrer Hempel aufgebracht.

Sein Schüler atmete tief ein und aus, um sich etwas zu beruhigen. Er hatte das Gefühl, dass sein Herz vor Angst fast aussetzte.

„Ich habe dich was gefragt“, wurde der Lehrer lauter und zog kräftig an seinem Ohr.

„Aua, Sie tun mir weh“, schrie Kai panisch auf.

Doch dem Mathelehrer schien diese Situation zu gefallen. Stattdessen tat er so, als würde er das Gejammer seines Schülers nicht hören. Einige Mädchen hielten sich erschrocken die Hand vor den Mund. Generell galt Lehrer Hempel als ziemlich schroff. Unter der Hand munkelte man, dass er in der NVA-Zeit in einer höheren Position aktiv war und sich dort diese grobe Verhaltensweise angeeignet hatte. Hin und wieder kam dieser negative Charakterzug in seiner Lehramtstätigkeit zum Vorschein. Kai konnte ein Lied davon singen. Es war nicht das erste Mal, dass sich Lehrer Hempel nicht nur mit Worten mit ihm auseinandersetzte.
„Es wird der Tag kommen, Kai Schneider, da wird niemand mehr für dich die Kohlen aus dem Feuer holen. Du wirst für all deine Schandtaten büßen, merke dir das.“

Endlich ließ er ihn wieder los.

„Schlagt eure Bücher auf. Seite 23, Aufgabe eins und zwei. Zum Bearbeiten der Rechenaufgaben bekommt ihr von mir 20 Minuten.“

Niemand getraute sich, dem Lehrer zu widersprechen und sofort folgten die Mädchen und Jungen der vierten Klasse der Anweisung. Auch Kai nahm auf seinem Stuhl wieder Platz und rieb heftig an seinem rechten Ohr. Dies fühlte sich unglaublich heiß an. Wieder einmal hatte es Lehrer Hempel geschafft, ihn vor der gesamten Klasse zu demütigen. Obwohl er es nicht wollte, liefen ihm erneut dicke Tränen über das Gesicht. Mit dem Ärmel seines Pullovers wischte er sie sofort weg. Schwäche zeigen lag nicht in Kais Natur, obwohl er sich dem Zyniker gegenüber ohnmächtig und hilflos ausgeliefert fühlte. Statt einen Blick ins Mathematikbuch zu werfen, sah Kai abwesend aus dem Fenster. Seine Gedanken waren nicht mehr im Hier und Jetzt. Vielmehr stellte er sich vor, endlich ein Erwachsener zu sein. Er würde von Zuhause wegziehen, am besten in eine andere Stadt. Nur noch einmal würde er zurückkehren und sich an den Menschen rächen, die ihn immer wieder seelisch verletzten.

„Ich werde euch alle holen“, sprach er leise mit sich selbst und brach dabei einen Bleistift entzwei.

 

EINS

Freitag, den 22. März 2019

Ein langer und anstrengender Tag lag hinter Kai, umso mehr freute er sich auf den wohlverdienten Feierabend. Seit Wochen musste der Einundvierzigjährige in der Praxis Überstunden schieben. In der Physiotherapie, unweit vom Zentrum Dresdens, gab es viel zu tun. Ein derzeit hoher Krankheitsstand machte die Sache nicht unbedingt leichter. Dennoch war Kai mit seiner Arbeit zufrieden. In der Ausbildungszeit als Physiotherapeut musste er allerdings mächtig die Zähne zusammenbeißen. Er war nicht dumm, ganz im Gegenteil. Jedoch gab es eine Seite an ihm, die Kai immer wieder lähmte. Urplötzlich überfiel ihn das Gefühl, dass er versagen und sein Ziel nie erreichen könnte. Es kam ihm so vor, als ob ein großer Eisenträger auf seinen Schultern lag, der ihn ständig zu Boden drücken wollte. Zum Glück lernte er in dieser schweren Lebensphase seine heutige Ehefrau Silke kennen. Sie hauchte ihm mehr Lebensfreude ein und stand ihm tatkräftig zur Seite. Seine Mutter allerdings hatte für die Bindung der noch jungen Liebe nur Spott übrig.

Die ist doch viel zu schlau für dich und wird schneller wieder weg sein, als es dir lieb ist.

Noch heute kann er ihr Genörgel hören. Silke und Kai hielten von Beginn an wie Pech und Schwefel zusammen und bezogen bereits nach einem Jahr eine kleine Wohnung unmittelbar am Dresdner Hauptbahnhof. Niemals wird Kai diesen Moment vergessen, als er sich endlich von seiner Mutter lossagen konnte. Er musste sie nicht mehr jeden Tag sehen und fühlte sich endlich frei. Auch seinen Abschluss zum Physiotherapeuten meisterte er im Handumdrehen und ziemlich erfolgreich. Endlich war er angekommen. Seine Schwiegereltern und Silkes Bruder Bernd schlossen ihn sofort in ihr Herz. Über Nacht gehörte Kai zur Familie. Wenn sich alle trafen, dann konnte er für einige Stunden seine Ängste hinter sich lassen. Diese Menschen strahlten viel Wärme aus, die sich in keinster Weise gekünstelt anfühlte. Mit Silke hatte er das ganz große Los gezogen und niemals wollte er diese innige Bindung aufs Spiel setzen.

„Papa ist da“, rief Pia, als sie den langen Flur entlangrannte.
„Nicht so stürmisch, junge Dame“, scherzte Kai und umarmte Pia zur Begrüßung.

„Mama hat gekocht. Es gibt Schnitzel mit Kartoffelecken und Salat“, plauderte seine Tochter euphorisch darauf los und löste sich aus der Umarmung.

„Das klingt gut. Ich habe riesigen Hunger“, schmunzelte Kai und folgte Pia in die Küche. Seine Frau stand an der Kochinsel und legte das Fleisch in die Pfanne. Das Olivenöl schien die perfekte Temperatur zu haben. Eine Dampfwolke stieg empor, die durch die Dunstabzugshaube gleich wieder verschwand. Ein köstlicher Essensduft zog durch den Raum.

„Da läuft einem ja schon beim Zuschauen das Wasser im Munde zusammen“, sprach Kai etwas lauter, weil die momentan herrschende Raumakustik versuchte, jedes Wort zu verschlucken.

„Ich dachte schon, ich müsste bei meinem Bruder auf der Dienststelle eine Vermisstenanzeige aufgeben“, lachte seine Frau und ließ die Schnitzel nicht aus den Augen.

„Es ging wieder mal länger.“

Pia warf einen neugierigen Blick in die Pfanne und lief kurz darauf aus der Küche.

„Wir essen gleich“, rief Silke ihrer Tochter hinterher.
Liebevoll schmiegte sich Kai von hinten an seine Frau und küsste ihren Nacken. Diese quiekte wie ein Ferkelchen auf und versuchte sich aus der Umarmung zu lösen.

„Das kitzelt“, protestierte sie in einem freundlichen Ton und kniff ihn in den Oberarm.

„Das machen nur kleine Mädchen“, scherzte er und ging zum Küchenschrank, um sich ein Glas Milch einzuschenken.

„Ich habe mir etwas überlegt“, stieß Silke in Hochstimmung hervor und baute sich vor ihm auf.

„Und was?“, fragte er verschmitzt nach.

„Wie wäre es, wenn du zum 30. Mai deinen Job kündigst?“

„Bitte was?“

„Ich verdiene genug Geld mit der Firma. Die Geschäfte laufen wirklich ausgezeichnet. Du könntest also ohne schlechtes Gewissen die Stelle an den Nagel hängen.“

„Was soll ich dann deiner Meinung nach tun?“

„Wir benötigen einen Hausmeister, der sich um die Objekte kümmert. Außerdem hättest du Zeit zum Schreiben. Wie lange wolltest du schon einen Ratgeber gegen Rückenschmerzen veröffentlichen?“

„Hausmeister“, wiederholte Kai verdutzt und sah seine Frau irritiert an.

„Das war nur ein Vorschlag. Am besten du widmest dich ganz deiner Autorentätigkeit.“

„Und den Haushalt wolltest du bestimmt noch anfügen“, grinste er, wobei sich tiefe Falten in sein Gesicht gruben.

„Quatsch, darum kümmert sich schließlich unsere Putzfee. Zwei Leute wären dann wirklich einer zu viel, um das Haus in Schuss zu halten.“

„Also Haus würde ich zu dieser Immobilie nicht mehr sagen. Immerhin stehen uns zwölf Zimmer zur Verfügung.“

„Ja, ich weiß. Ich meinte auch unsere Villa. Wo wir beim eigentlichen Thema wären.“

„Beim eigentlichen Thema?“, wiederholte Kai den Satz seiner Frau in einer nachdenklichen Stimmlage.

„Setz dich bitte mal“, forderte Silke ihren Mann auf und stellte die Herdplatte ab, damit die Schnitzel nicht verbrennen konnten.

„Ist was passiert?“ Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass er jetzt etwas zu hören bekommen würde, was ihm gar nicht gefiel.

„Passiert kann man nicht sagen, aber deine Mutter hat angerufen.“

„Ich wusste es“, stieß er aufgebracht hervor und wollte sich vom Stuhl erheben.

Silke jedoch drückte ihn sanft an den Schultern wieder nach unten.

„Hör mir bitte zu!“

Schlagartig war Kais gute Laune verschwunden. Bereits bei dem Wort Mutter gingen bei ihm sämtliche Alarmglocken an. Auf seine innere Intuition konnte er sich schon immer verlassen.

„Roswitha möchte das Haus in Struppen verkaufen.“

„Wieso will sie plötzlich unser Elternhaus verkaufen?“

„Würdest du mich ausreden lassen, dann wären wir schon ein Stück weiter“, tadelte ihn seine bessere Hälfte auf eine liebevolle Art und Weise.

„Erkläre es mir“, gab er ihr stattdessen wie ein beleidigtes Kind zur Antwort.

„Es ist nun fast acht Monate her, dass dein Vater an Krebs verstorben ist. Roswitha wird im nächsten Jahr achtundsechzig und ihr ist das über 2.000 m² große Grundstück einfach zu viel.“

„Sie hat doch jemanden, der die Außenanlagen hegt und pflegt.“

„Ja, aber sie fühlt sich in dem Zweifamilienhaus unendlich einsam.“

„Hat sie dir das so gesagt?“, bohrte Kai aufgebracht nach.

„Ja, außerdem bereitet ihr das Laufen erhebliche Probleme. Ihre rechte Hüfte wird von Tag zu Tag schlimmer.“

„Dann soll sie zum Arzt gehen“, schimpfte Kai und leerte das Milchglas in einem Zug.

„Tut dir das nicht leid?“

„Silke, du weißt genau, welche Bindung ich zu meiner Mutter habe. Du müsstest doch am besten wissen, wie es in meinem Seelenleben aussieht. Die Frau hat mir noch nie gutgetan. Schon als kleiner Junge hat sie mich nur schikaniert. Egal, was ich gemacht habe, es war in ihren Augen alles falsch. Wäre mein Vater nicht gewesen, dann hätte ich meinem Leben längst ein Ende gesetzt.“

„Kai, das ist doch schon so viele Jahre her“, sprach Silke sanft auf ihn ein, weil ihr genau bewusst war, was für ein heikles Thema sie gerade ansprach.

„Was spielt denn das für eine Rolle? Glaubst du, die Zeit heilt wirklich alle Wunden?“, fragte er und ärgerte sich über Silkes Verhalten.

„Natürlich nicht, das ist mir auch klar“, versuchte sie die Wogen zu glätten.

„Was steckt eigentlich hinter deiner Erzählung?“

„Wir haben so viel Platz in unserer Villa. Ich habe ihr angeboten, die zwei Gästezimmer zu bewohnen. Zudem hätte sie auf der gleichen Etage ein separates Badezimmer.“

„Du hast was?“, schrie Kai ungehalten und schlug mit der Faust auf den Küchentisch.

Erschrocken zuckte Silke zusammen.

„Streitet ihr euch?“

Die beiden Streithammel hatten gar nicht bemerkt, wie sich ihr zehnjähriger Sohn Paul und ihre siebenjährige Tochter Pia an den Esstisch gesetzt hatten.

„Nein, Mama und ich haben uns nur geärgert. Aber das ist schon wieder vorbei“, erklärte Kai in einem ruhigeren Ton und strich seinen Kindern sanft über den Kopf.

„Können wir jetzt Abendessen?“

Kai und Silke wechselten einen schnellen Blick. Für einen Moment flackerte Widerstand in Silkes Augen auf, aber sie verkniff sich einen weiteren Kommentar.

Als sie später im Bett lagen und versöhnlich miteinander kuschelten, griff sie erneut das Thema auf.

„Silke, bitte nicht schon wieder“, sprach er ruhig und löste sich aus der Umarmung.

„Roswitha kommt morgen Nachmittag zum Kaffeetrinken.“

„Habe ich mich jetzt verhört?“, platzte ihm erneut der Kragen.

„Das Wochenende habe ich extra freigehalten, damit wir in den Zoo gehen können. Ganz ehrlich, ich habe keine Lust auf ein Wiedersehen mit meiner Mutter.“

„Wir können den Zoo-Besuch auf Sonntag verschieben. Sie will gar nicht lange bleiben.“

„Das sagt sie immer und plötzlich ist es spät am Abend.“

„Was hätte ich denn deiner Meinung nach sagen sollen?“

„Dass sie sich einen Platz im Altersheim suchen soll. Ich habe von einem Kollegen gehört, dass am Weißen Hirsch eine Immobilie für Betreutes Wohnen eröffnet wird. Ich finde, da passt sie perfekt hin. Sie hätte ihr eigenes kleines Reich und sie wäre nie allein.“

Silke verdrehte leicht ihre Augen und legte ihren Kopf auf seine Brust ab. Seine Haut fühlte sich weich und warm an. Sie konnte seinen kräftigen Herzschlag deutlich hören.

„Vielleicht lebt sie nicht mehr lange?“

„Wie kommst du denn da drauf?“

„Die Zuckerkrankheit macht ihr ganz schön zu schaffen. Vor ein paar Wochen hat Roswitha neue Medikamente bekommen, mit denen kommt sie allerdings nicht wirklich zurecht.“

„Du darfst ihr nicht alles glauben, was sie dir erzählt. Sie will sich nur wichtigmachen und dein Mitleid erregen. Das konnte sie schon immer gut. Zudem sucht sie passende Erklärungen, damit sie ganz schnell hier einziehen kann.“

„Kai, du bist zu hart mit ihr.“

„Nein, Silke, das sind alles Erfahrungswerte. Schon damals hat sie meinen Vater mit solchen Spielchen um den Finger gewickelt. Solche Menschen ändern sich nie.“

„Auf jeden Fall wird sie morgen hier sein. Dann kannst du ihr selbst sagen, dass sie hier nicht willkommen ist. Ich mache das nicht“, meckerte seine Frau verärgert und drehte ihm ruckartig den Rücken zu.

„Eigentlich wollte ich mit dir noch ein wenig schmusen.“

„Ich bin müde und will schlafen“, erwiderte Silke nach wie vor beleidigt und knipste die Nachttischlampe aus. In Kai brodelte es. Immer wieder sorgte seine Mutter für Unruhe und brachte damit das Fass zum Überlaufen. Wieso musste sie sich ständig in sein Leben einmischen?

 

ZWEI

„Ich gehe schon einmal an die Tür“, rief Silke ihrem Mann zu und Pia begleitete sie. Kai hörte, wie seine Frau seine Mutter im Eingangsbereich begrüßte. Da war sie wieder, die viel zu grelle und dominante Stimme. Nach außen hin gab Roswitha ein nettes Erscheinungsbild ab und ließ den Anschein erwecken, dass sie kein Wässerchen trüben könnte. Kaum einer ahnte, was sich für eine boshafte Frau hinter dieser Fassade verbarg. Nur Kai und sein verstorbener Vater wussten von diesem Geheimnis. Gleich an Roswithas Körperhaltung erkannte er, dass ihr gebrechliches Auftreten nur gespielt war. Sie wollte sämtliche Aufmerksamkeit auf ihre Person ziehen und das gelang ihr hervorragend.
„Hallo“, krächzte Kai leise hervor und versuchte, auf Abstand zu bleiben.

„Ach, mein lieber Junge“, grunzte sie erfreut und drückte ihn fest an sich.

In diesem Moment überkam ihn ein unbändiges Ekelgefühl. Am liebsten hätte er seinen Unmut in die ganze Welt hinausgeschrien, aber über seine Lippen kam kein Wort.

„Du musst mehr essen. Bist ziemlich schlank geworden, aber das wird sich bald ändern. Wenn ich bei euch wohne, dann werde ich gut für euch kochen.“

„Ist das wahr, Oma zieht bei uns ein?“, überrascht sah Pia ihre Eltern mit freudig funkelnden Augen an.

„Wer zieht bei uns ein?“, erklang eine weitere Stimme aus dem Obergeschoss. Auf der Treppe stand Paul und schaute neugierig nach unten. Die erdbraunen lockigen Haare standen aufrecht wild durcheinander, als wäre er gerade erst aufgestanden. Seine grünen, stets hellwachen Augen schienen durch die Brille alles um sich herum geradezu aufzusaugen. Für seine zehn Jahre war Paul ein ziemlich intelligentes Bürschchen, dem kaum einer was vormachen konnte. Mit einem Lächeln im Gesicht stieg er die Stufen hinab und umarmte zur Begrüßung liebevoll seine Oma. Silke schaute zu ihrem Mann und presste die Lippen fest aufeinander. Sie vermied es tunlichst, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Der Streit vom vorigen Abend hing ihr immer noch nach.

„Jetzt gehen wir alle ins Esszimmer und kosten von dem leckeren Apfelkuchen“, rief Kai in die Runde, um von dem heiklen Thema vorerst abzulenken. Obwohl ihm der Ausgang dieser Geschichte schon längst bekannt war. Gemeinsam liefen sie ins benachbarte Zimmer und nahmen an der Kaffeetafel Platz.


„Ich habe euch ein paar Geschenke mitgebracht.“
„Darf ich schon reinschauen?“, lachte Pia hocherfreut und sah ihre Oma erwartungsvoll an.

„Setz dich bitte wieder hin, Pia“, wurde Kai laut und sah seine Tochter mit einem autoritären Blick an.

„Sei doch nicht so streng mit der Kleinen“, entgegnete ihm seine Mutter in einem zynischen Unterton und überreichte ihrer Enkelin eine große Schachtel, die in einem bunten Geschenkpapier eingewickelt war.

„Ich darf doch?“, wandte sich Roswitha direkt an Silke. Diese nickte zaghaft und vermied es, ihrem Mann in die Augen zu sehen. Kai musste sich beherrschen und er versuchte, den angestauten Ärger hinunterzuschlucken. Seine Mutter konnte es einfach nicht lassen und musste ständig sticheln. Auch sein Vater litt unter diesem schlechten Charakterzug von ihr. Er war ein liebevoller Mensch gewesen. Doch er hatte oftmals große Probleme, mit dem spitzzüngigen Verhalten seiner Frau klarzukommen. Sein Vater griff in seiner Verzweiflung stattdessen lieber zur Flasche, wenn er glaubte, dass es niemand bemerkte. Kai jedoch wusste längst Bescheid. Ihm tat sein Vater nur leid. Friedrich war ein gutmütiger Mann und er beklagte sich nie. Wie es tief in seinem Inneren aussah, das würde wohl für immer sein Geheimnis bleiben.


„Papa, Papa, schau mal, das Puzzle hat mir Oma geschenkt.“

Schlagartig wurde Kai aus seiner Gedankenwelt gerissen und Pia hielt ihm ein buntes Katzenpuzzle unter die Nase.

„Das ist noch nicht alles. Ich habe dir außerdem ein Malbuch und diese tollen Stifte dazugepackt.“

Kai schielte zu seiner Frau hinüber und warf ihr einen finsteren Seitenblick zu. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Roswitha alles nachholen wollte, was sie bei ihren eigenen Kindern verpasst hatte. Für Paul und Pia war diese Situation natürlich ein Glücksfall. Kai hingegen empfand die derzeitige Lage als sehr erdrückend. Nach dem Tod seines kleinen Bruders Karl war auch seine Kindheit schlagartig vorüber. Seine Mutter ließ keine Minute aus, um ihn auch in der Öffentlichkeit zu schikanieren und als Schwächling darzustellen. Sie gab ihm die Schuld an Karls Tod. Warum hatte er beim Spielen nicht besser auf seinen jüngeren Bruder aufgepasst? Niemals hätte Karl mit dem Fahrrad stürzen und sich den Kopf auf einem Bordstein aufschlagen dürfen. Kai war schließlich der Ältere von beiden und es wäre seine Pflicht gewesen, stets ein wachsames Auge auf seinen erst sechs Jahre alten Bruder zu werfen. Das hatte Kai auch gemacht, doch Karl hatte seinen eigenen Kopf. Von Natur aus war sein kleiner Bruder ein aufgeweckter und lebenslustiger Junge gewesen. Karl hatte Freude daran, wenn er kräftig in die Pedale treten und anschließend die Beine in die Höhe heben konnte. Sie waren schließlich Kinder und Blödsinn machen gehörte zu ihrem Alltag einfach dazu. Mit so einem tragischen Unfall hatte keiner rechnen können. An Ort und Stelle schlug Roswitha ihrem großen Sohn mehrmals mit der flachen Hand ins Gesicht. Wäre sein Vater nicht dazugekommen, dann hätte sie Kai vielleicht erschlagen. Den Schmerz kann er sogar noch heute nachempfinden. Hin und wieder holen ihn die tragischen Erlebnisse ein und er schreckt nachts schweißgebadet im Bett auf. Im Traum ruft Karl nach ihm und er streckt ihm seine Hand entgegen. Kai will danach greifen, doch plötzlich verschwindet sein Bruder in einem tiefen, schwarzen Loch.

„Ist dir nicht gut, mein Junge?“, holte ihn eine besorgte Stimme in die Wirklichkeit zurück. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.

„Nein“, stotterte Kai und hob die Kaffeetasse mit zittrigen Fingern an.

„Silke, ich glaube, wir müssen auf deinen Mann besser aufpassen. Er scheint mir ziemlich überarbeitet. Wenn ich hier wohne, dann weht ein anderer Wind.“

Kai war sich sicher, dass seine Mutter recht behalten würde und ihm graute schon jetzt vor der Zeit, die vor ihm lag. Nach dem Kaffeetrinken gingen die Kinder nach draußen in den Garten, um zu spielen. Nur Silke, Roswitha und er saßen noch am Tisch.

„Warum willst du das Haus verkaufen?“, bohrte Kai nach und sah Roswitha ernst an.

„Weißt du, mein Junge …“

„Nenne mich nicht immer mein Junge. Ich habe einen Namen. Ich heiße Kai und so möchte ich auch angesprochen werden.“

„Kai, bitte“, versuchte Silke zu schlichten.

„Du wirst immer mein kleiner Junge bleiben“, überspielte Roswitha die provokante Bemerkung ihres Sohnes und zeigte dabei ihre schönen weißen Zähne.

Warum kann ich mich nicht durchsetzen? Dieses elende Miststück!

„Ich habe bereits einen Makler beauftragt. Das gesamte Anwesen wird mir ein hübsches Sümmchen von 350.000 Euro einbringen. Damit kann ich meinen Ruhestand in vollen Zügen genießen. Natürlich werde ich euch für die Unterbringung in eurer Villa entsprechend entlohnen.“

„Wir wollen dein Geld nicht“, fauchte Kai zurück und sein Puls hatte rasant an Schnelligkeit zugenommen. Er konnte sichtlich spüren, wie seine Wangen glühten.

„Ich glaube, die Einzelheiten bespreche ich lieber mit deiner Frau.“

„Wann möchtest du denn bei uns einziehen?“, fragte Silke vorsichtig nach.

„Morgen halte ich auf dem Grundstück einen Haus-Flohmarkt ab.“

„Einen Flohmarkt?“, wiederholte Kai erstaunt.

„Keine Sorge, ich habe schon genügend Leute organisiert, die mir dabei helfen.“

„Du willst dein ganzes Hab und Gut verschachern?“

„Hast du dir das Mobiliar mal angeschaut? Nur noch alte und abgewohnte Gegenstände. Zudem sind eure Gästezimmer hochwertig möbliert, was soll ich mit dem alten Kram?“

„Was machst du mit Papas Arbeitszimmer?“

„Das ist schon längst entsorgt.“

„Was?“ Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet.

„Schon vor einem halben Jahr habe ich die Sachen deines Vaters weggeworfen. Was soll ich mit dem Zeug?“

„Vielleicht aufheben als Andenken an ihn.“

„Mach dich doch nicht lächerlich. Wo soll ich denn den alten Wanderhut und den schäbigen Rucksack hinstellen? Seine Pokale vom Schützenverein waren allesamt nur lästige Staubfänger. Also irgendwann ist es dann aber auch wieder gut.“

Enttäuscht zog Kai seine Mundwinkel nach unten. Diese Frau war in seinen Augen eine kaltherzige Persönlichkeit. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie jemals unter einem Dach wohnen sollten.

„Ich bringe nur meine persönlichen Sachen mit und natürlich die Fotoalben. Ich will mich von den Altlasten lossagen und nach vorne schauen. Ist diese Lebensweise falsch?“, warf Roswitha ihre Frage in den Raum.

„Eigentlich nicht“, gab Silke kleinlaut zu.

„Ich räume am besten den Tisch ab“, erwiderte sie und verließ in zügigen Schritten das Esszimmer.

„Wann willst du also deine Zelte bei uns aufschlagen?“